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Channel: Whoknows Presents
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Liebster Award

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Ich bin nominiert worden. Nein, nicht zu den Academy Awards, sondern bei der Aktion „Liebster Award“. Eine große Ehre, zumal der von mir sehr geschätzte Oliver Nöding die Nominierung ausgesprochen hat, für die ich nun mit Freude bei ihm bedanke: hier sein wunderbarer Blog remember it for later, und hier seine Antworten auf die Fragen, die er nach seiner eigenen Nominierung beantwortet hat.
Denn ja: Nominierte von „Liebster Award“ sind zugleich immer auch Gewinner. Sie bekommen keine güldene Statue, sondern 11 Fragen, die sie nach gutem Wissen und Gewissen beantworten sollen – und die Pflicht, weitere Blogger zu nominieren und ihnen 11 neue Fragen zu stellen.
Falls das gerade alles etwas komisch klingt – hier das „Kleingedruckte“ noch mal in etwas formellerer Verpackung:
Beim “Liebster Award” stellen Blogger_innen/Podcaster_innen anderen Blogger_innen/Podcaster_innen elf Fragen. Diese nominieren dann wieder weitere Blogger_innen/Podcaster_innen und stellen ihnen ihre Fragen. Das Ziel der Aktion ist es, einander dabei zu unterstützen, neue Leser_innen/Hörer_innen zu finden und sich gegenseitig zu vernetzen.
Hier meine Antworten auf die Fragen:

1 Was ist dein Anspruch, wenn du Texte über Filme schreibst? Wann sagst du: “Ich bin zufrieden”?
„Ich bin zufrieden“ sage ich nicht, sondern höchstens „Der Text ist halbwegs okay. Mehr oder etwas besseres fällt mir nicht mehr ein, aber ich kann ihn jetzt trotzdem guten Gewissens veröffentlichen“. Diesem Ausspruch gehen oft lange Momente (manchmal Stunden) des „letzten Schliffs“ voraus.
Was ich für einen Anspruch habe? Nebst dem Ziel, den Lesern von „Whoknows Presents“ unbekannte Filme näher zu bringen (meiner Meinung oft kleine Filmperlen) möchte ich sicherlich auch im weitesten Sinne ein Deutungsangebot geben: in Worte fassen, welche emotionalen Reaktionen und intellektuellen Prozesse ein Film bei mir (was habe ich persönlich gesehen?) auf welche Weise und mit welchen Mitteln ausgelöst hat – und dies im Idealfall so, dass es auch für andere Leser verständlich ist. Es soll auch immer ein Stück weit eine persönliche Einschätzung drin stecken, die vielleicht den Leser zum Nachdenken über den und zur weiteren Beschäftigung mit dem spezifischen Film anregt.
Schreiben über einen Film sehe ich auch als Möglichkeit, um für mich persönlich mehr über ihn herauszufinden – das kann theoretisch bei jeder Publikation passieren, bei der ich schreibe, hier bei „Whoknows Presents“ ist dieser Prozess aber am freisten. Das Schreiben ermöglicht es, einen Film noch einmal ganz in der Tiefe zu erkunden: nicht nur mit den Augen und den Ohren, sondern auch mit Worten. Beim Prozess des Schreibens kann man sehr viel Neues über einen Film herausfinden, weil man „gezwungen“ ist, wirre oder unausgegorene Gedanken, diffuse Emotionen, unsichere Ahnungen und freie Assoziationen in Worte zu übersetzen. Das gelingt nicht immer, aber zum Beispiel bei TIM FRAZER JAGT DEN GEHEIMNISVOLLEN MR. X und VENGEANCE IS MINE hatte ich das Gefühl, diese Filme durch das Schreiben noch besser (be)greifen zu können. Und vielleicht überträgt sich das auf den Leser, denn das ist immer die Chance des Lesens über Filme: interessante, alternative Blickwinkel zu finden.

2 Du könntest deine “Bloggerkarriere” rebooten. Wie würdest du dich neu erfinden? Was würdest du anders machen? Warum?
Ich mag keine Reboots. Und nein: ich bin insgesamt ganz zufrieden. Bei „Whoknows Presents“ kann ich ohne Zeitdruck so frei und so viel schreiben wie ich will. Bei anderen Publikationen muss ich schneller, pointierter, freier von assoziativen Exkursen etc. schreiben – was auch seine eigenen Reize haben kann. Mit der Kombination aus beiden Möglichkeiten bin ich zufrieden.

3 Warum schaust du dir Filme an? Was erwartest du von ihnen? Was versprichst du dir für dich davon?
Auf die einfachste Formel reduziert: ich liebe Filme! Es ist die Kunstform, aus der ich persönlich die meiste persönliche Befriedigung ziehe.

4 Was muss ein Film leisten, damit er dir gefällt? Gibt es einen Film, der deinen Idealvorstellungen krass widerspricht und den du trotzdem oder gerade deshalb besonders liebst?
Diese Frage knüpft indirekt wohl auch an die vorherige Frage an, und da möchte ich gerne Vladimir Nabokov paraphrasieren, der in einer Vorlesung über Nikolaj Gogol sinngemäß sagte, dass Kunst an sich absolut zweckfrei sei, ja diese Zweckfreiheit sogar die Voraussetzung von Kunst sei. Genauso ist es denke ich auch mit Filmen (das beantwortet jetzt wohl eher die dritte Frage).
„Leisten“ muss ein Film erst einmal gar nichts. Wenn irgendetwas oder irgendjemand etwas „leisten“ muss, dann der Zuschauer. Ob mir ein Film gefällt, ist natürlich auch in erster Linie von persönlichen Dispositionen abhängig. Von der Tagesform auch: physisch (mit Sekundenschlafattacken spät Nachts schaut man einen Film anders als aufgeweckt am frühen Abend); psychisch (ob man in einer persönlichen Krise steckt oder gerade rundum glücklich ist, beeinfluss eine Sichtung auch). Und auch von längerfristigen Persönlichkeitsentwicklungen: mit 28 Jahren sieht man Filme anders als mit 18 Jahren (oder auch schon mit 23 Jahren).
Insofern habe ich auch keine Idealvorstellungen davon, wie ein Film aussehen... ähm... soll? muss? kann? darf? ... Ich sage aber immer wieder gerne, dass die Bewertung „handwerklich gut gemacht“ etwas ist, was man auch über ein Küchenregal sagen kann.

5 Was hältst du für das größte Manko des gegenwärtigen Kinos/Films?
Zum Film: ich lasse keine Gelegenheit ungenutzt, die allgemeine Tendenz zur Verschnitt-Verwackelung von Action-Inszenierungen anzuprangern, die in den letzten Jahren nach meinem Gefühl zu einem offenbar von vielen Zuschauern akzeptierten „state of art“ geworden ist. Von Low-Budget bis Blockbuster, von Nordamerika bis nach Westeuropa – sobald die Action beginnt, flüchten beängstigend viele Filme in einen Amoklauf aus hysterischem Kameragewackel in Kombination mit einem Schnitt, der eigentlich eher als Zerhäckselung bezeichnet werden kann. Das sieht nicht nur grausig aus – die daraus folgende „Entkörperlichung“ der Gewalt (und Gewalt ist relativ vielen Actionszenen inhärent) stellt auch ethische Probleme.
Zum Kino: ich habe das Gefühl, dass zumindest in meinem mittelthüringischen Lebensumfeld das Programm langweiliger, risikoärmer und eintöniger geworden ist. Oder um es mal wirklich auf meine gegenwärtige Heimatstadt Weimar zu reduzieren: das örtliche Multiplex hat ein absolutes Minimalprogramm; das kommunale Kino ist zur Karikatur eines vor sich hindümpelnden subventionierten Stadtkinos geworden; das örtliche Programmkino hat zwar immer wieder gute Specials (die regelmäßigen Stummfilm-Vorführungen), ist aber insgesamt risikoärmer geworden und zeigt hauptsächlich Arthouse-Mainstream-Kram, das teilweise wochen- und monatelang gespielt wird. Einst, im Spätsommer 2009, lief dort regulär LOVE EXPOSURE – ein vierstündiger japanischer Exploitationfilm wäre dort heute zumindest im regulären Programm undenkbar. Kurz: die Kinolandschaft ist ärmer geworden. Weniger Filme werden für längere Zeit gezeigt – auf Kosten von anderen Filmen, die vielleicht spannender sind. Und ich vermute ganz stark, dass diese cinematographische Desertifikation nicht nur das mittelthüringische Steppengebiet betrifft. Und was die potentiellen „Oasen“ betrifft: in Deutschland leben über 60 Millionen Menschen nicht in Berlin, München, Frankfurt am Main oder Hamburg.

6 Du darfst Produzent spielen und den Film machen, auf den die Welt bislang vergeblich gewartet hat. Du bist dabei weder finanziell, noch in Zeit und Raum gebunden. Welchen Stoff würdest du verfilmen, wer dürfte Regie führen, Drehbuch schreiben, den Soundtrack komponieren etc. Wer spielte die Hauptrollen? Alles ist möglich!
Nein, das ist zu viel Verantwortung für mich. Ich schreibe über Filme, ich mache keine Filme.

7 Welche Filme würdest du gern zu ihrer Erstaufführung im Kino sehen? Beschränke dich auf maximal drei.
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob diese Frage retrospektiv gemeint ist, also im Sinne einer kontrafaktischen Zeitreise, die mich zu Ort und Zeit der Filmpremiere führt – aber ich interpretiere das mal genau so.
1. PLAYTIME von Jacques Tati, 16. Dezember 1967 in Frankreich (wahrscheinlich Paris)
2. PER UN PUGNO DI DOLLARI von Sergio Leone, 12. September 1964 in Florenz
3. JOHNNY GUITAR von Nicholas Ray, 26. Mai 1954 in New York

8 Du darfst dir drei DVD-/Bluray-Veröffentlichungen bislang nicht erhältlicher Filme wünschen. Welche wären es?
Mein erster spontaner Einfall war Ewald André Duponts VARIETÉ. Doch er ist kürzlich restauriert worden und kommt nun offensichtlich im Februar raus, kurz nach der Aufführung der Restaurierungsfassung bei der Berlinale. Ich freue mich wahnsinnig! Deshalb also anstelle von VARIETÉ einen sowjetischen Stummfilm.
OBLOMOK IMPERII (Fridrich Ėrmler, UdSSR 1929): die Geschichte eines Soldaten, der im Ersten Weltkrieg durch eine Verwundung sein Gedächtnis verliert, dadurch die russische Revolution „verpasst“ und erst Jahre später wieder zu sich kommt. Gesehen im April 2012 beim goEast-Festival. Ein Fall für die Edition Filmmuseum – zumal das Filmmuseum Wien offenbar über eine Kopie verfügt.
TRI (Aleksandar Petrović, Jugoslawien 1965): ein revisionistischer Partisanenfilm wie ein Filmgedicht. Soviel ich weiß, wurde die systematische Archivierung jugoslawischer Filme in den bundesstaatlichen Archiven erst Ende der 1960er Jahre beschlossen – keine Ahnung also, wo die Kopie herstammte, die ich im April 2013 beim goEast-Festival sah.
DEDUNA [TSITSINATELEBI / SVETLJAČKI] (Dato Janelidze, UdSSR 1987): poetischer, fast meditativer Film über einige Tage im Lebensalltag eines jungen Mädchens in einem georgischen Bergdorf. Ein komplett zeitloses Werk, das aus einem Paralleluniversum jenseits unseres Zeitverständnisses zu kommen scheint. Gesehen beim goEast-Festival 2012, wird leider wohl noch lange obskur bleiben.

9 Wie sieht dein ideales Kino aus?
Die Frage impliziert hoffentlich nicht, dass es das ganze finanziell und logistisch auch nur annähernd machbar sein muss? Dann also los:
Architektonisch und von der Inneneinrichtung klaube ich mir einige Elemente aus verschiedenen mir bekannten Kinos zusammen: Sitzreihen aus individuellen Sofas und Sessel vom Sperrmüll (Lichthaus Weimar), eine Decke mit „Shining“-Muster (Gartenbaukino Wien), ein schöner roter Teppich im Eingangsbereich (Caligari-Filmbühne Wiesbaden). Filmplakate hängen ansonsten überall. Ticket- und Getränkeverkauf sind strikt getrennt. Die Toiletten sind für Rollstuhlfahrer geeignet und überhaupt so geräumig gestaltet, dass niemand klaustrophobische Anfälle befürchten muss.
Von der Ausstattung her hat mein Kino fünf Säle, alle mit einem eigenen Namen, darunter dem Buster-Keaton-Saal! Dort werden auch Stummfilme gespielt. Alle gängigen Kinoformate können in meinem idealen Lichtspielhaus abgespielt werden: 35mm, 16mm, 70mm, DCP, 3D. Nur Synchronfassungen, egal in welchem Format, können aus magischen Gründen nicht abgespielt werden.
Bei der Gestaltung des Programms habe ich natürlich auch viele Ideen. Ausgesuchte aktuelle Filme sind natürlich regulär zu sehen – allerdings für maximal zwei Wochen. Alle 14 Tage gibt es einen Stummfilm bzw. einen Abend mit Stummfilmen – idealerweise von meinem liebsten Stummfilmpianisten Richard Siedhoff begleitet, am Flügel bzw. an der Kinoorgel im Buster-Keaton-Saal. Am Wochenende hat einer der Säle ein spezielles Midnight-Movie-Screening: das müssen keine klassischen Midnight-Movies sein, sicher ist nur, dass die letzte Vorstellung auch mal um Mitternacht beginnen kann. Teils in Verbindung damit, teils auch unabhängig davon, gibt es regelmäßig Double-Features mit Filmklassikern. Das Kino führt auch einen eigenen Kalender, der wichtige Geburtstage berücksichtigt: 18. Januar wäre zum Beispiel der Cary-Grant-Tag, 19. Januar der Jerzy-Kawalerowicz-Tag, 20. Januar der Federico-Fellini-Tag – und der 19. März selbstverständlich der Bruce-Willis-Tag. Regelmäßige Retrospektiven gibt es auch: teils ganz klassisch Personen-zentriert (etwa zu Ozu), teils auch thematisch-assoziativ (etwa „Perlendes Nass: Der Regen im Film“). Im Drei-Wochen-Rhythmus gibt es einen Abend „Der unbekannte Film“, um z. B. rare Filmperlen aus Osteuropa zu zeigen (siehe Antwort auf Frage 8). Und am heißesten und schwülsten Tag des Sommers wird immer spontan BODY HEAT gezeigt – die ansonsten perfekt funktionierende Klimaanlage wird für diese Vorstellung temporär ausgeschaltet.

10 Wenn du in einem Film einziehen könntest, welcher Film wäre es?
Sehr schwierige Frage. Viele Filme, die ich mag, haben Welten, in denen ich mich persönlich ganz sicher nicht wohl fühlen würde – geschweige denn permanent leben möchte. Zu gewalttätig, zu gefährlich, von zu vielen unsympathischen Menschen bevölkert. Deshalb fiele mir spontan DONOVAN‘S REEF ein. Das wäre ein utopisches Inselparadies, wo man in der örtlichen Kneipe mit Lee Marvin und John Wayne Bier trinken könnte.

11 Nenne einen Film, den du gern mögen würdest, es aber einfach nicht schaffst.
Das ist für mich relativ einfach: NOSFERATU: EINE SYMPHONIE DES GRAUENS. Ich habe ihn letztes Mal im März 2014 im Kino geschaut – es war wohl die fünfte oder sechste Sichtung, und sie hat mich zum fünften bzw. sechsten Mal kalt gelassen und ab einem bestimmten Punkt sogar angeödet. Die sechste bzw. siebente Sichtung wird im Laufe des Jahres 2015 bestimmt noch folgen.



Jetzt ist es an der Zeit, selbst Nominierungen auszusprechen. Zu meinem Bedauern muss ich sagen, dass ich relativ wenig Blogs und Blogger kenne und regelmäßig lese, von denen ich weiß, dass sie noch nicht für den Award nominiert wurden. Daher leider nur folgende drei:


luzifus von the-gaffer.de

gabelingeber von Hauptsache (Stumm)film




Hier meine Fragen:


1 Gibt es einen Regisseur, den sehr viele Menschen hassen oder aber sehr wenige Menschen kennen, den du magst oder sogar liebst?

2 Hast du dich schon einmal in eine/n Schauspieler/in verliebt, und wenn ja, in welche/n?

3 Regisseure, Schauspieler – alles ganz schön, aber gibt es eine ganz konkrete Person aus einem anderen Bereich des Filmemachens (z. B. Drehbuchautor, Kameramann, Komponist, Production Designer, Cutter), die dir ganz besonders am Herzen liegt?

4 Was ist deine Lieblingsszene aus einem Film, den du – eben abgesehen von dieser Szene – insgesamt wenig oder sogar überhaupt nicht magst?

5 Hast du, um einen bestimmten Film zu sehen, schon einmal große Mühen, Belastungen und Risiken (logistisch, finanziell, zwischenmenschlich, beruflich) auf dich genommen? Wenn ja, welcher Film und welche Unannehmlichkeiten?

6 Was ist dein liebster Regen-Film – also Film, in dem Regen deiner Meinung nach eine besondere thematische, ästhetische oder klimatische Rolle spielt?

7 Gibt es von einem berühmten Regisseur ein vermeintliches „Nebenwerk“, das du für völlig übersehen und unterschätzt hältst?

8 Nehmen wir einmal an, ich betreibe ein Kino und starte die Reihe „Filmperlen im Doppelpack“, bei der mein Lichtspielhaus in einem der Säle an jedem letzten Samstag des Monats zwei bekannte oder weniger bekannte ältere Filme direkt hintereinander zeigt – und ich ernenne dich zum Kurator dieser Filmreihe. Welche 12 Double-Features schlägst du dann für 2015 vor?

9 Gehst du lieber alleine oder mit Begleitung ins Kino – und weshalb?

10 Sitzt du im Kino lieber in vorderen, mittleren oder hinteren Reihen?

11 Die ultimative Slapstick-Frage: Buster Keaton oder Charlie Chaplin?

LE CORBEAU - ein Rabe schreibt anonyme Briefe

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Dies ist die leicht überarbeitete Version eines Artikels, den ich 2004 (ohne Bilder) in der Newsgroup de.rec.film.misc und 2006 als PDF in der Filmzentrale veröffentlicht hatte.


LE CORBEAU (DER RABE)
Frankreich 1943
Regie: Henri-Georges Clouzot
Darsteller: Pierre Fresnay (Dr. Remy Germain), Ginette Leclerc (Denise Saillens), Pierre Larquey (Dr. Michel Vorzet), Micheline Francey (Laura Vorzet), Héléna Manson (Marie Corbin), Sylvie (François' Mutter), Liliane Maigné (Rolande Saillens)

LE CORBEAU hat Henri-Georges Clouzot jede Menge Ärger eingetragen, und er hätte beinahe seine Karriere ruiniert, bevor sie überhaupt richtig begonnen hatte. Doch der Reihe nach!

Der Schauplatz
Eine kleine Stadt, hier oder anderswo.

Mit dieser Einblendung am Ende der Anfangs-Credits wird der Zuschauer auf den Schauplatz eingestimmt, und eine Kamerafahrt visualisiert die Worte: Ein Schwenk über die Dächer der Stadt in einer ländlichen Gegend, eine alte Kirche, ein pittoresker Friedhof. Man befindet sich in einem abgeschlossenen Mikrokosmos. - Ein Bauernhof, ein paar hundert Meter außerhalb der Stadt: Dr. Remy Germain verlässt mit blutbesudelten Händen das Haus und wäscht sie sich in einem Bottich. Er hat gerade eine Operation - wohl einen Kaiserschnitt - durchgeführt; die Mutter lebt, das Kind ist tot. Dr. Germain ist der Held - wenn man ihn denn so nennen will - unserer Geschichte. Er macht seine Arbeit als Arzt professionell und pflichtbewusst, aber er ist ein abweisender Charakter von einer bisweilen arrogant wirkenden Distanziertheit.

Dr. Remy Germain ...
Ins städtische Krankenhaus zurückgekehrt, spricht ihn sein Kollege Dr. Bertrand auf das Ergebnis der Operation an, verweist darauf, dass das Resultat - Mutter lebt, Kind tot - bei Germain schon mehrmals vorgekommen sei, und beschuldigt ihn unverhohlen, eine (damals streng verbotene) Abtreibung durchgeführt zu haben, was Germain jedoch erzürnt zurückweist. Der hinzugekommene Chefarzt Dr. Delorme entschärft den Streit, indem er die beiden einlädt, ein Gangrän zu besichtigen: "Eine wahre Sehenswürdigkeit", stellt er abgebrüht fest, "unbezahlbar!". Zuvor schon hat er seine eigene Frau in einer Nebenbemerkung unverblümt als "Kuh" bezeichnet, "aber glücklicherweise habe ich noch meine Pfeife, und Alkohol natürlich". Schon in den ersten knappen Dialogen offenbart sich Clouzots bitteres, sarkastisches Menschenbild.

... hat eine Auseinandersetzung mit Dr. Bertrand
Wir lernen weitere Menschen im Umfeld des Krankenhauses kennen. Da ist die altjüngferlich wirkende Krankenschwester Marie Corbin. Sie ist nicht wirklich hässlich, aber mit ihrem verkniffenen Gesichtsausdruck und mit ihrer nonnenähnlichen Schwesterntracht, die sie auch in ihrer Freizeit trägt, wirkt sie alles andere als attraktiv. Ihr schroffes Wesen, auch den Patienten gegenüber, sorgt dafür, dass sie sich allgemeiner Unbeliebtheit erfreut. Ganz anders Maries jüngere Schwester Laura Vorzet, die als freiwillige Helferin zeitweise im Krankenhaus arbeitet. Laura ist jung, hübsch, freundlich und beliebt. Marie wirft ihrer Schwester vor, dass sie sich nur deshalb so oft im Krankenhaus aufhält, weil sie Dr. Germain nachstellt, und sie bezeichnet Laura offen als Hure. Laura ist die Ehefrau des wesentlich älteren Dr. Michel Vorzet, des Leiters der psychiatrischen Abteilung im Krankenhaus.

Marie Corbin (links) und ihre Schwester Laura Vorzet
Dieser Dr. Vorzet ist ein Spötter, ein geistreicher Zyniker mit einer guten Portion Selbstironie. Bei seinem ersten Auftritt kommt er gerade von einem Fachkongress nach Hause, und er begrüßt Laura mit folgender kleinen Ansprache:
"Ich kenne nichts Absurderes als Ärztekongresse - ausgenommen Psychiaterkongresse. Niemand hört den Vortragenden zu - gottseidank! Anderenfalls gäbe es schallendes Gelächter. Der einzige nützliche Zweck dieser Veranstaltungen ist, dass Provinzärzte die Gelegenheit erhalten, ihre Frauen mit Pariserinnen zu betrügen."
Der Routinier Pierre Larquey ist die Idealbesetzung für Vorzet. Larquey war schon 47 Jahre alt, als er 1931 ernsthaft ins Filmgeschäft einstieg, aber das hielt ihn nicht davon ab, in noch etwa 200 Filmen mitzuwirken, darunter insgesamt fünf von Clouzot.

Dr. Vorzet
Unterdessen ertappt Germain Marie Corbin, wie sie einen von ihm verfassten Brief aus seinem Ärztekittel zieht. Er nimmt ihr den an Laura adressierten Brief ab und zerreißt ihn. Zugleich stellt er sie zur Rede, weil im Medikamentenschrank des Krankenhauses Morphium abhanden gekommen ist. Er beschuldigt sie, das Morphium gestohlen zu haben, und fordert sie auf, es wiederzubeschaffen. Das Betäubungsmittel wird dringend für François benötigt, einen jungen Patienten. Er leidet an Leberkrebs und hat noch höchstens zwei Wochen zu leben, aber man verheimlicht ihm seinen Zustand. - Dr. Germain bewohnt eine Wohnung in den oberen Stockwerken des örtlichen Schulgebäudes; sein Vermieter Saillens ist zugleich der Schuldirektor. Dessen 14-jährige Tochter Rolande schleicht im Haus herum und benimmt sich merkwürdig, wenn Germain in der Nähe ist. Zuhause angekommen, wird Germain von Saillens gebeten, nach seiner jüngeren Schwester Denise Saillens zu sehen, die ebenfalls im Schulhaus wohnt, weil sie krank sei. Doch Germain findet schnell heraus, dass ihr nichts fehlt - die laszive, männermordende Denise wollte sich nur untersuchen lassen, um ihn zu verführen, doch er lässt sie abblitzen.

François und seine Mutter
Kurz darauf erfährt Germain, dass Laura einen anonymen Brief erhalten hat. Darin wird sie beschimpft und beschuldigt, Germains Geliebte zu sein. Doch auch er selbst hat einen ähnlichen Brief erhalten. "Du Lüstling", heißt es da, "hör auf, mit Vorzets Frau Laura-die-Hure herumzumachen". Der in großen Blockbuchstaben geschriebene Brief ist mit LE CORBEAU unterzeichnet, zu deutsch "der Rabe", und er ist noch mit einem gezeichneten Raben verziert. Damit nicht genug: Auch Dr. Vorzet erhält einen Brief, in dem er auf das angebliche Verhältnis von Laura und Germain hingewiesen wird. Er spricht Germain daraufhin an, doch er beruhigt ihn sogleich, weil er den Beschuldigungen keinen Glauben schenkt. Doch er teilt ihm mit, dass auch Chefarzt Dr. Delorme einen Brief vom "Raben" erhalten habe, in dem Germain der Abtreibung bezichtigt wird. Vorzet berichtet Germain auch von seinen psychiatrischen Erfahrungen mit den Verfassern solcher anonymen Briefe. Vorzet doziert, dass es sich um keinen einfachen Verleumder handle, sondern um einen Kranken. Jeder könne dahinterstecken - sogar Germain selbst, weil es bei solchen Irren durchaus vorkäme, dass sie sich selbst belasten. Als Germain nach einer kleinen Pause antwortet, dass auch Vorzet der Rabe sein könnte, antwortet dieser augenzwinkernd "Und warum nicht?". Später wird Vorzet seine Vermutungen über den Raben Germain gegenüber noch präzisieren: Sexuell Verklemmte, alte Jungfern, Impotente, hässliche alte Männer, Krüppel - unter solchen Personen müsse man den Schuldigen suchen.

Rolande Saillens
Innerhalb kurzer Zeit häufen sich nun die Briefe, und das Themenspektrum verbreitert sich, auch wenn Germain der am häufigsten Angegriffene bleibt. Dr. Delorme erhält einen Brief, in dem Monsieur Bonnevie, der Schatzmeister des Krankenhauses, beschuldigt wird, vertrauliche Details einer Ausschreibung an einen Freund verraten zu haben, um ihm einen finanziellen Vorteil zu verschaffen. Als Delorme Bonnevie zur Rede stellt, macht der zunächst ein betretenes Gesicht, doch dann kontert er kühl, indem er seinerseits einen Brief zückt. Darin wird er aufgefordert, seine guten Beziehungen zum "Abtreiber Germain" aufrechtzuerhalten, weil er seine Dienste vielleicht bald brauchen könne. Dann nämlich, wenn seine (Bonnevies) Tochter weiterhin so oft im Büro von Delorme gesehen werde. Delorme tritt daraufhin den geordneten Rückzug an: Beide sind sich flugs einig, dass an den Vorwürfen nicht das Geringste dran sei. Die Art und Weise, wie die beiden ehrenwerten Herren die Situation handhaben, macht unmissverständlich klar, dass zumindest diese Anschuldigungen der Wahrheit entsprechen. Der Rabe ist nicht nur einfach ein Spinner, sondern er verfügt über Insiderwissen.

Denise Saillens lackiert sich die Zehennägel
Niemand ist mehr vor den Schmähungen sicher, vor allem die Honoratioren: Der Apotheker soll gepanschte Medikamente verhökern, dem Bürgermeister sollen von seiner Frau Hörner aufgesetzt werden, und so weiter. Die allgemeine Verunsicherung steigt, oder - wie es Dr. Vorzet ausdrückt - die Stadt leidet an einem Fieber. Vorzet macht sich den Spaß und trägt alle bekannt gewordenen Briefe in ein Diagramm ein, das wie die Temperaturkurve eines Patienten aufgebaut ist. Da Germain nach wie vor die Hauptzielscheibe ist, beginnt man, in seiner Vergangenheit zu forschen, wie ihm von Vorzet mitgeteilt wird. Dabei tut sich eine Ungereimtheit auf. Germain behauptete, früher in Grenoble praktiziert zu haben, doch im dortigen Ärzteregister fand man nun keinen Dr. Germain, ausgenommen einen, der unter dem Namen Germain Monatte nach Paris ging und ein berühmter Gehirnchirurg wurde. Bei diesem Gespräch teilt Vorzet Germain auch mit, dass die Behörden inzwischen Marie Corbin als Hauptverdächtige betrachten. Doch Vorzet, der mit Marie verlobt war, bevor er Laura heiratete, hält sie für unschuldig.

Der erste Brief des Raben
Inzwischen wird Germain wieder einmal zu Denise gerufen, doch diesmal ist sie wirklich krank. Dabei entdeckt er, dass sie stark hinkt, was sie normalerweise mit speziellem Schuhwerk verschleiert. Sie verdankt diese Behinderung einem zurückliegenden Autounfall, wie sie ihm erzählt, und sie fragt ihn, ob sie deshalb weniger attraktiv sei. Es wird klar, dass ihr sexuell aggressives Verhalten als Kompensationsmechanismus für ihre Gehbehinderung dient. "Es ist meine Rache am Leben", formuliert sie das. Germain taut jetzt endlich etwas auf. Er hat Denise erzählt, dass er vom Leben Frieden erwartet und totales Vergessen. Denise erwidert, dass sie ihm kein totales Vergessen geben kann, aber Vergessen für ein paar Stunden - und das zähle auch. Diesmal hat Denise Erfolg - Germain verbringt die Nacht bei ihr. Während gleichzeitig Rolande heulend in ihrem Zimmer sitzt. Es ist offensichtlich - sie ist in Germain verknallt. Am nächsten Morgen will Germain jedoch nicht mehr viel von Denise wissen, und er eröffnet ihr, dass er vorhat, die Stadt zu verlassen. Sie beschimpft ihn daraufhin als Feigling und Schwächling und stellt ihm als Zeichen ihrer Verachtung einen ausgestopften Raben, den sie aus einer Kiste in einer Abstellkammer hervorkramt, vor die Tür.

Monsieur Bonnevie (links) und Chefarzt Dr. Delorme
Ein Selbstmord lässt die Lage in der Stadt eskalieren. François, der Krebspatient, wurde vom Raben über seinen aussichtslosen Zustand informiert. Daraufhin hat er sich mit einem Rasiermesser, das ihm seine Mutter kurz zuvor ins Krankenhaus brachte, die Kehle durchgeschnitten. - Nicht nur die Behörden, sondern auch ein Großteil der Bevölkerung verdächtigt inzwischen Marie Corbin, die ohnehin niemand leiden kann. Anstatt eines geplanten Stadtfestes findet nun die Beisetzung von François statt - unter Teilnahme aller Honoratioren, die den lebenden François wohl kaum eines Blickes gewürdigt hätten. Der Unterpräfekt hält eine Ansprache, die schon rein inhaltlich vor hohlem Pathos trieft. Dazu wird sie auch noch in einem übertrieben melodischen Singsang vorgetragen und von ausladender Gestik begleitet und so von Clouzot vollends der Lächerlichkeit preisgegeben. Als während des Leichenzugs aus einem Kranz, den Marie Corbin angebracht hatte, ein Brief des Raben hervorflattert, droht der Volkszorn überzukochen. Marie, die inzwischen vom Krankenhaus entlassen wurde, flüchtet sich in ihre Wohnung, wo bereits Vandalen ihren Spiegel zertrümmert und die Wände beschmiert haben. Als der Mob heranzieht, will sie durch den Hinterausgang flüchten, doch dort wird sie bereits von zwei Polizisten erwartet und abgeführt.

Rendezvous zwischen Dr. Germain und Laura Vorzet
Nach Maries Verhaftung ist es zunächst ruhig - keine Briefe mehr. Dr. Germain nützt die Gelegenheit, um zu packen. Denise macht ihm eine Szene. Sie erklärt, dass sie ihn liebe, doch er glaubt ihr nicht. Er behauptet, dass sie ihm nur eine Abschiedsszene vorspiele. Darauf wirft sie ihm vor, dass er das sei, was sie am meisten verachtet - ein Bourgeois. - Aus Germains Abreise wird so schnell nichts. Während einer Messe, bei der fast die ganze Stadt anwesend ist, flattert ein Brief des Raben von der Empore ins Kirchenschiff. Damit ist die immer noch inhaftierte Marie Corbin aus dem Schneider. Und bald gibt es wieder so viele neue Briefe wie zuvor. Die Honoratioren tagen erneut, der Bürgermeister fürchtet um seine Wiederwahl. Da hat der stellvertretende Staatsanwalt - zugleich Dr. Delormes Sohn - eine Idee: Das Hauptziel des Raben ist wie eh und je Dr. Germain. Wenn man schon den Raben nicht finden kann, vielleicht sollte man dann versuchen, Dr. Germain loszuwerden? Gesagt, getan. In Germains Sprechstunde taucht eine Frau auf, die eine rührselige Geschichte erzählt und um eine Abtreibung bittet. Doch Germain lehnt schroff ab. Als er sie unwirsch aus dem Sprechzimmer weist, erkennt sie ihn wieder: Er hatte ihr vor Jahren nach einem Unfall durch seine ärztliche Kunst das Leben gerettet. Sie gibt ihre Maskerade auf und enthüllt den Plan: Sie wurde für 10.000 Francs angeheuert. Hätte sich Germain auf die Abtreibung eingelassen, wäre er dran gewesen.

Denise macht bei Dr. Germain Fortschritte
Unterdessen erfährt der Unterpräfekt aus der Pariser Zeitung, dass er versetzt wurde, und gerät darüber mit den anderen Würdenträgern in Streit. In die Auseinandersetzung platzt Germain und hält ihnen eine Standpauke. Er erklärt den verdutzten Herren, dass er jener berühmte Gehirnchirurg Germain Monatte aus Paris sei. Vor Jahren war seine Frau schwanger, und als es Komplikationen gab, versuchte ein Gynäkologe, sowohl Mutter als auch Kind zu retten - wobei beide starben. Damals fasste Germain den Entschluss, inkognito in die Provinz zu gehen und es besser zu machen als sein Kollege seinerzeit. Die Herrschaften sind konsterniert, doch der stellvertretende Staatsanwalt hat schon einen neuen Plan. Auf der Empore in der Kirche, von der der Brief herabflog, befanden sich nur 18 Personen, und einer von ihnen muss der Rabe sein. Diese 18 Personen werden nun zum Diktat gebeten. Vorzet erläutert die Idee: Auch bei Blockbuchstaben gibt es ein charakteristisches Schriftbild. Dieses könne man zwar kurzfristig verbergen, aber bei einem lang genug andauernden Test werde es zum Durchbruch kommen und den Raben verraten. So werden also alle Verdächtigen unter Polizeibewachung in einem Klassenzimmer in der Schule versammelt, um Originalbriefe des Raben niederzuschreiben. Germain, erklärter Atheist, war nicht in der Kirche, und Marie Corbin saß im Gefängnis, aber sonst sind viele Bekannte versammelt: Denise, Laura, Dr. Bertrand, Schatzmeister Bonnevie, Schuldirektor Saillens, seine Tochter Rolande. Dr. Vorzet und der stellvertretende Staatsanwalt lesen die Texte vor, Vorzet soll anschließend als graphologischer Gutachter fungieren. Das Diktat beginnt - und zieht sich Stunden um Stunden hin. Die Szene ist eine recht grimmige Parodie auf das Klassendiktat, eine Säule (nicht nur) des französischen Grundschulunterrichts. Nach vielen Dutzenden von Briefen - die Nacht ist längst hereingebrochen - bricht Denise ohnmächtig über der Schulbank zusammen. Die Veranstaltung ist zu Ende, doch ein eindeutiges Ergebnis hat sie nicht erbracht. Der Schriftvergleich blieb ohne Ergebnis, der Rabe ist noch immer unerkannt.

Noch ein Rabe
Bei einer nächtlichen Zusammenkunft von Vorzet und Germain (auf die ich später noch einmal zurückkommen werde) macht Vorzet ein überraschendes Geständnis: Er ist morphiumsüchtig, und Marie Corbin hat die Ampullen für ihn, ihren Ex-Verlobten, den sie noch immer liebt, gestohlen. Am nächsten Morgen trifft Germain auf die Mutter von François, dem toten Krebspatienten. Sie macht eine merkwürdige Andeutung: Sie behauptet, den Raben ziemlich sicher zu kennen, aber sie verrät nicht, wen sie im Sinn hat. Sie zeigt Germain das Rasiermesser, mit dem sich ihr Sohn den Hals durchschnitt. Wenn sie absolut sicher sei, den Raben zu kennen, dann werde das Messer abermals in Aktion treten und den Schuldigen bestrafen. Germain versucht, ihr den Gedanken an Selbstjustiz auszureden, aber offensichtlich mit wenig Erfolg.

Fast ein Staatsbegräbnis für François; der Unterpräfekt hält eine Rede
Am selben Tag findet Germain in Denises Zimmer einen an ihn gerichteten Brief des Raben. Darin steht, dass Denises Schwächeanfall beim Diktat darauf zurückzuführen sei, dass sie von ihm schwanger sei. Germain versteckt sich vor der hereinkommenden Denise und ertappt sie dabei, wie sie den Brief in ein Kuvert steckt und adressiert. Natürlich hält er sie nun für den Raben und stellt sie zur Rede. Doch Denise versichert, dass das ihr erster solcher Brief sei. Sie habe es nicht fertiggebracht, mit ihm über ihre Schwangerschaft zu sprechen, und deshalb sei sie auf die Idee gekommen, die Botschaft dem Raben unterzuschieben. Germain ist hin- und hergerissen: Soll er ihr glauben oder nicht? Am Ende ist er geneigt, ihr zu glauben, auch wenn Zweifel bleiben. Denise fordert ihn daraufhin auf, zu Vorzet zu gehen, um nach dem Rechten zu sehen. Laura habe bei ihr angerufen, weil sie eine Todesdrohung vom Raben erhalten habe. Germain eilt in die Wohnung der Vorzets, doch Laura empfängt ihn befremdet. Sie weiß von keiner Todesdrohung und sie hat Denise nicht angerufen - behauptet sie. Germain ist verwirrt. Hat Denise gelogen? Wenn ja, warum? Oder lügt Laura?

Ein zerbrochener Spiegel als Metapher: Marie Corbin vor den Scherben ihres heilen Selbstbildes

An dieser Stelle - rund 8 Minuten vor Ende des Films - unterbreche ich die Handlung, um mich Clouzots Lebenslauf und der Entstehungsgeschichte von LE CORBEAU zuzuwenden. Wer erfahren will, wer nun wirklich der Rabe ist, kann es am Ende des Artikels nachlesen.

Clouzot wurde 1907 in der französischen Stadt Niort geboren. Die eigentlich vorgesehene Laufbahn in der Marine zerschlug sich wegen seiner Kurzsichtigkeit. Er begann daraufhin ein Studium mit dem Berufsziel eines Diplomaten, das er jedoch abbrechen musste, als die Weltwirtschaftskrise das Vermögen seiner Eltern dahinraffte. Er wechselte nun als Journalist zu einem Boulevardblatt. Bei einem Interview lernte er 1931 den Filmproduzenten Adolphe Osso kennen, der ihn einlud, als Cutter und Drehbuchbearbeiter in seiner Firma zu arbeiten. Clouzot hatte sein Metier gefunden.

Henri-Georges Clouzot (1975)
Schon 1931 inszenierte er mit LA TERREUR DES BATIGNOLLES auch einen eigenen Kurzfilm. 1932 ging er nach Deutschland. Clouzot arbeitete als Regieassistent bei E.A. Dupont und beim damals noch in Deutschland wirkenden Anatole Litvak. Daneben fertigte Clouzot bei der UFA Alternativversionen deutscher Filme an. In einer Zeit, als Synchronisationen noch unüblich waren, wurden gelegentlich verschiedene Sprachfassungen eines Films gleichzeitig gedreht - am selben Set, aber mit anderen Schauspielern. Bekannte Beispiele sind etwa Hitchcocks MURDER!, von dem gleichzeitig eine deutsche Version entstand, oder die spanischsprachige Version von Tod Brownings DRACULA. Wie nicht anders zu erwarten, war Clouzot für französische Sprachfassungen der UFA-Filme zuständig. Künstlerische Freiheiten dürfte er dabei kaum besessen haben, deshalb sollte man diese Filme nicht als eigenständige Regiearbeiten werten.

Dr. Vorzets “Fieberkurve” nach Marie Corbins Verhaftung
Clouzots erster eigener Spielfilm schien nahe, doch es kam anders: 1933 zwang ihn eine schwere Lungenerkrankung zu einem fünfjährigen Aufenthalt in einem Sanatorium. Er vertrieb sich die Zeit mit dem Schreiben von Theaterstücken und Drehbüchern, die jedoch zunächst nicht realisiert wurden. Clouzots chronisch schlechte Gesundheit sollte ihn auch später immer wieder an der Arbeit hindern und war mitverantwortlich für seinen zahlenmäßig geringen Ausstoß an Filmen. 1938 war Clouzot soweit wiederhergestellt, dass er ins Geschäft zurückkehren konnte. Die französische Firma CICC verfilmte drei Drehbücher, an denen er beteiligt war. 1941 erhielt er dann ein verlockendes Angebot - freilich eines mit Pferdefuß, wie sich später erweisen sollte.

Krisensitzung der Honoratioren
Nach der Niederlage der französischen Truppen im Juni 1940 und der darauffolgenden deutschen Besetzung des nördlichen Frankreich war die französische Filmindustrie schwer angeschlagen. In dieser Situation witterte Joseph Goebbels eine Chance, den Franzosen die Niederlage etwas zu versüßen, um im Gegenzug den Besatzungstruppen das Leben zu vereinfachen. Ende 1940 wurde in Frankreich die Produktionsfirma Continental Films gegründet. Sie stand unter deutscher Kontrolle und wurde mit deutschem Geld finanziert. Erklärter Auftrag war es, mit französischem Personal anspruchslose, billige Unterhaltungsfilme zu drehen, um das Volk bei Laune zu halten.

Das Konzept ging zunächst auf. Bald dominierte Continental den französischen Filmmarkt. Zwar gab es weiterhin rein französische Produktionsfirmen, aber sie hatten gegen Continental einen schweren Stand. Als Leiter von Continental war der Produzent Alfred Greven von Goebbels nach Frankreich delegiert worden. Greven machte nun Clouzot das Angebot, als fest angestellter Drehbuchschreiber bei Continental einzusteigen, und Clouzot nahm an. Möglicherweise kannte Greven Clouzot schon von dessen Zeit bei der UFA. Jedenfalls war er offenbar von seinen Fähigkeiten überzeugt, denn Clouzot avancierte dann gleich zum Leiter der Drehbuchabteilung bei Continental. Greven interpretierte den Auftrag für Continental etwas frei. Er war bestrebt, neben dem verordneten Flachsinn auch qualitätvollere Filme zu produzieren, freilich ohne den Bereich des Unterhaltungsfilms zu verlassen. So kam es, dass Continental neben oberflächlichen Komödien etwa auch handwerklich solide Kriminalfilme produzierte. Neben Verfilmungen von Simenon-Stoffen wurde 1941 die Verfilmung eines Romans des belgischen Krimi-Autors Stanislas-André Steeman in Angriff genommen. Das Drehbuch zu LE DERNIER DES SIX schrieb Clouzot, Regie führte Georges Lacombe. Es ging um einen französischen Inspektor mit einem komplizierten polnischen Namen, den er der Einfachheit halber zu "Wens" verkürzte. Bei den Ermittlungen unterstützt wird er von seiner Geliebten, einer Schauspielerin. Das von Pierre Fresnay und Suzy Delair gespielte flamboyante Ermittler-Pärchen wurde gelegentlich mit William Powell und Myrna Loy in den DÜNNER-MANN-Filmen verglichen.

Dr. Delorme und sein Sohn, der stellvertretende Staatsanwalt
Der locker-leicht inszenierte Film hatte Erfolg, und so wurde ein Sequel anberaumt. Und nun war es soweit: Clouzot durfte endlich selbst Regie führen. L'ASSASSIN HABITE... AU 21 (dt. DER MÖRDER WOHNT IN NR. 21), wieder nach einem Roman von Steeman, ist professionell inszeniert, besitzt pointierte Dialoge und, trotz des leichten Inszenierungsstils, bereits sarkastische und düstere Momente, die Clouzots spätere Richtung erahnen lassen. Nachdem Clouzots Regie-Erstling gut angekommen war, wählte er als nächstes einen Stoff, der lose auf einer wahren Begebenheit beruhte. 1922 kam es in der französischen Kleinstadt Tulle zu einem Skandal: Es wurde eine Unzahl von anonymen Schmähbriefen versandt. Die Affäre erregte überregionale Aufmerksamkeit, und Louis Chavance ließ sich davon 1932 zu einer ersten Drehbuchfassung unter dem Titel L'Œil du serpent inspirieren. Clouzot stieß auf das bislang unverfilmte Script und tat sich mit Chavance zusammen, um das Buch zu überarbeiten. Zur Vorbereitung studierte Clouzot eine wissenschaftliche Abhandlung über die Verfasser solcher anonymer Pamphlete, und es würde mich nicht wundern, wenn Dr. Vorzets Ausführungen über diesen Personenkreis sinngemäß diesem Werk entnommen wären.

Unterdessen befand sich Alfred Greven in einer etwas prekären Lage. 1942 brachte Continental LA SYMPHONIE FANTASTIQUE heraus, eine Biographie des Komponisten Hector Berlioz. Der Film wurde für seine Qualität gelobt, aber er schien geeignet, den französischen Nationalstolz zu befördern, was natürlich Continentals Auftrag krass zuwiderlief, und so handelte sich Greven eine ernste Rüge von Goebbels ein. Als nun Clouzot das Drehbuch für LE CORBEAU vorlegte, erkannte Greven die politische Brisanz des Stoffes und sträubte sich heftig dagegen. Es gab damals eine Kampagne der Gestapo, die die französische Bevölkerung aufrief, Résistance-Mitglieder zu verpfeifen (übrigens mit beachtlichem Erfolg). Greven war klar, dass der Stoff von LE CORBEAU als Kommentar zu solchen Denunziationen verstanden werden konnte. Aber irgendwie gelang es Clouzot, sich durchzusetzen.

Ein denkwürdiges Diktat. Am Pult sitzend Dr. Vorzet
Nachdem das Projekt erst einmal genehmigt war, besaß Clouzot volle künstlerische Freiheit. Die Dreharbeiten fanden zum größten Teil in einer Kleinstadt in der Nähe von Paris statt. Zeit und Filmmaterial waren knapp bemessen, aber ähnlich wie Hitchcock, mit dem er oft verglichen wurde, war Clouzot ein Regisseur, der schon zu Beginn der Dreharbeiten den fertigen Film im Kopf hatte, und der seine Schauspieler mit sehr exakten Instruktionen versah, was zu tun war, so dass sehr zügig und konzentriert gearbeitet werden konnte. Ginette Leclerc, die Darstellerin der Denise, zeigte sich von dieser Arbeitsweise sehr angetan. Clouzot habe das Optimum aus ihr herausgeholt, erzählte sie später, und er habe sie "seine Violine" genannt, auf der er seine Melodie spielte. Pierre Fresnay dagegen empfand die Dreharbeiten als schwierig, und zwar deshalb, weil Clouzot am Set stets übelgelaunt war. Fresnay war zu seiner Zeit ein großer Star des französischen Kinos. Er war mit MARIUS, FANNY und CÉSAR, die zusammen die sogenannte Marseille-Trilogie bilden, zu nationaler Bekanntheit aufgestiegen und spielte insgesamt in rund 60 Filmen. Sein aus heutiger Sicht wohl wichtigster war Jean Renoirs LA GRANDE ILLUSION, wo er den aristokratischen Offizier de Boeldieu verkörperte. Er hatte auch die Hauptrolle in den beiden Wens-Filmen gespielt.

Gruppenbild mit Herrn: Marie Corbin, Denise, Germain und Laura (v.l.n.r.)
Clouzot galt in späteren Jahren als ein Regisseur, der seine Schauspieler nicht nur seelisch, sondern auch körperlich malträtierte, wenn es ihm angemessen erschien. In QUAI DES ORFÈVRES gibt es eine Szene, in der der von Bernard Blier gespielte Charakter einem zermürbenden Polizeiverhör unterzogen wird. Um Blier in die richtige Stimmung zu versetzen, hat ihn Clouzot heftig geohrfeigt. Auch Suzy Delair und Simone Renant sollen in diesem Film nicht ungeschoren davongekommen sein. Von Clouzots beiden Continental-Filmen ist ein derartiges Verhalten jedoch noch nicht überliefert. Aber neben Fresnay berichteten auch andere Zeitgenossen von Clouzots abweisendem Charakter und seiner permanent schlechten Laune - Wesenszüge, die nicht ohne Einfluss auf seine Filme blieben. Tatsächlich legte LE CORBEAU den Grundstein zu Clouzots Ruf, der große Misanthrop unter den französischen Regisseuren gewesen zu sein. Dagegen konnte Clouzot kein Vorwurf gemacht werden, was sein persönliches Verhalten den Nazis gegenüber betraf. Es wird berichtet, dass er seine Mitarbeiter vor Übergriffen schützte und Juden half.

Schon in den 30er Jahren wurden französische Filme aus dem Bereich des "Poetischen Realismus" gelegentlich mit der Bezeichnung Film noir belegt, aber international bekannt wurde der Begriff erst, als ihn die französischen Filmkritiker Nino Frank und Jean-Pierre Chartier 1946 auf Hollywoods "Schwarze Serie" anwandten, die 1941 mit John Hustons THE MALTESE FALCON ihren Ausgang nahm. LE CORBEAU wurde nun - trotz der früheren Verwendung des Begriffs - gelegentlich als der erste französische Film noir bezeichnet. Das mag vielleicht etwas übertrieben sein, aber LE CORBEAU verfügt über einige der klassischen Ingredienzien: Ein pessimistisches Menschenbild, zynische Dialoge, und eine Schwarzweißfotografie, die mit ausgeprägten Licht- und Schatten-Effekten arbeitet.

Schattenspiele an der Wand
Was die visuelle Gestaltung des Films betrifft, so drängt sich diese zwar nicht in den Vordergrund, aber es gibt doch genug noir-typische Szenen, um das Erscheinungsbild des Films mitzuprägen. Etwa ein Dialog von Vorzet und Germain nach dem Diktat: Die beiden sind nächtens allein in einem Raum in der Schule zurückgeblieben. Es handelt sich um die Szene, in der Vorzet auch das Geständnis seiner Morphiumsucht macht. Das Zimmer wird nur von einer Lampe mit einem kleinen, hoch angebrachten Schirm, der die Glühbirne nicht verdeckt, spärlich erleuchtet. Wenn nicht ein großer Globus herumstehen würde, könnte man sich an ein Hinterzimmer in einer zwielichtigen Absteige oder an ein schäbiges Polizeirevier erinnert fühlen, wie man es aus amerikanischen Filmen der Schwarzen Serie kennt. Vorzet wirft Germain starres Schwarzweißdenken vor: "Sie glauben, dass jedermann völlig gut oder völlig schlecht ist. Dass das Gute hell ist und das Böse dunkel. Aber wo beginnt das Eine und das Andere? Wo endet das Böse? Sind Sie auf der guten oder der bösen Seite?" Dazu versetzt Vorzet die Lampe in Schwingung, so dass die Gesichter der beiden abwechselnd in Licht und Schatten getaucht sind.

Dr. Vorzet versetzt eine Lampe in Schwingung und hält einen Vortrag über Hell und Dunkel
Bei aller Düsternis verfügt LE CORBEAU auch über Humor, freilich einen bösen, sarkastischen Humor, der oft den zynischen Bemerkungen der Protagonisten entspringt, wie im Fall des Gangräns. Typisch für Clouzot ist auch die erwähnte Messe: Der Priester steht auf der Kanzel und preist den Herrn, weil der Spuk (nach Marie Corbins Verhaftung) ein Ende hatte. "Erhebt eure Herzen", predigt er der versammelten Gemeinde, "von der Furcht befreit, zu Jesus!" Und alle Leute erheben die Köpfe und blicken andachtsvoll nach oben. Aber nicht etwa, weil sie da oben Jesus erblicken würden, sondern weil just in diesem Moment der neue Brief des Raben gemächlich von der Galerie herabtrudelt.

Der Pfarrer predigt der Gemeinde, die eine Überraschung von oben erlebt
Clouzots Attacken richten sich zwar überwiegend gegen die Honoratioren der Stadt, aber auch die Kleinbürger bekommen ihr Fett weg. Etwa die Ladenbesitzerin, die neuerdings jeden, der im Briefkasten auf der anderen Straßenseite Post einwirft, mit Namen und Uhrzeit notiert. Und ihre Nichte will sie nicht mehr von Germain behandelt wissen, sondern sie wechselt zu dessen Konkurrenten Dr. Bertrand. Aber statt ihm einfach die Wahrheit zu sagen, tischt sie ihm scheinheilig ein Märchen auf. Als er unverrichteter Dinge ihren Laden verlässt, erinnert sie ihn freundlich daran, ihr die Rechnung zu schicken. Und als er dann draußen ist, sagt sie gehässig "... ich wette, dieser Schuft hat die Nerven und schickt sie tatsächlich!" Oder der Leiter des Postamts. Er hält seinen Untergebenen eine Ansprache, dass Briefe unter allen Umständen an die Adressaten ausgeliefert werden müssten. Das sei die Größe (grandeur im Original) und Pflicht des Postdienstes. Und dann fischt er einen an seine Frau adressierten Brief aus dem Verteiler und nimmt ihn an sich. "Sie wird ihn [den Brief] nie zu Gesicht bekommen", kommentiert einer der Postangestellten, und zweifellos hat er recht. Mit solchen Miniatur-Nebenhandlungen schafft es Clouzot mühelos, ein Panoptikum der kleinen Bösartigkeiten auszubreiten. Im Verlauf der Handlung wird auch klar, dass es neben dem eigentlichen Raben jede Menge Trittbrettfahrer geben muss, die die Situation nutzen, um ihre eigenen anonymen Briefe zu versenden.

Eine scheinheilige Ladenbesitzerin; der Leiter des Postamts
LE CORBEAU hatte im September 1943 Premiere. Er wurde vom Publikum und von der Presse im besetzten Frankreich gut aufgenommen. Die Nazis aber waren überhaupt nicht glücklich mit dem Film. Es liegt auf der Hand, dass man LE CORBEAU einen politischen Subtext zuschreiben kann, der in einem Kommentar zur Okkupation Frankreichs und zu Denunziationen von Seiten der Bevölkerung besteht. "Seit dieser Sturm von Hass und Verleumdung unsere Stadt getroffen hat", erklärt Vorzet einmal, "wurden alle moralischen Werte korrumpiert." Und etwas später Germain: "Diese Art von Krise hat einen Zweck. Wie ein Rekonvaleszent nach einer Krankheit geht man stärker, bewusster daraus hervor. Es ist schrecklich zuzugeben, aber das Böse ist notwendig." Zu allem Überfluss gab es eine Werbekampagne für LE CORBEAU, die mit dem Slogan "Denunziation - die Schande des Jahrhunderts" arbeitete. Wie erwähnt, profitierten die Deutschen erheblich von Informanten in der französischen Bevölkerung, und es gab eine regelrechte Ermunterungskampagne zu solcher Kollaboration. Da nimmt es nicht Wunder, dass die deutschen Behörden sofort einschritten. Die Werbekampagne mit dem anstößigen Slogan musste nach wenigen Tagen gestoppt werden. Gelegentlich liest man auch, dass die Aufführung des Films selbst von den Nazis verboten wurde, aber das war offenbar nicht der Fall. Allerdings beschwerten sie sich bei Alfred Greven über Clouzot, der ihn daraufhin feuerte.

Krise zwischen Denise und Germain ...
Man mag sich vielleicht fragen, wie es LE CORBEAU überhaupt in die Kinos schaffte. Zwar gab es damals eine staatliche Filmzensur, die dem Vichy-Regime unterstand, aber die war für Continental-Filme - und nur für diese - nicht zuständig. Continental gab sich zwar dem Publikum gegenüber den Anschein einer französischen Firma, aber in der Frage der Zensur stellte sich Greven auf den Standpunkt, dass Continental eine deutsche Firma sei und deshalb nicht der französischen Zensur unterstünde, und er kam damit durch. Wäre LE CORBEAU von irgendeiner anderen Firma produziert worden, wäre er wahrscheinlich nicht unbeschadet durch die Zensur geschlüpft.

... und Versöhnung
Abgesehen von der politischen Konnotation ist LE CORBEAU auch eine Abhandlung über das Gute und Böse im Menschen. Vorzets nächtliche Ansprache an Germain ist hierfür eine Schlüsselszene. Clouzot drückte das 1975 in einem Fernsehinterview folgendermaßen aus: "Es war ein Weg, um gewisse Dinge auszudrücken, die ich seit der Kindheit fühlte. [...] Diese Balance zwischen Dunkel und Hell, zwischen Schwarz und Weiß, zwischen Gut und Böse, kommt tief aus meinem Herzen." Und über die Rolle der Spannung in seinen Filmen (nicht nur LE CORBEAU): "Es ist der beste Weg, um den Zuschauern etwas unterzuschieben, das sie sonst nicht schlucken würden. Sie werden den Rest akzeptieren, weil sie von der Spannung am Haken gehalten werden wie ein Fisch." - Neben der politischen und der psychologisch-philosophischen Ebene funktioniert LE CORBEAU natürlich auch als Thriller - wenn auch nicht perfekt, weil einige Fragen offen bleiben. So bleibt völlig unklar, woher François' Mutter den Raben zu kennen glaubte. Und nicht alle Personen stehen am Ende in ihrer Motivation und ihren Handlungen wirklich schlüssig da. Aber der Genuss von LE CORBEAU wird durch solche Schönheitsfehler nicht ernsthaft beeinträchtigt.

Clouzots Schwierigkeiten mit den Nazis nach dem Start von LE CORBEAU schützten ihn nicht vor Gegenwind von ganz anderer Seite. Clouzot wurde von Seiten der Résistance und der Exilregierung des "Freien Frankreich" heftig attackiert. Man behauptete, die Darstellung der Stadt und ihrer Bewohner sei antifranzösische (und damit automatisch pro-deutsche) Propaganda, und Clouzot sei somit ein Kollaborateur. Dass der Film von Continental produziert wurde, tat ein Übriges. Die publizistischen Angriffe waren außerordentlich heftig, und angeblich gab es sogar ein von Radio London verkündetes Todesurteil gegen Clouzot. Das erzählte er jedenfalls im erwähnten Fernsehinterview von 1975.

Welche Rolle spielt Laura?
Nach der Befreiung Frankreichs gingen Clouzots Schwierigkeiten erst richtig los. Er wurde nun von allen politischen Kräften angegriffen. Die Linken, insbesondere die Kommunisten, warfen Clouzot weiterhin Kollaboration vor, außerdem Defätismus und mangelnden Widerstandsgeist. Zwar war klar, dass niemand im besetzten Frankreich offen antideutsche Filme hätte drehen können, aber man stellte LE CORBEAU zeitgenössischen Filmen wie etwa Jean Grémillons LE CIEL EST À VOUS gegenüber, einer heroisch angehauchten Geschichte im Fliegermilieu, die diesen Vorstellungen zufolge den wahren französischen Widerstandsgeist verkörpert hätte. Die Rechten warfen Clouzot ebenfalls antifranzösische Gesinnung und Nihilismus vor. Zudem bemängelten klerikal-konservative Kreise die offensive Sexualität von Denise, mit der Clouzot unverhohlen sympathisierte (was er im Interview von 1975 explizit bestätigte), Germains ebenso offenen Atheismus und die mehrmalige Erwähnung des Tabuthemas Abtreibung. Und ganz allgemein mochte man im Nachkriegsfrankreich nur ungern an die Kollaboration und die Denunziationen großer Bevölkerungsteile erinnert werden. Es gab eine Große Koalition des Vergebens und Vergessens, man sah sich am liebsten als ein Volk von lauter Résistance-Mitgliedern. So saß Clouzot zwischen allen Stühlen und sah sich heftigsten publizistischen Attacken ausgesetzt.

Doch dabei blieb es nicht - es kam auch zu Maßnahmen von staatlicher Seite. Zwar war von einem Todesurteil keine Rede mehr, aber die Aufführung von LE CORBEAU wurde verboten. Dazu gab es "Reinigungsverfahren" gegen der Kollaboration Verdächtigte, die man entfernt mit den Entnazifizierungsverfahren in Deutschland vergleichen konnte. Unter den Angeklagten befanden sich auch sieben Regisseure, und einer von ihnen war Clouzot. Die meisten der Beschuldigten in diesen Tribunalen kamen mit öffentlichen Rügen davon, aber einige der schwerer Belasteten erhielten mehrjährige Berufsverbote. Clouzot jedoch wurde gleich zu lebenslangem Arbeitsverbot im Filmgeschäft verurteilt. Das Gremium, das über ihn zu Gericht saß, bestand aus drei Personen, von denen zwei Regisseure waren. Keine sehr talentierten, wie Bertrand Tavernier in einem Video-Interview feststellte. (Taverniers 2002 entstandener Spielfilm LAISSEZ-PASSER spielt vor dem Hintergrund der Filmwirtschaft im besetzten Frankreich, weshalb er dieses Thema sorgfältig recherchiert hat.) Einer von den dreien hatte LE CORBEAU überhaupt nicht gesehen, wie sich im Verlauf der Verhandlung herausstellte.

Germain verabschiedet sich von Laura - und macht dabei eine Entdeckung
Doch schon früh fanden sich auch Verteidiger für Clouzot. Einer von ihnen war Jean Cocteau, der den tieferen Gehalt von LE CORBEAU begriffen hatte und den Film mit den Werken sozialkritischer Schriftsteller wie Guy de Maupassant und Émile Zola verglich. Auch der Drehbuchautor Jean-Paul le Chanois (der Jude und Kommunist war) trat frühzeitig für Clouzot ein, ebenso Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. Das harte Urteil gegen Clouzot beendete die Debatte nicht, sondern fachte sie zusätzlich an. Es fanden sich zunehmend weitere Fürsprecher für Clouzot, vor allem Künstler und Intellektuelle, darunter Regie-Kollegen wie René Clair, Marcel Carné, Marcel L'Herbier und Jacques Becker. Die Debatte wurde hauptsächlich in offenen Briefen und Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln ausgetragen. Sie war ausgesprochen heftig und lang andauernd, doch am Ende verfehlten die Stimmen für Clouzot ihre Wirkung nicht. Clouzots Berufsverbot wurde stillschweigend von lebenslänglich zu zwei Jahren verkürzt. Eine offizielle Begnadigung oder ein Wiederaufnahmeverfahren scheint es nicht gegeben zu haben, jedenfalls liegen keine entsprechenden Dokumente vor. Insgesamt lagen am Ende zwischen den Dreharbeiten zu LE CORBEAU und Clouzots nächstem Film rund vier Jahre. Wie schon während seiner Zeit im Lungensanatorium, nutzte Clouzot die Zeit zum Schreiben von Drehbüchern, von denen dann jedoch keines realisiert wurde. Darunter befand sich auch ein gemeinsames Projekt mit Sartre, mit dem er sich befreundet hatte, nämlich die Adaption eines Romans von Vladimir Nabokov.

1947 stand die Frage an, ob man LE CORBEAU wieder in den Kinos zeigen sollte. Es gab nach wie vor heftige Attacken gegen Clouzot, insbesondere von Seiten der kommunistischen Presse, die forderte, dass LE CORBEAU verboten bleiben müsse. Dabei war jedoch eine Portion Heuchelei im Spiel, denn schon bevor LE CORBEAU wieder für die Kinos zugelassen wurde, lief er in sogenannten Cinéclubs. Das waren geschlossene Veranstaltungen, die jedoch vor vollen Häusern stattfanden und entsprechende Einnahmen brachten. Und viele dieser Cinéclubs befanden sich im Besitz der Kommunistischen Partei. Der Drehbuchautor Henri Jeanson (u.a. an PÉPÉ LE MOKO und HÔTEL DU NORD beteiligt) wies im September 1947 in einem geistreichen Zeitschriftenartikel auf diesen Widerspruch hin und lobte LE CORBEAU als Meisterwerk. Auch viele von Clouzots Gegnern hatten inzwischen die filmische Qualität von LE CORBEAU anerkannt und konzentrierten sich dafür umso mehr auf den Continental-Aspekt. So etwa der Schriftsteller Joseph Kessel, Autor von erfolgreich verfilmten Romanen wie Belle de jour und La Passante du Sans-Souci. In einer direkten Antwort auf Jeanson in derselben Zeitschrift schrieb er, dass Clouzot mit deutschem Geld ein angenehmes Leben führte, während dieselben Deutschen, die ihn bezahlten, gleichzeitig in Oradour wüteten und die Krematorien mit französischen Leichen beheizten. Der ziemlich polemische Artikel endet damit, dass es keinen großen Unterschied gemacht hätte, wenn die Deutschen den Krieg gewonnen hätten - "für Herrn Clouzot".

Laura wird abtransportiert
Doch insgesamt hatte sich das Meinungsklima zugunsten von Clouzot gewendet. Auch die 1947 noch einmal hochgekochte Debatte ebbte schließlich ab, wenn sie auch nicht vollends verstummte, sondern Clouzot bis an sein Lebensende gelegentlich wieder einholte. Während der Streit um die Wiederzulassung von LE CORBEAU noch im Gang war, konnte Clouzot einen neuen Film in Angriff nehmen. Nachdem Clouzots Arbeitsverbot aufgehoben worden war, trat ein russischstämmiger Filmproduzent an ihn heran und bot ihm an, einen Stoff nach eigener Wahl zu inszenieren, freilich mit der Auflage, dass es kommerziell erfolgsträchtig und weniger brisant als LE CORBEAU werden solle. Clouzot schlug einen Roman von Stanislas-André Steeman vor, den er vor Jahren gelesen hatte. Der Produzent war sofort einverstanden. Die Dreharbeiten fanden im Frühjahr 1947 statt, und obwohl zwischenzeitlich der Produzent wechselte, konnte der Film ohne größere Probleme fertiggestellt werden. QUAI DES ORFÈVRES ist ein hervorragender, stimmungsvoller Film noir mit einem überragenden Louis Jouvet in der Hauptrolle. Die Uraufführung fand im Oktober '47 statt. Der Film wurde bei Publikum und Kritik ein großer Erfolg und gewann noch im selben Jahr beim Internationalen Filmfestival in Venedig den Großen Preis für die beste Regie. Clouzots Karriere war gerettet.

Louis Jouvet (links) und Bernard Blier in QUAI DES ORFÈVRES
Und das war gut so. Nach MANON, einer sehr freien Verfilmung von Abbé Prévosts Roman Histoire du chevalier des Grieux et de Manon Lescaut, nach MIQUETTE ET SA MÈRE sowie der Beteiligung an einem Episodenfilm, drehte Clouzot in den 50er-Jahren mit LE SALAIRE DE LA PEUR (LOHN DER ANGST) und LES DIABOLIQUES (DIE TEUFLISCHEN) zwei Filme, die zu zeitlosen Klassikern des Spannungskinos werden sollten. Es folgte ein Dokumentarfilm über den mit ihm befreundeten Pablo Picasso. Dabei ließ er Picasso auf transparente Leinwände malen, durch die hindurch er sowohl den Meister als auch die entstehenden Werke filmen konnte, wobei Picasso seine Gedanken beim kreativen Vorgang erläuterte. 1984 wurde LE MYSTÈRE PICASSO von der französischen Regierung zum nationalen Kulturerbe erklärt - wohl eher wegen Picassos Bedeutung als wegen der von Clouzot, aber immerhin. Dann kam mit LES ESPIONS ein interessanter, aber etwas unausgegoren wirkender Agentenfilm am Rande der Parodie sowie der Gerichtsfilm LA VÉRITÉ mit Brigitte Bardot in der Hauptrolle. Die Sozialkritik darin wirkt etwas aufgesetzt, aber der Film verfügt über einen sehr schönen zynischen Schluss - da ist Clouzot nochmal ganz der Alte.

Danach neigte sich Clouzots Laufbahn langsam ihrem Ende entgegen. Einerseits machte ihm seine chronisch schlechte Gesundheit wieder zusehends zu schaffen. Und andererseits hatte er etwas den Anschluss an den Zeitgeist verloren, der da Nouvelle Vague hieß. Das Verhältnis von Clouzot zu den meisten Vertretern der Nouvelle Vague war von gegenseitiger Abneigung geprägt. Einerseits stand Clouzot für die Protagonisten der neuen Richtung für das, was sie "Papas Kino" nannten und heftig attackierten. Andererseits wurde wieder seine Continental-Vergangenheit gegen ihn vorgebracht, etwa von Jacques Rivette. Nur François Truffaut, der LE CORBEAU oft gesehen hatte und sehr schätzte, sah Clouzot differenzierter. 1963 begann Clouzot mit den Dreharbeiten zu L'ENFER nach einem eigenen Stoff. Doch zunächst kam es zu Verzögerungen, weil sich Clouzot in über-perfektionistischer Manier verzettelte, und weil der Hauptdarsteller Serge Reggiani erkrankte (oder eine Erkrankung vorschob, um sich aus den sich endlos hinziehenden und für ihn zermürbenden Dreharbeiten zu verabschieden) und ausgewechselt werden musste, dann erlitt Clouzot selbst einen schweren Herzanfall. Er musste die Dreharbeiten abbrechen und nahm sie nicht wieder auf. Mehr über dieses faszinierende gescheiterte Projekt erfährt man im 2009 entstandenen Dokumentarfilm L'ENFER D'HENRI-GEORGES CLOUZOT (DIE HÖLLE VON HENRI-GEORGES CLOUZOT) von Serge Bromberg und Ruxandra Medrea. 1992 kaufte Claude Chabrol den Stoff und verfilmte ihn 1994 unter dem nämlichen Titel L'ENFER.

Denise und Germain finden sich endgültig
Es folgte eine Reihe von Musikfilmen, für das französische Fernsehen auf 35 mm gedreht, in Zusammenarbeit mit Herbert von Karajan. Die Filme zeigen den Maestro, der sich von der Zusammenarbeit mit Clouzot begeistert zeigte, jeweils bei Proben und einem Konzert. Von ursprünglich geplanten 13 Folgen wurden fünf realisiert. Schließlich vollendete Clouzot 1968 mit LA PRISONNIÈRE einen letzten Spielfilm, danach zog er sich zurück. Henri-Georges Clouzot starb 1977 in Paris. Dem internationalen Publikum ist er vor allem mit LE SALAIRE DE LA PEUR und LES DIABOLIQUES in Erinnerung geblieben, aber seine frühen Meisterwerke LE CORBEAU und QUAI DES ORFÈVRES lohnen ein Wiedersehen.


Und jetzt, wie versprochen, der Rest der Handlung mit der Entlarvung des Raben:


Germain will von Laura zu Denise zurück, um sie neuerlich zu befragen. Doch als er sich von Laura verabschiedet, entdeckt er frische Tinte an ihren Fingern. Sofort ist sein Misstrauen geweckt, und er durchsucht ihren Schreibtisch. Dort findet er ein Löschblatt, auf dem sich der Text des letzten Briefs des Raben abzeichnet. Durch seine lautstarken Vorhaltungen wird Dr. Vorzet herbeigelockt. Germain zeigt ihm das Löschblatt, und Vorzet gesteht, dass er schon letzte Nacht entdeckt habe, dass Laura der Rabe sei, aber er habe es nicht übers Herz gebracht, seine Frau zu verraten. Er bittet Germain nun, das Beweisstück der Polizei zu übergeben. Doch Germain zögert. Vorzets nächtliche Privatvorlesung über Gut und Böse hat seine Ansichten etwas ins Wanken gebracht. Er schlägt Vorzet vor, Laura psychiatrisch zu behandeln, statt sie der Justiz auszuliefern. Vorzet ist einverstanden, und weil er nicht seine eigene Frau einweisen darf, unterschreibt Germain das entsprechende Formular. Währenddessen erhält Vorzet einen Anruf: Denise ist abermals ohnmächtig geworden und dabei die Treppe hinabgestürzt. Laura, die an der Tür gelauscht hat, kommt jetzt herein und bestürmt Germain, ihrem Mann nicht zu glauben. Sie gibt nur zu, dass sie den ersten Brief des Raben geschrieben hat, um damit Germain an sich zu binden. Doch dann sei ihr Vorzet auf die Schliche gekommen, und alle anderen Briefe habe er ihr zwangsweise diktiert. Aber Germain glaubt ihr nun kein Wort mehr und eilt zurück zu Denise. Wenig später wird die kreischende Laura von zwei Sanitätern in einen Ambulanzwagen verfrachtet und mitgenommen.

Der tote Dr. Vorzet (vor ihm das aufgeklappte Rasiermesser) ...
Denise geht es mittlerweile schon wieder besser, aber Germain entdeckt, dass er sich Sorgen sowohl um Denise als auch um das ungeborene Kind gemacht hat. Denise gesteht, dass sie sich selbst die Treppe hinabgestürzt hat. Germain hat nun seine Vergangenheit hinter sich gelassen und ist zu einem gemeinsamen Leben mit Denise - samt Kind - bereit. Wie um das zu unterstreichen, öffnet er das Fenster, so dass der Lärm der auf dem Schulhof spielenden Kinder hereindringt. Bei seinem ersten Krankenbesuch bei Denise hat er eben dieses Fenster geschlossen, weil ihn der Lärm der Kinder nervte, wie er ganz offen zugab. Natürlich erzählt er Denise dann, was sich im Hause Vorzet zutrug. Doch Denise hält seine Überzeugung, dass Laura der Rabe sei, für Unsinn. Sie überzeugt ihn, dass die Todesangst bei ihrem Anruf keineswegs gespielt, sondern echt gewesen sei. Germain gerät nun ins Grübeln. Wenn Laura doch nicht der Rabe ist, dann kommt nur noch einer in Frage ...

... und seine Mörderin
Germain eilt also nochmals zur Wohnung Vorzet. Als er Dr. Vorzet zur Rede stellen will, findet er ihn tot vor - vornübergebeugt auf dem Schreibtisch in einer Blutlache liegend, vor sich einen letzten Brief des Raben, fast vollendet, daneben das Rasiermesser, das schon François den Tod gebracht hatte. Es war also tatsächlich Vorzet der Rabe. Während Germain Vorzet findet, schleicht die schwarz verhüllte Gestalt von François' Mutter aus dem Haus. Germain sieht aus dem Fenster und erblickt die Frau, die sich noch einmal kurz umdreht. Dann geht sie langsam die Straße hinab.

- FIN


LE CORBEAU ist (unter seinem deutschen Titel) ohne erwähnenswerte Extras bei Arthaus auf DVD erschienen. Empfehlen kann ich die US-Ausgabe von Criterion, die vorzügliches Bonusmaterial mitbringt. Mindestens eine englische und diverse französische Ausgaben gibt es ebenfalls.

Auf Tauchstation

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Vielleicht hat sich mancher schon gewundert, weil bei mir in letzter Zeit nichts los ist. Bei mir waren es die diversen Hitzewellen, die die Arbeitsmoral unterminierten, und Stress durch Wohnungssuche, was mich komplett blockiert hat. Und nach dem Umzug, der demnächst erfolgt, werde ich bis voraussichtlich Anfang Oktober ohne Internet sein, also erst mal weiter durch Abwesenheit glänzen. Aber heute ist nicht alle Tage, ich komm wieder, keine Frage! Davids weiterem Zeitplan möchte ich hier natürlich nicht vorgreifen.

Ein (Nicht-)Musical in Rot

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HOT BLOOD
USA 1956
Regie: Nicholas Ray
Darsteller: Cornel Wilde (Stephano Torino), Jane Russell (Annie Caldash), Luther Adler (Marco Torino)


Marco Torino ist in großen Sorgen. Er ist der König einer großen Roma-Gemeinde in einer sonnigen US-amerikanischen Stadt (wahrscheinlich Los Angeles) – das ist keine einfache Aufgabe, und sie wird ihm zunehmend schwer fallen, denn er ist lungenkrank und muss sich entweder bald zurückziehen und zur Ruhe setzen oder aber sterben. Seine Krankheit verheimlicht er gegenüber seinen Angehörigen. Deshalb arbeitet er fleißig daran, eine Nachfolge zu finden. Die Wahl fällt auf den jüngeren Bruder Stephano, der jedoch Probleme macht: Stephano hat sich von der traditionellen Roma-Kultur entfernt und möchte am liebsten ein bürgerliches US-Leben führen, mit einer „Gajo“-Freundin und einem Job als Tanzlehrer bei reichen „Gajo“-Familien. Damit der kleine Bruder König der Gemeinde werden kann, muss er nach Marcos Willen heiraten und zwar eine richtige Romni, die ihn auf den richtigen Weg bringt. Die passende Kandidatin ist schnell gefunden: Annie Caldash, die Marco kürzlich aus dem Gefängnis zusammen mit ihrem Vater und ihrem Bruder (gespielt von James H. Russell – auch im wahren Leben Jane Russells Bruder) befreit hat, in dem er ihre Kaution bezahlte.

Alle sind mit der geplanten Hochzeit zufrieden, außer Stephano, der sich von seinem Bruder nichts vorschreiben lassen und keine Unbekannte heiraten möchte (auch wenn er ihre üppige Oberweite anerkennend begutachtet hat). Doch Annie offenbart Stephano, dass sie sowieso ganz eigene Pläne hat: sie, ihr Vater und ihr Bruder sind eigentlich Ehebetrüger, die nur Marcos Mitgift kassieren wollen. Kurz, bevor die Ehe ausgesprochen wird, soll Annie ein Malaise vortäuschen und würde dann mit dem Geld abhauen. Ein Plan, der Stephano gefällt: so muss er nicht wirklich heiraten, und wenn sein Bruder eins ausgewischt bekommt, dann freut er sich umso mehr.

Natürlich kommt alles anders, und die Hochzeit läuft nicht so, wie geplant. Das heißt eigentlich: sie läuft tatsächlich so, wie eine Hochzeit üblicherweise läuft. Annie täuscht nämlich kein Unwohlsein vor, sondern lässt die Ehezeremonie tatsächlich vollziehen. Ihr überraschter Vater gerät darüber in Tränenausbrüche (was die Anerkennung aller Anwesenden hervorruft „so viele Emotionen“!). Der vollkommen düpierte und nun frisch vermählte Stephano wird darüber hingegen zur Weißglut getrieben, doch muss er seine Wut während der restlichen Festlichkeiten zügeln. Nur die Peitsche bei dem Braut-und-Bräutigam-Peitschentanz lässt er besonders heftig knallen.

Marco Torino ist krank und sucht einen Nachfolger
Sein Bruder Stephano wird zu einer Ehe überlistet
Als beide sich dann im Schlafgemach befinden, fliegen die Fetzen und werden gar Fenster zu Bruch gebracht, was die Hochzeitsgäste, die vor der Zimmertür kampieren und singen, als großes „Temperament“ deuten. Im Inneren des Zimmers befindet sich das Paar allerdings nicht in stürmischer Umarmung, sondern in einem tiefen Streit. Annie möchte tatsächlich eine ernsthafte Ehe führen. Stephano droht hingegen gleich mit einer Scheidung nach traditioneller Roma-Manier: er wird vor dem Rat der Gemeinde aussagen, dass es „keine Liebe“ gibt – und fertig wäre die Sache. Stephano geht dann zu einem Date mit seiner „Gajo“-Freundin weg. Seine Wut tobt er letztlich damit aus, dass er dem Agenten einer Tanzlehrervermittlung, der ihn wohl aus Rassismus nicht eingestellt hat, eine öffentliche Tanzvorführung gibt und ihn schlussendlich durch ein Schaufenster schmeißt. Die Polizei ist bald zur Stelle, und so verbringt Stephano seine Hochzeitsnacht im Knast.

Marco bezahlt natürlich die Kaution für seinen Bruder, während der Rest der Familie nichtsahnend im Wohnzimmer sitzt und wartet, bis das Ehepaar aufsteht und zum Frühstück rauskommt. Stephano, dem das alles egal ist, benutzt nicht die Schleichwege und so kommt offiziell raus, dass er die Hochzeitsnacht nicht bei seiner Frau verbracht hat. Für Marco ist es nun umso wichtiger, dass Stephano endlich in seiner Ehe ankommt. Er bittet Annie, Stephano um jeden Preis zu ihrem Ehemann zu machen (ergo: zu verführen), damit er ein guter Nachfolger wird und setzt Stephanos Ehefrau sogar in Vertrauen über seinen Gesundheitszustand. Die möchte sowieso ihren Ehemann verführen und mischt ihm auch einen leckeren Wein mit Pfirsichen. Stephano, leicht betrunken, deutet nun Annie gegenüber an, dass er die nächste Nacht ganz gerne mit ihr verbringen würde. Genau in diesem Augenblick platzt Marco, der die letzten paar Minuten an der Tür gelauscht hat, rein. Stephano, der in der Situation (nicht ganz zu Unrecht) ein Arrangement zwischen Marco und Annie hinter seinem Rücken wittert, läuft wutentbrannt weg, um sich mit seiner „Gajo“-Freundin zu treffen und vielleicht sogar mit ihr auf Tanztournee zu gehen. Dass Annie ihm folgt und dann die Freundin sogar in eine Kneipenschlägerei verwickelt, besiegelt endgültig seinen Entschluss, wegzugehen.

So beginnt Stephanos Tanztournee – während derer er immer wieder an Annie denken muss. Deshalb kehrt er rasch zurück, nur um zu entdecken, dass bei einer großen Feier seine Ehefrau recht fröhlich mit seinem Bruder tanzt und die beiden recht doppeldeutige Sachen sagen. Stephano reagiert etwas eifersüchtig – was Annie und Marco tatsächlich eiskalt zusammen kalkuliert haben, um den wütenden Ehemann besser an seine Frau zu binden. Der Abend endet damit, dass Stephano wieder Lust auf seine Ehefrau hätte, doch die will nur schlafen und fühlt sich am nächsten Morgen absolut elend. Das liegt daran, dass sie aus Versehen ein Aphrodisiakum geschluckt hat, das der Opa (nach einem Originalrezept aus Serbien) spontan für Stephano gebraut hatte. An dem fürchterlichen Gebräu wäre zweifelsohne jedem Menschen speiübel geworden, doch natürlich denken jetzt alle, dass Annie schwanger sei. Auch Stephano denkt das, nimmt aber an, dass Marco der Vater des (nichtexistenten) werdenden Kindes sei. So bricht er auf, um seinen Bruder zu verprügeln und verkracht sich dann definitiv mit Annie. Als er jedoch erfährt, dass Marco totkrank ist, wird er wieder weich. Zu spät: beim nächsten Ratstreffen des Clans wird Stephano zum neuen König gewählt und seine erste Amtshandlung besteht darin, vor dem versammelten Rat Annies Scheidungsantrag („There is no love!“) zu bestätigen. Als sich die Versammlung auflöst, spornt Marco seinen Bruder dazu an, wie ein „Gajo“ zu handeln und Annie nachzurennen. Dies tut er, hält um ihre Hand an, beide liegen sich in den Armen und Stephano trägt Annie auf den Schultern ins nächstgelegene Zimmer, um nun die Ehe endlich zu „vollziehen“.

Ende gut, alles gut: Stephano trägt Annie über die Schulter ins nächste freie Zimmer

Nicholas Ray drehte in seiner Karriere noirs, Westerns, Melodramen und auch das eine oder andere Epos, jedoch weder ein Musical, noch eine Screwball-Komödie (auch wenn JOHNNY GUITAR – hier einige Worte von mir zu diesem Film – sich teilweise wie ein Musical mit gesprochenen Worten statt Gesängen und Gewaltausbrüchen statt Tänzen anfühlt). HOT BLOOD ist gewissermaßen das, was in Rays Filmographie einem Musical und einer Screwball-Komödie am nächsten kommt. In die Kinos kam HOT BLOOD zwischen den Meilensteinen REBEL WITHOUT A CAUSE und BIGGER THAN LIFE und gilt heute gemeinhin als kurioses Nebenwerk, wobei dies meist tendentiell eher pejorativ gemeint ist.

Die Franzosen wussten es natürlich als erste bereits besser. Jean-Luc Godard, dem kein Superlativ auf der Welt grandios genug war, um DIE Ikone der späteren nouvelle-vague-Rebellen zu loben, schrieb 1957 in seiner Kritik zu HOT BLOOD mit dem Titel „Rien que le cinema“ (Nichts anderes als das Kino), dass Nicholas Ray der einzige Regisseur der Welt sei, der nicht nur fähig, sondern auch willens wäre, das Kino im Falle seines Verschwindens neu zu erfinden. Etwas weniger ekstatisch lobte François Truffaut die Lebendigkeit und Inszenierung des Films.

Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Es gibt viele und gute Gründe dafür, HOT BLOOD dämlich zu finden. So ist das Drehbuch etwa ziemlich klobig und ruckelt an vielen Ecken und Enden. Marcos schwere Krankheit bleibt die meiste Zeit eine reine Behauptung: manchmal hüstelt Luther Adler etwas vor sich hin, aber so etwas wie Fallhöhe wird noch nicht mal im Ansatz entwickelt. Die Konflikte zwischen den beiden Brüdern scheinen die meiste Zeit wie aus der Konservendose zu kommen und eine tragische oder überhaupt ernsthafte Ebene wird da nie erreicht (selbst dann nicht, als Stephano Marco verprügelt). Das aufgepappte Happy-End könnte lächerlich sein, weil er einfach nicht zu den Konflikten passen will, die vorher mit viel Mühe, aber ohne wirkliche Überzeugungskraft aufgebaut wurden (vielleicht können diese Konflikte deshalb so rasch beiseite gewischt werden, weil sie eh keine Schwere entwickeln konnten). So entwickelt HOT BLOOD eine eigentlich unpassende Balance: die Sachen, die hier passieren, sind zu ernsthaft und tragisch, um den Film wirklich als vollwertige Komödie wahrzunehmen, aber irgendwie auch zu lachhaft, als dass irgend ein Sinn für Tragik entstehen könnte.

Am problematischsten ist aber natürlich das Bild, das in HOT BLOOD von „Zigeunern“ gezeichnet wird: so ein Film würde in dieser Form heute nicht mehr gedreht werden, und darüber sollten wir alle sehr froh sein! HOT BLOOD ist so etwas wie eine audiovisuelle Enzyklopädie aller Zigeuner-Klischees, die man sich so denken kann: der „Zigeuner an sich“ tanzt gern, ist überhaupt sehr musikalisch, trägt bunte Sachen und Bling-Bling-Kram, spricht ständig von Temperament und Emotionen („hot blood“ und so), klaut gerne Sachen, ist fürchterlich abergläubisch, hat es nicht so mit der Moderne, lebt und denkt nur in Familienstrukturen, haut „Gajos“ gerne in die Pfanne etc. Auch kann man den Eindruck nicht loswerden, dass „Zigeuner“ lediglich die Funktion haben, mit ihren Stereotypen das Drehbuch zusammenzuhalten. Es ist ein Drehbuch, dass in einer geschlossenen Gruppe mit strengen, traditionellen Strukturen und Bräuchen (etwa arrangierten Ehen) spielen muss: christlich-traditionalistische Gruppierungen, von denen es in den USA einige gibt, hätten dafür auch herhalten können, aber dann hätte der Film das Hays-Büro wohl definitiv nicht passieren können, und außerdem würden die Figuren dann keine bunten Sachen tragen und tanzen. Das alles hinterlässt schon ein etwas flaues Gefühl im Magen, nicht zuletzt, wenn eine der Nebenfiguren dann fragt, wen man denn beklauen könne, wenn keine „Gajos“ da wären.

Diese Probleme können sicher nicht beiseite gewischt werden wie die intradiegetischen Konflikte am Ende. Doch HOT BLOOD bietet selbst von alleine einige interessante Anmerkungen und Überlegungen zu den Problemen, die er aufwirft. Er baut Klischees auf, die er teilweise wieder zerschlägt. Er schreibt Roma Eigenschaften zu, um dann wenige Augenblicke später andere Eigeschaftszuschreibungen als solche zu entlarven. „No gajos? Who do we steal from?“ fragt also der Opa verwundert, nur um dann von Marco  ein genervtes „Papo, why do you upset me?“ entgegen geschmettert zu bekommen. Immer wieder muss Marco Leute aus seiner Gemeinde mit teils recht teuren Kautionen aus dem Gefängnis befreien: er zahlt dann Hunderte von Dollars an die Polizei für Menschen, die verhaftet worden sind, weil sie (O-Ton Marco) „verdächtigt wurden, Zigeuner zu sein“. Stephano klagt hingegen gegenüber dem Tanzagenten die Ungerechtigkeit an, dass er nicht als privater Tanzlehrer engagiert wird, weil reiche Leute einen „Zigeuner“ nicht in ihrer Villa haben möchten.

Die Welt außerhalb der Roma-Gemeinde in Blau-Grün-Tönen
Es ist bei Ansicht des Films kaum zu glauben, dass HOT BLOOD ursprünglich ein ernsthaftes und ethnografisch minutiöses Drama über das Leben der Roma in den USA sein sollte. Das Drehbuch in der Urfassung stammt von der Journalistin Jean Evans, mit der Nicholas Ray Ende der 1930er Jahre verheiratet war, und die Geschichte war tatsächlich das Ergebnis intensiver ethnografischer Recherchen seitens Evans‘ in US-amerikanischen Roma-Gemeinden. Es wurde dann allerdings von Jesse L. Lasky und Ray komplett umgeschrieben – das eine oder andere tragische Element, das etwas kontextlos im Film herumschwebt, mag wohl auf Evans‘ Originaldrehbuch zurückzuführen sein. Jedenfalls mag HOT BLOOD mag zwar jede Menge Böcke abschießen im Bezug auf die Darstellung von Roma in den USA, andererseits nimmt der Film eine fast hermetische Binnenperspektive ein: es gibt zwar einige wenige Nicht-Roma-Figuren, doch keine, die von Belang wäre. Der Polizist auf der Station, Stephanos Freundin, der Tanzagent und die Kassiererin des Trailerparks, in dem Marco den Wohnwagen für seine letzte Reise stehen hat – das war‘s. Interessanterweise wird die Umgebung dieser Figuren farblich anders codiert als die Umgebung der Roma, nämlich in Blau-Türkis-Tönen: Stephanos Freundin fährt einen türkisfarbenen Wagen, das Wachhäuschen der Trailerpark-Kassiererin ist blau-grün, während die Roma in Rot- und Orange-Tönen und -Variationen (darunter auch das intensive Nicholas-Ray-Rot) eingebunden sind – und in Rot treten bei Nicholas Ray meistens die „Guten“ auf.

HOT BLOOD sieht die Gemeinde der Roma als Gruppe von ethnischen und sozialen Außenseitern, innerhalb derer wiederum gebrochene Individuen leben. Außenseitergruppen und -individuen: klassische Nicholas-Ray-Helden auch in diesem Film. So problematisch der klischierte Blick des Films auf seine Hauptfiguren ist, so intensiv und leidenschaftlich identifiziert er sich auch mit ihnen. Der Film ist auf ihrer Seite und das ohne wenn und aber. Das unterscheidet HOT BLOOD auch merklich von Rays letztem Hollywood-Film, dem absolut unsäglichen 55 DAYS AT PEKING, der einen dezidiert imperialen Blick auf chinesische (und überhaupt ostasiatische) Figuren hat.

Howard Hawks sagte einmal, ein guter Film sei „drei gute Szenen und keine schlechte“. Ob das unmotivierte und angeklebte Happy-End eine schlechte Szene ist, sei dahingestellt (ich finde sie eher unpassend als wirklich schlecht). Auf jeden Fall hat HOT BLOOD mehr als drei gute Szenen. Vielleicht ist er nicht mehr als die Summe seiner Teile, doch die einzelnen Teile haben es teils wirklich in sich! Der Film ist voller Szenen, die man von der Grundstruktur her in vielen anderen Filmen der Zeit sehen würde, aber die dennoch auch offbeat sind, die ein Element haben, die sie einzigartig macht.

Die Hochzeitsszene bietet zunächst so etwas wie den komödiantischen Höhepunkt des Films, als während der Vermählungszeremonie Stephano und Annies Vater innerhalb kürzester Zeit merken, dass Annie die Vermählung durchziehen wird. Die Kombination von Cornel Wildes entsetztem Gesichtsausdruck und Jane Russells selbstbewußtem Auftreten bietet nicht nur den vielleicht größten Lacher des Films, sondern verdichtet auch in einem  einzigen Bild nonverbal die komplette Situation.

Peitschentanz in Nicholas-Ray-Rot
Wie die kurz darauf folgende Peitschentanzszene die Wächter des Production Codes passierte, muss wohl ein Rätsel bleiben. Man kann diese Momente getrost als eine Art Sex-Ersatzszene sehen: Russell tanzt lasziv, hebt ihr weißes Brautkleid, enthüllt darunter viel Bein sowie ein ein knalliges Nicholas-Ray-Rot, während Wilde seine lange Peitsche schwingt. Er schlägt ihr die roten Zierblumen und den Schleier vom Kopf, versucht mehrmals, sie mit der Peitsche an sich zu ziehen. Ein Verführungs- und Unterwerfungsspiel, das wütender Sex mit einem Hauch „kinkiness“ kombiniert und – wie viele andere Momente im Film – wie der unfertige oder abstrahierte Entwurf einer Musical-Szene wirkt. (was die Probleme von HOT BLOOD mit dem Production Code Office betrifft, so wird er zumindest bei IMDb als einer von vielen Filmen in der Sektion „features“ der Dokumentation HOLLYWOOD UNCENSORED erwähnt).

Die nächste dieser „unfertigen“ Musical-Szenen ist Stephanos Tanzeinlage vor der Agentur, die ihn abgelehnt hat. Er will dem Agenten demonstrieren, wie gut er tanzen kann. Alle umgebenden Personen klopfen einen Rhythmus, während Stephano herausfordernd zu tanzen beginnt. Das ganze wird größtenteils als Totale gefilmt, damit man das Gesicht des Tänzers nicht sieht – weil Wilde hier gedoubelt wurde. Das gibt der Sequenz auch eine merkwürdige und sehr auffallende Distanz.

Anfang und Schluss der bizarrsten
(Nicht-)Musicalnummer des Films

Der bizarrste Moment im ganzen Film ist zugleich die merkwürdigste Interpretation einer Musical-Szene. Stephano kommt nach der Nacht im Gefängnis zurück. Annie erwartet ihn, fest entschlossen, ihn zu verführen. Sie bereitet gerade einen Wein mit Pfirsichen vor und adressiert Stephano mit einer Mischung aus Rede, Sprechgesang und Gesang. Dieses Spiel mündet in die Musicalnummer „I could learn to love you“, die allerdings nicht live von Russell gesungen wird, sondern als „playback“ gespielt wird: Annie singt das Lied nicht, sondern denkt es nur, sie stellt es sich vor, während Stephano sich im Hintergrund umzieht, sich kurz wäscht, sein Hemd sucht und anzieht. Das ganze endet mit der Linie „Husband, here‘s your wine“, während Annie Stephano ein Glas hinhält. Die Musik stoppt, Stephano guckt wie hypnotisiert auf Annie, die die Schlusslinie des Liedes noch einmal sprechen muss, damit ihr Ehemann reagiert – als wäre er von dieser Musik, die Annie eigentlich nur denkt, hypnotisiert worden.

Diese „extradiegetische Musicalnummer“ gehört schon jetzt zu meinen absoluten Szene-Favoriten des Jahres, und überhaupt von dem mir bisher bekannten Werk Nicholas Rays. Auch nach ihr gibt es viele denkwürdige Szenen. Etwa die wüste Prügelei zwischen Stephanos Ehefrau und seiner „Gajo“-Freundin in der Kneipe. Oder natürlich auch der dramatische Gürtelkampf zwischen Stephano und Marco: die beiden geraten auf dem Trailerpark, in dem Marco seinen „letzten“ Wohnwagen stehen hat, in einen schweren Streit, und Stephano ist bereit, sich mit Marco zu prügeln. Statt sich aber wie vulgäre „Gajos“ zu hauen, machen sie es auf traditionelle „Zigeuner“-Art: Sie hauen sich gegenseitig mit ihren Gürteln. Diese Szene ist auf vielerlei Art bemerkenswert. Erstens natürlich einfach nur aufgrund der ungewöhnlichen Kampfweise: schließlich peitschen sich hier zwei Männer mit Gürteln. Zweitens ist diese späte Szene innerhalb des Films praktisch symmetrisch zur frühen Peitschentanzszene auf der Hochzeit angeordnet und spiegelt sie in gewisser Weise. Während Stephano in der ersten eine Frau auszupeitschen versuchte, auf die er wütend war, weil er sie nicht haben wollte, versucht er in letzterer den Mann auszupeitschen, der ihm diese Frau, die er nun doch begehrt, vermeintlich wegnehmen will. Drittens erinnert diese Kampfszene in ihrer Inszenierung ein wenig an die Kampfszene mit den Springklingenmessern vor dem Planetarium in REBEL WITHOUT A CAUSE. Überhaupt scheint in HOT BLOOD das eine oder andere von Rays berühmten James-Dean-Film übernommen worden zu sein. Auffällig ist etwa, dass die Polizeistation am Anfang HOT BLOOD im Eingangsbereich ebenso einen „Thron“ hat, wie jene in REBEL WITHOUT A CAUSE (in beiden Fällen handelt es sich um einen Sitz für Personen, die sich ihre Schuhe putzen lassen möchten – warum auch immer so etwas im Eingangsbereich einer US-amerikanischen Polizeistation stehen sollte). Auf den „Thron“ setzt sich im früheren Film der vollkommen betrunkene Jim Stark, im späteren Film „thront“ tatsächlich der König der Roma-Gemeinde, während er sich mit einem Polizisten unterhält.

Ein merkwürdiger Thron in REBEL WITHOUT A CAUSE
und in HOT BLOOD
Und natürlich (und da ähnelt HOT BLOOD in Rays Werk nicht nur REBEL WITHOUT A CAUSE) strotzt der Film nur so vor Rot. Mit Ausnahme von vielleicht Michael Powell und Emeric Pressburger (ich kenne allerdings nicht genug ihrer Filme, um da eine sichere Aussage machen zu können) gibt wohl niemanden, der die Farbe Rot so inszeniert wie Nicholas Ray. Kein Mensch im Universum trägt Rot wie die Figuren bei Ray: Viennas leuchtend rote Lippen, ihre Halsschlaufe, ihr Hemd in JOHNNY GUITAR, Jim Starks Jacke, Judys Mantel und Platos Socke in REBEL WITHOUT A CAUSE, Richie Averys Jacke oder einzelne Kleidungsstücke der Schüler in BIGGER THAN LIFE, und eben Stephanos T-Shirts und Schals sowie Annies Blusen, Korsetts und Röcke in HOT BLOOD. 

Ich habe, um ein wenig vergleichen zu können, REBEL WITHOUT A CAUSE gleich nach der zweiten Sichtung von HOT BLOOD zwecks Verfassen dieses Text geschaut. Dabei ist etwas passiert, was ich nicht erwartet hätte: HOT BLOOD ging aus dem (persönlichen) Vergleich als eindeutiger Sieger hervor, während REBEL WITHOUT A CAUSE – Jean-Luc Godard möge mich dafür gerne steinigen – in meiner Wertschätzung mit dieser (dritten) Sichtung erneut ein wenig niedriger rutschte. Die Gründe dafür (unter anderem eine trotz allem sehr traditionelle und auch unangenehme Sichtweise auf Männlichkeit, die ihn fast schon zum sozial konservativen Film macht) würden einen eigenen Text benötigen. HOT BLOOD gefiel mir bei der ersten Sichtung ganz gut und ich fand ihn so bizarr und bemerkenswert, dass er mir einen eigenen ausführlichen Text wert zu sein schien. Bei der zweiten Sichtung nun habe ich ihn wirklich ins Herz geschlossen...

Ein Film voller Rot

...und nach meinem jetzigen Kenntnisstand würde ich ihn in Rays Werk als Mittelteil einer inoffiziellen „Trilogie des Fieberwahns, der knalligen Farben und überlebensgroßen Gesten“ einordnen, chronologisch zwischen JOHNNY GUITAR und PARTY GIRL – Filmen, die im Kern hauptsächlich aus diesen drei Elementen bestehen (wobei die restlichen Zutaten von JOHNNY GUITAR für zwanzig Filme reichen). Die große Klasse von JOHNNY GUITAR mag HOT BLOOD vielleicht nicht haben (aber das können sowieso nur ganz wenige Filme von sich behaupten), und wahrscheinlich scheitert er im Gegensatz zum wohl großartigsten Western aller Zeiten darin, aus dem Fieberwahn, den knalligen Farben und den überlebensgroßen Gesten etwas wahrhaftig Großes zu machen. Diesem Scheitern zuzusehen ist allerdings ein Erlebnis voller Überraschungen, absolut faszinierend und kurzweilig.



HOT BLOOD ist natürlich in französischen und US-amerikanischen, aber auch in italienischen, britischen und spanischen DVD-Editionen verfügbar. Ich selbst kann nur die UK-Fassung bewerten, die in Bild und Ton gut bis sehr gut ist.

Kurzbesprechung PORCILE

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Wer sich wundert, warum hier bei „Whoknows Presents“ in letzter Zeit so wenig Neues kam: Manfred und ich sind im Abstand von nur wenigen Wochen umgezogen. Manfred hatte dies ja angekündigt. Ich habe es versäumt (Asche auf mein Haupt). Und natürlich kennt ihr es alle: nach dem Umzug ist vor dem richtigen Einleben, und bis man sich an die neue Lebenssituation gewöhnt hat, sind einige Tage, sogar Wochen und viele Gelegenheiten für das Verfassen von Filmartikeln vergangen. Ich hoffe, dass auf „Whoknows Presents“ bald wieder regelmäßiger neue Posts kommen.

In der Zwischenzeit ein kleiner Übergangs-Schmankerl – „wiederverwertet“, aber hoffentlich trotzdem einigermaßen genießbar.
Die folgende Kritik von Pier Paolo Pasolinis PORCILE habe ich im April / Mai dieses Jahres für ein Online-Magazin verfasst. Dort wurde sie bisher nicht gepostet. Daher sehe ich diese DVD-Besprechung als de-facto-Schubladentext, den ich hiermit endlich der Öffentlichkeit freigebe – wie gesagt eben auch, damit die Pause bis zum nächsten, umfangreicheren Text nicht noch länger wird. Bis auf wenige kleine Änderungen handelt es sich um den Originaltext.

PORCILE („Der Schweinestall“)
Italien / Frankreich 1969
Regie: Pier Paolo Pasolini
Darsteller: Pierre Clémenti (der junge Kannibale), Jean-Pierre Léaud (Julian Klotz), Alberto Lionello (Herr Klotz), Ugo Tognazzi (Herdhitze), Anne Wiazemsky (Ida), Marco Ferreri (Hans Günther), Franco Citti (Kannibale), Ninetto Davoli (Maracchione)

„Ich habe meinen Vater getötet, Menschenfleisch gegessen und ich zittere vor Freude!“ Kurz vor seinem Tod rezitiert der Protagonist von PORCILE diesen Satz, und wiederholt ihn immer wieder, bis er die Textur eines Gedichts oder gar eines Gebets bekommt. Auch der eine oder andere Zuschauer dürfte in diesem Moment erzittern ob des Schauers, der ihm über den Rücken läuft.

PORCILE verwebt zwei Geschichten mit komplett unterschiedlichen Figuren, die zu ganz unterschiedlichen Zeiten leben, und das in ganz unterschiedlicher Weise inszeniert. In der ersten Episode irrt ein junger Mann (Pierre Clémenti) durch eine gespenstische karge Landschaft aus Steingeröll. In der Vergangenheit? In einer postapokalyptischen Gegenwart? In der Zukunft? Schwer zu sagen! Der hungernde Mann trifft einen Soldaten, tötet ihn und isst ihn. Die Zeit vergeht, und mehr und mehr Männer schließen sich dem Kannibalen an, um Passanten auszurauben, zu töten und zu verspeisen. Dies ruft dann auch bald die Ordnungsmächte der naheliegenden Stadt auf den Plan.
In der zweiten Episode irrt der junge Julian Klotz (Jean-Pierre Léaud) durch das prunkvolle Schloss seines Vaters (Alberto Lionello), einem Altnazi, der während des Wirtschaftswunders zu einem führenden, erfolgreichen und respektierten Unternehmer geworden ist. Der unentschiedene junge Mann unterhält sich mit seiner Freundin Ida (Anne Wiazemsky) über revolutionäre Politik, verfällt zwischendurch in ein Wachkoma und fühlt sich vom Schweinestall des Anwesens stark angezogen. Währenddessen spinnt sein Vater mit seinen Altnazikollegen Hans Günther (Marco Ferreri) und Herdhitze (Ugo Tognazzi) Intrigen.

PORCILE galt lange Zeit als der „verschollene Pasolini-Film“, als „missing link“ zwischen dem frühen und späten Werk des bis heute umstrittenen italienischen Regisseurs. Das gilt besonders für Deutschland. Aber auch außerhalb wurde dieser Film wesentlich spärlicher rezipiert als andere Produktionen Pasolinis. Man kann, wenn man will, diese mysteriöse Aura auch im Film selbst sehen oder ihn aber „gegen den Strich“ als den vielleicht klarsten Film des Italieners sehen.

Fast schon tabellarisch könnte man die „Kannibalen-Episode“ und die „68er-Episode“ (nennen wir sie im folgenden der Einfachheit halber so) miteinander vergleichen und gegenüberstellen. Erstere ist purer Film, distanziert und nüchtern inszeniert, ein Bilderreigen fast komplett ohne Dialoge, in der die Darsteller minimalistisch agieren. Zweitere ist purer Diskurs, in langen Plansequenzen und ausgetüftelten Dekors manieriert in Szene gesetzt, ein Dialogmarathon mit expressiven, maximalistisch agierenden Darstellern. Wie von verschiedenen Regisseuren in unterschiedlichen Universen wirken die beiden Episoden, und werden scheinbar nur durch die verschränkende Montage zusammengehalten.

Doch so unterschiedlich die zwei Geschichten von PORCILE auch sein mögen, so untrennbar gehören sie zusammen formal wie inhaltlich. Sie funktionieren erst dadurch richtig, dass sie ineinander verschlungen sind, sich gegenseitig ihren Erzählfluss immer wieder abrupt unterbrechen. Die „Kannibalen-Episode“ wirkt sicherlich ursprünglicher und scheint eher dazu prädestiniert, einen unabhängigen Film zu bilden. Als solcher würde sie wahrscheinlich aber irgendwann ihren mysteriösen, fast mystischen Zauber verlieren. Von der modernen „68er-Episode“ ständig unterbrochen wirkt sie mit jedem „Neubeginn“ wieder frisch, überraschend, irritierend, verstörend. Die „68er-Episode“ hingegen würde zusammenhängend wohl die Wirkung eines mit Gewalt eingeführten pädagogischen Mastschlauchs entwickeln. Erst durch die stetige Unterbrechung der „Kannibalen-Episode“ entwickelt die antibourgeoise und antifaschistische Satire, die zu Beginn wie eine Karikatur ihrer selbst aussieht, eine reflektierte Ernsthaftigkeit und schließlich eine ganz eigene, perverse Faszination.

Mit zunehmender Laufzeit erschließen sich auch nach und nach inhaltliche Zusammenhänge. Julian etwa redet ständig von Rebellion, der Kannibale begeht sie. Die „Kannibalen-Episode“ macht Gewalt recht explizit auf einer sehr unmittelbaren und körperlichen Ebene erfahrbar. In der „68er-Episode“ ist sie kaum weniger abwesend, zumal diese nicht zuletzt auch vom Holocaust handelt, tritt jedoch nicht explizit auf den Plan, sondern lediglich dialogisch und hochzivilisatorisch „sublimiert“ und ist wohl eben deswegen noch unerträglicher, weil beiläufiger. Im letzten Drittel wird dann auch in beiden Episoden eine Beobachterfigur eingeführt, jeweils gespielt von dem Pasolini-Stammdarsteller Ninetto Davoli. Spätestens hier (oder auch schon früher, als Julian kurzzeitig in ein Wachkoma fällt) kann man sich fragen, ob die „Kannibalen-Episode“ ein Traum Julians ist, der darin mittels eines alter ego alles macht, wozu er sich in der Wirklichkeit der „68er-Episode“ nicht traut: gegen seinen Vater und dann gegen die komplette Gesellschaft wahrhaftig zu rebellieren.

PORCILE ist zweifelsohne ein sehr intellektueller Film, dabei ist er aber im Gesamtdesign und im Detail auch sehr sinnlich. Besonders die fast dialogfreie „Kannibalen-Episode“, gedreht auf dem Ätna, hat es in sich. Die scheinbar endlose, desolate Geröll-Landschaft, durch die sich der zornige junge Mann bewegt, fängt Pasolini fast irreal und geisterhaft ein, fügt ihr eine mystische Note bei. Dadurch entsteht hier in einer gewissen Weise das, was man sich ungefähr unter einem Pasolini-Science-Fiction-Film vorstellen könnte. Auch der „Sündenfall“ des jungen Mannes, nämlich der Mord an dem Soldaten, wird in unvergesslichen Bildern eingefangen: ein Kampf auf Leben und Tod, der unter dem Zeichen einer latenten erotischen Spannung steht und der in einer kurzen Bilderfolge Gefecht, Freundschaft, Begehren, Unterwerfung, Rache und Erbarmungslosigkeit nacheinander folgen lässt. Nun, vielleicht hätte Pasolini zusätzlich zu PORCILE sich auch noch an einer Langfassung der „Kannibalen-Episode“ versuchen sollen...


PORCILE wurde vor einem Jahr in Deutschland von Filmedition 451 auf DVD veröffentlicht. Bild- und Tonqualität sind sehr gut, wenn auch im positiven Sinne nicht makellos (die Körperlichkeit des Filmmaterials ist stets wunderbar zu spüren). Die Scheibe selbst präsentiert sich so spartanisch wie eine Gerölllandschaft am Ätna, mit nur einigen Trailern anderer Pasolini-Filme, die Filmgalerie 451 herausgebracht hat. Sehr schön ist allerdings das 24-seitige Booklet mit Georg Seßlens Essay „Versuch über Pasolinis lange unsichtbaren Film“, in dem der Filmkritiker kenntnisreich Deutungsansätze und Querverbindungen zu anderen Pasolini-Filmen (u. a. SALÒ) präsentiert.

Von PORCILE gibt es auch DVD-Edition aus Frankreich, UK, Italien und offenbar auch Norwegen, die ich allerdings nicht einschätzen kann.

Themerson & Themerson - fast verlorene polnische Avantgarde

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Auch die Autoren dieses Films [die Themersons selbst] versuchten während ihres ganzen Lebens, rückwärts zu gehen, aber vorwärts zu kommen. (Stefan Themerson unter Bezug auf DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES)

Schon mal von Stefan und Franciszka Themerson gehört? Als regelmäßiger Arte-Seher vielleicht, aber sonst wohl nicht unbedingt. Dabei sind die Themersons keineswegs vergessen: In ihrer Heimat Polen und ihrer Wahlheimat England erinnert man sich durchaus an sie, vielleicht auch in Frankreich, wo sie auch kurz lebten, aber hier zu Lande waren sie wohl von vornherein nie besonders prominent. Die beiden gehörten in den 30er Jahren zur polnischen Film-Avantgarde und drehten gemeinsam fünf experimentelle Filme, von denen leider nur einer überlebt hat. Im englischen Exil folgten noch zwei weitere Filme, so dass sich der erhaltene filmische Nachlass des Ehepaars auf gerade mal drei Werke beläuft. Im "Hauptberuf" (der Ausdruck passt bei den beiden nicht so recht) war Franciszka Zeichnerin und Malerin, Stefan Schriftsteller, Dichter und Essayist. Außerdem führten beide gemeinsam in ihrer englischen Zweitheimat über 30 Jahre lang einen sehr eigenwilligen Verlag. 2010 entstand als internationale Coproduktion (mit Beteiligung von Arte) ein 70-minütiger Dokumentarfilm über die Themersons, der ihr ganzes Leben abdeckt. Ich will mich hier hauptsächlich auf ihre Filme konzentrieren.

Stefan und Franciszka Themerson in THEMERSON & THEMERSON
Die Filmografie in der IMDb enthält derzeit nur die überlebenden drei Filme, und in der deutschen und englischen Wikipedia ist die Liste zwar vollständig, aber unübersichtlich und nur mit wenigen Informationen dargeboten. Deshalb hier zunächst die komplette Liste, einschließlich der Dokumentation. Die deutschen Titel der polnischen Filme sind nicht offiziell, sondern Übersetzungen der Originaltitel, die ich Wikipedia entnahm.

APTEKA (APOTHEKE)
Warschau 1930
3 Minuten
stumm
verschollen

EUROPA
Warschau 1931/32
15 Minuten
stumm
verschollen

DROBIAZG MELODYJNY (MUSIKALISCHES MOMENT)
Warschau 1933
3 Minuten
Musik: Maurice Ravel
verschollen

ZWARCIE (KURZSCHLUSS)
Warschau 1935
10 Minuten
Musik: Witold Lutosławski
verschollen

PRZYGODA CZŁOWIEKA POCZCIWEGO (DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES)
Warschau 1937
10 Minuten
Musik: Stefan Kisielewski

CALLING MR. SMITH
London 1943
10 Minuten
Farbe: Dufaycolor
Musik: Karol Szymanowski, J.S. Bach, Frédéric Chopin, Horst-Wessel-Lied

THE EYE & THE EAR
London 1944/45
10 Minuten
Musik: Karol Szymanowski

Drehbuch, Kamera, Regie und Schnitt jeweils die Themersons gemeinsam. Alle Filme wurden auf 35mm gedreht, und alle außer CALLING MR. SMITH in Schwarzweiß (PRZYGODA CZŁOWIEKA POCZCIWEGO enthielt jedoch ursprünglich eine kurze handcolorierte Sequenz, die nur in s/w erhalten ist).

THEMERSON & THEMERSON (auch THEMERSON AND THEMERSON)
Frankreich/Großbritannien/Polen 2010
Regie: Wiktoria Szymańska

Stefan (1910-1988) und Franciszka Themerson (1907-1988) entstammten beide polnisch-jüdischen Familien. Stefan wurde in Płock geboren, Franciszka als Tochter des Malers Jakub Weinles und einer Pianistin in Warschau. Während Franciszka schon als Kind ihr zeichnerisches Talent entdeckte, interessierte sich Stefan bereits als Jugendlicher für Radio-, Foto- und Filmtechnik sowie für die modernen Kunstströmungen. Mit 14 baute er sich einen Kristallempfänger, er verfertigte Collagen und Fotomontagen, von denen etliche in einem Literaturmagazin erschienen, und mit 18 veröffentlichte er in einem Magazin einen Artikel mit dem Titel "Über die Möglichkeiten des Radios" (Możliwości radiowe). Darin ging es keineswegs nur um das Radio, sondern um eine formale Gegenüberstellung von (mittels Radio transportierter) Musik und Film. Er vergleicht darin (I) die üblichen handlungsorientierten Filme mit Musik mit Gesang (wobei der Gesang so etwas wie eine Handlung transportiert), (II) sogenannte optische Musik (also abstrakte Filme wie etwa die von Oskar Fischinger und etwas später die von Mary Ellen Bute und Ted Nemeth) mit Instrumentalmusik, die zwar Bedeutung, aber keine Handlung hat, und schließlich (III) als letzte Stufe einzelne optische mit akustischen Sinneseindrücken, die jeder Bedeutung entkleidet sind, so dass man sie im Alltag gar nicht bewusst wahrnimmt. Und dann stellt er die rhetorische Frage, ob die formale Ähnlichkeit innerhalb der letzten Kategorie nicht dazu führt, dass man solche optischen und akustischen Eindrücke nicht miteinander verbinden könne, und ob das nicht die ultimative Kunstform für das gegenwärtige Zeitalter werden könne. Und damit hatte Stefan Themerson schon so etwas wie ein Programm für die eigenen kommenden Filme entworfen. Er beschließt den Artikel mit einem Blick in die Zukunft: Er stellt sich einen Mann vor, der, bequem in einem Sessel versunken (vielleicht sogar im Pyjama), mit Kopfhörer und einem Stereoskop vor den Augen, so eine multimediale "Radio-Phono-Vision" genießt.

Stefan begann 1928 in Warschau Physik zu studieren, wechselte aber bald zur Architektur. Irgendwann Ende der 20er Jahre lernte er Franciszka kennen, die an der Warschauer Kunstakademie studierte, und 1931 heirateten die beiden. Da hatten sie ihren ersten Film APTEKA schon fertiggestellt. Die meisten in den frühen 20er Jahren gedrehten abstrakten Filme wie die von Walther Ruttmann, Hans Richter und Viking Eggeling waren rein grafisch, und Fischinger sowie in den 30er Jahren Len Lye und Norman McLaren setzten diese Tradition fort. Doch schon in den 20er Jahren hatte sich auch die Tendenz entwickelt, reale Objekte zu filmen und mittels extremer Großaufnahme, ungewöhnlicher Kamerawinkel, Mehrfachbelichtung, rascher Montage etc. bis zur Abstraktion zu verfremden. Wichtigster Vorreiter in dieser Beziehung war BALLET MÉCANIQUE, den Dudley Murphy und Fernand Léger 1924 in Frankreich drehten. Einige Filmkritiker und Kunsttheoretiker forderten explizit eine Bevorzugung dieser Richtung, so in Polen 1928 die Kritikerin Stefania Zahorska. Die Themersons schlossen sich dieser Sichtweise an, und sie wurden zu Pionieren des abstrakten Films in ihrem Land. Zwar wurde in Polen schon in den 20er Jahren eifrig über das Thema debattiert, aber es wurde kein solcher Film fertiggestellt. (Der konstruktivistische Künstler Mieczysław Szczuka entwickelte konkrete Pläne dazu und hätte sie wohl auch umgesetzt, wenn er nicht 1927 tödlich verunglückt wäre.)

Parallel zu seiner frühen Beschäftigung mit Fotomontagen, die man durchaus als Vorstufe zum Filmen betrachten kann, begann sich Stefan für Fotogramme zu interessieren. Ein Fotogramm entsteht bekanntlich, wenn man Objekte auf einem Film, einer Fotoplatte oder lichtempfindlichem Papier platziert und direkt, also ohne Kamera, belichtet. Bei diffuser Beleuchtung wird dann die Auflagefläche der Objekte, bei gerichteter Beleuchtung zusätzlich die Schatten der Objekte fotografisch abgebildet. Im Avantgarde-Sektor hatten beispielsweise schon Man Ray und László Moholy-Nagy in den 20er Jahren mit Fotogrammen gearbeitet. Stefan verfiel nun auf die Idee, "bewegte Fotogramme", also Fotogramm-Filme, herzustellen. Wie kann das gelingen? Stefan baute dafür einen Tricktisch mit einer horizontalen Glasplatte, die mit halbtransparentem Papier belegt war, auf dem die zu filmenden Objekte platziert wurden. Stefan lag dann mit seiner Kamera (ein altes Ding mit Kurbel) unter dem Tisch und filmte (bzw. fotografierte in Einzelbildschaltung) die Umrisse und Schatten der Objekte auf dem Papier, während Franciszka schrittweise die Objekte und/oder die über dem Tisch angebrachten Lichtquellen bewegte (hier findet man eine Skizze des Tisches sowie einige Screenshots aus den Filmen). Technisch gesehen sind das keine Fotogramme mehr, weil ja wieder eine Kamera zum Einsatz kommt, aber der ästhetische Kern - die Abbildung nur von Umrissen bzw. Schatten - bleibt erhalten, so dass man mit etwas gutem Willen durchaus von bewegten Fotogrammen sprechen kann. Die Themerson'sche Konstruktion erinnert an den Tricktisch, den Walther Ruttmann 1920 konstruierte und patentieren ließ, um damit seine vier abstrakten OPUS-Filme zu realisieren, nur war bei Ruttmann die Lichtquelle unten und die Kamera oben, und es gab nicht nur eine, sondern drei übereinander angeordnete horizontale Glasplatten, von denen zwei verschiebbar waren.

Was die Themersons an den bewegten Fotogrammen reizte, war neben dem ästhetischen Resultat nicht zuletzt die Einfachheit des Verfahrens, die es ihnen - als Autodidakten im zunächst noch fast jugendlichen Alter mit primitiver Ausrüstung - ermöglichte, einfach so loszulegen und experimentelle Filme zu drehen. Und so setzten sie das Verfahren auch in allen ihren Filmen ein, wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß, kombiniert mit anderen Techniken. - In APTEKA (APOTHEKE) werden die Fotogramme ausgiebig benutzt, und bei den abgebildeten Objekten handelt es sich um Utensilien, wie man sie in einer Apotheke oder in einem Chemielabor findet. Im Vergleich zum recht kurzen APTEKA war EUROPA deutlich ambitionierter. Es handelt sich um eine Interpretation des gleichnamigen Gedichts des polnischen futuristischen Dichters Anatol Stern, geschrieben 1925 und 1929 veröffentlicht. Der Futurismus reüssierte nicht nur in Italien und Russland, sondern hatte für einen begrenzten Zeitraum (ca. 1919-22) auch ein Standbein in Polen, bevor hier Dadaismus und Konstruktivismus die vorherrschenden Richtungen der Avantgarde wurden (Sterns Gedicht ist also in einem gewissen Sinn schon ein Nachzügler). Die polnischen Futuristen verweigerten sich aber, unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs stehend, anders als ihre italienischen Kollegen der bedingunglosen Verherrlichung der Maschinen und des Kriegs. Ideologisch stand Stern auch eher den Dadaisten nahe als jemandem wie Marinetti, und sein Poem ist eine grimmig-wüste Anklage gegen ein Europa, das, gerade einen vernichtenden Krieg hinter sich, schon auf den nächsten zusteuert. Sterns "Europa" ist, wie auch andere Werke des polnischen Futurismus, schon sehr "filmisch" geschrieben, und es bestand nicht nur aus Text, sondern war in collagenhafter Form mit Bildern und Fotomontagen angereichert, die die Künstlerin Teresa Żarnower (auch Żarnowerówna geschrieben) und der oben schon erwähnte Mieczysław Szczuka beisteuerten. Stefan Themerson schrieb 1988 in einem Brief, dass Sterns Gedicht nicht die Inspiration für das Drehbuch zu EUROPA war, sondern das Gedicht war das Drehbuch. Neben bewegten Fotogrammen gab es in dem Film weitere Stop-Motion-Animationen, die teilweise auch rückwärts liefen, nackte Frauen (Modelle von der Kunstakademie) und Großaufnahmen von menschlichen Körperteilen (das sah vielleicht ähnlich aus wie gut zehn Jahre später in GEOGRAPHY OF THE BODY von Willard Maas und Marie Menken), sowie weitere Motive und technische Kunstgriffe. Und am Ende gibt es, sozusagen als hoffnungsvollen Kontrapunkt, ein nacktes Kleinkind auf einer Wiese.

Überlebendes Standbild aus APTEKA
Die nächsten beiden Filme waren Auftragsarbeiten (die Themersons hatten sich also - mit EUROPA mehr als mit dem verhalten aufgenommenen APTEKA - schon einen gewissen Namen gemacht). DROBIAZG MELODYJNY (MUSIKALISCHES MOMENT) hat jemand namens Wanda Golinska in Auftrag gegeben, um Werbung für ihr Geschäft zu machen (um welche Art von Geschäft es sich handelte, darüber differieren die Angaben). Wieder gibt es bewegte Fotogramme, jetzt erstmals mit Ton, nämlich im Ablauf synchronisiert mit einer Musik von Ravel. Bei ZWARCIE (KURZSCHLUSS) handelt es sich um einen Informationsfilm über die Gefahren der Elektrizität, der von einem Institut für Soziale Angelegenheiten (Instytut Spraw Społecznych) in Warschau beauftragt wurde. Für die semi-abstrakten Teile des Films entstand zuerst die Musik von Witold Lutosławski, danach wurden die Bilder gedreht und zur Musik synchronisiert. Die oben erwähnte Kritikerin Stefania Zahorska schrieb 1936 Folgendes über den Film: "... ein Poem von Objekten, Linien, Lichtern - es ist ein Drama der Elektrizität, es ist ein Kurzschluss von Formen außer Atem". MUSIKALISCHES MOMENT und KURZSCHLUSS wurden nicht nur in Avantgardezirkeln gezeigt wie die beiden ersten Filme, sondern sie liefen auch in regulären Kinos.

Und schließlich noch PRZYGODA CZŁOWIEKA POCZCIWEG (DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES), der einzige Film aus der polnischen Phase der Themersons, der überlebt hat:



Es handelt sich um eine surreale Parabel, die den Nonkonformismus feiert, oder, wie es im Vorspann heißt, um eine "irrationale Humoreske". "Es wird sich kein Loch im Himmel auftun, wenn man mal rückwärts geht", meint der Chef zu seinen zwei Trägern, die sich beim Abtransport eines Spiegelschranks etwas blöd anstellen. Das hört zufällig ein Beamter (der brave Mann) am Telefon mit, und er zieht seine eigenen Schlüsse daraus: Stimmt - man könnte ja wirklich mal rückwärts gehen. Doch einfach so rückwärts gehen, das geht nicht! Wo kämen wir da hin? "Nieder mit dem Rückwärtsgehen!" steht auf den Schildern der Demonstranten, die einen repräsentativen Querschnitt der Gesellschaft bilden, "gewiss wird sich da ein Loch im Himmel auftun! Wir alle gehen vorwärts!" Doch die beiden Rückwärtsgeher lassen sich nicht beirren - und eigentlich könnte man es ja auch mal mit dem Fliegen versuchen. "Sie müssen die Metapher verstehen, meine Damen und Herren", sagt am Ende der brave Mann mit der Flöte. Das Kleinkind am Schluss ist vermutlich dasselbe, mit dem schon EUROPA endete (aber Stefan Themerson war sich da offenbar nicht mehr ganz sicher, als er 1973 den Inhalt von EUROPA in einem Brief zusammenfasste). Bewegte Fotogramme gibt es hier nur kurz gegen Ende bei den stilisierten Vögeln, und in dieser Sequenz gab es auch die erwähnte Handcolorierung. (Die "fotogrammierten" Vögel der Themersons erinnern mich an die Falkentraumsequenz, die Walther Ruttmann für Fritz Langs DIE NIBELUNGEN beisteuerte.)

Von 1931 (unter einem etwas anderen Namen schon ein oder zwei Jahre vorher) bis 1935 existierte in Warschau eine "Vereinigung der Liebhaber des künstlerischen Films" (Stowarzyszenie Miłośników Filmu Artystycznego, abgekürzt START). Zu den Mitgliedern, die meisten anfangs noch Studenten, zählten u.a. die Regisseurin Wanda Jakubowska, die Regisseure Aleksander Ford und Eugeniusz Cękalski, der Kameramann und Regisseur Stanisław Wohl und der spätere bedeutende Filmhistoriker Jerzy Toeplitz. Die Themersons pflegten engen Kontakt zu der Gruppe und waren mit den meisten Mitgliedern befreundet. 1935 gründeten sie quasi als Nachfolgeorganisation für START eine "Kooperative der Filmautoren" (Spółdzielnia Autorów Filmowych, SAF). Unter dem Dutzend Mitgliedern befanden sich neben Stefan und Franciszka und den oben erwähnten START-Mitgliedern (außer Toeplitz, der sich zwischenzeitlich in London aufhielt) auch der Komponist Witold Lutosławski. Die Kooperative produzierte eine Reihe von meist kurzen Filmen ihrer Mitglieder, darunter auch DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES. 1937 gründeten die Themersons als Zeitschrift der Kooperative das Journal f.a. (film artystyczny), mit Stefan als Herausgeber und Franciszka als Art Director. 1936 und 1937 waren sie nach London bzw. Paris gereist, um Avantgardefilme für Vorführungen in Polen zu entleihen, und die nach den Prinzipien der Neuen Typografie gestaltete Zeitschrift sollte diese Vorführungen publizistisch begleiten. In London trafen sie László Moholy-Nagy und John Grierson, die Zentralfigur der britischen Dokumentarfilmbewegung, und Letzterer versorgte sie mit Filmen aus dem Dunstkreis der von ihm geleiteten GPO Film Unit: THE SONG OF CEYLON von Basil Wright, COAL FACE von Alberto Cavalcanti, NIGHT MAIL von Harry Watt und Basil Wright, A COLOUR BOX und RAINBOW DANCE von Len Lye. Besonders die abstrakten Filme von Lye hatten es den Themersons angetan. Die erste Ausgabe von f.a. begleitete die Vorführung dieser Filme, die im Mai 1937 stattfand, und sie enthielt u.a. Artikel von Lye, Moholy-Nagy und Grierson. In Paris versorgten sich die Themersons vorwiegend mit Werken aus den 20er Jahren wie BALLET MÉCANIQUE, Man Rays LE RETOUR À LA RAISON, René Clairs ENTR'ACTE und Henri Chomettes CINQ MINUTES DE CINÉMA PUR, PRÉTEXTE von Alfred Sandy und LA ZONE von Georges Lacombe. In der schnelllebigen Avantgarde jener Jahre waren diese Filme 1937 eigentlich schon wieder veraltet, aber in Polen waren sie noch nie gezeigt worden. Die Themersons wollten sie eigentlich in einer Tour im ganzen Land vorführen, aber zu ihrem Verdruss erhielten sie nur Lizenzen für Warschau. Die zweite Ausgabe von f.a. widmete sich diesen französischen Filmen. Die Zeitschrift war dreisprachig Polnisch/Englisch/Französisch, ich weiß aber nicht, ob beide Ausgaben dreisprachig oder die erste Polnisch/Englisch und die zweite Polnisch/Französisch war. Heft Nr. 2 enthielt auch einen Essay von Stefan mit dem Titel O potrzebie tworzenia widzeń, der als der wichtigste theoretische Text über den Avantgardefilm im Polen der Zwischenkriegszeit gilt. 1983 erschien er stark überarbeitet und erweitert unter dem Titel The Urge to Create Visions auf Englisch neu. - Von ihren Avantgarde-Aktivitäten hätten die Themersons in Polen kaum leben können, aber sie veröffentlichten auch eine Reihe von erfolgreichen Kinderbüchern, mit Texten von Stefan und Illustrationen von Franciszka, und Stefan verfasste auch Texte für Schulbücher.

Von f.a. war noch eine dritte Ausgabe geplant, die sich dem polnischen experimentellen Film hätte widmen sollen, doch dazu kam es nicht mehr, weil die Themersons im Winter 1937/38 nach Paris übersiedelten. Das war eine rein künstlerisch begründete Entscheidung: Sie wollten in der internationalen Hauptstadt der Avantgarde Anschluss gewinnen. "Wenn man schrieb, malte oder Filme machte, musste man einfach nach Paris", schrieb Stefan 1986 in einem Brief. Schnell knüpften sie Kontakte zu anderen Künstlern und Intellektuellen; Franciszka malte und schuf Illustrationen für den Verlag Flammarion, Stefan schrieb Artikel für Zeitschriften sowie weiterhin Beiträge für polnische Schulbücher, und in ihrer Freizeit dachten sie sich neue Filmprojekte aus. Doch der vielversprechende Anfang wurde durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs jäh abgewürgt. Das Paar meldete sich zur Polnischen Exil-Armee in Frankreich (wie beispielsweise auch Emil-Edwin Reinert). Franciszka wurde als Kartographin der Polnischen Exilregierung zugeteilt, Stefan diente als einfacher Soldat, und dadurch wurden sie getrennt. Nach der französischen Niederlage 1940 wurde Franciszka mit einem Truppentransporter nach England evakuiert, wo sie weiterhin für die dorthin übersiedelte Exilregierung arbeitete, während Stefan in Frankreich zurückblieb. Er schlug sich ins unbesetzte Vichy-Frankreich durch, wo er mehr oder weniger im Untergrund lebte, denn als Jude war er auch dort von Deportation in die Vernichtungslager bedroht. Er vertrieb sich die Zeit mit der Arbeit an einem Roman und dem Schreiben von Gedichten, während es Franciszka von London aus mit Hilfe des Roten Kreuzes gelang, seinen Aufenthaltsort ausfindig zu machen. Mit organisatorischer Unterstützung von England aus gelang es Stefan schließlich Ende 1942, Frankreich zu verlassen und über Spanien und Portugal nach England zu gelangen. Nach einer kurzen Zeit in Schottland ließ sich das Paar 1944 in Maida Vale nieder, einem Viertel im Londoner Stadtteil Paddington, wo sie für den Rest ihres Lebens wohnten.

Die Themersons in der Polnischen Exil-Armee
Die Themersons hatten Kopien ihrer fünf Filme von Polen nach Paris mitgenommen und bei Kriegsausbruch im Film-Entwicklunslabor Vitfer hinterlegt, doch dort wurden sie von den Nazis konfisziert. Was dann mit den Filmen geschah, ist unbekannt - es fand sich keine Spur mehr von ihnen. Auch die in Polen zurückgebliebenen Filmrollen gingen während Krieg und Besatzung spurlos verloren, nur eine schon stark abgenutzte Kopie von DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES tauchte nach Kriegsende auf wundersame Weise in der Nähe von Moskau auf, die Themersons erfuhren aber zunächst nichts davon. Die Filmrolle wurde an das Zentrale Filmarchiv in Warschau geschickt und von dort schließlich an die Filmhochschule in Łódź weitergereicht. Erst als Ende 1960 das Zentrale Filmarchiv eine Veranstaltung zum 30-jährigen Jubiläum von START durchführte und dabei auch DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES vorführte, erfuhren Stefan und Franciszka durch einen Brief des Filmarchivs, dass doch noch einer ihrer polnischen Filme überlebt hatte. In seiner Antwort an das Filmarchiv zeigte sich Stefan sehr erfreut darüber, aber zugleich stellte er die bange Frage, ob nicht nur die physische Kopie, sondern auch der Film selbst dem Zahn der Zeit widerstanden hatte, oder ob es sich nur noch um eine belanglose Kuriosität aus einer vergangenen Zeit handeln würde (ob er daraufhin eine Antwort aus Warschau erhielt, ist mir nicht bekannt). Unter den Filmstudenten in Łódź, die dort DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES zu Gesicht bekamen, dürfte sich auch ein gewisser Roman Polanski befunden haben, denn in Polanskis mehrfach preisgekröntem Kurzfilm DWAJ LUDZIE Z SZAFĄ (ZWEI MÄNNER UND EIN SCHRANK) von 1958 wird ebenfalls ein Schrank mit Spiegel von zwei Männern durch die Gegend getragen. Von einer Freundin darauf angesprochen, meinten die Themersons gelassen: "Polen ist ein Land, in dem zwei Leute einen Schrank tragen müssen - das passiert eben alle 20 oder 30 Jahre!"

Zwei Männer und ein Spiegelschrank - links bei den Themersons, rechts bei Polanski
In London drehten die Themersons während des Krieges ihre letzten beiden Filme, und zwar im Auftrag der Polnischen Exilregierung. CALLING MR. SMITH von 1943 ist inhaltlich ein astreiner Anti-Nazi-Propagandafilm, aber formal auch schon fast avantgardistisch:



Das hier verwendete Farbverfahren Dufaycolor war eines der beiden europäischen Farbfilmverfahren (das andere war Gasparcolor), die in den 30er und 40er Jahren in Europa vorwiegend für Animationsfilme verwendet wurden (auch Len Lye benutzte beide Verfahren, auch in den Filmen, die 1937 in Polen gezeigt wurden). Erstaunlicherweise hatte die britische Zensurbehörde BBFC Einwände gegen den Film, weil ihr manche Bilder zu drastisch waren, vor allem eine an einem Galgen hängende Frau. Produziert wurde CALLING MR. SMITH laut Credits von einem E. Cekalski - es ist kein Anderer als das frühere START- und SAF-Mitglied Eugeniusz Cękalski. Er war zunächst in Paris und dann in London Leiter der Filmabteilung der polnischen Exilregierung, und er inszenierte in England auch selbst eine Reihe von kurzen Dokumentar- und Propagandafilmen, meist in Zusammenarbeit mit dem Schauspieler und Produzenten Derrick de Marney. Nach dem Krieg ging er zurück nach Polen, inszenierte weiter Filme und beteiligte sich am Aufbau der Filmhochschule Łódź. Cękalski starb 1952 mit 45 Jahren.

CALLING MR. SMITH - die Zensoren mochten dieses Bild nicht
Mit THE EYE & THE EAR wandten sich die Themersons wieder einem Thema zu, das Stefan schon in seinem frühen Essay "Über die Möglichkeiten des Radios" von 1928 beschäftigt hatte: Ob und wie man akustische und visuelle Eindrücke auf eine irgendwie logische, also nicht rein willkürliche, Art und Weise miteinander synchronisieren oder aufeinander abbilden könne:



Als Anschauungsmaterial dienen vier Stücke des Komponisten Karol Szymanowski. Es singt die aus der Schweiz stammende Sopranistin Sophie Wyss, und der als Dirigent genannte Ronald Biggs war selbstverständlich nicht der spätere legendäre Posträuber, sondern ein Namensvetter. Einmal mehr kommen bewegte Fotogramme ausgiebig zum Einsatz. Bei diesen letzten beiden Filmen waren die Themersons wohl nicht mehr mit vollem Einsatz bei der Sache - jedenfalls schrieb Stefan Ende 1945 in einem Brief an Aleksander Ford, dass sie diese Filme mehr aufgrund der äußeren Umstände denn aus einem echten künstlerischen Drang heraus realisiert hätten. Das Thema von THE EYE & THE EAR beschäftigte zumindest Stefan jedoch weiter. Noch bis in die 60er Jahre hinein trug er sich mit dem Gedanken, ein Gerät zu bauen (oder von einem Techniker bauen zu lassen), mit dem sich die Gesetze der gegenseitigen Abbildung von optischen und akustischen Reizen (falls es solche Gesetze überhaupt gäbe) erforschen ließen, und er nannte ein solches Gerät mal Synæstetic Sight and Sound Co-ordinator, mal Phonovisor. Doch zur praktischen Umsetzung fehlte immer das Geld, so dass diese Pläne nie realisiert wurden. In einem Brief von 1963, in dem er den damaligen Stand seiner Gedanken zu diesem Thema darlegte, wünschte sich Stefan auch die Möglichkeit, aus grafischen Mustern automatisiert Töne und Musik zu erzeugen. Vermutlich wusste er damals nicht, dass ausgerechnet in England so etwas gerade entwickelt wurde, nämlich Oramics von Daphne Oram. Dabei handelte es sich um einen analogen Synthesizer, der durch auf 35mm-Filmstreifen gezeichnete Muster programmiert wurde.

Nach dem Krieg wurde Aleksander Ford, Freund und SAF-Kollege der Themersons, im nunmehr kommunistischen Polen für einige Jahre Leiter des gesamten verstaatlichten Filmwesens. Im Herbst 1945 entsandte er eine zweiköpfige Delegation nach London, bestehend aus den START- bzw. SAF-Veteranen und Themerson-Freunden Jerzy Toeplitz und Stanisław Wohl, um das Paar zur Rückkehr nach Polen zu bewegen. Doch die Frage der Themersons, ob sie in Polen wieder frei in ihrem alten Stil Filme machen könnten, musste von den Emissären verneint werden, und so lehnten Stefan und Franciszka dankend ab und blieben lieber in England, und sie schrieben den oben erwähnten Brief an Ford, in dem sie hoffnungsvoll den Werken einer neuen polnischen Avantgarde unter Fords Patronat entgegensahen (offenbar ahnten sie da noch nicht, dass der strikt verordnete "Sozialistische Realismus" kaum noch Experimente zuließ). Wie es den Themersons wohl in Polen ergangen wäre? Darüber kann man natürlich nur vage Spekulationen anstellen. Da mit Ford, Toeplitz und Cękalski mindesten drei frühere START- und SAF-Mitglieder führende Positionen an der Filmhochschule Łódź innehatten, wären vielleicht auch Stefan und Franciszka als Dozenten dort untergekommen. Und als Juden wären sie vermutlich 1968 unter Druck geraten. Im Gefolge des Sechstagekriegs von 1967 kam es in Polen zu einer staatlich verordneten antisemitischen Kampagne, die sich nach Studentenunruhen im Frühjahr 1968 noch verstärkte. Aleksander Ford, Jude und immer überzeugter Kommunist, sah sich plötzlich heftigen Anfeindungen ausgesetzt, verlor alle öffentlichen Positionen und wurde ins Exil gedrängt. Ab 1968 lebte und arbeitete er nacheinander in Israel, Dänemark, Westdeutschland und in den USA, aber seine beiden in der Emigration gedrehten Filme hatten keinen Erfolg, er wurde nirgends richtig heimisch, und 1980 nahm er sich in einem Hotel in Florida das Leben. Auch Toeplitz, ebenfalls Jude, kam unter Druck. Er verließ Polen erst 1972 und ließ sich in Australien nieder, wo er sich eine zweite akademische Karriere aufbaute und seine schon in den 50er Jahren begonnene sechsbändige Filmgeschichte vollendete.

1948 gründeten die Themersons Gaberbocchus Press, einen ambitionierten kleinen Verlag, der liebevoll gestaltete und handwerklich sorgfältig erstellte Bücher in kleiner Auflage herausbrachte (die ersten beiden Titel wurden sogar noch - natürlich in sehr kleiner Auflage - mit einer Handpresse in ihrer eigenen Wohnung gedruckt). Der Verlag wurde zum wichtigsten Lebensinhalt in ihrer zweiten Lebenshälfte. "Gaberbocchus" ist die latinisierte Version von "Jabberwocky" - Lewis Carrolls Onkel Hassard H. Dodgson hatte das bekannte Nonsensgedicht ins Lateinischeübersetzt (wobei es noch mindestens zwei weitere lateinische Versionen gibt). Gaberbocchus Press existierte als unabhängiger Verlag bis 1979, und in diesen gut 30 Jahren erschienen darin 60 Bücher - neben Stefans Werken (Romane, Gedichte, Essays und theoretische Schriften) englische Übersetzungen von so illustren Autoren wie Kurt Schwitters (die Themersons hatten Schwitters 1944 kennengelernt und sich mit ihm befreundet), Alfred Jarry, Guillaume Apollinaire und Raymond Queneau, die oft in Zusammenarbeit mit der bedeutenden Übersetzerin Barbara Wright entstanden. Auch Anatol Sterns "Europa" erschien bei Gaberbocchus, übersetzt von Stefan selbst zusammen mit dem Beat-Poeten (und Schwitters-Verehrer) Michael Horovitz, Aesop und Christian Dietrich Grabbe kamen zu Ehren, und Bertrand Russell veröffentlichte zwei Bücher bei Gaberbocchus (und er schrieb für Stefans in Südfrankreich begonnenen Roman "Professor Mmaa's Lecture" ein Vorwort). Mit zunehmendem Alter wurden die kinderlosen Themersons für etliche der von ihnen protegierten Autoren und Kümstler zu väterlichen bzw. mütterlichen Freunden. 1979 verkauften sie Gaberbocchus auf ihren eigenen Wunsch hin an den holländischen Verlag De Harmonie. - Ab 1958 betrieben die Themersons für einige Jahre den Gaberbocchus Common Room, eine Art Mischung aus Pub und Künstlersalon, in dem regelmäßig Treffen und Diskussionen von Künstlern, Intellektuellen und Wissenschaftlern (darunter Bertrand Russell) stattfanden und auch (natürlich experimentelle) Filme gezeigt wurden.

Franciszka Themerson schuf nicht nur Gemälde und Zeichnungen, die regelmäßig in Ausstellungen gezeigt wurden, sondern auch viele Illustrationen für bei Gaberbocchus erschienene Bücher. Besonders angetan hatte es ihr Alfred Jarrys Ubu roi. Für die 1951 bei Gaberbocchus erschienene, von Barbara Wright übersetzte Fassung steuerte sie über 200 Illustrationen bei, sie schuf die Kostüme und das Bühnenbild für eine sehr erfolgreiche Produktion des Stücks an Michael Meschkes Stockholmer "Marionettentheater", und sie kreierte schließlich eine eigene Comic-Version, die aus 90 meterlangen Zeichnungen bestand. - Stefan und Franciszka Themerson starben beide 1988 in London, im Abstand von gut zwei Monaten.

Franciszkas Kreationen für Ubu roi in Stockholm
Von den in Polen zurückgebliebenen Mitgliedern von Stefans und Franciszkas jüdischen Familien hatte fast niemand Krieg und Holocaust überstanden. Aber Franciszkas 1933 geborene Nichte Jasia Reichardt hatte überlebt, und 1946 machten die Themersons sie ausfindig und holten sie zu sich nach London, um für sie zu sorgen. Jasia Reichardt wurde eine bekannte Kunstkritikerin und Ausstellungsgestalterin, die sich für zeitgenössische Kunstströmungen und vor allem für Computerkunst engagierte. Mit von ihr kuratierten Ausstellungen wie Between Poetry and Painting (1965) und Cybernetic Serendipity (1968) hat sie sich bleibende Verdienste erworben. Nach dem Tod der Themersons übernahm sie deren umfangreichen künstlerischen Nachlass und überführte ihn in eine Stiftung, die sie zusammen mit dem Künstler und Kunsthistoriker Nick Wadley verwaltete. Im Januar 2015 wurde das gesamte Archiv an die Polnische Nationalbibliothek übereignet, in Form von über 200 Kartons mit einem Gesamtgewicht von 3,5 Tonnen nach Warschau gebracht und von der polnischen Kultusministerin persönlich in Empfang genommen.

Die verlorenen Filme der Themersons haben bei manchen späteren Zeitgenossen die Fantasie angeregt und den Wunsch nach einer "Rekonstruktion" geweckt. Der 1956 in Łódź geborene Piotr Zarębski versuchte sich 1988 an einer Rekonstruktion von EUROPA mit dem Titel EUROPA II, wobei er sich auf erhaltene Standbilder aus dem Original, das Drehbuch und persönliche Informationen von Stefan Themerson stütze. Dieser gab Zarębski brieflich den Rat, sich nicht an einer engen Rekonstruktion, sondern lieber an einer freien Interpretation zu versuchen. Wie weit Zarębski diesen Rat befolgte, weiß ich nicht. - Und der 1957 geborene Amerikaner Bruce Checefsky legte 2001 bzw. 2008 Rekonstruktionen von APOTHEKE und MUSIKALISCHES MOMENT vor (Ausschnitte: 1, 2, 3), wobei er sich auf ähnliche Quellen stützte wie Zarębski. Wie nahe all diese Rekonstruktionen dem jeweiligen Original kommen, kann ich natürlich nicht beurteilen (und sonst vermutlich auch niemand mehr).

Animierte Credits im Stil der Themersons
2010 legte die junge Regisseurin Wiktoria Szymańska als ihren ersten Film die gut 70-minütige Doku THEMERSON & THEMERSON vor. Es gibt reichlich Archivmaterial zu sehen, und der englische Lebensabschnitt des Paars wird von etlichen Wegbegleitern erhellt, darunter Jasia Reichardt, Barbara Wright (die 2009 verstarb und somit gerade noch rechtzeitig interviewt wurde), Michael Horovitz (der es sich nicht nehmen ließ, ein Nies-Gedicht von Schwitters zu rezitieren) und die Malerin und Schriftstellerin Cozette de Charmoy, deren erstes Buch The True Life of Sweeney Todd bei Gaberbocchus verlegt wurde, sowie einige mehr. Durch diese persönlichen Sichtweisen entsteht ein informatives und warmherziges Portrait des eigenwilligen und leicht versponnenen Paars. Auch bei der formalen Gestaltung hat sich die Regisseurin Mühe gegeben, so sind etwa die animierten Credits im Stil von Franciszkas Zeichnungen und Stefans "semantischen Gedichten" gestaltet. - Die englische Firma LUX hat in Zusammenarbeit mit einem polnischen Kunstzentrum eine DVD mit den drei überlebenden Filmen der Themersons herausgebracht (im Gegensatz zur YouTube-Version hat DIE ABENTEUER EINES BRAVEN MANNES hier engl. Untertitel). Die Scheibe selbst enthält kein Bonusmaterial und somit nur ungefähr eine halbe Stunde Film, es gibt aber ein zweisprachiges (Englisch/Polnisch) Booklet mit ca. 40 engl. Seiten. Dieses Büchlein ist sehr infornativ und bildet eine der Quellen für diesen Artikel, verfügt allerdings über eine lausige Klebebindung - mir fliegen jetzt schon alle Seiten einzeln entgegen. Die DVD findet sich zumindest derzeit nicht bei den üblichen Online-Shops, kann aber direkt bei LUX bestellt werden.

Möwen, Schweine und Schwäne: Eindrücke von der Viennale 2015

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Donnerstag, 29. Oktober

17.30 Uhr, Gartenbaukino
DHEEPAN
Jacques Audiard
Frankreich 2015
100 Minuten, DCP

Der Soldat der Tamil Tigers Dheepan, der eigentlich anders heißt, gibt sich als Ehemann einer ihm unbekannten jungen Frau und Vater eines kleinen Mädchens aus, um fliehen zu können. Mit Yalini und Illayaal, die eigentlich auch anders heißen und sich bis kurz vor der Flucht ebenso wenig kannten, reist er nach Frankreich und nimmt einen Job als Hausmeister in einem von Drogenbanden kontrollierten Pariser Vorort an. Dort lernt er seine „Frau“ und seine „Tochter“ langsam lieben, gerät aber auch in die Fronten eines Bandenkriegs.

DHEEPAN hat beim Cannes-Festival die Goldene Palme gewonnen. Mit seiner Flüchtlingsthematik greift er ein gerade vieldiskutiertes Sujet auf. Der richtige Film zum richtigen Zeitpunkt also? Irgendwie ja. Und auch nein.
Zunächst sei die großartige Schauspielleistung des Hauptdarstellers Jesuthasan Antonythasan gelobt. Als kompletten Laiendarsteller möchte ich ihn nicht bezeichnen, denn er spielte schon 2011 in einem indischen Film mit. DHEEPAN erzählt teilweise die persönliche Geschichte Antonythasans nach, der selbst Soldat bei den Tamil Tigers war. Mit ungeheurer Intensität spielt er diesen kriegstraumatisierten Mann, der aufgrund seiner Sozialisation zu Grobheit und Gewalt neigt und sich dennoch nach Liebe und Anerkennung sehnt. Ich freue mich bereits, ihn möglicherweise bald in einer neuen Rolle zu sehen. Fast verblassen neben ihn Kalieaswari Srinivasan als Yalini und Claudine Vinasithamby als „Tochter“ Illayaal. Das liegt vielleicht auch teilweise daran, dass Audiard sich für die beiden weiblichen Figuren nicht so sehr interessieren mag wie für Dheepan. Und hier sind wir teils auch beim Problem von DHEEPAN: er weiß letztlich nicht, wofür er sich interessieren soll. Was in der ersten Hälfte wunderbar ist, weil der Film dann einfach unbekümmert fließt, sich überhaupt nicht um Plot oder dramaturgische Spannung kümmert und vollkommen in seinen Figuren aufgeht. Nicht so sehr Sozialdrama als intimes Personenportrait – irgendwo zwischen Renoir, Hawks und Rossellini angesiedelt –, das ganz auf Antonythasan Schultern ruhen kann. In der zweiten Hälfte verdichtet sich der Plot. Ein Bandenkrieg zwingt Dheepan zur Positionierung. In einem Aufwasch will Audiard dann Flüchtlingsschicksale, Bandenkriminalität, Geschlechterbeziehungen behandeln und das ganze schlussendlich als reinen Genrefilm auflösen. Das Ende wirkt dann, als hätte sich Michael Winners Geist die Regie unter den Nagel gerissen, um das Finale von DEATH WISH 3 noch einmal in Paris nachzustellen. Audiard hat dann doch nicht den Mut, das stehen zu lassen und tackert noch ein kitschiges Ende hin, das einer Zuschauerverarschung recht nahe kommt. So ist DHEEPAN bewundernswert für seine Darsteller und seine oft tollen Bilder, aber doch insgesamt doch zu unentschieden, mutlos und beliebig.


20.00 Uhr, Gartenbaukino
MARNIE
Alfred Hitchcock
USA 1964
130 Minuten, 35mm

Mööööp!

Die Viennale 2015 begann für mich mit einer riesengroßen Enttäuschung! Der Film, auf den ich mich am meisten gefreut habe, sollte ich nicht sehen. Hitchcocks MARNIE, den ich (eine baldige private Neusichtung auf DVD wird bald meine Meinung bestätigen – oder ggf. widerlegen) für den größten Film des Meisters halte, lief in einer wahrscheinlich wunderschönen 35mm-Kopie ohne mich, denn gezeigt wurde er im Rahmen einer Galaveranstaltung, die nur für geladene Gäste, nicht aber für Pressevertreter lief. 
Stattdessen also...


21.00 Uhr, Metro-Kino, Historischer Saal
DIE TOTEN FISCHE
Michael Synek
Österreich 1989
83 Minuten, DCP

Ein abgerissen aussehender Mann kriecht durch eine Dschungellandschaft und fischt aus brodelnden Quellen Briefmarken. Mit der U-Bahn fährt er zurück zu seinem Chef, doch störrische U-Bahn-Fahrer, verwinkelte Gänge, eine Rattenplage und ein bürokratischer Ticket-Kontrolleur stellen sich ihm in den Weg. Dann verweigert ihm sein Vorgesetzter auch noch die versprochene Kost und Logis. Rachesüchtig nächtigt der Briefmarkenjäger auf einem verlassenen Dampfer und denkt sich alle möglichen Grausamkeiten aus, während anderswo weitere bizarre Dinge geschehen.

© Viennale
Wenn man der IMDb glauben mag, dann ist Michael Synek (der bei der Vorführung anwesend war und danach Rede und Antwort stand) ein idealtypischer „auteur maudit“. Nach einer Tour durch verschiedene Festivals bekam der Film keinen Verleih und ruinierte den Autoren, Produzenten und Regisseur. Syneks erster blieb zugleich sein letzter Film.
DIE TOTEN FISCHE, gedreht in mysteriösem Schwarzweiß, lief im Rahmen der Retrospektive „Aus Fleisch und Blut. Austrian Pulp“ und erscheint tatsächlich singulär. Er ist eine Adaption von Boris Vians gleichnamiger Kurzgeschichte und verbindet Surrealismus, Slapstick, schwarzen Humor, postapokalyptische Science-Fiction und Bodyhorror zu einem wahrhaft bizarren, teils undurchdringlichen Werk. Er erscheint manchmal als gallige politische und gesellschaftliche Satire, bisweilen sogar fast schon als linkes Agitationskino. Der Briefmarkenjäger, der sich wie einst Captain Willard durch feindliches Dschungelgebiet kämpfen muss, um seine Briefmarken (seinen Colonel Kurtz) zu suchen, findet das wahre Herz der Finsternis nicht im Urwald, sondern in der technologischen Zivilisation, die zugleich auf maximale Ausbeute des (miserabel bezahlten) Arbeiter ruht. Er muss sein Leben riskieren für müde 50 Mark, während sein Boss (der Briefmarkensammler) noch nicht mal bereit ist, in ein neues und besseres Netz zu investieren („Wer nutzt denn das Netz jeden Tag ab? Sie oder ich?“). Auch ein latenter Faschismus durchzieht diese postapokalyptische (?) Gesellschaft. Unter den Briefmarken, die der Jäger jagt, tragen einige auch Hitlers Konterfei. Tagsüber, während sein Jäger im Urwald Leib und Leben riskiert, tötet der Boss weiße Ratten und türmt ihre Leichen zu monströsen Haufen. Soldaten bewachen jeden Schritt, und fast jeder Raum wirkt wie ein Gefängnis. DIE TOTEN FISCHE machen es dem Zuschauer dennoch nicht einfach. Der böse Boss wird von einer mysteriösen Frau mithilfe von Pfefferkörnern verführt. Schließlich verbrennt er bei lebendigem Leib, als sie ihren Rock hebt und er ihre Scham erblickt. Der Briefmarkenjäger jedoch, so bemitleidenswert er ist (er muss sich sogar Teile der Gesichtshaut wegreissen, an denen sich eine heimtückische, offenbar lebendige Briefmarke festgesaugt hat), wird dennoch zu einer zweifelhaften Figur: während die Verstümmelung der Leiche seines Bosses noch halb-verständlich ist, überschreitet er tatsächlich Grenzen, als er einen kleinen Jungen erwürgt (mit dem er zuvor in einer höchst unangenehmen, weil latent erotisch aufgeladenen Szene, das Bett geteilt hat).
Es ist glaube ich deutlich geworden: tonal kennen DIE TOTEN FISCHE keine Grenzen. Unangenehmes, das einem Schauer des Grauens über den Rücken jagt, wechselt sich ab mit urkomischen Szenen, die etwas von Monty Python haben. Etwa im allerersten Dialog des Films (ich schätze, nachdem schon ungefähr 25-30 Minuten Laufzeit vorbei sind), als sich der Briefmarkenjäger mit einem Ticketkontrolleur streitet, weil die U-Bahn-Gesellschaft nicht nur echte Tickets (aus Holz), sondern auch gefälschte Tickets (aus Pappe) verkauft – nur, um „ekelhafte Menschen“, die es wagen, „offizielle“ gefälschte Tickets zu nutzen, härter zu bestrafen. Hier weist DIE TOTEN FISCHE auch über alles hinaus, was man gemeinhin als „politische Reflektion“, „Gesellschaftskritik“ etc. bezeichnet. Sicher kann man Syneks Film mit David Lynchs kaputten Welten oder mit David Cronenbergs Bodyhorror vergleichen: es bleiben lediglich approximative Assoziationen für einen singulären Film.


23.00 Uhr, Metro-Kino, Eric-Pleskow-Saal
THE HITCH-HIKER
Ida Lupino
USA 1953
71 Minuten, 16mm

Roy und Gilbert wollen eine kleine Angeltour machen. Sie nehmen auf dem Weg einen Autostopper mit, der sich als der Serienkiller Emmett Myers entpuppt. Die beiden unglücklichen Touristen sollen Myers zu einem mexikanischen Hafen fahren, wo dieser sie dann zu töten beabsichtigt.

© Viennale
THE HITCH-HIKER war genau der richtige Film für ein bisschen spätabendliches Mitternachtskino-Feeling, gleichwohl er für mich mit einer Prise Vertrautheit daherkam (ich kannte ihn bereits). Die sichtlich mehrfach gebrauchte 16mm-Kopie war vielleicht keine 35mm wert, schlug aber erwartungsgemäß dennoch jegliche youtube-Fassung.
Lupinos Film gilt als erster film noir, der von einer Frau inszeniert wurde, und es ist ein Film, den Paul Schrader wohl in die späte, „psychotisch-suizidale“ Phase des Stils einordnen würde. Thematisch und ästhetisch hat er eine gewisse Ähnlichkeit mit Ulmers DETOUR, auch aufgrund des niedrigen Budgets (der sich in vielen Szenen mit Rückprojektionen niederschlägt – was dem Film eine jenseitige, fast halluzinatorische Qualität verleiht). Er ist aber actionreicher. Immer wieder zeigt er, wie das entführte Auto durch eine gespenstische, karge, menschenverlassene Steppenlandschaft rast, was dem Film eine große Dynamik, Dringlichkeit und auch Bedrücktheit bringt. Eine besonders frappierende Szene: der Mörder zwingt Gilbert, Roy aus großer Distanz eine Bierdose mit einem Jagdgewehr aus der Hand zu schießen.
Edmond O‘Brien ist gewohnt gut und überzeugender als Frank Lovejoy. Fantastisch ist jedoch William Talman als Serienkiller, der ein gelähmtes Auge hat, das er nicht schließen kann (was besonders praktisch ist, um zu schlafen, ohne, dass seine Opfer wissen, ob er wirklich schläft). Mit seinen strengen Gesichtszügen, und vielleicht durch die Assoziation mit dem verletzten Auge, erinnerte er mich ein wenig an Nicholas Ray. Ein großartiger noir-Bösewicht in einem „nur“ soliden Beitrag zum Stil.


Freitag, 30. Oktober

ab 10.00 Uhr, Haydn-Kino
SPECTRE (Pressevorführung)
Sam Mendes
UK / USA 2015
148 Minuten, DCP

10.00 Uhr – im Foyer

Sony Pictures hat sich nicht lumpen lassen und gibt der versammelten Presse nicht nur den Kaffee an der Theke aus (was bei Pressevorführungen üblich ist), sondern auch ein großes Büffet mit köstlichem Fingerfood. Die Goodie-Tüte war auch nicht schlecht: nebst einem Omega-Bond-Spezialkatalog, mehreren Postkarten und der Soundtrack-CD gab es auch ein Fläschchen polnischen Vodka und einen Omega-Kugelschreiber (ich habe es noch nicht geschafft, ihn zum Explodieren zu bringen, aber vielleicht sind explodierende Kugelschreiber, wie in SKYFALL schon angedeutet, passé). Vor dem Eingang in den Saal gab es keine Handyabgabe-Prozedur, keine Körperabtastung und keine Metalldetektoruntersuchung, sondern lediglich noch Wasser und Saft in 0,5-l-Flaschen zum Mitnehmen. Eine Pressevorführung, die wahrlich gut beginnt!

11.30 Uhr – im Saal

James Bond macht sich auf die Suche nach dem Kopf der Verbrecherorganisation „Spectre“ und trifft dabei auf einige neue Gesichter und viele ungelöste Probleme aus seiner jüngeren Vergangenheit.

SPECTRE ist leider ein Film geworden für Leute, die eine Geschichte erst dann zu würdigen bereit sind, wenn sie bis in den hintersten Winkel und bis zum Erbrechen auserzählt worden ist. Oder: wo A QUANTUM OF SOLACE („Ein Quantum Toast“, wie nicht nur ich ihn gerne nenne) CASINO ROYALE noch unbedingt auserzählen musste, da fühlt sich SPECTRE jetzt gezwungen, unfertige (und meist nicht so interessante) Erzählstränge aus allen drei bisherigen Craig-Bonds noch zu verknüpfen und komplett „zu Ende“ zu erzählen.
Die gute Nachricht: SPECTRE ist ein unterhaltsamer Bond-Film geworden. Die einführende Plansequenz ist atemberaubend, viele Set-Pieces sind extrem atmosphärisch fotografiert. Die Action ist nicht so unübersichtlich wie in A QUANTUM OF SOLACE, aber dennoch weitaus schwächer als in den beiden „großen“ Craig-Bonds inszeniert. Der Film hat außerdem ganze drei Bond-Girls, die allerdings entweder sträflich vernachlässigt (Naomie Harris) und als PR-Gag verbraucht werden (Monica Bellucci) oder aber blass und völlig charismafrei (Léa Seydoux) sind. Christoph Waltz tritt mittlerweile in die Falle, dass er nur noch sich selbst spielt: als Christoph Waltz ist er nett zu sehen, als Bond-Bösewicht am Rande der „campiness“, die den Moore-Bond so oft um die Ohren geschlagen wird – bloß halt nicht so überzeugend.
Nach SKYFALL eine Enttäuschung, für Bond-Fans dennoch sehenswert! Mehr von mir dazu gibt es hier zu lesen.

ca. 14.00-15.00 Uhr
Exkurs
Wie zivilisierte Länder mit Filmen umgehen, oder: Ein Besuch im Wiener Saturn

Österreich hat einen Teil seiner Medienindustrie auf der Tatsache gegründet, dass in Deutschland der dritte Satz von Art. 5 GG nicht ganz so eng ausgelegt wird, zugleich aber die meisten Zuschauer noch nichtmal mit ihrem Hintern einen Film in einer anderen Sprache ansehen würden als Deutsch. Das kann man verwerflich finden. Bewundernswert aus deutscher Perspektive ist dennoch der größere Respekt für Filme, den man im Herzen des ehemaligen k.u.k.-Zentrums findet. In der DVD-Abteilung des Saturns gibt es zum Beispiel keine FSK-18-Abteilung, die in Deutschland dazu dient, „unrespektable“ Filme auch räumlich so zu separieren, dass die normale Kundschaft damit nichts zu tun hat (gleichwohl verleugnend, dass kein Ort im Laden eine größere Konzentration geschnittener Filme hat!). Nein, es gibt eine Abteilung für „Klassiker“. Eine Abteilung für „Komödien“ (wer hat MAD MAX: ROAD FURY da eigentlich eingeordnet?). Es gibt auch ein „auteuristisches“ Regal, wo DVDs nach Regisseuren geordnet sind (z. B. Kaurismäki, oder Wenders). Und dann gibt es auch die ganz normale A-Z-Abteilung, wo auch Filme darunter zu finden sind, die in Deutschland indiziert oder vielleicht sogar beschlagnahmt sind – zumindest, solange sie keine Horrorfilme sind. Denn auch die haben eine eigene Abteilung. Und die ist für jemand, der an deutsche Filmkultur gewöhnt ist, ein Kulturschock! Natürlich gibt es diese etwas lieblosen Billigeditionen (ich habe mir mal Sergio Martinos TUTTI I COLORI DEL BUIO mitgenommen), aber etwa ein Drittel der DVDs waren wunderschöne Ausgaben: hochwertige Mediabooks, deren reiner Anblick schon ein Genuss ist (und sie in der Hand zu halten erst recht). Endlich einmal ein Ort in Österreich, wo „Schmutziges“ ganz offen und platzeinnehmend präsentiert wird.


16.00 Uhr, Filmmuseum
Vorfilm
TIER OHNE FEIND UND FURCHT
Michael Grzimek
Bundesrepublik Deutschland 1953
10 Minuten, 35mm

Als Verteidigung der Institution Zoo konzipiert, wo Tiere „ohne Feind und Furcht“ leben. Klingt als Diskussionsanregung ganz spannend, entpuppt sich dann aber doch als nur „nette“ Aneinanderreihung süßer Tiere in Zoo- oder Wohnungsumgebung.

A ZED AND TWO NAUGHTS
Peter Greenaway
UK / Niederlande 1985
115 Minuten, 35mm

Zwei Zwillingsbrüder, die in einem Zoo als Tierverhaltensforscher arbeiten, verlieren ihre jeweiligen Ehefrauen beim selben Autounfall. Die Fahrerin des Autos hat hingegen ein Bein verloren. Zusammen versuchen die drei Personen nun, den Verlust und die Trauer zu verarbeiten und entdecken dabei ihre Faszination für verfaulende Tierkadaver und die Nachstellung von Vermeer-Gemälden.

A ZED AND TWO NAUGHTS vereint alle Themen, die man mit Peter Greenaway assoziiert: die Verbindung von Sex, Gewalt, Tod und Essen, die Faszination mit der Malerei, die Poesie des Zerfalls, die Beschäftigung mit körperlichen Verstümmelungen, Deformationen und Modifikationen. Ein idealer Einstieg in die Filmwelt des Briten – oder vielleicht auch nicht?
Inwiefern die extrem unbequemen Sitze des Österreichischen Filmmuseums mir den Zugang zu einem Film erschwert haben oder nicht, werde ich mich im weiteren Verlauf der Viennale immer wieder fragen. Auch in einem bequemen Kinositz wäre A ZED AND TWO NAUGHTS keine einfache Kost. Fast zwei Stunden lang folgen wir eher einem Zustand als einer dramaturgischen Entwicklung, sehen Personen beim Diskutieren von Vermeer-Malerei, beim Erörtern der Genese von Zebrastreifen sowie zwischendurch immer wieder time-lapse-Videos verfaulender Tierkadaver. Mehr als bei THE COOK, THE THIEF, HIS WIFE & HER LOVER, THE PILLOW BOOK und 8 ½ WOMEN hinterlässt mich dieser Film ratlos – aber zugleich auch mit mehr bleibenden Eindrücken. Greenaway entpuppt sich mehr als in seinen anderen mir bekannten Filmen als „malerischer“ Regisseur, der oft eher Gemälde als photographische Bilder erschafft. Die Schönheit der Bilder (etwa eine lange Kamerafahrt durch den Raum, in dem die Boxen mit den faulenden Tierkadavern liegen – die eher wie ein bewegtes Gemälde als wie Film wirkte) steht in einem starken Gegensatz zur extremen Kälte von Greenaways Visionen. Seine Filme handeln nicht von Menschen, sondern von abstrakten, humanoiden Wesen, die zufällig eine gewisse Ähnlichkeit mit Menschen haben, aber ebenso gut exotische Tiere sein könnten. Das macht A ZED AND TWO NAUGHTS zu einer ambivalenten Herausforderung (mehr als die vielen Tabubrüche).
Hinzufügen würde ich, dass der Komponist Michael Nyman wahrscheinlich genauso gut als „auteur“ des Films bezeichnet werden kann wie Greenaway. Sein Soundtrack ist schlicht fantastisch. Ohne ihn würden die Bilder wohl nicht im Ansatz eine solche Wucht entfalten können. Man höre dieses wiederkehrende Thema und dieses kontrapunktisch eingesetzte Stück. (Achtung: letzterer Link enthält im zur Musik geschnittenen Video einige drastische Kostproben Greenaway‘schen Expressionismus‘; Spoiler, wenn man so will – besonders für Leser, die diesen Beitrag beim Frühstück lesen).


ab 20.00 Uhr, Filmmuseum
Vorfilm
GLIMPSES OF BIRD LIFE
Oliver Pike
UK 1910
7 Minuten, 35mm

Einige Vogelarten werden in einem kurzen (vielleicht aber auch unvollständig erhaltenen) Dokumentarfilm vorgestellt.

THE BIRDS
Alfred Hitchcock
USA 1963
120 Minuten, 35mm

Aggressive Vögel überfallen Bodega Bay.

© David Leuenberger
In einem leider viel zu ausgedehnten Q & A, bei dem allerdings nur der Festivaldirektor am „Podium“ Fragen stellte, plauderte Tippi Hedren über ihren Weg zur Schauspielerei, über die Schwierigkeiten beim Dreh und teils auch über das Ende des Studiosystems in Hollywood. Sie blieb nicht zur Sichtung des Films, was auch gut so war, denn einer 85-jährigen Person solche Sitze zuzumuten...
Meine Beziehung zu THE BIRDS begann zunächst konflikthaft. Die Erstsichtung 2008 war zwar nicht besonders unerfreulich, blieb aber im Bereich des „was haben denn alle mit diesem Film“? Hans Schmids ausführlicher und wunderbarer Text zu Hitchcock, THE BIRDS und der Nutzung des Vogelmotivs in Hitchcock-Filmen hat mich zu einer großartigen Neusichtung und Neuentdeckung des Films im November letzten Jahres animiert. Die Drittsichtung im Filmmuseum war leider wieder etwas weniger befriedigend. Waren es wieder die lästigen Sitze? Oder sind Hitchcock-Filme generell von der Tagesform abhängig? Genossen habe ich auf jeden Fall die wunderschöne und kristalline 35mm-Kopie, die wahrhaftig beweist, dass das Format 35mm nur ökonomisch, aber nicht ästhetisch passé ist!

Noch Kneipe mit meinem Festivalgefährten luzifus, seinem Gastgeber und dessen Freunde. Unter diesen befindet sich unter anderem Gerald Jindra, einer der beiden Regisseure des Dokumentarfilms CARL ANDERSENS UNDERGROUND DER LIEBE über den österreichischen Regisseur Carl Andersen, der einige Tage vor dem eigentlichen Beginn der Viennale in der Schiene „Austrian Pulp“ lief.
Interessant, dass auch in den schäbigsten Lokalen (wobei ich in diesem Fall eine sympathische Schäbigkeit meine) das Bier mindestens 3,80 Euro kostet. Als die Sperrstunde des Lokals um 2.00 Uhr erfolgt, sind luzifus und ich an unserem Tisch bereits allein. Wir ziehen in das Lokal auf der anderen Straßenseite. Gemütliche Schäbigkeit, 3,80-Euro-Bier, aufgedrehte Heizung. Wir bleiben bis etwa 3.30 Uhr...


Samstag, 31. Oktober

Ich spaziere mit meinem Gastgeber ein wenig durch den Park und entdecke dabei, passend zur Tier-Retrospektive, den sogenannten Vogeltränkebrunnen zur Ehre der Pinguine. Wir sacken luzifus ein, der bereits einen Film geschaut hat (in den wegen „Ausreservierung“ ich nicht reingekommen bin) und besuchen dann das Schwarzenberg-Café. Der Ober fragt, ob der Kaffee „mit Schlag“ serviert werden soll. Ich habe einen Augenblick darüber nachgedacht „Nein danke, ich stehe nicht auf S & M“ zu antworten, beließ es aber beim ersten Teil. Österreichischer Kaffee schmeckt nämlich auch ohne Schlagsahne hervorragend.


13.30 Uhr, Stadtkino im Künstlerhaus
THE DEVIL‘S CANDY
Sean Byrne
USA 2015
90 MInuten, DCP

Ein christlicher Fundamentalist, der in seinem Kopf die Stimme Satans hört, bringt seine Mutter um. Das Haus, in dem er wohnt, wird später von einer kleinen Familie übernommen: Vater Maler, Tochter Schülerin, Ehefrau irgendein ernsthafter Bürojob, erstere beide große Heavy-Metal-Fans. Das Haus ist verflucht, und der Maler beginnt ebenfalls, in seinem Kopf Stimmen zu hören und furchterregende Visionen zu erblicken. Und bald steht der mordende christliche Fundi wieder vor der Tür.

„Solide Genre-Kost“ ist eigentlich ein furchtbarer Begriff, weil er ein „vergiftetes“ Kompliment ist und zugleich nur sehr unscharf definiert. Aber für THE DEVIL‘S CANDY scheint er geradezu erfunden worden zu sein. Handwerklich ist er gut gemacht, die Darsteller sind überzeugend, das Drehbuch gab es anderswo schon schlechter – aber so richtig ist der Funke bei mir nicht übergesprungen (im Gegensatz zu meinem Reisekollegen luzifus). Angenehm ist ihm sicher anzurechnen, dass Byrne tatsächlich nichts weiter als einen kleinen Schocker in Aussicht hatte, und als solcher ist THE DEVIL‘S CANDY ganz effizient (als „Des Teufels Leckereien“ bezeichnet der Mörder übrigens die Kinder und Teenager, die er angeblich im Auftrag Satans ermordet). Negativ ist mir die Holzhammer-Inszenierung aufgefallen, bei der jeglicher spannender Moment mit einem lauten Knall unterstrichen wird (und das nicht zwei oder drei, sondern eher 20 bis 30 Mal): Dröhnen, bis die Ohren platzen, damit auch der taubeste Zuschauer begreift, dass etwas Gruseliges passiert. „Scare Thunder“ zum Prinzip erhoben. Ein netter kleiner DTV-Schocker, aber in Sachen „religiöse Fundis machen gruselige Sachen“ hat Ti Wests THE SACRAMENT wesentlich mehr Wiedersichtungspotential.


16.00 Uhr, Filmmuseum
Vorfilm
THE PRIVATE LIFE OF A CAT
Alexander Hammid, Maya Deren
USA 1945
29 Minuten, 35mm

Eine Texttafel zu Beginn von THE PRIVATE LIFE OF A CAT ließ zunächst ein verstecktes pazifistisches Manifest vermuten: da war davon die Rede, dass dieser Film den Katzen gewidmet sei, einer Art, die im Gegensatz zum Menschen friedlich sei.
Der Titel hielt dennoch, was er versprach: eine Dokumentarfilm über das Leben einer Hauskatze, die durch die Wohnung wandert, einen schönen Kater kennenlernt, kleine Kätzchen gebärt und sie dann großzieht. Am interessantesten waren die Versuche, den Point-Of-View der Katze mit der Kamera nachzuahmen. Einige sehr, sehr, sehr (sehr, sehr, sehr) ausgedehnte Tableaus, in denen die Mutterkatze ihre Jungen sauber leckt, haben allerdings den Geduldsfaden auf die Probe gestellt. „Das soll ein Film sein?“ fragte einer der jüngeren Zuschauer, der offenbar für BAMBI mitgenommen worden ist. Ja, auch das ist ein Film. Und vielleicht ein Vorläufer beliebter youtube-Katzenvideos?


BAMBI
David Hand et al.
USA 1942
70 Minuten, 35mm

Die Coming-Of-Age-Geschichte eines Rehs.

Gesehen in einer etwas fragwürdigen „2015er-Viennale-Fassung“. BAMBI wurde 1942 wie die meisten Filme seiner Zeit in 1.33:1 gedreht. In den 1970er Jahren wurde er bei der Wiederaufführung an das Widescreenzeitalter angepasst und in neuen Kopien oben wie auch unten maskiert, zu 1.66:1, oder 1.78:1 oder 1.85:1, wobei natürlich Bildinformationen verloren gingen, deren Verlust beim Dreh nicht wirklich eingeplant war. Im Filmmuseum wurde eine solche Widescreenkopie gezeigt. Damit die Zuschauer aber den Film im „Originalformat“ sehen können, wurden wiederum die Ränder so weit maskiert, bis der gezeigte Film wieder ein Format von 1.33:1 hatte – der mit dem tatsächlichen Originalformat nicht mehr wirklich viel zu tun hatte und mit, oh Wunder, noch mehr Bildverlust.
Das ist filmeditorisch sehr bedauerlich. Überaus deutlich wurde dabei dennoch, wie unglaublich zentriert BAMBI in der Bildkomposition arbeitet, da der Film auch in dieser „2015er-Viennale-Fassung“ halbwegs gut zu verfolgen war (auch wenn in manchen Szenen doch deutlich zu spüren war, dass da etwas abgeschnitten wurde).
Zu BAMBI selbst mag ich nicht so viel sagen. Als Kind mochte ich andere Disney-Filme (LADY AND THE TRAMP, THE JUNGLE BOOK, THE ARISTOCATS) lieber, und das ist auch so geblieben. Meine Bewunderung ist tatsächlich eher intellektuell als emotional und gilt zuvorderst den wunderbar gezeichneten Bildern, die teilweise auf beeindruckende Weise die Tiefenunschärfe einer fotografischen Kamera nachahmen, der wunderbaren Verbindung von Bild und Musik, die BAMBI (wie die meisten Disney-Filme) zu einem verkappten Musical macht und der erzählerischen Ökonomie (wie etwa der Tod der Mutter nur mit suggestiven Worten und dem bedrückenden Schneefall verdeutlicht wird).
Ambivalent faszinierend fand ich, wie das Stinktier Flower homosexuell „kodiert“ wird. Der sogenannte „Bambi-Effekt“ (im gängigen Sprachgebrauch grob gesagt der Widerspruch gegen die Tötung süßer Tiere) bezeichnet im LGBT-Slang das Experimentieren Homosexueller mit Heterosexualität und geht dabei von einer homoerotischen Verbindung zwischen Bambi und Thumper aus, die aufgelöst wird, als beide sich heterosexuell verlieben – obwohl eigentlich gerade Flower sich zu einer „Vernunftsehe“ entscheidet (in einer Zeit großer Homophobie ein sicherlich extrem unangenehmer, aber wohl angesichts der Umstände leider vernünftiger Schritt). Insofern sollte man doch eigentlich eher vom „Flower-Effekt“ reden, zumal Bambi selbst, soweit ich mich erinnere, fast gänzlich asexuell dargestellt wird. Im Gegensatz zu Thumper, der sich von seiner Liebsten an seinem langen Ohr streicheln lässt und dabei Thumper-mäßig erregt mit seiner Pfote klopft.


18.30 Uhr, Filmmuseum
BABE: PIG IN THE CITY
George Miller
Australien 1998
96 Minuten, 35mm

Babe hat zwar eben einen Schäferhundwettbewerb gewonnen, doch durch seine Schuld hat sein Herr auch einen schweren Unfall erlitten. Dann stehen auch plötzlich Bankiers vor der Tür. Da heißt es Aufbrechen, um in der Stadt bei weiteren Wettbewerben Geld zu sammeln. Dort landet Babe mit seiner Herrin in einem Hotel voller Tiere, die im Vaudeville-Geschäft tätig sind – und lernt obdachlose Vierbeiner, brutale Polizisten, gruselige Tierärzte und skrupellose Köche kennen.

© Viennale
Sowohl mein werter Gastgeber wie auch mein Reisekollege luzifus machten sich mehr oder weniger milde über mich lustig, weil ich SCHWEINCHEN BABE 2 gucken wollte. Für mich handelte es sich um einen meiner meisterwarteten Filme der Viennale. MAD MAX: FURY ROAD offenbarte mir George Miller, von dem ich bislang nur THE WITCHES OF EASTWICK kannte, und den ich nun nach und nach mit vier weiteren Filmen (den ersten drei MAD-MAX-Beiträgen sowie LORENZO‘S OIL) als einen neuen Anwärter für meinen persönlichen Pantheon der Lieblingsregisseure entdeckt habe.
Erneut erlebte ich das, was ich als meinen persönlichen „Miller-Effekt“ bezeichnen würde: ich hatte in der ersten halben Stunde einige Mühe, in den Film hineinzufinden – nur, um danach umso stärker gepackt zu werden. Woher diese Mühe in der ersten halben Stunde kommt, wird mir wohl erst einmal schleierhaft bleiben, zumal er bei Zweitsichtungen (so bei MAD MAX 2 und 4 erlebt) verpufft. Ist es das hohe Maß an Abstraktion, das solche Sachen wie Exposition, klassische Figureneinführung, säuberliche Plotentwicklung etc. schlicht verweigert? Also sozusagen weil jeder Miller-Film einfach „mittendrin“ anfängt?
BABE: PIG IN THE CITY ist nicht nur ein toller Kinderfilm, sondern auch eine (trotz animalischer Protagonisten) humanistische Erzählung über soziale Außenseiter und über multiple Formen sozialer Ausgrenzung – und wie diese zumindest teils überwunden werden können. Der Gegensatz zwischen Land und Stadt ist am deutlichsten, geht es doch um ein Landschwein in der großen Stadt. Doch Miller betreibt keine rückwärtsgewandte Landromantik, sondern zersplittert auch die Stadt als Ort vielseitiger ausgrenzender Differenzierung. Die Bewohner der City stehen hier gegen Suburbiabewohner. Die tierischen Bewohner des Hotels stemmen sich zunächst gegen die obdachlosen Tiere, die Asyl suchen (und wehren sie mit einer „Das Boot ist voll“-Rhetorik ab). Im Hotel selbst können wiederum Affen die Katzen nicht leiden, diese die Hunde nicht und umgekehrt, während die Tiere wiederum als geschlossene Front gegen Polizisten, experimentelle Tierärzte und Köche stehen. In diese komplexe Konfliktsituation kommt dann Babe rein, der, man sei erinnert, nicht nur ein naives „Landei“ ist, sondern auch ein traumatisierter Charakter, der durch ein Missgeschick fast seinen Boss getötet hat. Doch dieses kleine Schweinchen löst etwas aus, was man wohl als eine Utopie der großen Vergebung und Versöhnung bezeichnen könnte.
Vergebung und Versöhnung sind große wiederkehrende Themen bei George Miller. Babe wird kurz nach seiner Ankunft in der Stadt von den Vaudeville-Affen in eine Falle gelockt, die dazu führt, dass er von einem brutalen Bull Terrier verfolgt wird. Der Bull Terrier, der eine abgerissene Kette hinter sich führt, stolpert dann irgendwann auf einer Brücke, hängt an der Kette kopfüber in einer solcher Weise in den Fluss, dass er bald ertrinken wird. Alle Tiere, die die Verfolgungsjagd beobachtet haben, nehmen das zur Kenntnis und wenden sich gelangweilt ab (ein unfassbar brutaler und schockierender Moment, der es wie durch ein Wunder in die bereits „bereinigte“ Fassung von BABE: PIG IN THE CITY geschafft hat – Millers Urfassung war wohl insgesamt noch brutaler und düsterer und musste auf Druck von Universal nach einer Testvorführung umgeschnitten werden). Alle Tiere wenden sich also ab, nur Babe springt ins Wasser, um den Hund zu retten, indem er ein Boot unter ihn schiebt. Der Bull Terrier unterwirft sich nach der Rettung Babe, bietet ihm sogar sein Halsband an und – die Unterwerfung bleibt so dennoch ambivalent – ernennt sich eigenmächtig zu Babes Sprecher (ein exzentrisches Sprachrohr sah man schon in MAD MAX 2). Babes Akt der Vergebung bleibt dabei implizit: er spricht sie nicht aus, er rettet den Hund einfach nur, und behandelt ihn dann auf natürliche Weise als ebenbürtig. So implizit ist die Vergebung auch in MAD MAX: FURY ROAD, wo der War Boy Nux dann einfach vom Feind des Teams Furiosa-Max-Wives zu dessen Bestandteil wird. Auf die Parallele zwischen BABE: PIG IN THE CITY und MAD MAX: FURY ROAD hat übrigens Outlaw Vern in einem seiner etwa halben Dutzend Reviews des vierten Abenteuers Max Rockatanskys hingewiesen. Auch THE WITCHES OF EASTWICK endet mit einem Akt der Vergebung, als die „Hexen“ Daryl verziehen, ihm eine Kommunikation über Videokonferenz zugestehen (gleichwohl sie ihn an der Reissleine halten). Vergebung ist in LORENZO‘S OIL geradezu ein überordnendes Prinzip: ein Film, der keine der Konfliktparteien als richtig oder falsch beurteilt, sondern deren Handeln als logische Folge eines jeden Einzelfalls akzeptiert.
Im Grunde ist BABE: PIG IN THE CITY auch die Suche der Titelfigur nach der Vergebung seines Herrn. Eine Suche, die eigentlich sinnlos war, da sein Herr ihm niemals etwas vorgeworfen hat – und doch einen Sinn hatte, weil Babe nicht die Welt rettet, aber doch eine erweiterte Gemeinschaft von Tieren zusammenschweißt.
Was Miller nicht löst ist das Problem der individuellen Entfremdung, die auch einen Kern der MAD-MAX-Filme ab dem zweiten Teil ausmacht. Der weise, alte Affe Thelonious ist gewissermaßen der Max Rockatansky von BABE: PIG IN THE CITY: eine einsame, eigenbrötlerische Figur, die die meiste Zeit eine passive Beobachterrolle einnimmt. Gerade, weil sie von ihren Artgenossen entfremdet ist. So fühlt sich Thelonious kulturell eher zum Habitus der Menschen hingezogen. Das mündet in einen der wunderbarsten Momente des Films: die Tiergruppe, die gefangen ist, wurde eben von Babe befreit und macht sich auf, zu fliehen, doch Thelonious lässt alle warten, weil für ihn ein Leben draußen in Freiheit keinen Wert hat, wenn er dabei nicht fein angezogen ist. So zieht er seelenruhig sein Hemd und Jackett an...

P.S.: der Gipfel von Millers utopisch-humanistischer Vision ist vielleicht die Art, wie er einen gehbehinderten Hund als Figur behandelt. Es ist ein Hund mit zwei gelähmten Hinterbeinen, die er an einer Konstruktion mit Rädern hinter sich herzieht. Der Film thematisiert und problematisiert das allerdings nicht. Er liefert keine Erklärung für die Lähmung, er psychologisiert die Figur auch nicht aufgrund ihrer Behinderung. Dieser Hund ist einfach da und eine vollwertige Figur wie jede andere. Es ist mir erst im Nachhinein aufgefallen, wie verhältnismäßig außergewöhnlich das ist und wie sehr Miller von logisch und emotional intelligenten Zuschauern ausgeht.

P.P.S.: BABE: PIG IN THE CITY war der Viennale-Film mit der charmantesten Zuschauer-Störung. Ein junges Mädchen, vielleicht 8 bis 10 Jahre alt, saß hinter mir mit ihren Großeltern. Da der Film im englischen Originalton ohne Untertitel gezeigt wurde, stellte sie ihren Begleitern immer wieder Verständnisfragen. Manchmal wußte die Oma mangels erweiterter Englischkenntisse keine Antwort. Es kann sein, dass sie manchmal auch nicht wußte, wie sie ihrer Enkelin so kurzfristig die Zusammenhänge erklären sollte, die ganz deutlich nur für „erwachsene“ Zuschauer lesbar sein sollten (etwa den hyperaktiven, offensichtlich zugekoksten Drogenfahnderhund, der Babe bei Ankunft am Flughafen entdeckt).

Was zum Teufel? Ich laufe durch die Straßen Wiens und überall sind Menschen unterwegs, die aussehen, als wären sie geflohene Statisten aus der Eingangsszene von SPECTRE (die während des mexikanischen Karnevalsumzug zum „Tag der Toten“ spielt): mit Totenkopfmotiven geschminkt, teils mit Kunstblut verschmiert. Ach ja, es ist Halloween. Zum Glück werde ich die „heiße“ Phase dieses Fests im Kino bei einem Dreistundenepos verbringen. Aber zuerst...


20.30 Uhr, Metro-Kino, Eric-Pleskow-Saal
TO AGORI TROEI TO FAGITO TOU POULIOU (Boy Eating Bird‘s Food)
Ektoras Lygizos
Griechenland 2012
80 Minuten, DCP

Yorgos lebt alleine in einer Wohnung und muss mangels Geld hungern. Futter für seinen Vogel gehört immer zu den dringendsten Prioritäten. Seine Sparmaßnahmen werden immer extremer, bis er schließlich auf der Straße landet.

Obwohl ich dialogfreie Filme sehr schätze (und Lygizos Film ist über weite Strecken dialogfrei), hat TO AGORI TROEI TO FAGITO TOU POULIOU keine bleibenden Eindrücke hinterlassen. Aufgrund der Ankündigung (sinngemäß eine „Übertragung von Knut Hamsuns Hunger in die griechische Ära der Sparpolitik“) hätte ich mehr erwartet. Der Film ist mit seinen Handkamerabildern immer extrem nah an Hauptdarsteller Yannis Papadopoulos und bleibt doch der Figur fern. Das liegt vielleicht daran, dass Papadopoulos eher solide als wirklich inspiriert spielt, aber vielleicht auch daran, dass Lygizos für etwas, was man wohl auch als „innere Reise“ bezeichnen könnte, nur „äußerliche Bilder“ findet.


23.00 Uhr, Gartenbaukino
XIA NU (A Touch Of Zen)
Hu King
Taiwan 1971
180 Minuten, DCP

Ein Dorfschreiber, seine Mutter, ein abweisender Fremder, eine mysteriöse Schönheit und noch ein paar andere Personen machen... ähm... Sachen... unter anderem kämpfen oder durch die Gegend laufen.

Viennale-Spätvorstellungen mit asiatischen Filmen werde ich in Zukunft meiden (siehe meine Ausführungen zu CHE SAU / MOTORWAY zur Viennale 2012)! Besonders, wenn sie im Gartenbaukino (ergo: im Rückenbrechkino) stattfinden. XIA NU eröffnet mit einer langen Montage aus Naturimpressionen und in gewisser Weise besteht der ganze Film aus Sachen, die lang sind. Die Bilder mögen zwischenzeitlich von ausgesuchter Schönheit sein, meisterlich komponiert in eleganten Kamerabewegungen, aber die meiste Zeit scheint der Film Zeit zu schinden, und das gnadenlos! Eine Szene, in der der Dorfschreiber geheimnisvolle Geräusche im heimischen Garten hört und diesen auf die Spur geht, wird bis zum Erbrechen in die Länge gezogen – ganz nach dem Motto „was drei Stunden dauert muss wichtig sein“ (die Strategie, mit Hilfe von Überlängen Größe vorzutäuschen ist also kein ausschließliches Problem des heutigen Blockbuster-Kinos). So ist es nicht wunderlich, dass ich mit dem Schlaf kämpfte und das Duell irgendwann verlor... Als ich wieder aufwachte, befanden wir uns im zweiten Teil des Films (nach meiner Uhr waren etwa 110 Minuten durch), und die Figuren waren auf Wanderschaft. Die Bilder zogen irgendwie gleichgültig an mir vorbei. Vielleicht bin ich zwischendurch wieder eingenickt. Irgendwann habe ich gelangweilt ein zweites Bier aufgemacht. Die Dose war vor dem Film zu Ende...
Gezeigt wurde übrigens eine frisch restaurierte Fassung. Die Restaurierung wurde komplett von der Hauptdarstellerin Hsu Feng finanziert, die nach Beendigung ihrer Schauspielkarriere 1981 offenbar eine erfolgreiche Produzentin wurde. Doch, oh weh!, was bringt die schönste Restaurierungsarbeit, wenn das ganze doch zu einem Pixel-Mischmasch wird: die DCP-Kopie machte die Bilder über weite Strecken leblos und tot, in den dunklen Nachtszenen wirkte das Schwarz trüb-gräulich und immer wieder gab es zwischendurch Pixel-Tornados.

Es ist kalt draußen. Ich habe den Film nicht nur mit luzifus, sondern auch mit dessen Gastgeber und meinem Gastgeber geschaut. Es kommt heraus: alle sind zwischendurch eingeschlafen. Zusammengenommen haben wir vier also vielleicht den Film komplett gesehen. Statt eine mühsame Rekonstruktionsarbeit vorzunehmen, gehen wir in einen Irish Pub, wo eine tschechische Kellnerin uns auf Englisch bedient und österreichisches Bier bringt. Die anderen Gäste tragen größtenteils Halloween-Kostüme und -Schminke. Ein schwer betrunkener Gast belästigt uns drei Mal. Im kneipen-eigenen Fernseher flimmert NIGHTMARE ON ELM STREET 4 tonlos vor sich hin...


Sonntag, 1. November

Ich befinde mich in einer Stadt, die sich als Metropole bezeichnet, aber es ist die Hölle, an diesem Feiertag eine offene Bäckerei zu finden. Selbst Sonntagsbäckereien, deren Inhaber höchstwahrscheinlich nicht christlich sind, sind geschlossen. Offen sind nur noch after-hours-Schuppen, aus denen müde, Halloween-geschminkte Gesichter schauen. Ich finde doch eine Imbissbude, an der ich einen Börek mit „Faschiertem“ erwerben kann (ja, Rinderhackfleisch, nicht zerhäckselter Nazi).

11.00 Uhr, Stadtkino im Künstlerhaus
FRANCOFONIA
Aleksandr Sokurov
Frankreich / Deutschland 2015
87 Minuten, DCP

Die deutsche Besatzung Frankreichs ist zugleich der Beginn einer merkwürdigen Freundschaft zwischen Jacques Jaujard, Direktor des Louvre, und FranzWolff-Metternich, Leiter der Kunstschutzabteilung in Paris. Und eine gute Gelegenheit, um über Kunst im Allgemeinen, das Leben... und Napoleon nachzudenken.

Mit seiner Thematik hätte FRANCOFONIA sehr gut eine Art RUSSKIJ KOVČEG 2 werden können, und so eine anderthalbstündige Plansequenz wäre heute sogar etwas leichter zu realisieren als 2002. Aber Aleksandr Sokurov ist natürlich ein zu origineller Regisseur, um einfach RUSSKIJ KOVČEG 2 zu drehen – leider, möchte ich gerne sagen.
In seinen besten, aber nur seltenen Momenten hat FRANCOFONIA die Dichte eines echten Filmessays. In seinen weniger guten Momenten wirkt er wie eine dieser gediegenen, mäßig informativen Historiendokus auf arte. In seinen Untiefen glaubt man sich in eines dieser unsäglichen Dokudramen zu finden, wo Aufklärungspädagogik mit Re-Enactment verbunden wird, damit Hinz und Kunz taxi-mäßig schön da „abgeholt“ werden, wo „sie stehen“. Und an manchen Stellen hätte FRANCOFONIA ebenso gut eine Folge von Galileo Mystery sein können. Ich mochte Sokurovs ELEGIJA DOROGI („Elegy Of A Voyage“) bereits nicht, weil schon da der Russe zu einer Mischung aus Bauchnabelschau und dröhnend vorgetragenen Plattitüden neigte. FRANCOFONIA ist schlimmer. In der Rahmenhandlung zeigt sich Sokurov selbst als Mann, der aus der Ferne, per Skype, mit einem Containerschiff kommuniziert, der in einem Sturm Container voller Kunstwerke nach Frankreich (?) transportieren soll. Die Pausen nutzt er dann, um über den Rest zu sprechen, Hitler in Archivbildern mit nachgesprochenen Komplimenten über französische Alleen zu zeigen, im Erklärbarmodus die Geschichte des Louvres zu erzählen und einen grotesken Napoleon-Nachahmer und eine etwas hilflos reinschauende Marianne durch den Louvre zu hetzen... Sokurov im Filmessay-Modus und ich werden definitiv keine Freunde!


13.00 Uhr, Gartenbaukino
THE END OF THE TOUR
James Ponsoldt
USA 2015
106 Minuten, DCP

David Lipsky, Schriftsteller und Reporter beim Rolling Stone, interviewt mehrere Tage lang David Foster Wallace, Autor des epischen und vieldiskutierten Romans „Infinite Jest“ und begleitet ihn auch auf Lesetour.

© Viennale
Die Grundkonstellation lässt eigentlich einen Film im schlimmsten Indiewood-Modus erwarten. Gesehen habe ich schlussendlich den besten aktuellen Film der Viennale. Ein wunderbares Portrait zweier Getriebener, Suchender, Besessener. Lipsky, der Reporter im Rolling-Stone-Auftrag, der möglichst einige pikante Geschichten über Wallaces angebliche Heroinsucht herausgraben soll, dabei aber eigentlich nur Wallaces Kumpel sein möchte. Der den Autor von „Infinite Jest“ zugleich als literarischen Konkurrenten und als potentiellen Mentor sieht. Wallace, der seine Literatur im öffentlichen Diskurs von seiner Person trennen möchte und einsehen muss, dass das gar nicht so einfach ist. Ein extrem offenherziger, kumpelhafter Typ. Ein furchterregend normaler Depressiver. Ein rasender Eifersüchtiger, wenn es um Ex-Angebetete geht. Ein fürchterlich einsamer Mensch.
THE END OF THE TOUR ist ein extrem dialogreicher Film, der von vielen gewitzten Pointen lebt, von kleinen Gedanken und Momenten. Was den Film im Kern zusammenhält, ist das wunderbare Spiel der beiden Hauptdarsteller Jesse Eisenberg und Jason Segel. Für sich genommen sind sie schon großartig, aber die wirkliche Magie entsteht aus der Chemie zwischen den beiden. Die Verbindung Segel-Eisenberg bildet die Seele des Films. Immer wieder kann man sich in den langen Dialogen komplett verlieren.
So ist es etwas schade, dass der Film dann doch noch so etwas wie einen Konflikt einführen und zuspitzen muss und sich gezwungen sieht, eine gewisse Richtung einzunehmen. Ein nur kleiner Wermutstropfen bei einem solch tollen Schauspielerkino.
Übrigens zeigte die Projektion, dass DCP nicht nur eine Sackgasse sein muss. Der Film wurde auf 35mm gedreht, und die Projektion brachte tatsächlich die Körperlichkeit und Lebendigkeit des Materials adäquat rüber. Rücken, Nacken, Knie und Beine taten mir nach dem Film aber trotzdem weh.


15.30 Uhr, Urania-Kino
Oh! Es gibt also doch Kinos in Wien, deren Sitze über Rückenlehnen verfügen UND Beinfreiheit bieten! Na zugegeben, das gab es auch im Haydn-Kino. Potential und Hoffnung sind also vorhanden...
RESULTS
Andrew Bujalski
USA 2015
104 Minuten, DCP

Multimillionär Danny ist gerade an einen neuen Ort gezogen und langweilt sich. Warum nicht trainieren? Etwa mit Kat, die im Fitness-Studio „Power 4 Life“ arbeitet. Die allerdings eine schwierige Beziehung mit ihrem Chef und Ex-Liebhaber Trevor hat...

Andrew Bujalski gilt als „Godfather of Mumblecore“. Was auch „mumblecore“ auch sein soll: RESULTS ist auf jeden Fall so etwas wie Bujalskis Durchbruch zum Mainstream. Allerdings wirkt der Film schlussendlich ein bisschen wie „Woody Allen goes to Austin, Texas“ und zwar in schlechter Tagesform und ohne Windsor-Schrift in den Credits. Für eine romantische Komödie hat der Film kein romantisches oder humorvolles Herz. Als Dekonstruktion der romantischen Komödie (als die er teils gefeiert wird) ist er wie auch als Satire über Selbstoptimierungswahn zu handzahm. Für Schauspielerkino enthält er außer dem tollen Kevin Corrigan als stets schwitzenden, rotgesichtigen und oft kiffenden und fressenden Danny nicht wirklich Schauspieler (als besten Nebendarsteller würde ich die rote Edelstahltrinkflasche wählen, die Guy Pearce immer mit sich trägt). Und für einen potentiell fluffigen Wohlfühlfilm ist er 20 Minuten zu langatmig – mindestens.


18.30 Uhr, Filmmuseum
KOIYA KOI NASUNA KOI (The Mad Fox)
Uchida Tomu
Japan 1962
109 Minuten, 35mm

Im Zuge einer Intrige am Hof verliert ein junger Mann nicht nur seine Geliebte, sondern auch seinen Verstand und lebt fortan in einer parallelen Fantasiewelt. Die Begegnung mit der Zwillingsschwester seiner Geliebten macht ihn wieder glücklich. Die Enkelin einer als Mensch getarnten Füchsin verliebt sich in ihn und nimmt die Gestalt der Zwillingsschwester der Geliebten an. Der Verrückte und die Füchsin ziehen zusammen in den Wald und gründen eine Familie...

Meine Kenntnisse des japanischen Kinos sind leider zu lückenhaft, aber ich vermute trotzdem, dass KOIYA KOI NASUNA KOI auch in diesem Kontext ein singulärer Film ist: Theater- und reine Fantasie-Dekore, theatralische Narration, Musical-Elemente, animierte Sequenzen erzählen eine Geschichte vom Wahnsinn und von der Liebe zwischen einem Menschen und einer Füchsin.
Wenn die Exposition etwas konventionell wirkt, abgesehen vom sehr expressiven Spiel der Darsteller, so kippt das ganze mit dem Wahnsinn der Hauptfigur, die plötzlich in einem Meer aus gelben Blumen und Schmetterlingen vor gelbem Horizont aufwacht und dann die nächsten zehn Minuten vor diesem stilisierten Dekor die Handlung nur mittels Ausdruckstanz vorantreibt, begleitet von einem expressiv gesungenen Off-Kommentar.
Die Füchse selbst sind erkennbar an ihren weißen Holzmasken, die sie bisweilen ablegen, wenn sie die Form von Menschen annehmen. Die Familienidylle zwischen dem Wahnsinnigen und der Füchsin spielt schließlich auf einer Bühne mit Pappmaché-Aufstellern, die rudimentär ein Haus und einen umliegenden Wald andeuten. Auch hier folgt eine lange Sequenz mit Off-Gesang und expressivem Tanz.
Die Füchsin verabschiedet sich schließlich wieder in den Wald. Bevor sie das tut, sperrt sie sich im Wohnzimmer ein. Durch die transluzente Papierabschirmung schreibt sie in einer stummen Szene ihrem „Ehemann“ eine Liebeserklärung in Schwarz mit Pinsel – mein wohl poetischster Filmmoment der ganzen Viennale. Mit einem Knall verabschiedet sie sich dann: die Bühne explodiert, fällt in sich zusammen und der junge Mann verwandelt sich offenbar in einen Stein...
Eine lohnende, wenngleich sehr harte Herausforderung von einem Film (leider haben weder die Filmmuseumssitze noch die Sitznachbarin, die alle zwanzig Sekunden dämlich gekichert hat, wirklich geholfen).


21.00 Uhr, Metro-Kino, Historischer Saal
NOT WANTED aka THE WRONG RUT
Ida Lupino, Elmer Clifton
USA 1949
91 Minuten, Digi-Beta

Die junge Sally ist eher schüchtern und naiv, lässt sich aber trotzdem auf eine Affäre mit dem Barpianisten Steve ein. Als dieser in eine andere Stadt, folgt sie ihm ohne groß nachzudenken (zumal sie eh ständig in Konflikt mit ihren Eltern steht). Im Bus dorthin trifft sie Drew, der ihr eine Wohnung besorgt. Nachdem Steve sich definitiv in Richtung Südamerika verabschiedet, wendet sich Sally mit ihrer Liebe an Drew. Doch dann kommt ein Schwächeanfall und die Nachricht: sie ist schwanger. Panisch flieht sie in ein Heim für unverheiratete Mütter und gibt dort ihr Kind weg...

© Viennale
Ida Lupinos Regiekarriere begann mit Elmer Cliftons Herzinfarkt. Für NOT WANTED agierte sie eigentlich als Autorin und Produzentin, doch als Regisseur Clifton besagten Herzinfarkt erlitt, wurde Lupino, die sich als Schauspielerin schon einen Namen gemacht hatte, mit der Regie beauftragt. Sie verzichtete allerdings von sich aus auf einen Credit dafür.
Herausgekommen ist ein außergewöhnlicher Film: mit absolut sicherer, meisterlicher Hand inszeniert – keine Spur von Regiedebütantin. Völlig unaufgeregt in der Art, wie er ein de-facto-Tabuthema behandelt, trotzdem höchst emotional im Umgang mit seinen Figuren. Auf maximalen emotionalen Effekt und trotzdem ohne Sensationsgier inszeniert. Anklagend gegenüber einer repressiven Gesellschaft, dabei aber auch verständnisvoll für alle Menschen, die ihr entspringen. Ein „Problemfilm“, der mehr auf lyrische Impressionen denn auf pädagogische Erklärung setzt.
Obwohl NOT WANTED im Kern ein Melodrama ist, wird er oft wie ein film noir inszeniert, in einem Schwarzweiß voller dunkler Schatten, bedrückender und beengender Innenräume, mit einer Unglücksverkettung für die Hauptfigur, die sie zu einem hilflosen Fatalismus treibt.
Die Überlieferung von NOT WANTED für die Viennale ist nicht so faszinierend wie der Film selbst, aber doch erwähnenswert. Der Film wurde für die Ida-Lupino-Retrospektive eingeplant, bevor eine Kopie vorhanden war. Es kam aber heraus, dass in Europa keine aufzutreiben war. So begann eine Suche nach US-amerikanischen Verleihen, die den Film einmal in Umlauf gebracht haben. Die Viennale-Mitarbeiter stießen auf „Something Weird“, einem unabhängigen Verleih, der in den 1960er und 1970er Jahren Exploitationfilme in Drive-In-Kinos vertrieben hat. Damit es dort auch Double-Features zu sehen gibt, suchte der Verleih auch nach vergangenen Filmen mit mehr oder minder „heißer“ Thematik, die als Vorfilm gezeigt werden konnten. NOT WANTED wurde als geeignet dafür gesehen. Die Werbung für den Film, der in THE WRONG RUT umbenannt wurde, sollte kaschieren, dass es sich eigentlich um ein ernsthaftes Melodrama handelte und nicht um einen Erotikfilm. Damit es auch schon vor dem Hauptfilm des Double Features etwas Sensationelles und Saftiges zu sehen gab, fügte der Verleih eine dokumentarische Szene mitten in den Film hinein. Als Sally auf einer Bahre in den Kreißsaal geschoben wird, unterbricht ein eingeschobener Zwischentitel die Geburtsszene (ein unscharf gefilmter Point-Of-View Sallys auf die umstehenden Ärzte und Schwestern) und erklärt, dass Komplikationen einen Kaiserschnitt nötig machten. Es folgen dann etwa 3 Minuten farbige (!) Aufnahmen eines realen Kaiserschnitts. Damit war die Sensationslust des Drive-In-Publikums bedient (oder auch nicht), wenngleich, wie ich und andere Zuschauer sehen konnten, nicht unbedingt dem Rhythmus von Lupinos Film. Jedenfalls erreichten die Viennale-Mitarbeiter die Witwe des kürzlich verstorbenen „Something Weird“-Chefs Mike Vraney und sie hatte tatsächlich noch eine Kopie des Films. Sie war sogar bereit, sie zu einem geringen Preis zu verkaufen. Gesagt, getan. Als die Kopie in Wien ankommt, gibt es eine kleine Überraschung. Nein: kein Essig-Cocktail. Sondern eine Nitrokopie! Die auf dem Weg von Seattle bis nach Wien gefühlt 10.000 Mal in Flammen hätte aufgehen können (zum Beispiel im Flugzeug) – es aber glücklicherweise nicht tat. Die Zeit reichte nicht, um den Film auf normalen 35mm-Film umzukopieren. Deshalb war eine Digi-Beta-Kopie zu sehen, die übrigens qualitativ erstaunlich gut war (wenn nicht sogar besser als manch DCP).

Mit luzifus noch ein wenig in der Lounge des Metro-Kinos sitzen. Noch zwei Bier. Dann raus.

Montag, 2. November

am späten Nachmittag
Epilog am Prager Hauptbahnhof
Ein fahrender DVD-Händler hält einige wunderbare Delikatessen für den reisenden Cinephilen aus Deutschland bereit. Hierzulande von Staatsanwälten und Jugendschützern nur ungern gesehene Kannibalen-Exploitation aus Italien (CANNIBAL HOLOCAUST, LA MONTAGNA DEL DIO CANNIBALE, CANNIBAL FEROX) gab es ebenso wie INFERNO, SHOWGIRLS und DEAD HEAT zum Schnäppchenpreis von jeweils 10 tschechischen Kronen zu erwerben (also umgerechnet 40 Cent). Zugegeben nur umhüllt von einer lieblosen Papphülle. Und okay, DEAD HEAT ist bestenfalls „open matte“, wahrscheinlich aber einfach nur in einer seitlich beschnittenen Fassung. Und ja, INFERNO funktioniert in meinem Player irgendwie nicht. Und ja, SHOWGIRLS gibt es nur in diesem komischen 2.05:1-Format, der sich auch auf den deutschen DVDs befindet. Und ja, überall gibt es nur tschechische Untertitel, was bei den italienischen Leckerbissen ein Ausweichen auf die englische Synchro zumindest bei der Erstsichtung nötig macht. Aber hey: in ehemaligen k.u.k.-Provinzen ist Kino, das hierzulande verfemt und teils sogar juristisch verfolgt wird, schon wenigstens an einem symbolträchtigen Ort angekommen, nämlich am Bahnhof...

Meine persönlich Viennale-Rangliste

1 THE BIRDS
2 NOT WANTED
3 BABE: PIG IN THE CITY

4 THE END OF THE TOUR
5 KOIYA KOI NASUNA KOI (The Mad Fox)
6 DIE TOTEN FISCHE

außer Konkurrenz SPECTRE

7 BAMBI
8 THE HITCH-HIKER
9 A ZED AND TWO NAUGHTS

10 DHEEPAN
11 THE DEVIL‘S CANDY

12 TO AGORI TROEI TO FAGITO TOU POULIOU (Boy Eating Bird's Food)
– RESULTS

14 FRANCOFONIA
– XIA NU

Skandinavischer Hunger

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SULT (Dänemark und Norwegen) / SVÄLT (Schweden), dt. HUNGER
Dänemark/Norwegen/Schweden 1966
Regie: Henning Carlsen
Darsteller: Per Oscarsson (Pontus), Gunnel Lindblom (Ylajali), Osvald Helmuth (Pfandleiher), Birgitte Federspiel (Ylajalis Schwester), Sverre Hansen (Bettler)

Pontus, der Protagonist
Christiania - auch Kristiania geschrieben, das heutige Oslo - im Jahr 1890. Hier fristet der junge und völlig erfolglose Schriftsteller Pontus sein kärgliches Dasein. Mit seiner linkischen und oft schroffen Art macht er sich wenig Freunde. Pontus' Anstrengungen, ein Manuskript bei einem Magazin unterzubringen, stoßen auf nur gedämpftes Interesse, aber auch seine Versuche, auf fachfremde Art zu Geld zu kommen, sind nicht von Erfolg gekrönt. Als die Feuerwehr "verlässliche junge Männer mit kräftiger Physis" sucht, reiht er sich mit seiner hageren Statur in die Schlange der Interessenten ein, wird aber schon wegen seiner Brille gleich wieder aussortiert. Er biegt kurz um die Ecke, nimmt die Brille ab und stellt sich wieder an - und fällt natürlich wieder durch. Seine Bewerbung als Buchhalter in einem Lebensmittelladen - für einen Hungerleider wie ihn fast das gelobte Land - scheitert, weil er im Bewerbungsschreiben aus schwächebedingter Unkonzentriertheit einen Zahlendreher produziert hat - für einen Buchhalter in spe ein fataler Fehler. So ist Pontus permanent pleite. Er hat alles, was sich zu Geld machen lässt, schon beim Pfandleiher versetzt, er hat Schulden bei diesem und jenem Händler, und er hat seit längerem die Miete nicht bezahlt. Und deshalb hat ihm die Hausverwalterin soeben den Rauswurf aus seinem schäbigen kleinen Zimmer verkündet. Aus der chronischen Armut folgt unmittelbar chronischer Hunger. Er ist abgemagert und von Schwächeanfällen bedroht. Gelegentlich stopft er sich sogar mühsam zerkautes Papier hinein, um wenigsten etwas im Magen zu haben, oder er erbittet beim Schlachthof Knochenabfälle für seinen (nicht existierenden) Hund, um noch die letzten anhaftenden Fleischreste abzunagen. Als er sich unmittelbar nach so einer "Festmahlzeit"übergeben muss, bricht er aus Verzweiflung in einen Weinkrampf aus.

Christiania/Oslo 1890 - bzw. 1965
Pontus' desolater körperlicher Zustand und seine Verzweiflung führen zu erratischem Verhalten. Teils aus bewusster Lust an der Provokation, teils aus zunehmender Verwirrtheit, redet er Passanten blöd an, wohlgenährte Wohlstandsbürger ebenso wie andere arme Schlucker, und er schwadroniert dann gelegentlich das Blaue vom Himmel herunter. Selbst Polizisten, die ihn wegen seiner abgerissenen Erscheinung ohnehin misstrauisch beäugen, nervt er mit blöden Fragen und Bemerkungen. Ernsthaften Ärger bekommt er damit aber nicht. - Ebenso wie von Armut und Hunger wird Pontus' Verhalten von einem an Arroganz grenzenden Stolz diktiert. Er tut alles, um vor anderen Menschen seine desaströse wirtschaftliche Situation zu verbergen. Als er seine allerletzten verwertbaren Habseligkeiten im Pfandhaus versetzt hat und eine einzelne Krone dafür bekam, schenkt er diese einem armen Kerl, der ihn zuvor angebettelt hat. Als der Bettler bemerkt, dass Pontus auch nicht mehr hat als er selbst, verweigert er jedoch die Annahme, doch Pontus weigert sich seinerseits, die Münze zurückzunehmen, und gerät darüber mit dem Mann in Streit. Als der Verleger des Magazins sich doch noch bequemt hat, Pontus' Manuskript zu lesen, ist er nicht abgeneigt, es zu drucken, verlangt jedoch Änderungen. Der seiner Meinung nach zu überspannt formulierte Text solle von Pontus entschärft und so für die Leser der Zeitschrift leichter verdaulich gemacht werden. Als Honorar stellt der Verleger zehn Kronen in Aussicht, verbunden mit der Frage, ob Pontus knapp bei Kasse sei. Dieser verneint wahrheitswidrig und lehnt damit auch einen sonst sicher gewährten Vorschuss ab, den er dringend hätte brauchen können.


Immerhin hebt der Ausblick auf das Honorar Pontus' Stimmung beträchtlich. Nachdem er nach seinem Rauswurf aus der Wohnung einige Zeit auf der Straße stand und auf einer Parkbank genächtigt hat, sucht er sich eine neue Bleibe. Doch er kann nur die Aussicht auf das Honorar bieten, und so erhält er das Zimmer, das noch kleiner und schäbiger ist als das alte, nur unter dem Vorbehalt, dass er gleich wieder rausfliegt, wenn sich ein anderer Interessent findet, der bereit ist, bar im Voraus zu zahlen. - Beim ziellosen Flanieren in der Stadt geht Pontus in einem Park zwei vornehmen Damen hinterher, zwei Schwestern, wie sich erweist, und er kaspert wieder einmal ohne besonderen Grund herum. Die ältere der beiden ignoriert ihn mit strengem Blick, doch die jüngere, der er den Fantasienamen "Ylajali" gibt (den tatsächlichen Namen erfährt man nicht), bekundet mit ihren Blicken ein gewisses Interesse an dem merkwürdigen jungen Mann. Als er ihr bald darauf allein wieder begegnet, öffnet sie sich weiter. Es wird offenbar, dass sie aus der verordneten Wohlanständigkeit ausbrechen will und einem Abenteuer nicht abgeneigt ist. Doch als sie ihn schließlich mit eindeutigen Absichten mit in die Wohnung nimmt, die sie für ein paar Stunden für sich allein hat, wird er ihr doch etwas unheimlich, sie bekommt im letzten Moment Angst vor der eigenen Courage und lässt ihn abblitzen - und das war es dann mit dieser Bekanntschaft.

Miese Absteige - dabei ist das noch die bessere der beiden Wohnungen
Unterdessen hat Pontus versucht, seinen Text zu überarbeiten, doch schnell wird klar, dass er aufgrund der Umstände gar nicht mehr in der Lage ist, irgendetwas Sinnvolles zu schreiben. Es wird keinen geänderten Text und damit auch kein Honorar geben. Und dann findet sich auch gleich jemand, der sein Zimmer will und bar bezahlt. Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit landet Pontus auf der Straße. Gerade, als er im Streit mit seiner Ex-Zimmerwirtin abziehen will, erscheint ein Bote und bringt ihm "von einer Dame" einen Umschlag mit einem Geldschein. Pontus weiß ebenso wie der Zuschauer, dass es sich nur um Ylajali handeln kann. Und wieder einmal steht er sich selbst im Weg. Statt das Geld als Notration für die nächsten Tage zu benutzen, knallt er es mit einer pompösen, pathetischen Geste der Wirtin entgegen und zieht dann ab, ohne sich wenigstens Wechselgeld herausgeben zu lassen. Es ist offensichtlich, dass er jetzt an einem Tiefpunkt angelangt ist. Wie soll es weitergehen? Einer plötzlichen, unerklärlichen Eingebung folgend, geht er (nicht ohne zuvor die Brille abzunehmen) im Hafen an Bord eines russischen Seglers, der seit einigen Tagen ankert und jetzt bereit zum Auslaufen ist, und er fragt, ob man ihn als Matrosen brauchen kann - und er wird tatsächlich genommen. Ein neuer Lebensabschnitt mit ungewissem Ausgang beginnt.


"Sult", auf Deutsch "Hunger", ist der 1890 erschienene erste Roman von Knut Hamsun (1859-1952), und er erregte auf Anhieb Aufsehen und hievte den Autor in die erste Riege der europäischen Literaten. In der Ich-Perspektive des brotlosen Schriftstellers geschrieben, war "Hunger" ein wichtiger Schritt zum stream of consciousness bei Autoren wie James Joyce. Der Roman enthält stark autobiografische Elemente - Hamsun hatte selbst 1886 als erfolgloser Schriftsteller und Journalist in Christiania gelebt und dort am Hungertuch genagt. 1920 erhielt Hamsun für seinen Roman "Markens Grøde" (Segen der Erde) als zweiter Norweger den Nobelpreis für Literatur (dieser Roman bildet auch die Vorlage für den gleichnamigen Film von 1921, der als der erste norwegische Renommierfilm gilt). Hamsun wäre so etwas wie ein norwegisches Nationalidol, wenn er nicht durch seine offene Sympathie für die Nazis seinen Ruf nachhaltig beschädigt hätte. Vollständig in Ungnade gefallen ist er nach 1945 aber dennoch nicht - dafür war er als Schriftsteller einfach zu bedeutend.

Andere haben es besser getroffen als Pontus
Den frühen Werdegang von Henning Carlsen (1927-2014) habe ich schon in meinem Text über seinen ersten Spielfilm DILEMMA geschildert. HUNGER war sein vierter Spielfilm, und er brachte Carlsen den Durchbruch zur ersten Garde der dänischen Regisseure. Der Film lief im Wettbewerb in Cannes, und es gab etliche Preise für Film und Hauptdarsteller. HUNGER war auch Dänemarks Beitrag zum Rennen um den Oscar, schaffte es aber nicht in die Endausscheidung. Dafür ist HUNGER als einer von zwölf Filmen im 2006 erstellten dänischen Kulturkanon enthalten (ebenso wie DITTE MENNESKEBARN). Neben seiner Tätigkeit als Regisseur war Henning Carlsen auch in diversen dänischen und europäischen Filminstitutionen tätig. 2011 legte er mit der García-Márquez-Adaption ERINNERUNG AN MEINE TRAURIGEN HUREN seinen letzten Film vor, 2014 ist er wenige Tage vor seinem 87. Geburtstag gestorben.


Die Initiative zu HUNGER ging allein von Henning Carlsen aus, der den Roman schon als Jugendlicher gelesen und geschätzt hatte. 1965 drehte Carlsen in Stockholm als seinen dritten Spielfilm KATTORNA. Der schwedische Darsteller Per Myrberg spielte darin eine Hauptrolle, und mit seiner hageren Figur gab er Carlsen die Eingebung, mit ihm in der Hauptrolle Hamsuns Roman zu verfilmen. Carlsen wandte sich an Hamsuns ältesten Sohn, der seinen literarischen Nachlass verwaltete, und erfuhr zu seinem Erstaunen, dass er der vierte Bewerber in kurzer Zeit war, während sich zuvor nie jemand für die Filmrechte interessiert hatte. Carlsen bot für die Rechte dieselbe Summe wie die Konkurrenten plus eine Krone, aber vermutlich bekam er den Zuschlag deshalb, weil er den Stoff als dänisch-norwegisch-schwedische Produktion zu verfilmen gedachte. Das kam dem Bestreben von Hamsun jr. entgegen, den schwer angeschlagenen Ruf seines Vaters mit internationaler Hilfe etwas aufzupolieren. Carlsen bekam also die Rechte, und er holte eine schwedische und eine norwegische Firma an Bord, während seine eigene Firma den dänischen Part stellte. Carlsen ist also auch einer der drei Produzenten des Films. Der finanzielle Beitrag wurde recht gleichmäßig zwischen den Ländern aufgeteilt, während für den künstlerischen Beitrag ein sinnvoller Kompromiss gefunden wurde: Dänemark stellte den Regisseur, die Drehbuchautoren (Carlsen in Zusammenarbeit mit dem Schriftsteller Peter Seeberg) und den Kameramann (Carlsens Stammkameramann Henning Kristiansen, der insgesamt ungefähr ein Dutzend Mal für Carlsen gearbeitet hat) sowie mit Birgitte Federspiel eine renommierte Nebendarstellerin (sie hatte u.a. in Carl Theodor Dreyers ORDET die weibliche Hauptrolle gespielt); Schweden stellte im Wesentlichen die beiden Hauptdarsteller; und Norwegen schließlich den Autor der Vorlage, den Drehort und die Mehrzahl der Nebendarsteller und Komparsen.

Beim Pfandleiher
Die beiden Hauptdarsteller bestimmten die Sprache des Films, HUNGER wurde also auf Schwedisch gedreht. Das dänische Kultusministerium, das ein gewisses Mitspracherecht hatte, forderte zunächst, auch eine dänische Sprachfassung anzufertigen, was die Produktion verkompliziert und verteuert hätte, aber zum Glück (wie Carlsen betont) wurde rechtzeitig von dieser Forderung Abstand genommen. Per Myrberg war seinerzeit an einem Stockholmer Theater unter Ingmar Bergman unter Vertrag, er erhielt von diesem aber die Erlaubnis, im Film mitzuspielen. Weil sich die Verhandlungen um die komplizierte Produktionsgemeinschaft hinzogen, fragte Myrberg an deren Ende erneut Bergman um Erlaubnis, erhielt sie abermals, aber gleichzeitig das Angebot, unter Bergman in einer Bühneninszenierung von "Der Florentinerhut" die Hauptrolle zu spielen - und er entschied sich für den renommierten Bergman und gegen den international noch weitgehend unbekannten Carlsen. Damit war dieser seinen Hauptdarsteller los, wegen dem er das ganze Projekt überhaupt losgetreten hatte. Carlsen hielt die Sache damit für gestorben. Aber seine schwedischen und norwegischen Cooperationspartner wollten die Flinte nicht ins Korn werfen. Sie schlugen vor, mit einem anderen Hauptdarsteller weiterzumachen, und jemand brachte Per Oscarsson ins Spiel. Carlsen war wenig begeistert, ging nur pro Forma auf den Vorschlag ein und überlegte sich, wie er aus der Sache rauskam. Doch schnell war er überzeugt, dass er einen noch besseren als den ursprünglich geplanten Hauptdarsteller gefunden hatte.

Ein Bettler ...
Per Oscarsson spielt in HUNGER vielleicht die Rolle seines Lebens. Gleichermaßen exaltiert und fein nuanciert kehrt er Pontus' Inneres nach außen und macht seine Stimmungsschwankungen, seine wirren Visionen und sprunghaften Handlungen greifbar und nachvollziehbar. Er ist einfach umwerfend, und er erhielt etliche Auszeichnungen für seine Leistung, darunter die in Cannes für den besten Schauspieler. Während er vorher schon in Schweden eine Marke war, stieg er nun auch zu internationaler Bekanntheit auf. Oscarsson war ein impulsiver Schauspieler mit Hang zur Improvisation, der ständig Regieanweisungen übertrat, doch Carlsen ließ ihn gewähren. Das kam Gunnel Lindblom aber wenig entgegen. Lindblom ist vor allem für ihre Zusammenarbeit mit Bergman bekannt. Über ein Dutzend Mal spielte sie unter Bergman für Film und TV, darunter Klassiker wie DAS SIEBENTE SIEGEL, WILDE ERDBEEREN, DIE JUNGFRAUENQUELLE, LICHT IM WINTER und DAS SCHWEIGEN, sowie mehrfach auch am Theater. Lindblom erwartete exakte Regieanweisungen, wie sie es vom Meister Bergman gewohnt war. Doch niemand konnte ihr sagen, was Oscarsson als nächstes tun würde, weil der es selbst nicht wusste. Aber am Ende passte das doch alles irgendwie zusammen, weil die unterschiedlichen Schauspielstile die unterschiedlichen Charaktere widerspiegeln: Hier der erratische, unberechenbare Pontus, da die zurückgenommene, gutbürgerliche Ylajali, die ihren Trieben nur sehr kurz freien Lauf lässt. - Per Oscarsson war auch abseits der Kamera für Überraschungen gut. 1966 ließ er in einer Fernsehshow die Hosen runter (die Unterhose behielt er immerhin an), und zur Vorbereitung auf HUNGER ging er zur Überraschung aller zu Fuß von Stockholm nach Oslo, wobei er tagelang mehr oder weniger verschollen war. Ende 2010 starben Oscarsson und seine letzte Frau bei einem Brand in ihrem Haus. Die Leichen konnten erst nach mehreren Tagen identifiziert werden.

... und noch ein armer Schlucker
HUNGER wurde im Herbst 1965 komplett in Oslo gedreht, teilweise an damals noch erhaltenen Originalschauplätzen, der Rest in einem Studio. Bevölkerung und Behörden waren dabei sehr kooperativ. Eigentlich erwartete sich Carlsen von diesem Ort zu dieser Jahreszeit schlechtes Wetter, wie es der Stimmung des Romans und des entstehenden Films entsprach. Doch Petrus machte ihm einen Strich durch die Rechnung - es schien dauernd die Sonne. So wurden von Gebäuden aus große Planen über Straßen und Plätze gespannt, um die Sonne abzuschatten. Auf einer Brücke, wo das nicht möglich war, sollte an einem Wochenende gedreht werden, doch es herrschte wieder mal schönster Sonnenschein. Aber für Montag war Regenwetter angesagt, und so erhielt das Team vom Osloer Polizeichef persönlich die Erlaubnis, am Montag früh zu drehen und zeitweilig einen erheblichen Stau zu verursachen.

Zwei Damen im Park
Carlsen stand bei der Konzeption des Films vor einigen Problemen, die Literaturverfilmungen im Allgemeinen und diese im Besonderen aufwerfen, und er hat sie mit Bravour gelöst. Hamsuns Roman besteht aus aneinandergereihten Episoden, die zusammen ungefähr ein Jahr umfassen, und die kaum dramatische Spannungsbögen umfassen. Mit seinem Coautor Peter Seeberg nahm Hamsun die nötigen Kürzungen und Zuspitzungen vor, was an sich nicht schwer war, weil es im Roman ohnehin mehr um die Innenwelt des Protagonisten als um die äußere Handlung geht. Seeberg schoss über das Ziel hinaus und entwarf für alle möglichen Personen Nebenhandlungen, die nicht im Roman stehen, aber Carlsen konnte ihn einbremsen und einen Konsens herstellen. Der Roman ist, wie schon erwähnt, in der 1. Person geschrieben. Carlsen wollte das irgendwie in den Film hinüberretten, ohne jedoch einen Inneren Monolog von Pontus als Off-Kommentar zu verwenden. Er löste das Problem gemeinsam mit Kameramann Kristiansen, indem die Kamera den ganzen Film über entweder regelrecht an Pontus klebt, oder aber seinen subjektiven Blick wiedergibt (oder zeigt, was er gerade denkt, träumt oder halluziniert). Ein weiteres Problem ergab sich daraus, dass der 1890 erschienene Roman auch in diesem Jahr spielt, also eine seinerzeit alltägliche Welt beschreibt. Der 1966 erschienene Film sollte nun - für den Zuschauer jederzeit glaubwürdig - auch im Jahr 1890 spielen, dabei aber ebenfalls den Eindruck von Alltäglichkeit erwecken. Deshalb sollte jeder Anschein eines Historienfilms oder Kostümschinkens vermieden werden. Neben der in solchen Fällen naheliegenden Entscheidung, in Schwarzweiß zu drehen (was natürlich auch finanzielle Vorteile birgt), kam Carlsen wiederum in Zusammenarbeit mit Kristiansen auf die Lösung, ausgiebig Linsen mit großer Brennweite zu verwenden, was gleichzeitig Nähe und Distanz erzeugt und den von Carlsen erwünschten Effekt ermöglicht. Außerdem wurden zwar bei den Aufnahmen alle anachronistischen Gegenstände aus dem Bildbereich entfernt oder verdeckt, ansonsten aber nahm sich Carlsen bei der Ausstattung zurück. So waren etwa bei der Szene, in der sich Pontus bei der Feuerwehr bewirbt, historische Feuerwehrwagen zugegen. Doch statt damit zu prunken, beließ sie Carlsen kaum sichtbar in einem Schuppen.

"Ylajali"
Einen wichtigen Beitrag zur zeitlosen Wirkung von HUNGER leistet die wunderbare Musik von Krzysztof Komeda. Carlsen hatte den polnischen Jazz-Pianisten und Komponisten einige Jahre zuvor in einem Jazzclub in Kopenhagen kennengelernt. Komeda ist Filmfreunden vor allem als regelmäßiger Tonsetzer für Roman Polanski bekannt - er schrieb schon die Musik für einige von Polanskis frühen Kurzfilmen, und dann für alle Spielfilme von DAS MESSER IM WASSER bis ROSEMARY'S BABY mit Ausnahme von EKEL. Doch auch für Carlsen wurde Komeda zum Stammkomponisten. Die beiden wurden Freunde, und Komeda vertonte Carlsens Spielfilme von HVAD MED OS? (1963) über KATTORNA und HUNGER bis zu SIE TREFFEN SICH, SIE LIEBEN SICH, UND IHR HERZ IST VOLLER SÜSSER MUSIK (1967). Komeda hätte die Zusammenarbeit mit Polanski und Carlsen (und weiteren Regisseuren wie Jerzy Skolimowski) fortgesetzt, wenn er nicht 1969 an den Folgen eines tragischen Unfalls verstorben wäre. Sein sparsam komponierter und sparsam eingesetzter Soundtrack für HUNGER wird dominiert von sphärisch-künstlich klingenden Streichern und minimalistisch angeordneten Klaviertönen. Mich hat diese Musik etwas an Scores von Giovanni Fusco für Resnais oder Antonioni erinnert.

Abendliches Rendezvous ...
HUNGER ist in den USA auf einer DVD mit englischen und französischen Untertiteln, sowie in Dänemark mit Untertiteln in gleich acht Sprachen, darunter Deutsch, erschienen. Beide Ausgaben bieten als Bonus ein 40-minütiges Video-Statement mit Carlsen, in dem er die Entstehungsgeschichte des Films nacherzählt sowie einige seiner künstlerischen Entscheidungen nachvollziehbar macht. Als weiterer Bonusfilm ist jeweils ein halbstündiges Gespräch enthalten, das (in gut verständlichem Englisch) Paul Auster und Hamsuns Enkelin Regine Hamsun 2002 über den Film und seine Begleitumstände führten. Eine französische DVD gibt es daneben auch noch. Und in Norwegen ist gar eine Box mit sechs DVDs (mit Untertiteln in verschiedenen Sprachen) erschienen, die fünf Hamsun-Verfilmungen (neben HUNGER u.a. der ebenfalls von Henning Carlsen inszenierte PAN sowie der oben erwähnte MARKENS GRØDE) sowie Jan Troells 1996 gedrehte Hamsun-Biografie mit Max von Sydow in der Titelrolle enthält. - 2001 drehte die Regisseurin Maria Giese mit HUNGER eine nach Los Angeles versetzte Version von Hamsuns Roman, und der aktuelle griechische Film TO AGORI TROEI TO FAGITO TOU POULIOU, den David kürzlich auf der Viennale sah, gilt als freie Übertragung des Stoffs in die Welt der griechischen Sparpolitik (ob zu Recht oder nicht, sei dahingestellt).

... mit unbefriedigendem Ausgang

Tödliche Weihnachten

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YOU BETTER WATCH OUT aka CHRISTMAS EVIL aka TERROR IN TOYLAND
USA 1980
Regie: Lewis Jackson
Darsteller: Brandon Maggart (Harry), Jeffrey DeMunn (Philip), Dianne Hull (Jackie)


Es ist Weihnachten im Jahre 1947. Die beiden kleinen Kinder Harry und Philip sitzen auf der Treppe mit ihrer Mutter und warten auf den Weihnachtsmann. Der schlüpft tatsächlich durch den Kamin, nimmt sich einen Schluck von der Bowle, die extra für ihn hingestellt wurde und legt die Geschenke unter den Baum. Später in der Nacht liegen Harry und Philip im gemeinsamen Schlafzimmer im Bett. Philip meint, dass der Weihnachtsmann Papa war, was Harry zornig ablehnt. Letzterer schleicht sich aus dem Bett ins Wohnzimmer und überrascht den Weihnachtsmann (nun ja, eigentlich seinen Vater), der gerade in einem anregenden Vorspiel mit der Mutter vertieft ist – was Klein-Harry so sehr verstört, dass er wieder nach oben rennt und nach dem guten alten Rezept Charles Foster Kanes eine Schneekugel zerstört (und sich dann mit einer Scherbe Schnitte in der Hand zufügt).

In der Jetztzeit geht es Harry wieder besser – mehr oder weniger. Sein Kindheitstrauma hat er mit einer extremen Weihnachtsobsession verarbeitet und seine Wohnung komplett mit Weihnachts-Kitschregalien eingerichtet. Harry schläft nicht in einem Pyjama, sondern in einem Weihnachtsmannkostüm. Er hat keinen Kalender, sondern eine Schiefertafel, die anzeigt, wie viele Tage bis Weihnachten noch bleiben. Seine Freizeit verbringt er gerne damit, die Kinder aus der Nachbarschaft mit einem Fernglas zu stalken, um dann in zwei verschiedenen dicken Büchern Eintragungen vorzunehmen: die guten Kinder bekommen „Bienchen“ im „Good Boys & Girls“-Band, die schlechten Kinder (etwa Jungs, die sich für Nacktmodelle in Schmuddelheftchen interessieren) werden hingegen im „Bad Boys & Girls“-Buch verewigt.

Vom Weihnachtstrauma zum Weihnachtsfetisch
und Voyeurismus
Seinen besonderen Lebensstil finanziert Harry mit einer passenden Arbeit: er ist in einer Spielzeugfabrik angestellt und geht dort seinen Kollegen auf die Nerven, in dem er sie immer wieder dazu ermahnt, sich für die Qualität der Erzeugnisse ins Zeug zu legen – zum Wohl der Kinder. Dafür bekommt er gelegentlich von einflussreicheren Arbeitskollegen Nacht- und Wochenendschichten zugeteilt.
Vielleicht ist dies der Grund, weshalb er die Thanksgiving-Einladung seines Bruders Philip ablehnt, der im Gegensatz zu ihm eine Familie gegründet hat (und der seinen älteren Bruder trotz Mahnungen seiner toleranten Ehefrau Jackie für einen Versager hält). Oder vielleicht war Harry nur davon angewidert, dass Philip mit seiner Angetrauten Sex im Wohnzimmer hatte (was Harry, der zufällig vorbei spazierte, beobachtete – oder sich vielleicht nur einbildete?). Oder vielleicht ist Harry einfach zu aufgeregt und gestresst, weil Weihnachten vor der Tür steht und er als selbsternannter Weihnachtsmann bald viel zu tun haben wird.

So muss er zunächst sein Kostüm nähen, seinen weißen Bart vorbereiten und... aber was ist mit Geschenken? Die nimmt sich Harry einfach in einer Nacht-und-Nebel-Aktion an seinem Arbeitsplatz. Ein Werbespot seiner Firma hat schließlich die Spende von Spielzeugen an eine Klinik für behinderte Kinder versprochen. Doch bei einer Weihnachtsfeier des Betriebs hat Harry erfahren, dass dies nur ein reiner Image-Spot war. Der selbsternannte Weihnachtsmann weiß sogleich, wen er als erstes beschenken muss. Mit den geklauten Spielzeugen eilt er zur Klinik, wo er völlig verdutzten Angestellten eine ganze Kleinlasterladung an Spielzeugen übergibt. Die ganze Aktion hat er natürlich als Weihnachtsmann verkleidet ausgeführt.

Später will Harry den fiesen Marketing-Angestellten der Firma nach einer Weihnachtspredigt zur Rede stellen. Das geht schief, weil einige Kirchenbesucher sich über seine Aufmachung lustig machen und er gezwungen ist, drei von ihnen mit einem Spielzeugsoldaten und einer Spielzeugaxt zu töten. Nach dem Blutbad gerät Harry in die Weihnachtsfeier einer Familien-Assoziation, wo er nolens volens fröhlich tanzt und dann die anwesenden Kinder dazu ermahnt, brav zu sein, bei Nichtbefolgen dieser Anweisung allerdings Schlimmstes androht (letzteres verunsichert auch eine der erwachsenen Feiernden). Nach der Party besucht Harry dann noch seinen vorlauten Arbeitskollegen, der ihm immer wieder Nacht- und Wochenendschichten zugeschoben hat und verteilt wieder Geschenke: den Kindern des Kollegen legt er Päckchen unter den Weihnachtsbaum, den Kollegen selbst ermordet er im Schlaf, indem er ihn zunächst mit dem Geschenkesack zu ersticken versucht und ihm dann mit einem Dekostern die Kehle aufschlitzt.

Harry auf Weihnachtstour und vom Lynchmob verfolgt
Sein Bruder und seine Schwägerin machen sich Sorgen
Am Tag nach Heiligabend sind Harrys Blutbäder öffentlich geworden. Die Polizei warnt alle Bürger vor Leuten, die als Weihnachtsmänner gekleidet sind – was aufgrund unzähliger Denunziationen eine Massenverhaftung von Weihnachtsmännern nach sich zieht und im Kreise besorgter Kleinbürger gar zu einer hysterischen Lynch-Atmosphäre führt. Als Harry am Weihnachtsabend wieder durch die Gegend zieht, wird er von besorgten Eltern angegriffen: diese verwandeln sich in einen zornigen Mob im Blutrausch und verfolgen mit offensichtlichen Lynchabsichten den verkleideten Harry. Dieser flüchtet zu seinem Bruder, gibt ihm die Schuld an seinem exzessiven Verhalten, weil dieser in der Kindheit die Existenz des Weihnachtsmann verleugnet hat und fährt mit seinem weihnachtlich aufgemachten Van wieder weg. Vom Lynchmob verfolgt lässt Harry seinen Wagen durch ein Brückengeländer krachen. In den letzten Sekunden vor seinem Tod stellt er sich vor, wie er mit seinem Van in der Manier eines klassischen Weihnachtsmannschlittens in der Mondnacht davonfliegt.

YOU BETTER WATCH OUT, der auch als CHRISTMAS EVIL veröffentlicht wurde (nun auch kürzlich in einer neuen deutschen DVD-Edition), wird gerne als Vorläufer des Weihnachts-Slasherfilms bezeichnet. Das ist wohl nicht ganz falsch, allerdings haben sich bei mir während der beiden kürzlichen Sichtungen eher Assoziationen zu TAXI DRIVER aufgedrängt. Man stelle sich einmal vor, Paul Schrader hätte seine großstädtische Adaption von Robert Bressons JOURNAL D‘UN CURÉ DE CAMPAGNE nicht auf einen entfremdeten und einsamen Taxifahrer mit puritanischen Gewalt- und Vernichtungsfantasien übertragen, sondern auf einen entfremdeten und einsamen Spielzeugfabrikangestellten mit ebenso puritanischem Weltbild, starken Identitätsproblemen und einer schweren, ödipal motivierten Weihnachtsobsession. Es wäre vielleicht so etwas ähnliches wie YOU BETTER WATCH OUT herausgekommen. Die Vorstellung jedenfalls, beide Filme im Double Feature nacheinander zu schauen und zu vergleichen, scheint recht reizvoll.

Denn YOU BETTER WATCH OUT ist tatsächlich kein richtiger Slasher, sondern eher das „dichte“ Psychogramm einer verzweifelten, entfremdeten, traumatisierten Figur. Vielleicht mehr noch als TAXI DRIVER verweigert er sich jeglichem einfachen Zugriff. Er ist kein Thesenfilm, dessen „Botschaft“ schon nach drei Minuten deutlich wird, sondern präsentiert sich tatsächlich als Film über extreme soziale und emotionale Einsamkeit, das zwar klar satirische, gesellschaftspolitische Elemente enthält, dessen existentielle Traurigkeit und Schwere aber wesentlich mehr wiegt.

Ein faszinierender Hauptdarsteller
Es ist faszinierend, was YOU BETTER WATCH OUT den Zuschauern für eine Figur zumutet: ein Voyeur mit einem unerträglich puritanischen Weltbild und schlichtweg kranken Kontrollfantasien, dessen fast schon naives Bemühen, Gutes zu tun, zwar bemerkenswert ist, zugleich aber von der Unfähigkeit, eigenes Schlechtes zu erkennen, neutralisiert wird. Harry ist zugleich eine lächerliche Figur mit einem skurrilen Weihnachtsfetisch, der im Film zwischendurch an der Grenze zum Camp präsentiert wird und gleichzeitig auch ein brutaler und skrupelloser Mörder. Doch YOU BETTER WATCH OUT gibt Harry weder der Lächerlichkeit preis, noch verurteilt er ihn, sondern bemüht sich um analytisches wie auch emotionales Verstehen. Das gelingt nicht zuletzt an der grandiosen Darstellung Brandon Maggarts, der die Figur Harrys mit Haut, Haaren und Poren atmet und bis in kleinste Nuancen perfekt spielt. Als schüchtern-freundlicher Mann auf der Straße, als tüchtigen Arbeiter, als grimassierender Weihnachtsmann vor dem Spiegel, als vor Zorn und Abscheuimpulsen zitternde Zeitbombe, als Lebensmüden mit furchtbar traurigen Augen.

Eine Verurteilung von Harry ist auch gar nicht möglich im Angesicht dessen, dass der Film an der Niederträchtigkeit vieler anderer Figuren keinen Zweifel lässt. Das Mörderische siedelt YOU BETTER WATCH OUT durchaus bei Harry an, aber eben auch im durchschnittlichen, kleinbürgerlichen Milieu. Wenn der Weihnachtsmann am Schluss von einem wütenden und offenbar wahrlich tötungsbereiten Lynchmob verfolgt wird, stellt der Film (sicherlich wenig subtil) eindeutig die Frage, ob der Sonderling Harry wirklich viel schlimmer ist als der durchschnittliche „besorgte“ Nachbar. Diese Szenen, um wieder kurz auf Assoziationen zu sprechen zu kommen, erinnern wiederum an Fritz Langs Inszenierung entfesselter Mobgewalt, sei es in METROPOLIS, in M oder in FURY. Als ein kleines Kind dem in Serie mordenden Weihnachtsmann ein heruntergefallenes Messer mit Springklinge lächelnd reicht, scheint dies fast direkt auf M anzuspielen.

Im Gegensatz zu einigen Behauptungen, die man so im Internet findet, ist YOU BETTER WATCH OUT keineswegs Lewis Jacksons einziger Film, sondern sein dritter, allerdings auch letzter in einer Karriere mit nicht besonders hoher Output-Frequenz. THE TRANSFORMATION: A SANDWICH OF NIGHTMARES von 1974 ist bei der IMDb mit dem Tag „lost film“ markiert, wobei nicht ganz klar ist, ob sich das auf den Film selbst oder vielleicht auf ein Element des Inhalts bezieht (IMDb unterscheidet hier dummerweise offensichtlich nicht). 1970 hatte Jackson auch THE DEVIATES gedreht, der wohl auf den ersten Blick eine Sexkomödie war.

Eines der wenigen Bilder, die den Alternativtiteln CHRISTMAS
EVIL oder TERROR IN TOYLAND gerecht werden
YOU BETTER WATCH OUT ist in Deutschland als CHRISTMAS EVIL erschienen bei cmv laservision mit einem unglaublich hässlichen Cover, das einen Film mit genetisch mutierten Zombie-Weihnachtsmännern erwarten lässt. Frühere Editionen waren entweder stark limitiert, oder sind nun überteuert, oder nur im 1,33:1-Format erhältlich. Die cmv-laservision-DVD ist trotz des hässlichen Covers okay, mit guter Bild- und Tonqualität, allerdings ohne Untertitel für die englische Originalfassung. Sie enthält drei Audiokommentare: einmal mit dem Regisseur Lewis Jackson alleine, dann mit Lewis Jackson und Hauptdarsteller Brandon Maggart, und schließlich einen mit Lewis Jackson und John Waters, einem Fan des Films, der ihn als den „großartigsten jemals gedrehten Weihnachtsfilm“ bezeichnet. Übrigens lehnte Kathleen Turner, die später die Titelfigur in Waters‘ tollem SERIAL MOM spielte, die Rolle als Jackie, also Philips besonnene Ehefrau, ab. Die erwähnten Audiokommentare wurden für eine der vielen US-amerikanischen DVD-Editionen des Films eingesprochen. Im Vereinigten Königreich wurde er von Arrow Film veröffentlicht.
Etwas unklar – wie so oft – ist die Fassungsgeschichte des Films. YOU BETTER WATCH OUT ist nur einer der Titel, unter denen er erschienen ist. Ebenso wurde er unter den Titeln CHRISTMAS EVIL (unter dem auch die meisten DVD-Veröffentlichungen dies- und jenseits des Atlantiks fungieren) veröffentlicht, aber auch als TERROR IN TOYLAND. Der erste Titel, der auch (siehe den Screenshot des Titels) in meiner DVD-Fassung zu sehen ist, entspricht zumindest thematisch am besten dem Film, während letztere eher darauf zielen, ihn als Slasher oder Horrorfilm zu vermarkten und möglicherweise bei Neuaufführungen genutzt wurden. CHRISTMAS EVIL hat sich nun sogar durchgesetzt. Ob der Titelsalat auch mit der Existenz eines sogenannten „director‘s cut“ zu tun hat, ist mir unklar. Jedenfalls gibt es offenbar eine Fassung, die ich als „Nicht-director‘s-cut“ bezeichnen würde und die 100 Minuten dauert sowie eine „re-release“-Fassung von 95 Minuten (gemäß IMDb), die vielleicht (?) mit dem „director‘s cut“ identisch ist, der wiederum allerdings nur 94 Minuten dauert (bei DVDs aus PAL-Ländern wegen der Formatkonvertierung 90 Minuten) und auch auf allen DVD-Editionen enthalten ist. Auf der DVD von cmv laservision sind ungefähr 6 Minuten an „Deleted Scenes“ in der Bonussektion enthalten: ob es sich um tatsächlich ungenutztes Material handelt oder um die sechs Minuten, die aus der „originalen“ (?) 100-Minuten-Fassung herausgeschnitten wurden, ist allerdings unklar. Viele ungeklärte Fragen...


Wenn ich all unseren Lesern diesen zutiefst pessimistischen, teils verstörenden, aber durchwegs faszinierenden Weihnachtsfilm ans Herz lege, möchte ich ihnen natürlich die kommenden Feiertage nicht verderben, ganz im Gegenteil. Ich selbst verabschiede mich mit diesem Text in die Weihnachtspause, werde Anfang Januar mit einem mittlerweile traditionellen persönlichen Jahresrückblick zurückkehren und wünsche all unseren Lesern frohe Feiertage und einen guten Rutsch ins neue Jahr.

Furien, Magier und andere Bekanntschaften: 2015 im persönlichen Rückblick

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Und wieder einmal ein Jahr voller Filme rum!

Zunächst einmal zum Negativen: ich habe 2015 wieder weniger Filme gesehen als im Vorjahr, allerdings auch aus einem erfreulichen Grund (dank des ersten Vollzeitjobs meines Lebens). Ich bin auch seltener ins Kino gegangen, und besonders auch seltener zu aktuellen Filmen: nach meiner Zählung waren es gerade mal 13 Stück (zumindest außerhalb von Filmfestivals und der einen Bond-PV). Mein Desinteresse an vielen der gezeigten Filme ging hier eine unheilige Symbiose mit meinem verknappten Zeitbudget ein, zumal ich, trotz eines Umzugs, immer noch Bewohner einer cinematographischen Wüstenregion bin. Dafür habe ich einiges auf DVD nachgeholt (und in diesem Format auch einige der besten Filme des Jahres gesehen). Und in der Filmwüste namens Thüringen gibt es dennoch eine kleine Oase für durstige Cinephile: die regelmäßigen Stummfilmaufführungen im Lichthaus-Kino und im Café Wagner mit meinem Lieblingsstummfilmbegleiter- und stummfilmprogrammkurator Richard Siedhoff (hier habe ich insgesamt 28 Filme gesehen, davon einige zugegeben doppelt).

Nun wieder aus den 1920er Jahren gen 2015, passenderweise, wenn man so will... Der beste, wunderschönste, berührendste, begeisterndste und natürlich zugleich actionreichste Film des Jahres war MAD MAX: FURY ROAD, dem es gelungen ist, Franchise-Aufwärmung, intim-emotional-feministisches Autorenkino, bombastisches Blockbuster-Entertainment und eine Neudefinition des Actionfilms nicht nach der Tradition des 1980er-Jahre-Actioners, sondern nach der Tradition des Stummfilms, unter einen Hut zu bringen. Den zweiten Platz in meiner Jahresbestenliste erhält ein anderer Actionfilm, nämlich JOHN WICK... was danach kommt, wußte ich nicht so genau zu ordnen. Deshalb habe ich meine Bestenliste 2015  es sind nun 13 Filme  nicht nummeriert, sondern in thematische Blöcke geordnet.


Top 2015


Aktion!

MAD MAX: FURY ROAD (George Miller: Australien / USA 2015)
In einer postapokalyptischen Wüste entführt die Kriegerin Imperator Furiosa einen Fuhrpark inklusive den Frauen des Diktators Immortan Joe, um in die Freiheit zu fahren. Der Tyrann setzt alles daran, um die Frauen zurück zu bekommen, doch diese erhalten Unterstützung von Max Rockatansky.
1. Ich schlafe mittlerweile in einem MAD-MAX-T-Shirt...
2. Es gibt ein Video, das Buster Keatons THE GENERAL mit der Musik aus MAD MAX: FURY ROAD unterlegt. Die „Analyse“ geht dabei nicht weiter als bis zur Feststellung, dass das irgendwie rockt. Ich finde allerdings, dass sich hier tatsächlich eine wesentlich intensivere Beschäftigung lohnen würde. MAD MAX: FURY ROAD knüpft thematisch zweifelsohne an MAD MAX 2 an, ästhetisch und in seiner Struktur in vielerlei Hinsicht aber auch an den großartigsten Actionfilm aller Zeiten, nämlich eben THE GENERAL. Wo von manchen Mangel an Plot festgestellt wird, herrscht eine zielgerichtete Konzentration auf pure Bewegung, auf den nackten Geschwindigkeitsrausch, wie in Keatons Meisterwerk. Wie THE GENERAL ist MAD MAX: FURY ROAD eine einzige, große, lange Verfolgungsjagd, die im letzten Drittel die Richtung ändert.
3. Einer der großartigen Filme, deren Titelfigur eigentlich eine Nebenfigur ist. Spontan fällt mir noch JOHNNY GUITAR ein. Was irgendwie auch passend ist: ein Film, in dem die männliche Titelfigur de facto die meiste Zeit passiv ist und der eigentlichen Heldin mehr oder weniger als Helfer dient. Charlize Theron ist großartig!

JOHN WICK (Chad Stahelski / David Leitch: USA 2014)
John Wick, ein ehemaliger Profikiller, stürzt in tiefe Trauer, als seine Frau stirbt und ihm als letztes Geschenk einen Hund hinterlässt. Der Sohn eines Mafiabosses und seine Freunde sind der Meinung, es sei eine gute Idee, diesen Mann zu verprügeln, seinen Hund zu töten und sein Auto zu klauen. War es aber nicht...
Roger Ebert hat einmal gesagt, BODY HEAT sei deshalb so toll und erfrischend, weil man beim Anschauen das Gefühl bekommt, zum ersten Mal in seinem Leben einen film noir zu sehen (wie recht er hatte!). In gewisser Weise kann man bei der Sichtung von JOHN WICK das Gefühl erhalten, zum ersten Mal im Leben einen Actionfilm zu schauen. Oder eine Parallelmontage. Oder vielleicht sogar vergessen, dass Keanu Reeves einmal im MATRIX-Franchise mitspielte (bei der Stahelski als Stuntman mitwirkte). Mit unglaublicher Präzision und Konzentration erschaffen hier zwei ehemalige Stunt-Koordinatoren und Second-Unit-Regisseure aus dem Stand einen Film, der tatsächlich nur aus Aktion, aus Handlung besteht. Der Begriff „formalistisch“ hat immer einen etwas seltsamen Beigeschmack, passt hier aber perfekt. Alle Nebenerklärungen werden rein visuell erklärt: der Polizist, der bei John Wick klingelt, im Hintergrund eine Leiche sieht und sich lieber dezent zurückzieht; das merkwürdige Hotel, das für bezahlte Killer ein Refugium bildet und nach eigenen Regeln funktioniert, die nicht erklärt, sondern einfach gezeigt werden; John Wick, der wie ein Wahnsinniger in seinem Sportwagen Runden dreht und so sein Inneres nach Außen kehrt; der kurze Austausch mit dem Türsteher, in dem klar wird, dass er John Wick vorbeigehen lassen muss, um leben zu können... Oder wie in der Szene im „Red Circle“ (herzlichen Gruß an Jean-Pierre Melville) die Schnittfrequenz mit zunehmendem Adrenalinpumpen zunimmt, der Film aber in jeder Sekunde visuell übersichtlich bleibt. Überhaupt: Die Actioninszenierung lässt einen Jahre und Jahre an fürchterlichen Schnittgewitter-Exzessen vergessen. Hier sitzt jeder Schlag und jeder Schlag tut auch weh!
Fazit: Unterschätze niemals einen Second-Unit-Director!

SIMINDIS KUNDZULI / CORN ISLAND (George Ovashvili: Georgien / Deutschland / Frankreich / Tschechische Republik / Kasachstan / Ungarn 2014)
In einem georgisch-abchasischen Grenzfluss wachsen von Frühling bis Herbst immer kleine und äußerst fruchtbare Inseln. Ein alter abchasischer Bauer und seine Enkelin beginnen, dort Mais anzubauen...
SIMINDIS KUNDZULI sieht auf den ersten Blick nicht wie ein Film aus, der in eine Rubrik „Aktion“ passt. Doch tatsächlich besteht auch dieser Film nur aus Handlung. Gefilmt in traumhaften Cinemascope-Bildern, die Plot lieber links liegen lassen, um ganz in Aktion aufzugehen (wie ALL IS LOST im letzten Jahr, mit nur wenig mehr Dialog). 
Mehr zu diesem Film meinerseits hier.

COLT 45 (Fabrice Du Welz: Frankreich / Belgien 2014)
Ein junger idealistischer Polizist baut in seiner Freizeit gerne Spezialmunition. Er gerät in unangenehme Situationen, als ein Krimineller, der sich als Polizist ausgibt, ihm einen Mord unterjubelt, seine Spezialpatronen für Raubzüge mittels Erpressung abnimmt und ihn dann indirekt dazu zwingt, gegen sich selbst zu ermitteln.
Mit großer Könnerschaft mengt Fabrice Du Welz harte Action, Cop-Thriller und film noir zusammen. Dabei gelingt es ihm, gleichermaßen körperlich wie psychologisch ausgefeilt zu inszenieren, voller Brutalität und Paranoia. Gleich von den ersten Bildern an dominiert eine Atmosphäre des Todes und der absoluten Unsicherheit. Was William Friedkin einst in der letzten Viertelstunde von TO LIVE AND DIE IN L. A. macht, praktiziert Du Welz in Ansätzen schon nach dem ersten Drittel. „Wenn man ein Talent wie das Ihre hat, herrscht man in der Hölle, man dient nicht im Paradies!“, sagt eine Figur zu Beginn des Films. Du Welz ist wahrlich ein teuflischer Choreograf.


Fleisch

GERMAN ANGST (Jörg Buttgereit / Michal Kosakowski / Andreas Marschall: Deutschland 2015)
Ein junges verwahrlostes Mädchen hält einen Mann (ihren Vater?) gefangen... Ein polnisches, taubstummes Pärchen wird von Nazis attackiert und nutzt dann einen mysteriösen Talisman... Ein Mann gerät in einen gefährlichen Fetisch-Geheimbund...
Nicht weniger als die „dämonische Leinwand“ wieder nach Deutschland zu bringen wollten die drei Macher des besten deutschen Filmes des Jahres, und das ist ihnen wahrlich gelungen! Alle drei Teile von GERMAN ANGST sind auf ihre eigene Weise fantastisch.
Jörg Buttgereits „Final Girl“ ist weniger Film als eine assoziative Bilderpoesie des Grauens, geschaffen aus einer Wohnung, einem jungen Mädchen, einem Meerschweinchen und einem gefesselten Mann. Michal Kosakowski hat hingegen etwas gedreht, was ich als politisches Filmessay bezeichnen würde: ein Versuch über Erinnerung, deutsche Verbrechen im 2. Weltkrieg, Schuldverdrängung, Täter-Opfer-Verdrehungen und (aktuelle) politische Gewalt in Deutschland. Die ARD hat wohl einen Film über die NSU gedreht, aber ich denke, dass Kosakowskis „Make A Wish“ wesentlich mehr über dieses Thema zu sagen hat, als es GEZ-gefördertes Polit-Entertainment im Talkshow-Vorlage-Modus je könnte. Dem schmerzhaftesten (Teil-)Film des Jahres folgt das verhältnismäßig konventionellste Segment von GERMAN ANGST: die schauerliche, anbetungswürdig schöne und detailverliebte body-horror-Erzählung „Alraune“ von Andreas Marschall.
Mehr zu GERMAN ANGST meinerseits gibt es hier zu lesen.

WELCOME TO NEW YORK (Abel Ferrara: USA / Frankreich 2014)
Ein in Politik und Finanzwelt bedeutender Mann vergewaltigt ein Zimmermädchen in New York. Infolgedessen wird ein Prozess gegen ihn geführt.
Ein Skandalfilm, der gar keiner ist. Die Verwurstung einer aktuellen Begebenheit, der alles Marktschreierische komplett fehlt. Die Verfilmung der „DSK-Affäre“ als intime Studie über Obsessionen und Zwänge. BAD LIEUTENANT im Katermodus. Selten habe ich einen Film gesehen, der so unvoyeuristisch ist – aber eben auch so gnadenlos in seinen distanzierten Beobachtungen.
Eine Jahrhundertleistung von Gérard Depardieu, der hier so körperlich ist wie nur selten: als schreiendes, stöhnendes, schaufendes, röchelndes, grunzendes Riesenbaby. Nur zu leicht könnte Ferrara seine Hauptfigur der Lächerlichkeit und der moralischen Empörung (auch eine Form der Triebabfuhr) preisgeben. Doch er hat sich für den schwierigen Weg entschieden: einen Menschen zu zeigen, der im Gefängnis seines eigenen Lebensmilieus und seiner klassenbedingten Mentalität steckt. Beobachten und nicht urteilen, ergründen und nicht verdammen, verstehen und nicht verteufeln möchte der Film – ein so schmerzhafter wie fruchtbarer Prozess. So ist WELCOME TO NEW YORK auch ein extrem demokratischer Film: er sagt dem Zuschauer nicht, wie er sich zum Gezeigten verhalten muss, sondern überlässt ihm seiner eigenen, qualvollen Wahl.

THE TOWN THAT DREADED SUNDOWN (Alfonso Gomez-Rejon: USA 2014)
Ein Serienkiller, der offensichtlich einen historischen Serienkiller nachahmt, beginnt in Texarkana sein blutiges Handwerk zu verrichten. Ein Mädchen, das sich unter anderem gerne die Fingernägel in Türkis färbt, begibt sich auf die Suche... 
THE TOWN THAT DREADED SUNDOWN präsentiert sich an der Oberfläche wie ein fantasieloses Remake im neunmalklugen Meta-Modus, entpuppt sich aber als äußerst eleganter Neo-Giallo. Thematisch ist er ein typisch US-amerikanischer Slasherfilm, aber in seinem obsessiven Gestaltungswillen, um nicht zu sagen Gestaltungswahn, wirkt er zutiefst italienisch und erinnert entfernt an den 1970er-Giallo der Argento- oder Martino-Tradition: extrem stilisierte, fast psychedelische Farbsetzung, dutch angles, das Alternieren zwischen komplexen Plansequenzen und assoziativen, fast subliminalen Montagen, vermeintliche Point-Of-View-Sequenzen, die die Kamera zur eigenen, tobenden Figur erheben.
Nicht, dass THE TOWN THAT DREADED SUNDOWN ein schlechter Titel ist, aber ich nenne ihn privat gerne „La ragazza con le unghie in turchese“.

COMPULSION (Egidio Coccimiglio: Kanada 2013)
Eine psychisch labile Frau, die am liebsten eine TV-Köchin wäre, versucht sich mit ihrer Nachbarin, einer magersüchtigen Schriftstellerin, anzufreunden und beginnt sie zu stalken.
COMPULSION ist das Remake eines koreanischen Films, den ich nicht kenne und stammt zwar aus dem Jahr 2013, wurde aber erst 2015 in Deutschland veröffentlicht (direct-to-video). Man könnte den Film als überkandidelt-sleazigen, lesbischen Hagsploitationfilm mit Kannibalenhorror-Elementen bezeichnen, aber das würde ihm wahrscheinlich nicht gerecht werden. Der Film ist voller grotesker Elemente und ist auch immer haarscharf an der Grenze zum Camp: Heather Graham, die sich auf dem gedeckten Esszimmertisch von ihrem Freund lecken lässt, dessen Papagei abschlachtet und brät, in hochhackigen Schuhen durch eine imaginäre Kochsendung stolziert und über die Auswahl und Zubereitung der richtigen Zutaten in einer Manier spricht, die an schweinisches Dirty Talk erinnert. Doch schlussendlich ist COMPULSION vor allem auch ein trauriger Film über Vereinsamung und Entfremdung. Was diese beiden Frauen machen, mag vielleicht teilweise grotesk sein (und oft extrem beunruhigend), aber der Blick des Films auf sie ist von Zärtlichkeit und Mitgefühl geprägt.


Lachmuskeln & Liebe

SHE‘S FUNNY THAT WAY (Peter Bogdanovich: USA / Deutschland 2014)
Ein (eigentlich glücklich verheirateter) Broadway-Schriftsteller bucht eine Prostituierte und gibt ihr ein kleines Vermögen unter der Bedingung, dass sie ihren momentanen Beruf für immer aufgibt. Später bewirbt sie sich als Schauspielerin für sein Stück...
Bogdanovichs neuer Film wurde (leider) als eine Art Schmalspurverschnitt von Woody Allen gesehen. Wie grundfalsch: Allen war schon immer ein Zyniker, während sich Bodganovich als Humanist, fast schon naiver Moralist zeigt. Er kann die Zuschauer zum Lachen bringen, auch ohne seine Figuren der Lächerlichkeit preiszugeben. Insofern wünsche ich mir sogar umgekehrt, dass Allen mehr Bogdanovich in seine Arbeit einfließen lassen würde.

BROS BEFORE HOS (Steffen Haars / Flip Van der Kuil: Niederlande 2013)
Zwei Brüder versprechen sich gegenseitig, niemals eine feste Beziehung mit einer Frau einzugehen. Bis der eine sich dann verliebt... in die neue feste Freundin seines Bruders...
Wie einst in den radikalen Satiren NEW KIDS TURBO und NEW KIDS NITRO gelingt es Haars und Van der Kuil, zwei (wenn nicht sogar drei) Filme in einem zu zeigen: eine Parodie auf die romantische Komödie – und eine aufrichtige romantische Komödie (und eine Reflexion über gestörte Frauenbilder). Er sieht Liebe nicht durch eine rosarote Brille, sondern durch die Brille existentieller Absurditäten und stellt das Lustige neben das Vulgäre, das Zotige neben das Zärtliche, bis die Grenzen anfangen, sich aufzulösen. Am Ende eröffnen Haars und Van der Kuil ihren beiden Protagonisten gar einen Ausweg aus ihrer eigenen mentalen Beschränktheit: eine humanistische Wende im Schaffen der beiden holländischen Extrem-Satiriker?

LOVE IS STRANGE (Ira Sachs: USA / Frankreich / Brasilien / Griechenland 2014)
Ben und George heiraten. Nichts wirklich Aufsehenerregendes in den 2010er Jahren, besonders bei zwei älteren Herren, die schon seit über 40 Jahren zusammen leben. Doch George verliert seinen Job in einer katholischen Musikschule und durch dieses Ereignis etwas aus der Bahn geworfen gestaltet sich die Ehe der beiden Männer etwas schwierig.
Trotzdem LOVE IS STRANGE so etwas wie eine Liebeskomödie ist, erscheint er mir außerordentlich „rein“. So absolut selbstverständlich er die Liebe der beiden älteren Männer akzeptiert, so respektvoll ist er gegenüber allen Figuren und gegenüber der Intelligenz des Zuschauers. Nichts wird erklärt, jede einzelne Figur nur über ihre Körperhaltung, ihre Mimik und ihre Aktionen gezeigt. Ellipsen sorgen dafür, dass der Film arm an Plot bleibt und mehr Zeit hat, sich Ben und George und ihren Bekannten zu widmen.


In jedem Traumzuhause ein Herzschmerz...

KREDITIS LIMITI
Die Betreiberin eines Tifliser Imbissladens wird von Gläubigern geplagt und begibt sich auf eine zermürbende Suche nach Geld...
Ein Horrorfilm über eine Frau, die in einer unaufhaltsamen Schicksalsmaschine gefangen ist, erzählt als urbane Komödie. Mehr über diesen formal meisterhaften Debütfilm schrieb ich hier in meinem goEast-Festivalbericht.

THE END OF THE TOUR
Der Rolling-Stone-Reporter David Lipsky interviewt einige Tage lang den berühmten Schriftsteller David Foster Wallace.
Fantastisches Schauspielerkino, in der die Zeit im Dialog fast schon fieberhaft wegfließt. Mehr über diesen tollen Nicht-Biopic schrieb ich in meinem Viennale-Festivalbericht.


Wenden wir uns der dunklen Seite der Medaille zu. Erfreulich ist, dass ich es dieses Jahr nicht schaffe, auf überhaupt 10 Titel zu kommen, sondern nur auf 4 Filme, und einen „Bonusfilm“ in Sachen schwere Enttäuschung.

Flop 2015

LEVIAFAN (Andrej Zvjagincev: Russland 2014)
Böser russischer Staat (heißt: schmierig-fetter Bürgermeister) unterdrückt den armen russischen Arbeiter (heißt: weinerlicher Alkoholiker mit Märtyrer-Fantasien).
Nach diesem Film und nach ELENA werde ich wohl kein Freund dieses sibirischen Regisseurs werden. Nicht einmal zwanzig Minuten braucht es, bis deutlich wird, worauf das ganze hinauslaufen soll, und in den restlichen zwei Stunden formuliert der Film dies bedeutungsschwanger und pompös aus, bestätigt sich selbst salbungsvoll, was er und der Zuschauer schon wussten. Die männerbündische Wodka-Romantik des Films und die Art, wie er Frauen systematisch zu Stichwortgeberinnen oder gar Plot-Verfügungsmasse degradiert sind mir richtig sauer aufgestoßen (wobei letzteres mich etwas an den unerträglichen DAS LEBEN DER ANDEREN erinnerte).
Mehr von mir zu diesem Rezeptionshaltungsbestätigungsfilm hier.

ELSER (Oliver Hirschbiegel: Deutschland 2015)
Werdegang und Folgen eines Attentats auf Hitler.
DER ÖNTERGANG 2, wenn man so will. Eine Hagiographie, die sich vor allem an der Gewalt, die ihre Hauptfigur erleidet, ergötzt.

LOST RIVER (Ryan Gosling: USA 2014)
Wirtschaftskrise, alleinerziehende Mutter, komische Sage, merkwürdiger Fetischclub etc.
Wer einen Film von Nicolas Winding Refn anschauen möchte, sollte lieber das Original nehmen. Dort gibt es wenigstens gekonnt inszenierte und teils sogar originelle Szenen.

IT FOLLOWS (David Robert Mitchell: USA 2014)
Ein Fluch, den sich Teenager beim Sex holen, geht um.
Ich habe wirklich keine Ahnung, warum dieser Film von manchen als Neuerfindung des Horrorfilms gehandelt wurde. Mich hat er angeödet und vor allem in seinen handwerklich perfekten, aber stets absolut sterilen Bildern gar abgestoßen.

Enttäuschung

FRANK (Lenny Abrahamson: UK / Irland / USA 2014)
Jon, ein Möchtegerne-Popstar, schließt sich der Band „Soronprfbs“ an, deren Chef Frank permanent ein Pappkopf trägt.
Ich glaube, mein größtes Problem mit diesem Film ist, dass der Titel HI, IT‘S ME, I‘M JON, AND I‘M HANGING AROUND WITH SOME FREAKY CRAZY GUYS AND ONE OF THEM WEARS A GIANT PAPIER-MÂCHÉ-HEAD ALL THE TIME AND IS CALLED FRANK AND I‘M GOING TO TELL YOU SOMETHING ABOUT ALL THIS besser gepasst hätte. Oder anders ausgedrückt: der Film bequemt sich darin, seine Außenseiterfiguren aus der Perspektive und mit den Augen des Mainstreams zu betrachten. Ob er dies sogar mit seinen Inszenierungsmethoden macht, müsste ich noch einmal prüfen (das wäre vielleicht gar nicht so uninteressant), aber er tut dies auf jeden Fall mit der Figur des Jon. FRANK distanziert sich bewusst von seiner eigenen Titelfigur, er traut sich nicht, sie seinen Zuschauern filterlos (oder böse ausgedrückt: „unzensiert“) zuzumuten. Das ist nicht nur schade, sondern auch ethisch fragwürdig, denn damit führt er Frank zugleich vor, macht ihn zum Freak und zur Witzfigur, mit der man dann aber gefälligst Mitleid zu haben hat, als herauskommt, dass er geistig behindert ist. Da wird er gar zur dramaturgischen Funktion degradiert. Im Finale eröffnet FRANK einen ganz kurzen Blick darauf, was er hätte werden können: in der abgestandenen Bar (wo sich allerdings auch der unerträgliche Jon aufhält) kommt Frank und beginnt mit seiner ehemaligen Band, einen Song zu improvisieren. Für diese etwa zwei Minuten meint man, FRANK würde endlich einmal sich seiner Titelfigur annähern. Diesen Film, den man in den letzten beiden Minuten schemenhaft erkennen kann, hätte ich sehr gerne gesehen. Aber schlussendlich entblösst sich FRANK wieder, als er die letzten Bilder wieder Jon schenkt. So bleibt eine bestenfalls mild-amüsante Komödie mit einer unausstehlichen de-facto-Hauptfigur und einigen sehr unangenehmen „Freak-ploitation“-Elementen.

2015: Ein persönlicher Kanon aus Erstsichtungen


Von den unerfreulichsten nun zu den erfreulichsten Filmen und zu meinem persönlichen Jahreskanon 2015. In den letzten Jahren listete ich immer 52 Filme (für jede Woche quasi einen). Dieses Jahr sind es etwas weniger, nämlich 45. Wer den Verlust der sieben Filme nicht verkraften kann, sei auf die anschließende, speziell für diesen Jahresrückblick neu entwickelte Rubrik „Wiedersehen macht Freude“ verwiesen.

1 FOR FOR FAKE (Orson Welles: Frankreich / Iran / Bundesrepublik Deutschland 1973)
Um einen experimentell-avantgardistischen Film zu drehen, der gleichzeitig derartig locker, beschwingt, von Lebensfreude durchdrungen ist, muss man wahrlich ein großer Meister sein. Wie eine entspannte Plauderei in einem Café, allerdings mit fantastisch verschlungener Bild- und Tonmontage.

2 LA SEMANA DEL ASESINO (Eloy de la Iglesia: Spanien 1973)
Der Slasherfilm als doppelbödige Faschismus- und Konsum-Satire. Mehr von mir zu diesem außergewöhnlichen Film hier.

3 MAD MAX 2 (George Miller: Australien 1981)
Faszinierend in seiner merkwürdigen Abstraktion: die erste Hälfte ist ein Actionfilm auf Beobachterposten. Ein Protagonist, der andere Figuren dabei beobachtet, wie sie Sachen machen: nicht aus Voyeurismus, sondern weil er einfach nur Benzin möchte, um weiterzufahren. Insofern erzählt MAD MAX 2 gewissermassen vom zeitweiligen Stillstand der Titelfigur mit den Mitteln der puren Bewegung...

4 BRICHA EL HASHEMESH / ESCAPE TO THE SUN (Menahem Golan: Israel / Frankreich / Bundesrepublik Deutschland 1972)
1. Hier ein Ausschnitt aus einem Festivalbericht, der leider nicht veröffentlicht wurde (einen in diesem Blog veröffentlichten findet man hier) und den ich hier etwas ausführlicher zitiere, weil ich mangels Sichtungsmöglichkeiten leider wohl nicht so schnell wieder über diesen Film schreiben werde:
„BRICHA EL HASHEMESH ist ein Film, der jegliche Vorstellungen über gutes oder schlechtes Filmemachen, über guten und schlechten Geschmack zerstört und der gängige Ideen darüber, wie man eigentlich „ernsthafte“ Themen inszenieren sollte, wuchtig beiseite wischt (nach dessen Sichtung konnte man sich fragen, wie SCHINDLER‘S LIST von Menahem Golan inszeniert wohl ausgesehen hätte). Wer sich auf BRICHA EL HASHEMESH einlässt, findet kein Zurück mehr und wird vielleicht sogar sein cineastisches Weltbild erschüttert sehen. [...]
Antisemitismus in der Sowjetunion der 1960er und 1970er Jahre: Golan hat sich eines durchaus ernsthaften Themas angenommen. Was er daraus gemacht hat, lässt aber Hirne schmelzen, Augen platzen und Herzen in Unterhosen rutschen. BRICHA EL HASHEMESH ist überhitzte polemische Agitation, manisches Melodrama, naiv-sensationalistischer Abenteuertrash und sadomasochistische Passionsgeschichte in einem. Ein Film, der sich immer wieder genüsslich in purem Sleaze, hemmungslos pathetischem Kitsch und inszenatorischen Spielereien suhlt, nur um dann zwischendurch in langen Expositionsdialogen zu schnarchen [...].
Menahem Golan war definitiv ein Verrückter, ein Durchgeknallter, aber einer von den Guten, die die Welt besser machen. Für Filme wie BRICHA EL HASHEMESH wurde das Kino erfunden.“
2. Beim Liebster-Award sagte ich, dass ich nicht als Produzent tätig sein möchte. Ich korrigiere: ich würde gerne eine Zeitreise machen, Steven Spielberg das Projekt SCHINDLER‘S LIST wegnehmen, vorher noch Cannon Films vor dem Ruin retten und Menahem Golan SCHINDLER‘S LIST als Cannon-Produktion inszenieren lassen. Das Resultat wäre trashiger, sleaziger, durchgeknallter und (noch?) perverser als Spielbergs Film und würde wohl bis heute als peinliche Geschmacklosigkeit und cineastische Entgleisung gelten. Aber er wäre wohl auch ehrlicher, mutiger, offener, ambivalenter, erkenntnisreicher und wahrscheinlich auch schmerzhafter und authentisch emotionaler...
3. Ich glaube nicht, dass ich diesen Film wirklich „verdaut“ habe. Es ist eher so, dass er weiterhin an mir rumnagt.

5 ARTIFICIAL INTELLIGENCE: AI (Steven Spielberg: USA 2001)
À propos Filme, die an mir rumnagen...
Steven Spielberg und Stanley Kubrick: was hätten die beiden zusammen noch für Filme machen können. In jeglicher Hinsicht haben sie sich nicht nur ergänzt, sondern ihre oft konträren Eigenschaften auch noch verstärkt (im Negativfall hätten sie sich neutralisiert): Spielberg‘scher Kitsch wird durch Kubrick‘sche Analyse in ungeahnte emotionale Höhen getrieben, Kubrick‘sche Analyse wird durch Spielberg‘schen Kitsch zu erschreckenden Erkenntnissen getrieben.
Das wird besonders in der Schluss-Szene deutlich, als ein schwer traumatisierter Roboter in einem Kinderkörper seine lebenslange ödipale Fantasie endlich auslebt, indem er mit einem digitalen Klon seiner Adoptivmutter ins Bett geht und damit nicht nur die Menschheit, sondern auch jegliche Erinnerung an die Menschheit auslöscht. Ein perfides „unhappy happy ending“, auf den Jonathan Rosenbaum hinwies. Rosenbaum selbst fand den Film wohl nicht weniger verstörend als ich und weiß wohl auch nicht so recht, wie er damit umgehen sollte...

6 BIGGER THAN LIFE (Nicholas Ray: USA 1956)
Ray gelingt hier nicht nur eine bitterböse Satire über pervertierte Familienwerte, sondern hat auch einen der größten Psychopathen-Filme (über einen Mann, der seine Hypermännlichkeitsfantasien gewaltsam auslebt) – kaum zu glauben, dass ein Werk von einer solchen emotionalen Gewalt im Hollywood der 1950er Jahre entstanden ist. Auch einer der größten Cinemascope-Filme überhaupt.

7 HUSTLE (Robert Aldrich: USA 1975)
Es gibt in HUSTLE einen kleinen Moment, wo Phil Gaines beschlagnahmtes Geld abzählt, dann zu einem Rom-Kalender schaut. Er wollte immer schon mit einer geliebten Nicole nach Rom. Und schaut auf das Geld, überlegt sichtlich, ob er ein bisschen davon „abzweigen“ soll. Und zählt dann sichtlich desillusioniert weiter (jetzt, wo ich das schreibe, weiß ich tatsächlich nicht, ob das wirklich in dem Film ist). HUSTLE, den Oliver Nöding als Robert Aldrichs „deprimierendsten Film“ bezeichnete, ist voller solcher „kleiner“ großer Momente. Ein unterschätzter Film von einem der unterschätztesten und größten Regisseure aller Zeiten!

8 THE TRAGEDY OF OTHELLO: THE MOOR OF VENICE (Orson Welles: USA / Italien / Marokko / Frankreich 1952)
„Movies should be rough“, sagte Orson Welles einmal. Eigentlich kaum zu glauben, dass ein Film mit einer solchen Bild- und Tonmontage von 1952 ist: als solcher könnte man ihn als Vorläufer von F FOR FAKE sehen.

9 LORENZO‘S OIL (George Miller: USA 1992)
Jonathan Rosenbaum schrieb einmal einen ausführlichen Artikel mit dem Titel „Mise en scène as miracle in Dreyer‘s ORDET“. Den gleichen Artikel würde ich gerne über LORENZO‘S OIL lesen, denn tatsächlich inszeniert Miller am Ende von LORENZO‘S OIL nichts anderes als ein Wunder. Ich (als Atheist) wüsste spontan auch keinen anderen Film, der Wissenschaft und Glauben so überzeugend versöhnt. Nein, noch radikaler: sie überhaupt nicht als Gegensätze begreift, sondern als potentielle komplementäre Elemente.

10 CANNIBAL HOLOCAUST (Ruggero Deodato: Italien 1980)
Mit SALÒ versprach Pasolini, den vielleicht ultimativen Film über Faschismus und menschliche Niedertracht zu drehen. Ein Versprechen, das nur teilweise eingehalten wurde. CANNIBAL HOLOCAUST ist dieser Film. Ein „Endpunkt-Film“ in jeglicher Hinsicht, bei dem ich mich frage, ob Elem Klimov ihn für seinen eigenen „Endpunkt-Film“ IDI I SMOTRI als Inspiration sah?

11 CRUISING (William Friedkin: USA / Bundesrepublik Deutschland 1980)
Ein Film über Selbstaufgabe, der sich irgendwann im letzten Drittel sogar selbst aufgibt, sich fast auflöst...

12 YUKCHEUI YAKSOK / PROMISE OF THE FLESH (Kim Ki-young: Republik Korea 1975)
Ich weiß nicht mehr, wer Roger Fritz‘ MÄDCHEN: MIT GEWALT als „Rape Culture: der Film“ bezeichnete, aber dieser schockierende Titel hat sich YUKCHEUI YAKSOK eher verdient. Eine Frau wird wiederholt von Männern ausgetrickst und vergewaltigt, bis sie eines Tages durchdreht und einen Angreifer in Notwehr tötet. Doch selbst als Gefangene, die Freigang hat, um das Grab der Mutter zu besuchen, ist sie nicht gefeit vor sexuellen Angriffen, wenn die Wärterin, die sie begleitet, sie einem jungen Passagier zum Frass vorwirft. Das Fürchterliche: mittlerweile hat sie ihr Schicksal akzeptiert und gibt sich in einem perversen Stockholm-Syndrom-Twist dem ganzen hin.
Kim Ki-young ist der transgressive koreanische auteur par excellence, doch einen schockierenderen Film als YUKCHEUI YAKSOK habe ich von ihm bislang noch nicht gesehen.

13 ENGEL, DIE IHRE FLÜGEL VERBRENNEN (Zbyněk Brynych: Bundesrepublik Deutschland 1980)
Ein toller Hotelfilm über die Beschissenheit, jung in einer Welt voller alter Menschen zu sein, die sich im Zweifelsfall gar zu Lynchmobs zusammenrotten.

14 UN BIANCO VESTITO PER MARIALÉ (Romano Scavolini: Italien 1972)
Es gibt wohl nur wenige Filme, bei denen wirklich jede auftretende Figur stirbt. Und das, nachdem alle sich in einer wilden Feier selbst entblösst haben. Und diese Musik!

15 MURDER BY CONTRACT (Irving Lerner: USA 1958)
Ein Profikiller stolziert durch die Welt, als hätte er den Begriff „Coolness“ erfunden, und bricht umso krachender zusammen, nachdem er sein neues Opfer kennenlernt. Der Prototyp des „coolen“ Profikillerfilms und zugleich schon seine Dekonstruktion.

16 HEIMAT: HERMÄNNCHEN, 1955/56 (Edgar Reitz: Bundesrepublik Deutschland 1984)
Der grausame Faschismus, die absolute Niedertracht, die ätherische Zärtlichkeit, die tiefe Traurigkeit, die (un)gezügelten Gefühlsausbrüche, die Reitz‘ HEIMAT ausmachen, finden in dieser fast 140-minütigen Episode (die am besten als „unabhängiger Film“ funktionieren könnte und praktisch so konzipiert ist) ihren Glanzpunkt.

17 BABE: PIG IN THE CITY (George Miller: Australien 1998)
Ein kleines Schwein auf der Suche nach Erlösung und Vergebung. Ausführlicheres dazu von mir in meinem Viennale-Festivalbericht.

18 CONFESSIONS OF AN OPIUM EATER (Albert Zugsmith: USA 1962)
Einer der Einträge in Jonathan Rosenbaums alternativer Liste der besten 100 US-amerikanischen Filme. Vincent Price stolpert darin durch ein Gebäude, das wie eine riesige surrealistische Installation wirkt. Zwischendurch stolpert er raus in der wohl merkwürdigsten Slow-Motion-Szene, die je gedreht wurde.

19 BLOW OUT (Brian De Palma: USA 1981)
Hören, sehen, schreien, töten.

20 HISTOIRES EXTRAORDINAIRES: TOBY DAMMIT (Federico Fellini: Italien / Frankreich 1968)
Entfaltet besonders nach den schnarchigen Episoden Vadims und Malles seine ganze unbändige Energie. 

21 THE OUTLAW (Howard Hughes / Howard Hawks: USA 1943)
Jane Russells Busen sorgte für einen Riesenskandal. Nach der Sichtung des Films kann ich nur vermuten, dass Hughes ihn als Ablenkung für das Hays-Office benutzte. 62 Jahre vor BROKEBACK MOUNTAIN (und 11 Jahre vor dem subtextual lesbischen JOHNNY GUITAR) hat Hughes einen Western über eine homosexuelle ménage-à-trois gedreht. Ein Film voller lustvoller männlicher Blicke auf männliche Lustobjekte. Das Hollywood der 1940er Jahre ist voller Überraschungen.

22 DREILEBEN – ETWAS BESSERES ALS DEN TOD (Christian Petzold: Deutschland 2011)
Der Titel ist Programm: statt Tod gibt es eine stürmische Liebe, die dennoch vom nahenden Tod überschattet wird.

23 BAD TIMING (Nicolas Roeg: UK 1980)
Puh... verstörend... und verunsichernd...

24 PRAXIS DR. HASENBEIN (Helge Schneider: Deutschland 1997)
Eine Perle des abseitigen, anderen Kinos. Schneider schafft ein kleines Universum voller kleiner, lebendiger Details, in dem der Alltag das Absurde und das Absurde Alltag sind. Sein Blick auf Arbeitsroutinen, Trivialitäten, Feierabendentspannung und Spaziergänge ist voller Zärtlichkeit geprägt. Der wiederholte Besuch im Krämerladen ist die schönste filmische Huldigung eines kleinen Alltagsrituals, die ich bislang sehen durfte.

25 THE DAMNED (Joseph Losey: UK 1963)
Wie eine Vorlage zu Kubricks DR. STRANGELOVE und A CLOCKWORK ORANGE, aber gewissermassen radikaler: was sind schon die Umtriebe eines selbstverliebten Straßenschlägers, wenn „respektable“ Militärs und Beamte kleine Kinder als Geiseln festhalten.

26 EVENT HORIZON (Paul W. S. Anderson: UK / USA 1997)
In Provokationslaune würde ich ihn den besseren ALIEN nennen.

27 SEIJU GAKUEN / SCHOOL OF THE HOLY BEAST (Suzuki Noribumi: Japan 1974)
Auch ein Dario Argento kann mal von einem japanischen Nunsploitation-Film inspiriert werden.

27 SNIPER (Luis Llosa: USA / Peru 1993)
Südamerikanischer Söldner-Actioner als intime Reise ins eigene Ich.

28 12 ANGRY MEN (William Friedkin: USA 1997)
Wo Sidney Lumet ein moralisches Lehrstück in Sachen gelebter Demokratie inszenierte, dreht William Friedkin einen Film über existentielle Verunsicherung, über die Erkenntnis, dass es im Leben keine Sicherheiten gibt – überhaupt keine. Das letzte Bild gehört konsequenterweise einem alten müden Mann, dem man zutrauen könnte, aus dem nächsten Fenster zu springen.

29 X312: FLUG ZUR HÖLLE (Jess Franco: Bundesrepublik Deutschland / Spanien 1971)
Oder wie ein „straighter“ Actionfilm von Jess Franco aussieht. Mehr von mir hier.

30 IT‘S A GIFT (Hugh Fray: USA 1923)
Der australische Stummfilmkomiker Snub Pollard startet mit einer Art Rip-Off von Buster Keatons THE SCARECROW: ein Haus voller platzsparender Gadgets, die nach dem Aufwachen das Leben erleichtern. Mit einem riesigen Magneten in der Hand hängt er sich in einem kleinen Gefährt sitzend dann auf der Straße an vorbeifahrenden Autos heran, und fliegt dann irgendwann sogar weg (metaphorisch und wörtlich).

31 NOT WANTED (Elmer Clifton / Ida Lupino: USA 1949)
Unterdrückte Frauen holen sich das zurück, was ihnen gehört, die Erste. Mehr zu diesem seltenen Film hier in meinem Viennale-Festivalbericht.

32 TAGEBUCH EINER VERLORENEN (Georg Wilhelm Pabst: Deutschland/Weimarer Republik 1929)
Unterdrückte Frauen holen sich das zurück, was ihnen gehört, die Zweite. Vergewaltigt, verstoßen, verschmäht und in die Prostitution getrieben holt Louise Brooks aus, um ihren Peinigern ihre Heuchelei um die Ohren zu schlagen. Nebenbei enthält der Film eine Sequenz, die man wohl als Vorläufer von Women-in-Prison-Exploitation zählen kann. Und eine unvergessliche Louise Brooks (was alle mit der Dietrich haben?).

33 MS. 45 (Abel Ferrara: USA 1981)
Unterdrückte Frauen holen sich das zurück, was ihnen gehört, die Dritte. Und Gewalttätigste. Und Ambivalenteste. Diese schönen Rehaugen, dieser grausame, schweigsame Mund...

34 THE FROZEN NORTH (Buster Keaton, Edward F. Cline: USA 1922)
Mordlust und Lustmorde... Buster Keaton schleicht sich durch den surrealistischsten seiner Filme auf der Suche nach ein bisschen mehr „ultra-violence“. Hemmungslos raubt er Leute aus, vergewaltigt, mordet, nachdem er sich vorher noch mit ein paar Drogen (namentlich einem Schluck aus einer Cola-Flasche) aufgegeilt hat. Und verbeugt sich dabei auch noch vor dem Mann, den man zu hassen liebt.
Keaton hatte natürlich immer eine morbide Seite, eine Faszination für das Düstere (man denke nur an das ultrasarkastische Ende von COLLEGE oder das fatalistische Finale von COPS). Hier, in diesem filmischen Alptraum, diesem Strudel aus Irrsinn und Gewalt, den man unter Umständen auch als den ersten „Acid Western“ überhaupt bezeichnen könnte, finden Keatons morbide Fantasien ihren unvergesslichen, grausamen und schockierenden Höhepunkt.

35 HALLOWEEN III: SEASON OF THE WITCH (Tommy Lee Wallace: USA 1982)
Ein Film, der eindrücklich zeigt, dass kommerziell ausgeschlachtete Feste etwas Gruseliges haben – und bizarr aufgeräumte Suburbia-Siedlungen ebenso.

36 DOTTIE GETS SPANKED (Todd Haynes: USA 1993)
„Coney Island Baby“, der zärtlich-bittersüße Song aus dem gleichnamigen Album von Lou Reed, der von dem schmerzhaften Prozess des coming out erzählt, ist mir bei der Sichtung dieses Films eingefallen. Ein kleiner TV-Film über einen Jungen, der einfach nur mal seine liebste Fernsehmoderatorin kennen lernen möchte und dabei schon unfreiwillig Geschlechterrollen hinterfragt.

37 STEPFATHER, die Trilogie
THE STEPFATHER (Joseph Ruben: UK 1987)
STEPFATHER II (Jeff Burr: UK / USA 1989)
STEPFATHER III (Guy Magar: UK / USA 1992)
Nach der Sichtung aller drei Filme würde ich sie tatsächlich als Gesamtkunstwerk mit Einheitscharakter sehen, trotz Variationen. Jetzt, einige Wochen später, vermischen sich die Motive der drei Filme zu einer Einheit. Natürlich: der erste Teil zeigt einen Zustand, der zweite Teil eine Entwicklung und der dritte fasst alles noch einmal konzentriert zusammen. Ich habe sie weniger als wirkliche Slasherfilme denn viel eher als potentielles Sequel zu Nicholas Rays BIGGER THAN LIFE verstanden (falls Ed Avery am Ende seine Familie wirklich ermordet hätte). Ein großer, dreiteiliger Film über sekundäre Familientugenden, die nur dann einen Wert haben, wenn sie eine menschliche Basis haben (und ansonsten zum Alptraum werden).

38 UNSTOPPABLE (Tony Scott: USA 2010)
Zwei Typen retten den Tag, weil sie es tun können und es einfach tun müssen. Tony Scotts und Denzel Washingtons letzter großer „Sieg über das Unvermeidliche“.

39 LAS ACACIAS (Pablo Giorgelli: Argentinien / Spanien 2011)
Die Reise des Truckers Rubén, der alleinerziehenden Mutter Jacinta und ihrer kleinen Tochter Anahí ist ruhiger und weniger aufregend als Franks und Wills Zugreise, doch sie ist nicht weniger emotional. Am Schluss wird kein Tag gerettet (weil es keinen Bedarf gibt), aber doch der Keim einer potentiellen Freundschaft (und vielleicht mehr) gelegt.

40 THE BLOOD OF HEROES (David Webb Peoples: Australien / USA 1989)
Ein wunderschöner MAD-MAX-2-Ripoff. Trotz seiner leicht fernsehartigen Ästhetik (das Format 1.33:1 trägt ein wenig dazu bei) ist es ein wunderbar konzentrierter Film, der seinen Figuren (postapokalyptische Gladiatoren) erlaubt, sich vollkommen über ihre Handlungen zu definieren (und darauf verzichtet, die Regeln des Spiels zu erklären).

41 ČOVEK I ZVER (Edwin Zbonek: Jugoslawien / Bundesrepublik Deutschland 1963)
Mensch und Bestie, oder Kain und Abel durch die Brille der „Schwarzen Welle“. Mehr von mir dazu in meinem goEast-Festivalbericht.

42 THE KID BROTHER (Ted Wilde, J. A. Howe, Harold Lloyd, Lewis Milestone: USA 1927)
Am beeindruckendsten ist sicherlich die Lust und Selbstverständlichkeit, mit der besonders in den Außenszenen die Kamera bewegt wird. Siehe besonders die Kransequenz, als Harold immer höher an einem Baum hochklettert, um die eben getroffene junge Frau noch Sachen zuzurufen.

43 UND SOWAS NENNT SICH LEBEN (Géza von Radványi: Bundesrepublik Deutschland 1961)
Ein Becher voller Säure in das Gesicht von Papas Kino ein Jahr vor dem Oberhausener Manifest: voller Jugendlicher, die sich saufend, feiernd und vögelnd ins Leben stürzen und die von ihren Vätern, die dasselbe im Verborgenen machen, dafür heuchlerisch gerügt werden. 11 Jahre vor Michael Winners THE MECHANIC diese schockierende Szene, in der ein junger Mann in aller Seelenruhe dem Selbstmord seiner Freundin beiwohnt.

44 CHANGELING (Clint Eastwood: USA 2008)
Man ist doch von Fetzen aus den Boulevardmedien geprägt und so hätte ich nicht erwartet, dass Angelina Jolie eine so tolle Schauspielerin ist. Außerdem weiß ich nicht, was alle mit MYSTIC RIVER und GRAN TORINO haben...

45 HEREAFTER (Clint Eastwood: USA 2010)
...deshalb setze ich den jetzt auch auf die Liste. Ein Film, der in den Untiefen von New-Age-Kitsch fischen könnte, was Eastwood mit seiner klassischen, ruhigen, nüchternen und unsentimentalen Regie gekonnt verhindert.


Wiedersehen macht Freude


1 RIO BRAVO (Howard Hawks: USA 1959)
etwa 7., 8. oder vielleicht 9. Sichtung; zum ersten Mal seit mehreren Jahren
Faszinierend: ein Film, der in so vielerlei Hinsicht nicht funktionieren kann – und der dank Hawks‘ makelloser Inszenierung dennoch perfekt und absolut makellos ist, ohne dabei gezwungen zu sein. Grandiose Filmkunst!

2 HATARI! (Howard Hawks: USA 1962)
Sichtungszahl auch kurz vor zweistellig, noch ein Tick länger nicht mehr gesehen
Man muss schon ein absoluter Großmeister sein, um im Urlaub einfach mal so nebenbei ein Meisterwerk zu drehen. Bemerkenswert, wie mit Ausnahme vielleicht der letzten 10 Minuten der Film vollständig plotfrei ist. Da ist nur eine Handvoll Leute, die in der Safari arbeiten und sich Abends dann entspannen.

Bei (kontrafaktischen) Erstsichtungen in diesem Jahr wären die beiden Filme wohl direkt in der Top-10 meines Kanons gelandet. Ich muss mich mehr mit Hawks beschäftigen!

3 UNFORGIVEN (Clint Eastwood: USA 1992)
dritte oder vierte Sichtung, ich glaube nach über 10 Jahren Pause
Von den vier großen Eastwood-Westerns hatte ich zu diesem stets die größte Distanz und es nie geschafft, wirklich reinzufinden. Das ist mir jetzt endlich gelungen. Gehört nun definitiv zu meiner Eastwood-Top-10.

4 HELLRAISER (Clive Barker: UK 1987)
zweite Sichtung, erste vollständige Sichtung nach einer massakrierten Fassung im TV vor vielen Jahren (noch in der Schulzeit)
Auf solche Weise hat Ingmar Bergman niemals Entfremdung in der Ehe inszeniert.

5 LE JOUR SE LÈVE (Marcel Carné: Frankreich 1939)
zweite Sichtung nach einer unerfreulichen Erstsichtung Anfang 2013...
...wo ich den Film als bestenfalls mittelmäßig bezeichnet hätte, besonders im Vergleich zu LE QUAI DES BRUMES. Beängstigend, wie sehr Tagesform offenbar die Filmrezeption beeinflussen kann.


(Keine) Retrospektiven (fertig)


Ich habe es dieses Jahr nicht geschafft, abgesehen von einem Grenzfall, eine richtige abgeschlossene oder bestenfalls substantielle Retrospektive zu organisieren.

Kubrick von A bis Z
Der von einem guten Freund (meinem Gastgeber bei der Viennale) inspirierte Plan, mir alle Filme von Stanley Kubrick in kurzer Zeit anzuschauen und dabei auch Lücken (SPARTACUS, EYES WIDE SHUT) zu schließen, versandete komplett – bis auf eine Neusichtung von 2001: A SPACE ODYSSEY, die aufgrund meiner spätabendlichen Müdigkeit eher unglücklich verlief. Ein Projekt, das nun vielleicht 2016 doch noch aufgegriffen wird.

Paul W. S. - Der große Ästhet unter den Andersons
Paul W. S. Anderson ist so etwas wie der Prügelknabe für Leute, die mal einen Prügelknabenersatz für Michael Bay brauchen – meiner Meinung nach aber tatsächlich wesentlich interessanter als seine Namensvetter Paul Thomas oder Wes. Nach der Entdeckung von POMPEII im letzten Jahr wollte ich dieses Jahr tiefer in das Werk des vielgeschmähten Briten eintauchen. Doch auch hier versandete der Plan einer umfassenden Retrospektive, zumal ohne die RESIDENT EVIL-Filme (deren letzten beiden Beiträge wohl auf singuläre Weise abstrakt-expressionistische Tableaus erschaffen und dem Mainstream-Kino Experimentelles einhauchen).

gesehen (in Präferenz-Reihenfolge):
EVENT HORIZON
THE THREE MUSKETEERS
AVP: ALIEN VS. PREDATOR
DEATH RACE

Unersättliche Gier nach neuen Bildern: Orson Welles
Anlässlich des 100. Geburtstag Welles‘ und auch aufgrund der guten Erinnerung an Manfreds Artikel zu TOO MUCH JOHNSON begann ich eine kleine Retrospektive zum Regiewerk des Hollywood-Außenseiters... und blieb leider auf der Mitte des Wegs stecken. Denn was ist schon eine Welles-Retrospektive ohne THE MAGNIFICENT AMBERSONS und MACBETH. Und einer Neusichtung von CITIZEN KANE oder THE LADY FROM SHANGHAI.

gesehen (in Präferenz-Reihenfolge):
F FOR FAKE
OTHELLO
UNE HISTOIRE IMMORTELLE
TOUCH OF EVIL (zweite Sichtung)
FILMING OTHELLO
THE FOUNTAIN OF YOUTH
CHIMES AT MIDNIGHT

auteur down under: George Miller
Nach der Sichtung von MAD MAX: FURY ROAD im Kino wollte ich unbedingt die ersten drei Filme um Max Rockatansky nachholen. Und spätestens nach MAD MAX 2 alles verschlingen, was George Miller sonst noch gedreht hat. Was mir zumindest halbwegs gelungen ist, auch wenn ich TWILIGHT ZONE, HAPPY FEET 2 und die Doku zum australischen Film noch vermisse...

gesehen (in Präferenz-Reihenfolge):
MAD MAX 2 (2 Sichtungen)
LORENZO‘S OIL
MAD MAX: FURY ROAD (2 Sichtungen)
BABE: PIG IN THE CITY
MAD MAX (2 Sichtungen)
HAPPY FEET
MAD MAX BEYOND THUNDERDOME (2 Sichtungen)

Mehr Überlegungen von mir zu George Miller in meiner Besprechung von BABE: PIG IN THE CITY hier.

Double Features, 2015 ausprobiert und für gut befunden


Die Sleaze-Safari
NANA (Mac Ahlberg: Schweden / Frankreich 1970)
EVA NERA (Joe D‘Amato: Italien 1976)

Räuber und Gendarmen
MURDER BY CONTRACT (Irving Lerner: USA 1958)
HUSTLE (Robert Aldrich: USA 1975)

Familienzoff und andere Heiterkeiten (kuratiert von arte)
GRUPPO DI FAMIGLIA IN UN INTERNO (Luchino Visconti: Italien / Frankreich 1974)
GO GO TALES (Abel Ferrara: Italien / USA 2007)

Tod im Nirgendwo
GERRY (Gus Van Sant: USA / Argentinien / Jordanien 2002)
DARK STAR (John Carpenter: USA 1974)

noir, plus noir, le plus noir (zu empfehlen im Sommer bei mindestens 35 Grad)
LE QUAI DES BRUMES (Marcel Carné: Frankreich 1938)
BODY HEAT (Lawrence Kasdan: USA 1981)

down under postapokalyptisch
THE BLOOD OF HEROES (David Webb Peoples: Australien / USA 1989)
MAD MAX BEYOND THUNDERDOME (George Miller, George Ogilvie: Australien 1985)

Proletarisch den Tag retten
UNSTOPPABLE (Tony Scott: USA 2010)
BEVERLY HILLS COP (Martin Brest: USA 1984)

So, genug zurückgeblickt! 2016 wird ein spannendes Filmjahr. Und falls nicht, gibt es immer noch 120 Jahre Kinogeschichte zu erforschen...

Keaton aquaphob: die "deleted scenes"

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A SEA DOG‘S TALE
USA 1926
Regie: Del Lord
Darsteller: Billy Bevan (Wilbur Watts), Andy Clyde (King Gumbo), Madeline Hurlock (Princess Vanilla), Vernon Dent (Jo Jo)

Buster Keaton war bekanntlich nicht gerade ein ideenarmer Mensch. Das, was wir in seinen Filmen sehen, zeigt vielleicht nur einen Bruchteil der Visionen, die dieser geniale Filmemacher hatte. In THE NAVIGATOR, den ich hier schon besprochen habe, taucht die Keaton-Figur im letzten Drittel des Films unter Wasser, um das Schiff zu reparieren: ein toller Moment Keaton‘schen Surrealismus‘. Die Sequenz sollte allerdings ursprünglich länger dauern. Eine der Ideen war, dass Rollo (so Keatons Figur) von einem rasenden Fischschwarm überrollt wird, sich in Reaktion darauf einen Seestern an die Brust heftet und anfängt, den Fischverkehr unter Wasser zu regulieren. Eine (wie vieles bei Keaton) unglaublich aufwendige Szene, bei der wohl Aberdutzende von Gummifischattrapen an Fäden durch das Wasser manövriert wurden (das ganze wurde ja tatsächlich unter Wasser gedreht). Die Szene war sogar fertig gedreht und soll wohl grandios ausgesehen haben. Doch aus Gründen des dramaturgischen Rhythmus – die Unterwassersequenz unterbricht die eigentliche Handlung bereits für mehrere Minuten – trennte sich Keaton schweren Herzens von dieser Szene, die also leider „verloren“ ging...

...oder eben nicht ganz „verloren“. Das Filmmaterial, das offenbar sogar für Trailer genutzt wurde, ist tatsächlich mittlerweile verloren (wie auch etwa zwei bis drei Minuten des eigentlichen Films, die als verschollen gelten). Doch Keaton schenkte seine Idee ganz einfach an Billy Bevan und Mack Sennett, die auf dieser Grundlage einen eigenen Film drehten: A SEA DOG‘S TALE.

Eines vorweg: es handelt sich, mit Verlaub, um Grobian-Slapstick der wirklich ganz fürchterlichen Art. Das geht so: auf der Salami-Insel im Wurst-Archipel organisieren die Eingeborenen (gemeint: weiße Darsteller in Blackface und Fettkostümen) Speerwurfwettbewerbe. Der dickste unter ihnen, Jo Jo, ist ganz besonders geschickt, stößt aber aus Versehen den Stammeschef King Gumbo mit dem Hintern voran in den Kessel mit der Mittagssuppe. Der ist natürlich wütend und verurteilt Jo Jo zu Tode. Währenddessen entdecken zwei andere Eingeborene eine Flaschenpost mit einem Zeitungsausschnitt. Prinzessin Vanilla, die schönste Tochter von King Gumbo, verliebt sich sofort in den Mann, der auf der Titelseite abgebildet ist: Wilbur Watts – der offenbar einen Kuchenesswettbewerb gewonnen hat. Vanilla möchte ihn sofort heiraten. Gumbo begnadigt daraufhin Jo Jo unter der Bedingung, dass er den abgebildeten Mann findet und auf die Insel bringt. Das macht Jo Jo zusammen mit einigen anderen Eingeborenen tatsächlich. Er findet Wilbur in einer Kirche...
...wo dieser gerade dabei ist, seine Verlobte zu heiraten, die (wie er selbst, worauf die Inszenierung allerdings nicht hinweist) wahrscheinlich eher durch innere Werte als durch Schönheit glänzt. Jo Jo macht es nicht kompliziert: er haut Wilbur eine Keule über den Kopf und entführt ihn, während dessen die Nochnicht-Ehefrau schwört, ihn notfalls auch am anderen Ende der Welt zu finden. Dort wird Wilbur tatsächlich gebracht. Zunächst lernt er King Gumbo kennen. Aus einem Zelt kommen ganz viele Frauen (gemeint: weiße Männer in Blackface und Fettkostümen) und Wilbur fragt neugierig, wer denn die ganzen „fat mommas“ seien. Seine Töchter, antwortet pikiert King Gumbo und fügt hinzu, dass er eine von ihnen heiraten wird, was Wilbur etwas beunruhigt.
Nach all der Aufregung sind aber alle erst einmal hungrig. An der Tafel lernt Wilbur die seltsamen Tischsitten der Eingeborenen kennen. Das Brot baumelt an einem Seil, wird von einem Tischgesellen zum nächsten balanciert und wer ihn fängt, kann gleich herzlich reinbeissen. Wilburs Stimmung hellt sich auf, als ihm die hübsche Vanilla vorgestellt und als seine künftige Ehefrau präsentiert wird. Und sinkt wieder in den Keller, als die Vorspeise kommt, denn die Suppe wird von Hand mit einem Schwamm serviert: als Wilbur gerne auf eine derart servierte Vorspeise verzichten möchte, saugt der „Kellner“ sie von seinem Teller einfach mit dem Schwamm zurück. Als Hauptspeise gibt es Spaghetti. Da wilde Südseebewohner natürlich kein Besteck haben, wird mit der Hand gegessen: reingreifen, die Spaghetti wild fuchtelnd über dem Kopf zusammenrollen und dann die ganze Hand mit den noch dran klebenden Spaghetti in den Mund stecken. Als Wilbur das versucht, landen die Teigwaren in King Gumbos Gesicht, der vor Wut kocht. Jo Jo, natürlich mit Hintergedanken, schlägt vor, dass Wilbur als Buße an einem mysteriösen Spiel teilnehmen soll (wie das in dem Zwischentitel genau hieß, weiß ich nicht mehr). Es geht darum: Wilbur soll den Zahn eines ganz bestimmten Hai im Meer fangen.

Hier erst mal eine kleine Pause. A SEA DOG‘S TALE könnte man als zutiefst rassistisch bezeichnen, wenn er nicht so plump und teils lächerlich inszeniert wäre (vielleicht könnte der Film in einigen Kreisen heute als „Camp“ durchgehen). Allerdings ist der rassistische Content nicht das zentrale Element des Films und jemand wie Griffith hat für wahrhaftig verabscheuungswürdige, antihumanistische Fantasien wesentlich effizientere und manipulativere Bilder erschaffen. Aber auch jenseits jeglicher Ideologiekritik ist A SEA DOG‘S TALE Grobian-Slapstick der üblen „Leute-in-lächerlichen-Kostümen-schubsen-sich-gegenseitig-um“-Manier. Zu grobschlächtig für alles: zu grobschlächtig, um es dem Film wirklich übel nehmen zu können, und zu grobschlächtig, um daran irgendwie Gefallen zu finden.

Dann passiert plötzlich etwas erstaunliches, etwas, das wirklich schwierig zu fassen ist. Als der Film zu der aussortierten Idee aus THE NAVIGATOR kommt, weht plötzlich ein Hauch Keaton‘scher Poesie durch diesen Grobianfilm.

Nun: Gumbo, Jo Jo und Wilbur stehen auf einem Floß und Wilbur soll den Haifischzahn fangen. Er wird von Jo Jo ins Wasser geschubst und findet sich auf dem Meeresboden wieder, wo allerlei Gerümpel liegt. Da ist eine Schatztruhe, die aufgeht – ein Skelett kommt zum Vorschein, erschrickt Wilbur und schwebt Richtung Meeresoberfläche. Dort angekommen dient es für Gumbo und Jo Jo als Signal, dass Wilbur wohl schon von Haien gefressen wurde. Der versucht sich allerdings gerade unter Wasser zu orientieren und zündet ein Streichholz an. Als das nicht hilft, wirft er es weg und löst damit einen kleinen Brand unter Wasser aus (allerspätestens hier schleicht sich ein Keaton-Touch in den Film). An der Oberfläche sehen Gumbo und Jo Jo, wie schwarzer Rauch aus dem Meer steigt. Währenddessen ist Wilbur, der ja nicht dazu gekommen ist, etwas zu essen, hungrig und beginnt, eine Sardinenbüchse zu öffnen, die er gefunden hat. Doch statt Ölsardinen schwimmen quicklebendige Sardinen aus der Dose raus und dann gleich weg. Dann wird Wilbur von anderen Fischen, die unkontrolliert durch das Meer schwimmen, bedrängt. Er greift sich einen Seestern vom Meeresboden, heftet ihn sich an die Brust, und beginnt, den Fischverkehr zu regulieren. Auf sein Kommando hin bleiben die Fische dann auch stehen – oder schwimmen eben weiter. Schließlich kommt eine Meerjungfrau angeschwommen und flirtet Wilbur an, der davon sichtlich begeistert ist. Doch seine Verlobte fliegt schon mit einem Flugzeug über das Meer, wirft einen Anker aus und holt sich ihren Verlobten wieder an die Meeresoberfläche. Der will aber nicht und springt ins Meer zurück. Ende!

Wie gesagt: das Bemerkenswerteste an A SEA DOG‘S TALE ist zweifelsohne, dass die Atmosphäre des Films unter Wasser plötzlich kippt und dabei tatsächlich einen eigenartigen Keaton-Touch entwickelt. Die Gags sind plötzlich keine groben Körperkapriolen mehr, sondern entwickeln plötzlich eine feine surrealistische Note (die Sardinen, die aus der Dose schwimmen) oder entstehen aus dem Zusammenspiel von Körperlichkeit und Raum (das Regulieren der Fische) oder sind sogar mehrteilig und mit einem Verzögerungselement versehen (das Skelett, das 1. zuerst auftaucht, 2. Wilbur verschreckt und 3. an der Oberfläche den anderen Beteiligten eine „falsche“ Information vermittelt). Alles Elemente, die man so eher von Keaton als von Slapstick-Stangenware kennt. Das ganze bleibt natürlich unter dem Inszenierungsniveau des „Mannes, der niemals lachte“. Die Unterwasserszene ist nicht unter Wasser, sondern mit einem starken Weichzeichnereffekt gefilmt, mit Ausnahme der Nahaufnahme der Sardinendose (zugegeben war Billy Bevan nicht ein Stuntman wie Keaton und die Szene hatte die Schwierigkeit, dass sie ohne Taucheranzug gespielt werden musste). Die Fische, die den Befehlen des selbsternannten Verkehrspolizisten folgen, sind nur sehr schemenhaft zu erkennen (offenbar wurden schwimmende Fische in einem Aquarium von oben gefilmt und mit einem Freezeframe „gestoppt“).

Der Regisseur von A SEA DOG‘S TALE ist der Kanadier Del Lord, der im Filmgeschäft ursprünglich als Stuntman für Mack Sennett begann und besonders als Fahrer für gefährliche Autostunts in Filmen mit den Keystone Cops sehr geschätzt wurde. Später übernahm er auch Regie für Mack-Sennett-Produktionen. Ab 1935 wurde er persönlich nicht berühmt, führte aber bei den bekanntesten und erfolgreichsten Filmen der „Three Stooges“ Regie. Er hat über 200 Regie-Credits bei der IMDb, die meisten bei stummen oder tönenden Kurzfilmkomödien. Sein letzter Film ist PARADISE FOR BUSTER, von 1952... mit Buster Keaton in der Hauptrolle! Interessanterweise wurde diese mäßig gelungene 40-Minuten-Komödie von  dem Landtechnikunternehmen John Deere produziert (gleichwohl nichts in dem Film erkennbar ist, das man Schleichwerbung nennen könnte).

Der Australier Billy Bevan gehörte in den 1920er Jahren zum Inventar der Mack-Sennett-Komödien und arbeitete über zehn Jahre lang mit dem kanadischen Filmpionier zusammen. Dabei trat er oft mit Andy Clyde zusammen auf, so auch in A SEA DOG‘S TALE. Er hat bei IMDb über 250 Schauspiel-Credits, unzählige davon allerdings in den Filmen selbst ohne Erwähnung. So spielte er kurze Rollen etwa in Howard Hawks‘ BRINGING UP BABY, in Hitchcocks REBECCA und in Willam Wylers MRS. MINIVER. Sein Name wird übrigens wie die Zahl 7 („Seven“) im Englischen, aber mit einem B am Anfang, ausgesprochen.

A SEA DOG‘S TALE taucht in „ausgewählten“ Filmographien Bevans, Lords oder gar Sennetts nicht auf, dürfte also zu den unbekannteren Filmen der drei Künstler zählen. Selbst Screenshots aus dem Film zu finden ist keine einfache Sache (gefunden habe ich nur zwei Stück hier und hier). Verschollen ist der Film allerdings nicht, denn ich habe ihn ja schließlich mit eigenen Augen gesehen, und zwar bei zwei verschiedenen Projektionen auf einer 16-mm-Kopie aus dem Privatarchiv des Weimarer Stummfilmpianisten Richard Siedhoff. Da, lieber Leser, Richard mobil ist und seine persönlichen 16-mm-Filmrollen auch ab und zu mitbringt, kann es sein, dass der Film irgendwann einmal in einem Kino in deiner Nähe gespielt wird.

Krakatit - der gefährlichste Sprengstoff der Welt!

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KRAKATIT
Tschechoslowakei 1948
Regie: Otakar Vávra
Darsteller: Karel Höger (Prokop), Jiří Plachý (d'Hémon), Florence Marly (Prinzessin Wilhelmina), Eduard Linkers (Carson), František Smolík (Dr. Tomeš), Nataša Tanská (Anči Tomeš), Miroslav Homola (Jiří Tomeš), Vlasta Fabianová (verschleierte Frau), Jaroslav Průcha (Kutscher)

Der Protagonist - er hat schon bessere Zeiten gesehen (rechts unten mit Jiří Tomeš)
Ironischerweise gilt Otakar Vávras KRAKATIT als einer seiner besten und das von ihm selbst inszenierte Remake TEMNÉ SLUNCE (DUNKLE SONNE, 1980, auf Video auch als NEUTRONENINFERNO) als einer seiner schlechtesten Filme. Doch der Reihe nach!

Bei Dr. Tomeš auf dem Land ist die Welt noch in Ordnung - vorerst
Wie eine Einblendung am Anfang des Films ganz überflüssigerweise erklärt, handelt es sich bei der Geschichte um ein Fiebertraumgebilde. - In einem Krankenhaus schwebt ein Unbekannter, der ohne Papiere aufgefunden wurde, an schwerer Meningitis leidend und mit merkwürdigen Verletzungen und Verbrennungen an den Händen, zwischen Leben und Tod. Während sich ein Arzt und eine Krankenschwester um ihn kümmern, dringt die Kamera sozusagen in seinen Kopf ein, und wir erfahren - eben als seinen Fiebertraum - seine Geschichte. Somit bleibt unklar, zu welchen Anteilen die Geschichte eine "echte" Rückblende oder aber ein Wahngebilde ist, und dieser Erzählmodus erlaubt es Vávra, zwischen weitgehend realistischen Passagen immer wieder ohne Erklärungsnot ins Surreale zu gleiten. Der Protagonist ist ein Chemieingenieur namens Prokop, und seine Geschichte beginnt damit, dass er, gesundheitlich schon angeschlagen und halb im Delirium, in Prag auf der Straße umherirrend von seinem Studienkollegen Jiří Tomeš aufgegriffen wird. Dieser nimmt Prokop zu sich in seine Wohnung, steckt ihn ins Bett und erfährt aus Prokops wirren Erzählfetzen den Grund für seinen desolaten Zustand: Prokop hatte in seinem Labor einen gigantisch starken atomaren Sprengstoff namens Krakatit entwickelt, und eine winzige Menge war - aus zunächst völlig unbekanntem Grund - spontan detoniert und hatte Prokop verletzt und kontaminiert. (Der Name des Sprengstoffs leitet sich natürlich vom Krakatau ab, dessen Eruption 1883 einer der stärksten Vulkanausbrüche in historischer Zeit - und im Zeitalter des Telegrafen auch bereits ein weltweites Medienereignis - war.) Tomeš gelingt es, Prokop die Formel für Krakatit zu entlocken, dann packt er seine Sachen und lässt den Studienkollegen zurück, um, wie er auf einem Zettel hinterlässt, seinen Vater auf dem Land zu besuchen.

Noir-typische Gitter
Als Prokop am nächsten Morgen allein in Tomeš' Wohnung erwacht, erscheint dort eine verschleierte, sich mysteriös gebende Frau, die Prokop dringend bittet, Tomeš einen Brief von ihr zu überbringen. Ihren vagen Andeutungen entnimmt Prokop, dass Tomeš in Geldnöten steckt und sich deshalb das Leben nehmen könnte. Obwohl kaum gesünder als am Vortag, erklärt sich Prokop bereit, mit dem Brief in das Dorf zu fahren, wo Tomeš' Vater als Arzt praktiziert. Dort angekommen, erfährt Prokop, dass Tomeš überhaupt nicht hier ist, und kollabiert dann erst mal, wird aber von Dr. Tomeš und seiner Tochter, Jiřís Schwester Anči, wieder hochgepäppelt. Prokop, der sich kaum an die Ereignisse der letzten Wochen erinnern kann, bleibt auf Einladung von Dr. Tomeš erst einmal im Dorf. Der Doktor ist ein sympathischer Humanist, und Anči verliebt sich in Prokop, was der aber, in seine Gedanken versunken, kaum bemerkt. Diese Sequenz im Dorf ist die realistischste im ganzen Film, und die einzige, die keinem Albtraum entspricht. Doch bald ist es damit vorbei. Prokop liest in der Zeitung eine Notiz, in der ein gewisser Carson in Zusammenhang mit Krakatit erwähnt wird. Das Stichwort "Krakatit" bringt Prokops Erinnerung teilweise zurück, und er bricht sofort auf, um in sein Labor zurückzukehren, wo er dem mit einer Pistole bewaffneten Carson in die Arme läuft. Wie sich herausstellt, ist Carson ein Vertreter des ausländischen Kapitalismus. Der englische Name kommt also nicht von ungefähr, er benutzt auch gelegentlich Anglizismen. Derzeit vertritt Carson die Interessen der Balttin-Werke, eines Rüstungskonzerns im fiktiven europäischen Staat Balttin.

Die Exzellenzen von Balttin - in Agonie erstarrt
Wie Carson nun ausführt, hatte sich Tomeš an die Balttin-Werke gewandt, um das Krakatit, das er in Prokops Labor in jener Nacht entwendet hatte, mitsamt der Formel zu verkaufen. Die Versuche damit verliefen erfolgreich, doch die Formel allein genügte nicht, weil es den Chemikern von Balttin nicht gelang, den Sprengstoff selbst herzustellen. Deshalb braucht man nun Prokop, damit er die Details des Herstellungsprozesses herausrückt, und die Zeitungsanzeige diente nur dazu, ihn aus der Reserve zu locken. Carson erzählt auch, dass regelmäßig zweimal pro Woche ein vorerst unbekannter starker Störsender in Aktion tritt, um alle Radiostationen in Europa vorübergehend lahmzulegen, und dass dieser Sender als Nebeneffekt jegliches Krakatit in seiner Reichweite, das nicht in Bleibehältern sicher verwahrt ist, zur Detonation bringt. Das war auch der Grund für die scheinbar spontane Explosion in Prokops Labor, und dafür, dass nur eine kleine Menge, die auf dem Labortisch herumlag, detonierte. Wäre die sicher verstaute Hauptmenge (die später Tomeš mitgehen ließ) betroffen gewesen, wäre nicht nur das Labor, sondern ganz Prag in die Luft geflogen. - Carson macht nun also das Angebot, Prokop 20 Millionen Kronen zu bezahlen, wenn er sein Wissen preisgibt. Doch der lehnt entschieden ab, weil er nicht am zu erwartenden Massenmord eines neuen Krieges mitschuldig werden will. Deshalb entführt Carson ihn kurzerhand nach Balttin.

Prinzessin Wilhelmina
Und nun wird der Film für einige Minuten wieder ziemlich surreal. Balttin ist ein Fürstentum, und der gefangene Prokop wird nun im Palast der Fürstenfamilie vorgestellt. Dabei handelt es sich um lauter ältere bis sehr alte Herrschaften, die alle regungslos auf ihren Stühlen sitzen. Nur die unvermeidlichen ganz minimalen Bewegungen zeigen an, dass es sich überhaupt um Menschen und nicht um Wachsfiguren handelt. Doch die Botschaft ist eindeutig: Es handelt sich um eine in Agonie erstarrte Kaste, die unvermeidlich ihrem endgültigen Aussterben entgegendämmert. Die einzige Ausnahme ist die junge und schöne Prinzessin Wilhelmina, die noch sehr lebendig ist - doch sie ist auch kalt, arrogant, standesbewusst, und sie setzt ihre Reize nicht nur ein, um Prokop zu ihrem persönlichen Vergnügen um den Finger zu wickeln, sondern auch, um ihm aus Gründen der Staatsraison das Geheimnis des Krakatits zu entlocken. Nachdem ihr Prokop kurzzeitig verfallen ist, durchschaut er sie bald, woraufhin sie vor seinen Augen zu einer Statue erstarrt - auch das ein sehr surrealer Moment.

Prokops Bewacher in Balttin - Assoziationen an Wehrmacht und Gestapo
Prokop hält auch in Balttin dem Druck stand und gibt seine Geheimnisse nicht preis. Zwar demonstriert er seine Fähigkeiten, indem er eine Puderdose der Prinzessin in Sprengstoff verwandelt, der jedoch nicht an Krakatit heranreicht. Ansonsten aber wartet er nur auf eine Gelegenheit zur Flucht. Auf dem Gelände der Balttin-Werke ist er von elektrisch gesichertem Stacheldraht eingeschlossen, und er wird von einer ganzen Kompanie Soldaten bewacht, deren Uniformen und Helme stark an die der Wehrmacht erinnern, was gerade mal drei Jahre nach Kriegsende schwerlich irgendwem im Publikum entgangen sein kann. Auch einige deutsche Wortfetzen sind von den Soldaten zu hören, und dass Prokops persönlicher Bewacher in den Balttin-Werken mit seinem schwarzen Ledermantel wie ein Gestapo-Mann aussieht, ist sicher auch kein Zufall. Zusammengenommen präsentiert Vávra hier also eine aristokratisch-kapitalistisch-faschistische Achse des Bösen - eine Tendenz, die den neuen Machthabern im Land wohl nicht schlecht gefallen hat (die Kommunisten hatten im Februar 1948 die vollständige Kontrolle in der Tschechoslowakei übernommen).

Oben die geheimnisvolle verschleierte Frau, unten nochmals die Prinzessin
Noch jemanden hat Prokop im Fürstenpalais kennengelernt, nämlich den sinistren Baron d'Hémon, der nicht zur Fürstenfamilie und zu den Balttin-Werken gehört, sondern der sein eigenes Süppchen kocht. Der verhilft nun Prokop zur Flucht, indem er mit seiner schweren Limousine, Prokop auf dem Beifahrersitz, die Wachsoldaten einfach über den Haufen fährt. Nachdem man Balttin hinter sich gelassen hat, gerät der Film nun in seinen finalen surrealen Taumel. Zunächst erweist sich, dass der Name des Barons Programm ist: d'Hémon = Dämon. Er solle ihn nun "Kamerad Dämon" nennen, meint der Baron zu Prokop, den er seinerseits "Kamerad Krakatit" nennt. Zusammen besuchen sie nun eine wilde, frenetische Versammlung von abgesetzten, vertriebenen, entmachteten Potentaten, Kapitalisten, Raffkes aller Art, die einen neuen großen Krieg fordern, um mit dessen Hilfe wieder an ihre alten Macht- und Vermögenspositionen zu gelangen, und der dämonische Baron stellt Prokop gegen dessen Willen als den Mann vor, der ihnen mit Hilfe des Krakatits dazu verhelfen werde. Doch das ist noch nicht das eigentliche Ziel der Reise. Auf diese Leute sei kein Verlass, meint der Baron, und er gibt sie der Vernichtung preis, indem er einen Restposten Krakatit unter ihnen verteilt.

Carson (links oben) und der dämonische Baron
Und nun zeigt sich die ganze Tragweite seiner Pläne: Mit Prokop fährt er weiter zu einer geheimen Sendestation - kein anderer als der Baron selbst betreibt jenen geheimen Sender, der Krakatit zur Detonation bringen kann. Mit Hilfe des zunächst ahnungslosen Prokop nimmt der Baron den Sender in Betrieb, und in der Raffke-Versammlung, in Balttin, in einer weiteren Fabrik, wo Jiří Tomeš inzwischen auf eigene Faust am Krakatit forscht, sowie an weiteren Orten, wo Flugzeuge im Auftrag des Barons Krakatit abgeworfen haben, detonieren alle noch verbliebenen Reste des Sprengstoffs und lösen ein (wenngleich immer noch begrenztes) atomares Inferno aus. Wenn Prokop nun neues Krakatit produzieren werde, erläutert der Baron, hat dieser mit Sender und Krakatit in einer Hand unbegrenzte Machtmittel zur Verfügung. Mit anderen Worten, der Baron bietet nichts Geringeres als die Weltherrschaft. Prokop, der das alles überhaupt nicht will, versucht, den Baron zu erwürgen, doch der löst sich vor seinen Augen in Luft auf. Nunmehr allein in desolater Landschaft, torkelt Prokop, dem Delirium nahe, ziellos umher, bis er von einem Kutscher aufgegriffen wird - demselben, der ihn noch vor kurzer Zeit ins Dorf zu Dr. Tomeš gebracht hatte. Doch handelt es sich mittlerweile um einen Fuhrmann des Todes, oder wird er ihn zurück ins Leben bringen?

Das atomare Inferno wird in Gang gesetzt
KRAKATIT ist eine wüste und faszinierende Mischung mehrerer Genres und Stile, mit SciFi mit leichtem Horror-Einschlag und Film Noir als Hauptbestandteilen - und nebenbei gibt es auch noch die politische und pazifistische Botschaft. Otakar Vávra kann mit Hilfe seines Kameramannes Václav Hanuš vor allem im Visuellen punkten. Nicht selten fühlt man sich optisch an klassische Hollywood-Werke erinnert, etwa von Murnau, oder auch von John Ford in den 30er und 40er Jahren. So erinnert etwa die Sequenz am Schluss, als Prokop bei Dunkelheit und Nebel durch die Landschaft irrt, stark an eine Szene in SUNRISE. Die Prinzessin wiederum wird mit ihrem Geschmeide funkelnd und schillernd in Szene gesetzt, wie es einst Sternberg mit Marlene Dietrich gemacht hatte. Und dann gibt es wieder Bilder, wie man sie von Siodmak und anderen Noir-Spezialisten kannte. - Technisch gesehen ist das, was man über Krakatit erfährt, meilenweit von dem entfernt, was 1948 schon in der allgemeinen Öffentlichkeit über Atomwaffen bekannt war. Aber erstens ist das ganze ja, wie schon mehrfach erwähnt, ein Fiebertraum. Und zweitens beruht der Film auf dem gleichnamigem Roman, den Karel Čapek 1922 geschrieben und 1924 veröffentlicht hatte, und natürlich kann man nicht verlangen, dass Čapek damals schon der Realität späterer Atombomben nahe kam (auch wenn Eric Ambler genau das in seinem Debütroman The Dark Frontier von 1936 erstaunlich gut gelang). Čapek war ein durchaus vielseitiger Schriftsteller, aber heute kennt man ihn vor allem als einen Vertreter der Fantastik und Science Fiction (bekanntlich prägte er in einem seiner Werke den Begriff "Roboter").

Der Baron ist zufrieden mit seinem Werk; unten ein etwas merkwürdiger Kutscher
Otakar Vávra (1911-2011) konnte am Ende seines langen Lebens auf rund 50 Filme und zahlreiche Ehrungen und Auszeichnungen zurückblicken. Er hatte auch einige Jahrzehnte als Dozent an der Prager Filmhochschule FAMU gewirkt, die er selbst mitgegründet hatte. Unumstritten war er indes nicht: Man warf ihm gelegentlich vor, er habe sein Fähnlein in den Wind gehängt, um sich mit den jeweiligen Machthabern zu arrangieren. Wenn man sich sein Œuvre ansieht, dann fallen über die Systeme hinweg (Tschechoslowakische Republik der 30er Jahre, Nazi-Okkupation, kommunistische Tschechoslowakei vor und nach dem Prager Frühling) zumindest zahlenmäßig keine Brüche auf. Ob er aber wirklich ein Opportunist war oder nur Selbstschutz in einem legitimen Ausmaß betrieb, das kann und will ich von hier aus nicht beurteilen.


Es gibt KRAKATIT auf zwei verschiedenen tschechischen DVDs. Die eine hat noch einen zweiten Film (von einem anderen Regisseur, aber ebenfalls mit Karel Höger in der Hauptrolle) sowie engl. Untertitel an Bord. Die andere enthält nur KRAKATIT und keine Untertitel (man findet aber engl. Untertitel im Internet zum Download). - Verwirrende Angaben herrschen bezüglich der Laufzeit des Films. Laut engl. Wikipedia und IMDb sollen es 110 Minuten sein, laut tschechischer Wikipedia dagegen nur 106 Minuten. Das Lexikon des internationalen Films nennt eine Laufzeit von 98 Minuten, was sich offenbar auf eine deutsche Fassung bezieht, die erstmals 1974 im DDR-Fernsehen lief. Falls die 98 Minuten die Fernseh-Laufzeit sind, entspricht das im Kino 102 Minuten. Auf meiner DVD wiederum (die zweite der oben erwähnten) dauert der Film nur 96:30 Minuten, was im Kino 100:30 entspricht. Und für die erstgenannte der beiden DVDs habe ich jetzt auf die Schnelle sowohl eine Angabe von 97 Minuten (was natürlich auch aufgerundete 96:30 sein können, womit die beiden Versionen identisch wären) als auch 106 Minuten gefunden. Da soll einer schlau draus werden ...

Bilder wie bei Murnau oder Ford

Belgrader Stadtsymphonie der Liebe

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PRAKTIČAN VODIČ KROZ BEOGRAD SA PEVANJEM I PLAKANJEM („Rendezvous in Belgrad“)
Serbien / Deutschland / Frankreich / Ungarn / Kroatien 2011
Regie: Bojan Vuletić
Darsteller: Julie Gayet (Silvie), Marko Janketić (Stefan), Anita Mančić (Melita), Jean-Marc Barr (Brian), Nada Šargin (Jagoda), Baki Davrak Orhan), Hristina Popović (Djurdja), Leon Lučev (Mate)


„Kapitel 1, Sich verlieben“
(oder: Viele Biere und die erste Liebe)

Silvie und Stefan
Silvie ist angepisst. Und auch schon leicht angetrunken. Und nicht mehr wirklich zurechnungsfähig. Gleichwohl soll die französische Sängerin, die gerade in Belgrad eingeflogen ist, an diesem Abend ein Konzert in der serbischen Hauptstadt geben. Stefan, ein sympathischer, schüchterner junger Mann, der bei der Konzertagentur angestellt ist, holt sie am Flughafen ab und soll sie dann zum Konzerthaus bringen. Leichter gesagt als getan. Denn Silvie Tati unterbricht die Fahrt, steigt aus, verursacht fast eine Massenkarambolage, als sie ohne zu schauen die Straße überquert, kreischt sich mitten auf der Straße die Seele aus dem Leib und läuft ins nächstbeste Café, um sich zu betrinken oder die überrasche Kellnerin zu knutschen. Stefan ist rasch überfordert, bangt zudem um seinen Job, wenn er Silvie nicht rechtzeitig zum Konzerthaus bringt und muss der Französin dann auch noch versprechen, nicht von ihrer Seite zu weichen. Mehrere Biere später kann sie zwar fast nur noch torkeln, doch mit Stefan an ihrer Seite (wörtlich) meistert sie dennoch das Konzert. Die beiden verbringen anschließend eine Liebesnacht miteinander. Als Silvie am nächsten Morgen wieder nach Paris fliegen möchte, ist Stefan bereit, sie mit allen Mitteln von ihrer Abreise abzuhalten.

„Kapitel 2, Krise“
(oder: Schweinische Liebe auf Knien)

Melita und Brian
Melita ist gestresst und genervt. Die Konzertagentin hat einen anstrengenden Tag hinter sich (die betrunkene französische Sängerin war sehr mühsam) und möchte sich nur noch mit ihrem Liebhaber Brian in einem Hotelzimmer entspannen. Brian ist Diplomat bei der amerikanischen Botschaft in Belgrad. In Liebessachen jedoch steht er ganz klar unter Melitas eisernem Absatz und lässt sich sehr gerne von ihr bei kleinen Spielchen demütigen, beschimpfen, quälen und schlagen. Die beiden haben offensichtlich schon länger geplant, Serbien in Richtung USA zu verlassen. Doch Brian weigert sich nun, Belgrad den Rücken zuzukehren, weil er sich nicht nur in Melita, sondern auch in die Stadt verliebt hat... Und eigentlich auch gar nicht Diplomat ist... Zu viele Offenbarungen auf einmal für Melita, die Brians Liebe auf eine harte Probe stellt. Eine Probe, die dieser ohne mit der Wimper zu zucken meisterhaft besteht (allerdings auch deshalb von Sicherheitskräften unsanft behandelt wird).

„Kapitel 3, Ehebruch“
(oder: Bier, Rakija und Weltschmerz)

Orhan und Jagoda
Orhan ist entfremdet. Der deutsche Geschäftsmann türkischer Herkunft, der gerade in Belgrad eine Firma gekauft hat, hat eben einige Zeit bei einer Prostituierten im Hotel verbracht, was ihn offenbar aber emotional leer zurückgelassen hat. Auf der Straße wird er von einem merkwürdigen Mann um Geld gebeten. Kurz, bevor es zur Rangelei kommt, wird er in einem Taxi zum nächsten Lokal gekarrt und zusammen mit der Taxifahrerin an einen Tisch gesetzt. Beide kommunizieren zunächst nonverbal, indem sie in einem kleinen Wettbewerb je ein großes Bier exen. Bei der zweiten Bierrunde (diesmal mit Rakija) beginnt die Unterhaltung. Jagoda, die junge Taxifahrerin, warnt Orhan, dass er diese Nacht seine Liebste betrügen wird. Orhan verneint, dass es eine Liebste in seinem Leben gibt. Jagoda beginnt ein Gespräch über die Bedeutung einiger serbischer Wörter, die aus dem Türkischen entlehnt sind. „dert“ zum Beispiel: mehr als nur Schmerz, sondern vielmehr „Weltschmerz“ – den die Serbin bei Orhan identifiziert. Beim Tanzen erklärt sie ihm „sevdah“: ein Zustand wilder Leidenschaft, den man am besten erreicht, indem man einen Rakija trinkt, und anschließend mehrere aufgereihte Gläser mit bloßen Händen zerschlägt. Was Orhan zur allgemeinen Verwunderung auch tut. Anschließend verbringen Orhan und Jagoda eine Liebesnacht bei ihr Zuhause. Am nächsten Morgen muss der deutsche Geschäftsmann um Mittag seinen Flieger erreichen.

„Kapitel 4, Hochzeit“
(oder: „Lyrik und unbequeme Wahrheiten“)

Djurdja und Mate
Djurdja und Mate sind überglücklich. Die beiden Polizisten (sie in Belgrad, er in Zagreb tätig) heiraten und fahren gerade mit ihren Kollegen feiernd durch das flache Land. Mates Kollege, der das Brautauto fährt, erzählt dem frisch-vermählten Paar, dass er kürzlich seine Frau betrogen hat. Djurdja fordert ihn selbstsicher dazu auf, sich seiner Frau zu offenbaren, während Mate sich in der Sache unsicher ist. Als ein Auto im Korso eine Panne hat, gibt es einen kleinen Halt. Hier offenbart Mate seiner geliebten Djurdja, dass er sie betrogen hat. Völlig aufgelöst flieht die Braut mit einem der anderen Autos und liefert sich eine regelrechte Verfolgungsjagd mit ihrem Gatten. In einem Maisfeld kommt es zu einer ganzen Reihe unangenehmer Offenbarungen, die nicht nur beidseitige Untreue, sondern auch gewohnheitsmäßiges Lügen, schwere kriminelle Vergehen bei der Ausübung des Berufs und vieles mehr beinhalten. Ist Liebe stärker als diese „Lappalien“?

PRAKTIČAN VODIČ KROZ BEOGRAD SA PEVANJEM I PLAKANJEM (die wörtliche Übersetzung „Reiseführer durch Belgrad mit Singen und Weinen“ ist viel schöner als der banale deutsche Verleihtitel) verzauberte mich im April 2012 bei seiner Deutschland-Premiere auf dem goEast-Festival. Über drei Jahre später hat die Wirkung nicht nachgelassen. Nein, sie hat sich vielmehr gesteigert: die Begeisterung ist die gleiche, die analytische Annäherung daran, warum er so ein toller Film ist, noch tiefer.

Vier Kapitel...
...und ein Epilog mit je einem Chor
Oberflächlich handelt es sich nur um eine Aneinanderreihung relativ banaler Liebesgeschichten, deren Grundkonzept zumal auch recht reißbrettmäßig wirkt (vier Belgrader Liebespaare, von denen jeweils ein Partner ausländisch ist). Doch bereits, wie diese vier Liebesgeschichten zusammengefügt sind, ist bemerkenswert. Den Rahmen (von einer „Rahmenhandlung“ zu sprechen wäre nicht treffend) bildet tatsächlich eine Art Werbeclip für die Stadt Belgrad. Ein Chor singt jeweils zu Beginn jedes Kapitels ein pathos-getränktes (und übrigens wunderschönes) Liebeslied, immer mit leicht variiertem Text. Zu dem Chor wird immer mit einem langen, eleganten Kameraschwenk geführt, der meist von der letzten Szene des vorherigen Kapitels überleitet. Nach Ende des Liedes beginnt der Chor-Leiter oder die Chor-Leiterin, über ausgewählte Vorzüge der Stadt Belgrad zu dozieren. Dabei geht es der Reihenfolge nach darum, dass Belgrad eine aufregende Kulturmetropole der Zukunft ist, eine extrem sichere Stadt, ein wirtschaftlich boomender Ort und das Herz einer Region, die sich um die Verbesserung nationaler und internationaler Verkehrsanbindungen (vulgo: im Straßenbau) verdient macht. Während des kurzen Vortrags wird eine schnelle Montage von Bildern der Stadt eingeblendet: extrem kunstvoll und geometrisch arrangierte Tableaus, bei denen immer, meist recht zentral, ein küssendes Paar zu sehen ist. Das hat oft einen leicht ironisierenden Effekt, weil die leidenschaftliche Liebe der zwei Küssenden den geometrisch strengen Bildarrangements und dem todernst dozierenden Tonfall des Sprechers etwas widerspricht (und teilweise im Hintergrund eindeutig kriegszerstörte Gebäude zu sehen sind). Kurz: die Kapitel werden immer von einer kurzen Stadtsymphonie der Liebe eingeführt. Nur der Epilog wird nicht mit einer Stadtmontage, sondern mit einem Rundblick auf die Filmfiguren eingeführt.

Kapiteleinführungen...

...als Stadtsymphonien der Liebe

Bei der Deutschland-Premiere war der Regisseur Bojan Vuletić anwesend, und er nannte seinen Film ein Plädoyer für den Beitritt Serbiens zur EU (ob er den Begriff „Agitprop“ genutzt hat, weiß ich nicht mehr mit Sicherheit). War das ernst gemeint? Oder ironisch? Vielleicht beides? Sicher ist, dass der Film großserbisch-nationalistischen Fantasien eine klare Absage erteilt, die EU allerdings auch nicht als Institution im Blick hat, sondern vielmehr Belgrad als utopische Stadt der unbegrenzten Liebesmöglichkeiten zeichnet: eine Stadt, in der man nur die Hand ausstrecken muss, um Liebe greifen zu können (oder zumindest ein Bier auf ex trinken muss). Belgrad als internationale Metropole, die keineswegs nur serbisch ist und sein kann, als Ort der Begegnungen.

Die Begegnungen des Films, wenn man sie nach Nationalitäten aufschlüsselt, haben durchaus einen historischen Hintergrund. Serbisch-französische Beziehungen gehen auf eine stark frankophile Tradition im Serbien des frühen 20. Jahrhunderts zurück, die sich sowohl auf der Ebene der Diplomatie als auch in Künstlerkreisen der Zwischenkriegszeit finden lassen (vielleicht ist es nicht verwunderlich, dass die Episode um Silvie und Stefan im weitesten Sinne in der Kunstwelt spielt). Die US-serbischen Beziehungen waren in den 2000er Jahren sicherlich nicht frei von Spannungen, doch die USA waren (auch) für Serben immer eine der möglichen Projektionsflächen einer besseren Welt, was sich einer großen Immigration von Serben in die Vereinigten Staaten widerspiegelte (Nikola Tesla ist vielleicht der berühmteste unter diesen Immigranten, Peter Bogdanovich der wohl berühmteste Sohn eines serbischen Immigranten in der US-Filmwelt). Die Immigration spielt auch in der zweiten Episode von PRAKTIČAN VODIČ KROZ BEOGRAD SA PEVANJEM I PLAKANJEM eine wichtige Rolle. Für Melita sind die USA ein klassischer Sehnsuchtsort, weil sie in Belgrad in einem schlecht bezahlten Job vor sich hindarbt, für Brian ist hingegen Belgrad die ideale Projektionsfläche für seine Träume: hier kann er alles sein, was er möchte – als US-Amerikaner (und als Hilfskoch, der in der Hierarchie der Belgrader US-Botschaft sehr tief steht) kann er gewissermaßen den amerikanischen Traum nicht in seiner Heimat, sondern nur in Belgrad erfüllen. Orhan, der deutsche Geschäftsmann, der auch Sohn türkischer Immigranten ist, verkörpert gleich zwei Traditionen der serbischen Beziehungen zu anderen Ländern. Natürlich ist da die deutsche Tradition, die sich am unangenehmsten in der Nazi-Besatzung des Balkans im Zweiten Weltkrieg offenbarte (was im Film auch angesprochen wird). Doch indirekt thematisiert wird auch die Tradition jugoslawischer Gastarbeiter, die ab den 1950er Jahren in die Bundesrepublik gingen und ein transnationales, deutsch-serbisch(-jugoslawisches) Beziehungsnetz knüpften. Immer wieder richten Jagoda und andere Figuren in der Episode einzelne deutsche Worte an Orhan (und signalisieren, dass sie im Zweifelsfall seine Muttersprache verstehen – während Orhan nur einzelne serbische Worte versteht, die türkische Wurzeln haben). Auch die lange türkische (bzw. richtig: osmanische) Besatzung wird nebenbei in der Orhan-Jagoda-Episode angesprochen – und besonders ihre Folgen in der Sprache, die nun eine spielerische Annäherung zwischen den beiden Figuren ermöglicht. Die kroatisch-serbische Hochzeit in der letzten Episode spielt natürlich unausgesprochen auf die jugoslawischen Bürgerkriege der 1990er Jahre an. Wie politisch dieses Segment tatsächlich ist, ist schwer zu sagen. Ein Kroate und eine Serbin finden zueinander, wollen einen Bund fürs Leben schließen: dabei merken sie beide, dass sie, mit Verlaub, Scheiße gebaut haben, sich aber trotzdem nicht nur lieben können, sondern auch sollten. Meine Südslawisch-Kenntnisse sind nicht fortgeschritten genug, um festzustellen, inwiefern Djurdja und Mate komplett anders sprechen (ich kann mir aber nicht vorstellen, dass sie „reines Hochserbisch“ und er „reines Hochkroatisch“ spricht). Vielleicht am ehesten als politisch zu bezeichnen ist die Episode deshalb, weil die Tatsache, dass hier eine inter-nationale Ehe zelebriert wird, überhaupt nicht „problematisiert“, sondern als völlig normaler und natürlicher Fakt behandelt wird. Der Konflikt spielt auf der Ebene einer Liebesbeziehung: hier geht es nicht um Serbien und Kroatien, hier geht es um die ganze Menschheit. Ob die Vorstellung eines serbisch-kroatischen Ehepaars noch heute Skandalpotential in Serbien (oder Kroatien) hat, kann ich nicht beurteilen. Auch bin ich mir unsicher, ob der Film überhaupt in Kroatien gespielt wurde (zumindest nicht gemäß IMDb).

Da ich eben von „Natürlichkeit“ sprach: PRAKTIČAN VODIČ KROZ BEOGRAD SA PEVANJEM I PLAKANJEM ist überhaupt voller kleiner Dinge, die als völlig natürlich präsentiert werden, in einem anderen Film aber wahrscheinlich „problematisiert“, psychologisiert und wohl in einigen Extra-Dialogzeilen „abgearbeitet“ worden wären. So etwa der Altersunterschied zwischen Silvie und Stefan. Oder die sadomasochistische Natur von Melitas und Brians Beziehung, die ohne die geringste Spur von Sensationsgier als völlig normale Liebesbeziehung präsentiert wird (dies und natürlich auch die Pointe der Episode erinnert an den wunderbaren SECRETARY).

PRAKTIČAN VODIČ KROZ BEOGRAD SA PEVANJEM I PLAKANJEM ist auch ein Film voller Reime. Die erste und dritte Episode handeln vom Scheitern von dauerhafter Liebe, die zweite und vierte von einer festen Liebe im Zustand der Krise (und von der Überwindung dieser Krise). Die Stefan-Silvie-Episode und die Djurdja-Mate-Episode sind geografisch sehr mobil, wie Mini-Roadmovies aufgebaut und spielen hauptsächlich draußen bei Tageslicht, während die beiden mittleren Segmente geografisch begrenzt sind (die Brian-Melita-Episode ist ein reines Kammerspiel), in Innenräumen spielen und durch low-key-Fotografie gekennzeichnet sind. Kapitel 2 und 4 sind in Echtzeit erzählt, Kapitel 1 und 3 von Ellipsen geprägt. Besonders letztere beweisen, wie der Film extreme Erzählökonomie mit emotionaler Dichte verbindet. Die Segmente mit Stefan und Silvie, mit Orhan und Jagoda erzählen in je knapp 20 Minuten von der Genese und dem Ende einer kurzen Liebschaft. In Zeiten, in denen „Qualitätsserien“ (François Truffaut lacht sich im Filmemacherhimmel wahrscheinlich kaputt oder weint bittere Tränen!) dafür gelobt werden, dass sie Geschichten, die früher nur eine halbe Kinostunde brauchten, nun in einer kompletten Staffel auf 15 Stunden auserzählen, wirkt PRAKTIČAN VODIČ KROZ BEOGRAD SA PEVANJEM I PLAKANJEM unglaublich erfrischend. Was an Exposition ausgespart wird (Sivlie zerdrückt einen Plastikbecher im Flugzeug und rempelt griesgrämig Leute in der Flughalle an – ist also angepisst), kann der Film umso besser in seine Figuren und ihre Liebe investieren.

Kennenlernen durch gemeinsames Trinken: Jagoda und Orhan
In jeglicher Hinsicht herausragend ist das dritte Kapitel um Orhan und Jagoda, in dem Thema der Begegnung und des Verliebens auf ein fast schon abstraktes und und dabei trotzdem lebensnahes Niveau gehoben wird: ein Mann und eine Frau, die miteinander in Kommunikation treten, indem sie miteinander trinken und sich dabei herausfordernd in die Augen schauen. Einige Sekunden pures Kino. Gefolgt von dem emotionalen und inszenatorischen Höhepunkt des Films: der lange Tanz, bei dem sie sich über „sevdah“ unterhalten, gefilmt als zweieinhalbminütige Plansequenz, in der die Kamera um das Paar kreist, während sich das Dekor im Hintergrund wie ein Karussell in die andere Richtung bewegt (ich vermute, dass die beiden Darsteller sich auf einer drehenden Plattform bewegten, und die Kamera sich gleichzeitig auf Schienen um sie herum bewegte, bin mir allerdings nicht sicher). Worüber die beiden reden (nämlich „sevdah“), machen die Bilder für den Zuschauer fühlbar.


PRAKTIČAN VODIČ KROZ BEOGRAD SA PEVANJEM I PLAKANJEM lief 2013 in Deutschland nur in einigen ausgewählten Kinos. Seit Sommer 2015 ist er in Deutschland auf DVD erhältlich, mit perfekter Bild- und Ton-Qualität und deutschen sowie englischen Untertiteln.

Mit André Malraux im Spanischen Bürgerkrieg

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André Malraux war nicht nur ein bedeutender linker Schriftsteller und Intellektueller, und später ein umtriebiger gaullistischer Kulturpolitiker, er hat auch als Regisseur einen einzigen Film gedreht, und um den soll es hier gehen.

SIERRA DE TERUEL (auch ESPOIR, dt. HOFFNUNG)
Spanien/Frankreich 1939/45
Regie: André Malraux
Darsteller: Andrés Mejuto (Hauptmann Muñoz), Nicolás Rodríguez (Pilot Márquez), José Sempere (Kommandant Peña), José María Lado (Bauer), Julio Peña (Attignies), Pedro Codina (Hauptmann Schreiner)

Ein Bomber landet mit brennendem Triebwerk ...
Von den Romanen über den Spanischen Bürgerkrieg dürften Malraux'L'Espoir (Die Hoffnung, 1937) und Ernest Hemingways For Whom the Bell Tolls (Wem die Stunde schlägt, 1940) zu den bedeutendsten zählen, und beide wurden zeitnah verfilmt. Aber während Sam Woods FOR WHOM THE BELL TOLLS zu einem breiten Hollywood-Epos mit Gary Cooper und Ingrid Bergman geriet, das man auch heute noch gelegentlich im Fernsehprogramm findet, ist Malraux' Verfilmung seines eigenen Stoffs ein kleiner, aber feiner Film, der außerhalb Spaniens und Frankreichs kaum bekannt wurde (auch wenn er 1961 mal in der ARD lief). Und fast wäre er noch vor seiner Kinopremiere 1945 vom Erdboden verschwunden, denn nur zwei Kopien haben mit Müh' und Not die Zeit des Zweiten Weltkriegs überstanden. Wie es dazu kam, ist eine verwickelte und selbst fast filmreife Geschichte, die ich hier ausführlich wiedergeben will. - Zwischen Malraux und Hemingway herrschte übrigens eine innige Feindschaft. Zwar respektierten sie sich künstlerisch durchaus, aber persönlich waren sie sich zuwider. Malraux verachtete Hemingways Machismo, Angeberei und (wie er meinte) simples Gemüt, Hemingway wiederum war von Malraux' ermüdenden philosophischen Monologen und seinem Dandytum genervt, und er beschuldigte ihn, sich aus Feigheit zu früh aus dem Bürgerkrieg davongeschlichen zu haben (sicher zu Unrecht - mehr darüber weiter unten). Aber das nur am Rande - hier soll es nicht weiter um Hemingway gehen.

... und am Boden warten gebannt die Kameraden
SIERRA DE TERUEL beleuchtet in seiner kurzen Laufzeit von ca. 75 Minuten fragmentarisch eine Episode aus dem Bürgerkrieg im Jahr 1937, in einer Phase, als die republikanischen Truppen und die Freiwilligenverbände gegenüber den Franquisten bereits in der Defensive waren, aber noch nicht auf verlorenem Posten standen. Ort des Geschehens ist die Stadt Teruel und die umliegenden Dörfer und Berge. Die etwas inkohärente Struktur des Films liegt einerseits daran, dass er nicht wie geplant fertiggestellt werden konnte, und ist andererseits bereits im Roman angelegt, der keinen hervorgehobenen Helden und keinen einzelnen großen Spannungsbogen enthält, sondern kaleidoskopisch verschiedene Schauplätze und Handlungsepisoden vorstellt. Daraus hat Malraux, der auch der Hauptautor des Drehbuchs war, für den Film nur einen kleinen Ausschnitt übernommen, und er hat bewusst einen anderen Titel als den des Romans für den Film gewählt. Gedreht wurde der größte Teil in und um Barcelona, und einige Szenen, die in Spanien nicht mehr realisiert werden konnten, entstanden in Pariser Studios. Die Sprache des Films ist Spanisch, und es kamen ausschließlich spanische Darsteller zum Einsatz - für die größeren Rollen vorwiegend professionelle und semiprofessionelle Schauspieler, aber keine Stars, und es wurden auch viele Laiendarsteller verwendet, einschließlich eines gerade frisch rekrutierten Regiments republikanischer Soldaten, das für eine Massenszene am Schluss abgestellt wurde. Malraux' Schriftstellerkollege Max Aub, der auch einer der drei Regieassistenten war (die anderen beiden hießen Boris Peskine und Denis Marion), übersetzte Malraux' Dialoge ins Spanische.

Schlichte Trauerfeier für einen italienischen Flieger
Damit der Film nicht zu elliptisch oder gar unverständlich wirkt, sind über die Laufzeit verteilt sieben Texttafeln (auf Französisch) mit Erklärungen zur jeweiligen strategischen Situation untergebracht. Im Zentrum des Geschehens steht eine Brücke in der Nähe der Ortschaft Linas, die die Republikaner unbedingt zerstören müssen, um die Truppen Francos vom Nachschub abzuschneiden und den eigenen Kräften das Vorrücken zu ermöglichen. Eine Flugstaffel der republikanischen Luftwaffe hat bisher erfolglos versucht, die Brücke zu bombardieren - die eigenen Flugzeuge sind nicht nur veraltet, der Gegner ist mit seinen Jagdflugzeugen auch zahlenmäßig weit überlegen. Gerade hat einer der erfolglosen Bomber eine Bruchlandung auf dem Flugplatz hingelegt, und Kommandant Peña, der Kommandeur der Staffel, hält eine schlichte Abschiedsrede für einen tödlich verletzten italienischen Flieger, der als Freiwiliger in der Staffel diente.


Doch nicht nur die reguläre Armee kämpft gegen die Putschisten, sondern auch der größte Teil der Bevölkerung ist solidarisch mit den Regierungstruppen und beteiligt sich tatkräftig, und, wenn es sein muss, auch kämpfend am Krieg. Doch wie der Film zeigt, fehlt es an allen Ecken und Enden an der Ausrüstung: Es gibt nicht genug Gewehre für die kampffähigen Männer, auf Peñas Flugplatz funktioniert das Telefon nicht zuverlässig, und ein Teil der Flugzeuge steht nutzlos ohne Motoren im Hangar. Umso größer ist die Einsatzbereitschaft der Offiziere, Soldaten und Freiwilligen. Da ist etwa der Deutsche Schreiner, der im ersten Weltkrieg Kampfpilot war, aber seit 1918 nicht mehr geflogen ist und seitdem im Bergbau tätig war. Obwohl seine Sehkraft nachgelassen hat, meldet er sich freiwillig als Flieger - und legt prompt eine Bruchlandung hin, die er aber heil übersteht. Immerhin sieht er noch gut genug, um als Bordschütze in einem der Bomber nützlich zu sein. Bei Verdun standen er und einige seiner internationalen neuen Kameraden noch auf verschiedenen Seiten, wie einer von ihnen anmerkt. In einer anderen Episode erhalten Dörfler, die eigentlich gegen die Faschisten kämpfen sollten, nicht die erhofften Gewehre, sondern nur Dynamit. Sie machen das Beste daraus, indem sie aus dem Sprengstoff und improvisierten Behältern Sprengfallen für den vorrückenden Gegner basteln. Auch echter Heldenmut wird im Film gezeigt: Als eine informelle Kampfgruppe das von den Franquisten besetzte Teruel verlassen will, um den Bewohnern im Hinterland Anweisungen und Unterstützung zukommen zu lassen, gelingt das nur, weil zwei Mitglieder - ohne Befehl, sondern auf eigene Initiative - in einer Kamikaze-Aktion mit einem dafür geklautem Wagen eine Kanone samt Bedienungsmannschaft rammen und dabei den Tod finden. Doch im Vordergrund stehen nicht solche Heldentaten, sondern die Solidarität: Die Solidarität der zusammengewürfelten republikanischen Armee untereinander, mit der Zivilbevölkerung, und vor allem die Solidarität der Bevölkerung mit der Truppe. Während SIERRA DE TERUEL in allen Details ein sehr realistischer Film ist, ist seine Gesamtwirkung die eines Filmpoems.


Später im Film entdeckt ein namenlos bleibender Bauer in der Nähe seines Dorfes das neu angelegte Flugfeld der Franquisten, von dem aus ihre Jagdflugzeuge die Bombardierung der Brücke verhindern. (In einigen Quellen wird der Bauer José genannt, aber wenn ich nichts überhört habe, fällt der Name im Film nicht - vielleicht stammt er aus dem nicht vollständig verfilmten Drehbuch oder aus dem Roman.) Der Bauer meldet seine Entdeckung beim örtlichen Volksfrontkomitee in Linas, und von dort wird er mit einem Führer zu Kommandant Peña geschickt, um den genauen Standort zu melden, damit zuerst das feindliche Flugfeld und danach hoffentlich die Brücke bombardiert werden kann. Etwas unvorsichtig, laufen die beiden Männer im letzten franquistisch besetzten Dorf vor dem eigenen Gebiet einem pro-franquistischen Bewohner in die Arme, der den Führer erschießt. Doch der Bauer kann ihn niederstechen und gelangt unversehrt zum Flugplatz der Staffel. Weil er den Standort verbal oder auf Karten schlecht beschreiben kann, aber behauptet, dass er jederzeit dort hinfindet, wird vereinbart, dass er beim sofort anberaumten nächsten Einsatz einfach mitfliegt. Um die Erfolgsaussichten zu steigern, soll der Start der beiden noch einsatzfähigen Bomber bei Nacht erfolgen. Weil aber der Flugplatz überhaupt keine adäquate Beleuchtung hat, werden in eiligen Verhandlungen mit den Bewohnern und Bürgermeistern der umliegenden Dörfer Autos als improvisierte Lichtquellen organisiert. Der riskante Start bei Dunkelheit glückt, doch schnell zeigt sich, dass der Bauer den Mund etwas zu voll genommen hat: Aus der Vogelperspektive fehlt ihm jede Orientierung, er ist kaum in der Lage, Teruel zu erkennen, und er ist auch sichtlich verängstigt. Erst als der Bomber mit ihm in gefährlich niedriger Höhe über sein eigenes Dorf und die Straße nach Saragossa fliegt, gewinnt er doch noch den Überblick und findet den gegnerischen Flugplatz. Dieser wird erfolgreich bombardiert, und anschließend kann auch endlich die Brücke zerstört werden.

Der Bauer - vielleicht heißt er José
Aber just in diesem Moment erscheint eine gegnerische Jagdstaffel und verwickelt die beiden Bomber in einen heftigen Luftkampf. Diese Flug- und Luftkampfszenen sind sehr realistisch und durchaus spektakulär gefilmt - hier zeigt sich sehr deutlich Malraux' technisch-militärische Expertise als Führer einer Kampfstaffel im Bürgerkrieg. Einige der feindlichen Jäger können abgeschossen werden, und als schließlich eigene Jäger aus Madrid zu Hilfe kommen, drehen die Gegner ab. Doch während der eine Bomber problemlos zum Flugplatz zurückkehrt und landet, wurde der andere bereits getroffen, und er stürzt in einer unwegsamen Bergregion ab. Hier nun kommt die militärische Handlung des Films zu ihrem Ende, doch es folgt noch eine Art Epilog, der den eigentlichen Höhepunkt bildet. Wenn der ganze Film ein Poem ist, dann ist die letzte knappe Viertelstunde geradezu ein Hymnus.


Kommandant Peña nimmt telefonisch Kontakt mit den Dörfern in den Bergen auf, und er erfährt, dass die toten und verwundeten Besatzungsmitglieder bereits geborgen und in eines der Dörfer gebracht wurden. Er bittet die Dörfler, seine Männer auf Tragen in die Ebene zu transportieren, er selbst werde ihnen mit einem Krankenwagen so weit wie möglich entgegenfahren. Und die Dorfbewohner erfüllen die Bitte, doch es machen sich mehr auf den Weg, als gebraucht werden, viel mehr - Dutzende, Hunderte, Aberhunderte strömen herbei (in dieser Sequenz kamen die schon erwähnten 2000 bis 2500 Rekruten als Komparsen zum Einsatz). Einer bringt es auf den Punkt: Als ein junger Mann fragt, was das soll, weil man einem Toten doch nicht mehr helfen kann, antwortet ein Alter: "Aber ich kann ihm noch danken!" Es ist nicht einfach ein Verwundeten- und Totentransport, der sich da langsam die Berghänge hinabbewegt, es ist ein Trauer- und Ehrenzug einer ganzen Region, und, wenn man so will, stellvertretend eines ganzen Landes. Etliche Kritiker fühlten sich durch diese Sequenz an Tintorettos Aufstieg zum Kalvarienberg erinnert (Malraux hat dieses Gemälde auch in einem seiner Werke erwähnt), und einige Sekunden am Anfang sind sehr deutlich vom Motiv der Kreuzabnahme in der christlichen Kunst inspiriert, aber auch Assoziationen zu russischen Revolutionsfilmen stellen sich ein, von PANZERKREUZER POTEMKIN (die Bevölkerung von Odessa erweist dem toten Matrosen Wakulintschuk ihre Reverenz) bis zu Dsiga Wertows DREI LIEDER ÜBER LENIN (Menschenmassen pilgern zur aufgebahrten Leiche Lenins).


Bei diesem Zug kommt auch erstmals Filmmusik zum Einsatz. Abgesehen von ein bisschen diegetischer Musik (mal singen ein paar Soldaten ein Kampflied, mal spielt einer auf der Mundharmonika) gab es bis dahin nur Dialoge und Kampf- und sonstige Hintergrundgeräusche zu hören (was für den realistischen Eindruck mit verantwortlich ist). Doch für die Schlusssequenz komponierte Darius Milhaud auf Malraux' Bitte eine ungefähr 14-minütige Originalmusik mit dem Titel Cortège funèbre, was Trauerzug, Leichenzug bedeutet (in einigen Quellen ist zur Musik nur von 11 Minuten die Rede, tatsächlich dauert sie aber 14 Minuten). In der öffentlich zugänglichen Fassung des Films hört man einen Ausschnitt aus Milhauds Musik auch zu den Anfangscredits, allerdings stammen diese von 1945. Ob die Originalcredits von 1939 mit Musik unterlegt waren, ist mir nicht bekannt. - SIERRA DE TERUEL ist also ein Film über die eigenen Leute, es ist dagegen kein Film über und gegen die Faschisten, denn diese kommen im Film kaum vor. Sie sind natürlich der Gegner im Hintergrund, aber man bekommt sie fast nicht zu Gesicht, und der Luftkampf ist die einzige größere Kampfszene. Keiner der Feinde ist als Individuum erkennbar, abgesehen von dem einen, der den Führer des Bauern erschießt. Auch in den Dialogen wird der Feind nicht dämonisiert, sondern es wird nur in nüchternen taktischen Kategorien über ihn gesprochen.


Wie kam es nun zu diesem bemerkenswerten Film? Als im Sommer 1936 der Putsch von General Franco nicht niedergeschlagen werden konnte, sondern in einen Bürgerkrieg mündete, meldete sich Malraux schon nach wenigen Tagen als Freiwilliger, um zur Unterstützung der republikanischen Regierung eine internationale Flugstaffel aufzustellen. Malraux besorgte nicht nur die Flugzeuge aus Frankreich (veraltete zweimotorige Bomber vom Typ Potez 540), er wurde auch Kommandant der Staffel, obwohl er überhaupt kein Pilot war. Bis Ende 1936 flog er 65 Feindeinsätze. Ein Mitglied der Staffel, ein gewisser Jules Segnaire, hat sich später erinnert:
Ich war mit ihm über Teruel, als wir überall um uns Flakfeuer hatten. Malraux riskierte sein Leben so wie jeder der Kameraden. Aber seine Rolle war offensichtlich noch wichtiger, erstens, weil er die Staffel kommandieren musste, und zweitens, weil er sie versorgen musste. Wenn es Flugzeuge gab, dann war das ihm zu verdanken.
Ein PKW greift ein Geschütz an
Im November 1936, als Francos Truppen mit deutscher und italienischer Hilfe die Lufthoheit gewonnen hatten, wurde die Staffel in die regulären republikanischen Streitkräfte integriert, und bald darauf beendete Malraux sein fliegerisches Engagement. Er hat sich aber nicht davongestohlen, wie Hemingway meinte, sondern die spanische Regierung wusste besseres mit ihrem prominenten Unterstützer anzufangen, als ihn in weiteren Luftkämpfen zu verheizen. Die linke Volksfrontregierung, die im Februar 1936 die Wahlen gewonnen hatte, war in den meisten europäischen Staaten und in den USA nicht gut gelitten, und so gab es im Bürgerkrieg außer durch die Sowjetunion und (in bescheidenem Ausmaß) durch Mexiko keine militärische Unterstützung eines Staates für die Republik, während Franco durch Deutschland, Italien und Portugal sehr massiv unterstützt wurde. Selbst Frankreich, wo ebenfalls eine linke Volksfront regierte, blieb neutral. Deshalb reiste Malraux im Februar 1937 auf Wunsch der spanischen Regierung zu einer ausgedehnten Vortragstour in die USA und nach Kanada, um Stimmung für die Republik zu machen. Und wenn er schon keinen politischen Umschwung herbeiführen konnte, so sollte er wenigstens Geldspenden einwerben. Malraux' amerikanischer Verleger Robert K. Haas vom New Yorker Verlag Random House, mit dem Malraux auch befreundet war, und mit den Republikanern sympathisierende amerikanische Schriftsteller wie Sinclair Lewis, Clifford Odets und Hemingway leisteten Unterstützung bei der Image- und Fundraisingkampagne. Wie schon erwähnt, wurde aus der Bekanntschaft zwischen Malraux und Hemingway bald Feindschaft.

Ausbruch aus Teruel
Nach seiner Rückkehr nach Frankreich schrieb Malraux zügig seinen Roman L'Espoir nieder, der schon in den Monaten zuvor in seinem Geist und auf Notizzetteln Gestalt angenommen hatte. Das Werk kam im Dezember 1937 heraus und hatte in Frankreich unmittelbar Erfolg. Der Roman ist alles andere als ein Propagandastück, sondern er weist Malraux ebenso wie seine drei früheren Romane als einen frühen Vertreter des Existenzialismus aus, dennoch (oder vielleicht gerade deshalb) schaffte er es, gute Stimmung für die Sache der spanischen Republik zu machen. Deshalb schlug die spanische Regierung Malraux vor, einen Film aus dem Roman mit der Regierung als Produzentin und Malraux selbst als Regisseur zu machen, um den Propagandaeffekt fortzusetzen. Malraux stimmte zu, und im Mai 1938 wurde die Sache endgültig vereinbart. Gedreht wurde von Sommer 1938 bis Anfang 1939, und die Dreharbeiten fanden von Anfang an unter widrigen materiellen Umständen statt. Das Studio, das in Barcelona zur Verfügung stand, war eigentlich halbwegs modern eingerichtet, aber mittlerweile zwei Jahre Krieg hatten ihre Spuren hinterlassen und die Einrichtung arg in Mitleidenschaft gezogen. Einiges an Ausrüstung, wie Lampen, Make-up und Filmmaterial, musste aus Frankreich bezogen werden. Die Entwicklung des belichteten Film fand in Paris statt, so dass Kameramann Louis Page und Malraux die "rushes" immer erst nach ungefähr einem Monat zu sehen bekamen. Obendrein fiel regelmäßig der Strom aus, wenn es Luftalarm gab, und Luftalarm gab es fast jeden Tag.

Veraltete französische Bomber
Als die Franquisten Ende Januar 1939 Barcelona eroberten, kamen die Dreharbeiten zu einem abrupten Ende, und das Filmteam musste das Land fluchtartig verlassen. Zu diesem Zeitpunkt waren ungefähr die Hälfte der vom Drehbuch vorgesehenen Szenen abgedreht, aber wie schon geschrieben, konnte ein Teil der fehlenden Szenen in Frankreich nachgeholt werden. Weil die alte spanische Regierung nun als Produzentin ausfiel (und bald zu existieren aufhörte), sprang der Flieger, Abenteurer und spätere Politiker Édouard Corniglion-Molinier als Produzent ein. Er hatte mit seinem Freund Malraux in Spanien gekämpft, und er hatte bereits 1927 ein Filmstudio in Nizza gekauft, und bis 1938 auch schon mindestens vier Filme selbst produziert, darunter Marcel Carnés DRÔLE DE DRAME und MOLLENARD, der schon aufgrund seines Regisseurs Robert Siodmak Interesse erweckt. Bei SIERRA DE TERUEL dürfte er nur für die Organisation des Nachdrehs zuständig gewesen sein, während vermutlich nur wenig oder kein Geld von ihm im Film steckt. SIERRA DE TERUEL war der letzte Film Corniglion-Moliniers als Produzent, der Zweite Weltkrieg lenkte sein Geschick in andere Bahnen.

Bomberbesatzung
Im Sommer 1939 schließlich war SIERRA DE TERUEL soweit fertig gedreht und geschnitten, dass Malraux zufrieden war, und die überbrückenden Zwischentitel sowie französische Untertitel für die Dialoge waren angefertigt. Am 11. August kam es zu einer privaten Vorführung des Films, und unter den eingeladenen Zuschauern war auch der mit Malraux befreundete Louis Aragon. Wie alle anderen Anwesenden war er begeistert, und er verfasste eine ausführliche und sehr lobende Kritik, die schon am nächsten Tag veröffentlicht wurde. Es ist dies die einzige Rezension, die noch vor dem Zweiten Weltkrieg erschien, und der die Originalfasssung des Film zugrunde liegt. SIERRA DE TERUEL hätte im Herbst in den französischen Kinos anlaufen sollen, doch der Zweite Weltkrieg machte einen Strich durch die Rechnung. In Frankreich wusste man nicht so recht, ob sich nicht Franco für die militärische Hilfe revanchieren und auf deutscher Seite in den Krieg eintreten würde. Um ihn nicht zu provozieren, wurde die Aufführung des Films von der französischen Regierung verboten. Die Initiative dazu kam von Marschall Pétain, der seit März 1939 französischer Botschafter im nunmehr franquistischen Spanien war. Man darf also vermuten, dass Franco selbst oder jemand aus seinem Umfeld einen Wink in Richtung Paris gab.

Der Bauer verliert auf seinem vermutlich ersten Flug die Orientierung
Als nach der Kriegserklärung in Frankreich die allgemeine Mobilmachung erklärt wurde, wurde auch Malraux eingezogen. Im Juni 1940 wurde er verwundet und gefangengenommen. Er war in der Kathedrale von Sens interniert, die in ein Kriegsgefangenenlager umfunktioniert worden war, doch im November des Jahres gelang ihm die Flucht, und er schlug sich ins unbesetzte Südfrankreich durch. Mit sich im Gepäck hatte er die, wie er glaubte, einzige noch existierende Kopie von SIERRA DE TERUEL. Denn als die Nazis das nördliche Frankreich besetzten, machten sie nicht nur Jagd auf missliebige Personen, sondern auch auf missliebige Filme, und zu denen zählte auch SIERRA DE TERUEL. Das Negativ und alle erreichbaren Kopien wurden gezielt aufgespürt und vernichtet. Wenn die bisher erzählte Entstehungsgeschichte von SIERRA DE TERUEL selbst schon filmreif ist, so beginnt nun eine neue Episode, die wiederum Stoff für einen Film liefern könnte, in dem ein neuer Held die Bühne betritt. Und der heißt Varian Fry.

Spanien aus der Sicht eines Bombers
Nach der schnellen Niederlage der französischen Streitkräfte im Sommer 1940 wurde das von Vichy aus regierte unbesetzte Südfrankreich zu einem vorläufigen Zufluchtsort für Flüchtlinge aus halb Europa. Es war aber auch eine riesige Mausefalle, aus der kaum ein Entkommen möglich schien. Deshalb gründeten schon im Juni 1940 deutsche und österreichische Emigranten, amerikanische Intellektuelle und gut betuchte liberale Gönner das Emergency Rescue Committee (ERC), um Flüchtlinge aus Frankreich auszuschleusen, wobei das besondere Augenmerk auf Künstlern und Intellektuellen lag. Als Agent des ERC vor Ort wurde der Harvard-Absolvent und Journalist Varian Fry (1907-67) nach Frankreich geschickt, um von Marseille aus eine Fluchthilfeorganisation aufzubauen. Und das tat er mit ungeahntem Erfolg. Fry organisierte ein Netz von Fluchthelfern, besorgte echte und gefälschte Pässe und Visa, versorgte Flüchtlinge mit Geld, und in ziemlich genau einem Jahr konnte er zwischen 2000 und 4000 Menschen aus Frankreich ausschleusen, einen Teil per Schiff aus dem Hafen von Marseille, die meisten aber zu Fuß über die Pyrenäen nach Spanien, von wo aus sie mit Duldung der spanischen Behörden nach Portugal gelangten, wo dann die Weiterreise in die USA oder in andere Länder möglich war. Fry war durch seine Tätigkeit als Journalist für mehrere international ausgerichtete amerikanische Magazine, und dann durch seine Fluchthilfetätigkeit, mit dem Aussehen wichtiger europäischer Künstler, Intellektueller und politischer Aktivisten vertraut. Als er eines Tages im Dezember 1940 in der Nähe von Nizza zu tun hatte, erkannte er in einer Straßenbahn Malraux, der gerade erst vor einigen Tagen im unbesetzten Teil Frankreichs angekommen war.

Die ominöse Brücke wird zerstört
Fry sprach Malraux an, um ihm seine Hilfe anzubieten, doch Malraux wollte zunächst in Frankreich bleiben. Malraux besuchte aber im Januar 1941 Fry in Marseille, und in den folgenden Wochen und Monaten trafen sie sich noch mehrmals, um dieses und jenes zu besprechen. Und dabei äußerte Malraux auch die Bitte an Fry, die Kopie von SIERRA DE TERUEL außer Landes zu schmuggeln, am besten in die USA. Denn Malraux wusste, dass er von der Gestapo gesucht wurde, außerdem rechnete er damit, dass auch der Vichy-Staat irgendwann von den Deutschen besetzt werden würde (was dann ja auch geschah), so dass sein Film in Frankreich auf Dauer nicht sicher war. Fry war von der Bedeutung von SIERRA DE TERUEL als Kunstwerk und als Zeitdokument schnell überzeugt und sagte seine Hilfe zu. Doch das war leichter gesagt als getan. Zwar konnten auf der Pyrenäenroute auch kleinere Gegenstände außer Landes geschafft werden, doch waren die in acht Dosen verpackten Filmrollen dafür zu unhandlich und auffällig. Und in Spanien wäre der Film natürlich sofort vernichtet worden, wenn man ihn entdeckt hätte. So kam als sicheres Transportmittel für Fry nur Diplomatenpost in Betracht. Das unbesetzte Frankreich war formal ein unabhängiger Staat, mit dem die USA nach wie vor diplomatische Beziehungen unterhielten, und Diplomatenpost konnte somit ohne Kontrollen durch französische Behörden das Land verlassen. Doch auch hier taten sich Schwierigkeiten auf, denn das amerikanische Außenministerium stand den Aktivitäten des Emergency Rescue Committee ablehnend gegenüber. Der liberale Diplomat Harry Bingham hatte als amerikanischer Vizekonsul in Marseille entgegen den Anweisungen seiner Vorgesetzten Fry tatkräftig unterstützt (eigentlich hieß er Hiram Bingham IV - sein Vater, der Gelehrte und Politiker Hiram Bingham III, hatte einst als Archäologe die Ruinen von Machu Picchu ausgegraben). Doch Anfang Mai 1941 wurde Bingham von seinem Posten abberufen und nach Lissabon versetzt (eine offizielle Begründung dafür gab es nicht, aber man darf es als Strafversetzung betrachten). Weder im Konsulat in Marseille noch in der amerikanischen Botschaft in Vichy konnte Fry etwas für Malraux ausrichten.

Bordschützen gegen Jagdflieger
Im Juli 1941 wurde die Lage langsam eng. Frys Tätigkeit blieb den französischen Behörden und den Deutschen natürlich nicht auf Dauer verborgen. Die Nazis protestierten, und sowohl die Behörden als auch die amerikanische Botschaft legten Fry immer dringender nahe, seine Aktivitäten zu unterlassen, was der aber beharrlich ignorierte. Bereits im Dezember 1940 war er zum ersten Mal verhaftet, aber nach einigen Tagen wieder freigelassen worden. Im Juli nun wurde er ins Polizeikommissariat von Marseille vorgeladen, wo man ihm eröffnete, dass er bis spätestens 14. August Frankreich verlassen müsse, andernfalls werde er verhaftet. Ohne Fry hatte Malraux kaum noch eine Chance gehabt, den Film auszuschmuggeln, aber fast im letzten Moment kam die rettende Idee. Malraux hatte bei einem seiner Gespräche mit Fry erwähnt, dass er Archibald MacLeish kannte, einen liberalen Dichter und Politiker, der von 1939 bis 1944 auf persönlichen Wunsch von F.D. Roosevelt auch Leiter der amerikanischen Kongressbibliothek in Washington war. Nun entstand der Plan, Malraux' Kopie von SIERRA DE TERUEL der Library of Congress als Geschenk anzubieten, um auf diesem Weg doch noch einen Transport per Diplomatenpost zu ermöglichen. Malraux stellte Fry eine schriftliche Vollmacht aus, damit der nach eigenem Ermessen alle nötigen Schritte ergreifen konnte, und damit wurde Fry wieder einmal im Konsulat in Marseille vorstellig. Diesmal war man wohlwollender als sonst, vielleicht, weil man wusste, dass man den Störfaktor Fry bald los sein würde. Generalkonsul Fullerton, der Chef von Bingham bis zu dessen Versetzung, schickte am 25. Juli ein Telegramm ans Außenministerium nach Washington mit Malraux' Angebot und der Bitte, es an MacLeish weiterzuleiten. Fry hatte im Konsulat ausdrücklich um Vertraulichkeit gebeten, weil nicht nur der Film im Fall der Konfiszierung unweigerlich vernichtet werden würde, sondern auch Malraux nach wie vor von der Auslieferung an die Gestapo bedroht war. Doch das Telegramm wurde unverschlüsselt gesendet, und wahrscheinlich wurde es von den französischen Behörden abgehört. Ohnehin war Fullerton offenbar nicht ganz bei der Sache - im Telegramm wird der Film "Terruel Dela Sierra" genannt.

Bergdorf
Die Mühlen der amerikanischen Bürokratie mahlten offenbar nicht besonders schnell. Erst am 4. August wurde das Telegramm vom Außenministerium an die Kongressbibliothek weitergereicht. MacLeish war gerade abwesend, aber sein Stellvertreter und spätere Nachfolger Luther Evans erkannte den Wert des Angebots und nahm es in seiner Antwort am nächsten Tag an. Wieder ließ man sich im Ministerium Zeit - am 15. August wurde die Bibliothek informiert, dass ein entsprechendes Telegramm nach Marseille geschickt worden war. Amerikanische Konsulatsbeamte setzten Malraux direkt davon in Kenntnis. Als der Fry informieren wollte, erfuhr er, dass sein Freund inzwischen in Gewahrsam genommen und ohne weitere Umschweife per Zug über Spanien nach Portugal abgeschoben worden war. Fry machte später das vermutlich abgehörte Telegramm für seine schnelle Abschiebung mit verantwortlich. Ohne Fry musste Malraux nun selbst mit den Konsulatsmitarbeitern klarkommen, und die standen einem bekannten Linken wie ihm misstrauisch bis feindselig gegenüber (Bingham war hier wirklich eine einsame Ausnahme). Und prompt wurden ihm Steine in den Weg gelegt: Trotz der Anweisung aus Washington sollte er eine Bescheinigung beibringen, dass die Filmrollen nicht feuergefährlich sind, sonst würden sie nicht in die Diplomatenpost aufgenommen. Das konnte er nicht, und so passierte erst einmal nichts - und Monate vergingen.

Kreuzabnahme, säkulare Art
Nach seiner Ausweisung zog Fry noch einige Wochen lang von Lissabon aus die Fäden seiner Organisation, dann kehrte er im November 1941 in die USA zurück. Unter den Dingen, die er dort als erstes erledigte, war auch, sich nach dem Verbleib von SIERRA DE TERUEL zu erkundigen. Von Malraux' amerikanischem Freund und Verleger Robert Haas, dem Malraux über seine Lage geschrieben hatte, erfuhr Fry, dass der Film immer noch in Frankreich war. Deshalb schrieb er am 21. November einen Brief an Archibald MacLeish, in dem er die Situation ausführlich darlegte und auf die Dringlichkeit und die nötige Vertraulichkeit hinwies. Wie schon Monate zuvor Luther Evans, reagierte nun MacLeish sofort. Am 25. November schrieb er einen Brief an den Außenminister persönlich, in dem er um Erledigung der Angelegenheit bat, und nun war es MacLeish, der Vertraulichkeit einforderte. Im Ministerium ließ man sich wie gewohnt Zeit, aber am 19. Dezember erhielt MacLeish eine Eingangsbestätigung seines Schreibens und die Mitteilung, dass nun ein weiteres Telegramm mit dem gewünschten Inhalt nach Marseille geschickt wird. Am 17. Januar schließlich informierte das Ministerium MacLeish, dass die Nichtentflammbarkeit des Films zertifiziert wurde und er nun per Diplomatenpost expediert wird. Diese Sendung machte dann aber offenbar noch eine längere Rundreise, denn erst am 1. Juni 1942 trafen die acht Filmrollen in der Kongressbibliothek ein - fast ein Jahr, nachdem Malraux sein Angebot an die Bibliothek gemacht hatte. Malraux erfuhr erst Wochen später von Robert Haas, der MacLeish angerufen hatte, dass sein Film endlich in Sicherheit war.

Ein Verwundeten- und Leichentransport wird zu einer Prozession
Die Kongressbibliothek entlieh SIERRA DE TERUEL bald darauf an das Museum of Modern Art in New York. Iris Barry, die Filmkuratorin des MoMA, ließ eine einleitende Texttafel hinzufügen, in der der Film vorgestellt und gelobt, aber auch als "zu lang" bezeichnet wird, aber von sonstigen Eingriffen blieb diese Kopie verschont. In dieser Form wurde SIERRA DE TERUEL im November 1944 in den Räumlichkeiten des Museums und dann nochmal im April 1945 andernorts in Manhattan vorgeführt, dann wurde er an die Kongressbibliothek zurückgegeben. Dort wurde er eingemottet - und dann praktisch vergessen. Fast drei Jahrzehnte dauerte der Dornröschenschlaf dieser Kopie. Erst der amerikanische Malraux-Experte Walter G. Langlois, damals an der University of Kentucky, spürte sie auf und berichtete im Januar 1973 in einem ausführlichen Artikel in der hauseigenen Zeitschrift der Kongressbibliothek über den Film, und wie er nach Washington gelangte. Dieser sehr lesenswerte Text bildet die wichtigste Quelle für die zweite Hälfte meines Artikels.


Doch unterdessen hatte SIERRA DE TERUEL - unter einem neuen Titel - schon längst den Weg in die Welt gefunden. Denn als 1944 Paris befreit worden war, wurde Inventur gemacht, und dabei tauchte in einem Lager von Pathé eine weitere Kopie des Films auf, verpackt in einer Kiste, die fälschlich mit "DRÔLE DE DRAME" beschriftet war. Wie schon erwähnt, war auch dieser Film von Édouard Corniglion-Molinier produziert worden. Ob es sich dabei um ein Versehen oder bewusste Tarnung handelte, konnte im Nachhinein nicht mehr ermittelt werden. Diese Version kaufte dann ein Produzent oder Verleiher, dessen Identität anscheinend nebulös ist - vielleicht handelte es sich dabei um einen gewissen Arys Missotti. Wer immer es war, er wollte den Film noch 1944 in die französischen Kinos bringen, wurde jedoch von den Kinobetreibern abgewiesen, die wohl dachten, dass sich ein kriegsmüdes Publikun nicht dafür interessieren würde. Doch der neue Besitzer des Films gab nicht auf - um ihn den Kinobesitzern doch noch schmackhaft zu machen, nahm er gravierende Eingriffe vor. Als erstes wurde der Film in ESPOIR umbenannt, um sich an den immer noch populären Roman anzuhängen (im Gegensatz zum Romantitel L'Espoir kommt der neue Filmtitel aber ohne Artikel aus). Immerhin wurde der Originaltitel als Untertitel in den (auch neu gestalteten) Credits und auf Plakaten beibehalten. Sodann wurden die schon 1939 hergestellten französischen Untertitel durch von Denis Marion neu übersetzte ersetzt, weil, wie man meinte, sich der Sprachgebrauch in den vergangenen sechs Jahren soweit verändert hatte, dass manches an den alten Untertiteln mittlerweile unverständlich geworden war. Auch die erklärenden Zwischentitel wurden wohl nochmal überarbeitet.

Kommandant Peña und eine Bäuerin
Als dritte Maßnahme wurde eine dreiminütige gefilmte Einführung von Maurice Schumann dem Film vorangestellt. Schumann war ein prominenter Widerstandskämpfer und nach dem Krieg ein Politiker, der es bis zum Außenminister unter Präsident Pompidou brachte. In der Einführung sitzt Schumann in Uniform an einem Schreibtisch und spricht über den Film, wobei er Parallelen zwischen dem Kampf der Republikaner in Spanien und dem Kampf der Résistance in Frankreich zieht. Damit sollte wohl die Handlung näher an das französische Publikum herangerückt werden, das sich nach der Befreiung gern als ein Volk von lauter Résistance-Kämpfern sah. Als gravierendste Maßnahme wurde SIERRA DE TERUEL bzw. nun ESPOIR gekürzt. Ungefähr zur selben Zeit wie Iris Barry hielt auch der neue Besitzer den Film für zu lang, und auch für zu repetitiv - letzteres deshalb, weil eine Totale mit der Prozession in Form eines gespiegelten Z am Berghang in der Schlusssequenz mehrfach vorkam, um den epischen Charakter des Geschehens zu betonen. Davon blieb nur die letzte Instanz ganz am Schluss übrig. Insgesamt wurden je nach Quelle drei oder über vier Minuten aus dem ohnehin nicht langen Film herausgeschnitten, und die Kürzungen betrafen hauptsächlich die Schlussphase des Films. Dabei hätte gerade diese Sequenz unversehrt bleiben müssen, denn durch die Eingriffe wurde nicht nur der von Malraux intendierte visuelle Fluss gestört, sondern auch Milhauds Musik hörbar zerschnitten. An all diesen Änderungen wurde Malraux nicht beteiligt. Wahrscheinlich wurde er auch durch sein erneutes militärisches Engagement gegen Kriegsende und dann durch seinen Einstieg in die Politik daran gehindert, sich 1944/45 um seinen Film zu kümmern.

Epische Totale - im Original mehrfach, im Kino nur einmal zu sehen
Die Änderungen hatten vordergründig Erfolg: ESPOIR kam im Juni 1945 nun doch noch ins Kino. Von den Kritikern wurde er wohlwollend aufgenommen, und er gewann sogar einen Prix Louis-Delluc, aber an der Kasse fiel er durch. Er wurde bald wieder aus dem Verleih genommen und eingemottet, wenn auch nicht so gründlich wie die Washingtoner Version. Ein Vierteljahrhundert später erwarb eine Firma mit dem schönen Namen Les Grands Films Classiques die Rechte und brachte SIERRA DE TERUEL (der auch jetzt noch ESPOIR hieß) in die Arthouse-Kinos - mit ungeahntem Erfolg. Publikum und Kritik waren begeistert, nicht nur in Frankreich, sondern auch im Ausland. Der zweite Frühling des Films sowie die Wiederauffindung der Originalfassung schlugen sich auch publizistisch in Büchern und Zeitschriftenartikeln nieder - die 70er Jahre sind das Jahrzehnt der intensivsten Beschäftigung mit SIERRA DE TERUEL. Danach flaute das Interesse wieder etwas ab, verschwand aber nicht vollständig. So hat etwa Godard Ausschnitte aus dem Film in HISTOIRE(S) DU CINÉMA: UNE VAGUE NOUVELLE (1998) und FILM SOCIALISME (2010) untergebracht.

Maurice Schumann bei seiner Einleitung
In Spanien durften der Film ebenso wie Malraux' Roman erstmals 1978 erscheinen. In den 90er Jahren beschloss man in der Filmoteca Española in Madrid, eine Kopie zu erwerben, und nach Prüfung des Ausgangsmaterials entschied man sich naheliegenderweise für die Fassung der Kongressbibliothek. Es wurde eine hochwertige Nasskopie angefertigt, die Kratzer praktisch unsichtbar macht, zusätzlich wurde der Ton digital verbessert. Diese vermutlich bis heute beste Fassung von SIERRA DE TERUEL wurde 1997 beim Filmfestival in San Sebastián gezeigt. Die Fassung von 1945/1970 gibt es auf einer spanischen und einer französischen DVD, die in Aufmachung und Ausstattung fast identisch sind. Im Gegensatz zur spanischen hat die französische Scheibe jedoch nicht nur französische, sondern auch englische Untertitel. Die Schumann'sche Einleitung liegt nicht im Film selbst, sondern im Bonusmaterial vor (ich nehme an, dass sie bereits 1970 wieder entfernt wurde, weiß es aber nicht sicher). Für die DVDs wurde 2003 eine "Restaurierung" vorgenommen, aber dabei wurde nur die Bild- und Tonqualität verbessert (mit sehr bescheidenem Erfolg), dagegen wurde kein fehlendes Material ergänzt. Eine Veröffentlichung der Washingtoner bzw. der Madrider Fassung auf DVD oder Blu-ray wäre sehr wünschenswert. Derzeit findet man die 1970er Fassung auch auf YouTube, allerdings in grausam schlechter Bildqualität, obendrein mit stark beschnittenem Bild und falschem Seitenformat, dafür mit guten deutschen Untertiteln.

Ein Film ändert nach sechs Jahren seinen Titel; rechts die erste Texttafel

Entspannt angeln mit Howard Hawks

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MAN‘S FAVORITE SPORT? („Ein Goldfisch an der Leine“)
USA 1964
Regie: Howard Hawks
Darsteller: Rock Hudson (Roger Willoughby), Paula Prentiss (Abigail Page), Maria Perschy (Isolde „Easy“ Mueller), Norman Alden (John Screaming Eagle), John McGiver (William Cadwalader), Roscoe Karns (Major Phipps), Forrest Lewis (Skaggs), Charlene Holt (Tex Connors)


In meinem Jahresrückblick zu 2015 habe ich den guten Vorsatz formuliert, mich künftig mehr mit Howard Hawks zu beschäftigen. Eine Neusichtung von THE BIG SLEEP offenbarte mir, dass dieser Film auch weiterhin erst einmal nicht in meinem persönlichen film-noir-Kanon aufgenommen wird (sondern höchstens in den erweiterten Kreis). MAN‘S FAVORITE SPORT?, den ich kürzlich zum ersten Mal sah, hat mich hingegen sofort vollkommen umgehauen...

In wenigen Tagen muss Angelexperte Roger das Angeln
lernen. Ein Blick in die selbstgeschriebene Broschüre
bietet bisweilen willkommene Hilfe.
Roger Willoughbys Tag fängt nicht so gut an. Auf dem Weg zur Arbeit fährt eine Frau mit ihrem Auto gefährlich nahe an ihn heran und klaut ihm dann auch noch seinen Parkplatz. Roger ist bei Abercrombie & Fitch im Bereich Outdoor-Ausrüstung angestellt, gilt als ausgewiesener Experte in Sachen Angeln und hat auch die Broschüre „Fishing Made Simple“ verfasst. An diesem Morgen wird Roger zu seinem Chef Cadwalader zitiert. Dort trifft er auch die Frau wieder, die ihm den Parkplatz geklaut hat: Abigail Page, eine PR-Agentin, die zusammen mit Isolde Mueller, der Tochter eines Angelcamp-Besitzers, ganz besondere Pläne für Roger bereit hält. Er soll nämlich Abercrombie & Fitch als Kandidat bei einem Angelwettbewerb repräsentieren, an dem unter anderem auch die Kunden teilnehmen, die er in seinem Job als Angelexperte berät. Eine Idee, die Roger ganz und gar nicht gefällt und wenig später muss er den beiden Frauen unter Einhaltung strikter Geheimhaltungsmaßnahmen auch erklären, warum: er hat in seinem ganzen Leben noch niemals geangelt (und verabscheut außerdem Fisch in jeglicher Form). Abigail will dennoch nicht locker lassen, droht Roger gar, sein Geheimnis preiszugeben, wenn er am Wettbewerb nicht teilnehmen sollte bietet ihm aber dennoch an, ihm in den wenigen Tagen, die bis zum Beginn des Wettbewerbs bleiben, das Angeln beizubringen. Am Lake Wakapoogee beginnt dann ein mehrtägiges, hartes Training – lebensgefährliche Anglerhosen, ein falscher Indianer mit einem großen Appetit für 5- und 20-Dollar-Scheine, motorradfahrende Bären, hartnäckige Reissverschlüsse und die stets unermüdliche, schnellredende und „strangely attractive“ Abigail säumen Rogers qualvollen Weg in Richtung Angelmeisterschaft...

MAN‘S FAVORITE SPORT? ist nicht der erste Filmtitel der fällt, wenn Howard Hawks erwähnt wird. Bis mir der OPAC der Stadtbücherei „Ein Goldfisch an der Leine“ nach entsprechender Suche ausspuckte, hatte ich selbst von dem Film noch nie gehört. Und tatsächlich gilt er im Allgemeinen nicht gerade als Schwergewicht in der Hawks-Filmografie. Er lief in den USA ganz okay, aber nicht überragend, Kritiken waren freundlich, aber verhalten. Wie so oft sah dies auf der anderen Seite des Atlantiks ganz anders aus, und die Franzosen, die Hawks in den 1950er Jahren zu einem der weltgrößten Filmkünstler erklärt hatten, standen auch 1964 zu ihm: Jean-Luc Godard als individueller Kritiker wie auch die gesamte Redaktion der cahiers du cinéma kürten MAN‘S FAVORITE SPORT? zu einem der 10 besten Filme des Jahres. Der britische Filmjournalist Phil Hardy ging in einem kurzen Review noch weiter, als er MAN‘S FAVORITE SPORT? als „the quintessential Hollywood auteur movie“ bezeichnete.

Aus einer recht spannungsarmen Geschichte mit einer etwas weit hergeholten Grundsituation zaubert Howard Hawks in seinem viertletzten Film tatsächlich ein Stück pure und dabei wolkenleichte Kinomagie. Was diese ausmacht und vor allem wie sie entsteht, ist schon schwieriger zu erklären. Ich denke, man kann es mit einer Trias aus gelungenen Einfällen und liebevollen Details, wunderbar liebenswürdigen Charakteren (gespielt von tollen Schauspielern) und einer Grundatmosphäre totaler Entspannung zumindest ansatzweise erläutern.

MAN‘S FAVORITE SPORT? platzt stellenweise vor lauter Einfälle, Ideen, Details. Sie sind teilweise nur kleine Witze, doch tragen sie zur besonderen Textur des Films bei und werden dank des Einsatzes der Darsteller und Hawks‘ unendlichen Inszenierungstalent zu großen Momenten.
Die Opening Credits mit dem beschwingten Titelsong etwa, die von einer merkwürdigen Montage unterlegt werden: Bilder von Frauen, die Sport treiben, umrahmt von der Kontur der Buchstaben aus dem Filmtitel. Fast etwas pop-art-mäßig. Die sich drehende Karusell-Bar, an der sich Roger mit Abigail und Easy unterhält, kurz, bevor er ihnen das große Geständnis macht: sie verleiht der Dialogszene eine ungemeine Dynamik und bietet natürlich auch einen Aufhänger für einen Gag. Sein Geständnis macht Roger in einem Klaviermuseum (!), aber erst, nachdem er alle automatischen Klaviere im Raum mit Kleingeld gefüttert hat und damit eine dröhnende Kakophonie auslöst (damit niemand sonst sein Geständnis hört). Die Kuss-Szene, die brutal von einem kleinen „Stummfilmschnipsel“ unterbrochen wird, in dem zwei Züge aufeinander kollidieren (was ihr einen sehr modernistischen Touch gibt: so etwas würde man eher in einem „postmodernen“ nouvelle-vague-Film und nicht in einem „klassischen“ Hollywood-Film erwarten). Das Dinner, bei dem Abigail in unkontrolliertes Lachen ausbricht, nachdem Roger seinen ersten Bissen Salat gegessen hat, und er stimmt darauf ein (bis er den Grund für ihre Heiterkeit erfährt). Der Regen, der auf die dünnen Blusen Abigails und Easys niederprasselt, so dass Roger zunehmend vom Anblick der beiden geniert ist, während sie seelenruhig weiterreden. Bis hin zu kleinen Details: das auffällige, knallrote Jacket, das Roger eines Abends trägt oder das Gemälde mit Wurst-Stilleben an einer Wand in Cadwaladers Hütte. Alles kleine Details, die MAN‘S FAVORITE SPORT? eine sehr dichte und einzigartige Textur geben, ohne dabei seine Leichtigkeit zu untergraben.

Unterredung im pop-artig dekorierten Klaviermuseum.
Zwischen Roger und Abi eine nackte Frau als Vermittlerin.
Kuss mit Zug-Crash. Eine Inspiration für David Cronenberg?
Wichtige Zutaten für ein gesundes Leben: Lachen und Salat
Ein modebewußter Film: Blusen mit Durchsichtsoption...
...und ein Jackett aus 100% Technicolor-Wolle.
Voller Körpereinsatz beim Camp-Aufbauen und beim Angeln
MAN‘S FAVORITE SPORT? war als Variation von BRINGING UP BABY gedacht und ursprünglich sollte auch Cary Grant die Hauptrolle spielen. Grant lehnte die Rolle ab, weil er nicht als 59-Jähriger mit der zum Drehzeitpunkt 24-jährigen Paula Prentiss spielen wollte. Wenn man sieht, wie glaubwürdig Hawks John Wayne in RIO BRAVO als love interest von Angie Dickinson inszenieren konnte (wie viele Dinge in diesem Film eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, das trotzdem perfekt funktioniert), dann hätte es auch mit Grant sicher gut geklappt. Dennoch möchte ich Rock Hudson in der Rolle des Roger Willoughby nicht missen. Hudson, den ich als Darsteller nur in den großen Douglas-Sirk-Melodramen kenne, ist tatsächlich ein großartiger Komödiant. Nicht nur mimisch, sondern tatsächlich auch körperlich: ein echter Slapstick-Künstler!
Roger wird von Cadwalader zum Angelcamp geschickt, aber er soll dort nicht in den Bungalows nächtigen, sondern unter freiem Himmel campen: das sei einfach glaubwürdiger für einen Angelexperten wie ihn und außerdem könne er dabei auch ein paar Neuheiten aus dem Laden austesten. Als Roger sein Plätzchen gefunden hat und anfängt, sein Camp zu bauen, folgt der Moment, wo Hudson sein großes Talent unter Beweis stellt. Roger ist von dem ganzen Equipment sichtlich überfordert, und es dauert nicht lange, bis er tollpatschig darüber stolpert und zu akrobatischen Einlagen gezwungen wird. Als er kurz danach ein Zelt versucht aufzubauen, gibt es zwar keine Stolperakrobatik mehr, aber zumindest eine absolut herzzerreissende und zugleich brüllend komische Hilflosigkeit angesichts der Einzelteile, die sich nicht zusammenfügen wollen.
Abigail und Easy beobachten das aus einer gewissen Distanz mit sichtlichem Amüsement. Und so tut es auch die Kamera. Später, wenn Roger beim Training bzw. beim Wettbewerb selbst fischt, passiert das gleiche: mit großem mimischem und körperlichen Einsatz legt sich Hudson ins Zeug und die Kamera lässt ihn in Ruhe gewähren. Ein toller Schauspieler, viel Wasser und eine Angelrute, die meist nicht richtig funktionieren will – was braucht man mehr für große Filmmomente?

Paula Prentiss, die später von Hawks selbst mild kritisiert wurde, vereint hingegen perfekt Sexappeal und Smartness zu einer tollen Variation der Hawksianischen Frau. Sie sieht großartig aus, ohne wirklich eine klassische Hollywood-Schönheit zu sein. Maria Perschy entspricht eher diesem Schönheitsideal und ohne deutschen Akzent wäre sie, wenn dieser Film von einem konventionelleren Regisseur gemacht worden wäre, wohl eher als Hauptdarstellerin gecastet worden und Prentiss als „Sidekick“. Tatsächlich ist Prentiss, wie ihre Abigail von Roger genannt wird, „strangely attractive“. Sie ist unglamourös in einem sehr positiven Sinne: keine Diva, sondern ein angenehm geerdeter Mensch. Prentiss‘ Rolle ist weniger slapstick-mäßig als Hudsons, dafür kann sie mit vielen schnellen Dialogen glänzen, bei denen ihre Abigail Roger meistens mitten im Satz unterbricht. „I hate domineering women“, sagt Roger einmal. Als Zuschauer kann man sie nur lieben.

Klassische Lead-Sidekick-Rollen vertauscht?

John Screaming Eagle: immer im Richtigen Moment mit der
richtigen Dienstleistung da (wenn der Preis stimmt)
Meine Lieblingsnebenfigur ist John Screaming Eagle, der im Angelcamp arbeitet (oder vielleicht einfach nur so da ist, das ist aber auch unwichtig). Ein Mann, der als Indianer gekleidet ist, gestelzt wie ein Klischee-Indianer spricht, tatsächlich aber nur ein kleiner, aber sympathischer Trickbetrüger mit wahrscheinlich genauso rein-angelsächsischem Hintergrund wie Willoughby, der sich den Touristen als Stammesführer vorstellt, um ihnen besser und authentischer pseudo-indianischen Krimskrams für teures Geld verkaufen zu können – letzteres funktioniert bei Cadwalader übrigens vorzüglich! Als er nach einem kurzen Gespräch mit Roger von diesem als Betrüger entlarvt wird, spricht er auch mit normaler Stimme normales Englisch. Für den Rest des Films wird John zu einer Art Schutzengel Rogers, der immer wieder als Beobachter im Hintergrund das Treiben der Hauptfigur beobachtet und zwischendurch auch eingreift. Was dann Roger meist einen Schein kostet. John Screaming Eagle hört etwa mit, dass Roger nicht angeln kann: Roger muss zahlen, damit die Information geheim bleibt. John Screaming Eagle beobachtet, wie Roger einen Fisch auf außergewöhnliche Weise fängt und dabei ins Wasser fällt: das kostet nichts, aber den Selbstgebrannten, den er zufällig mit dabei hat und der Roger aufwärmen kann, lässt er sich ebenso entlohnen wie später die Information, wo Abigail sich versteckt hat. Immer, wenn John Screaming Eagle sich an ihn mit verstellter „Indianer“-Stimme wendet, weiß Roger, dass er bald etwas bezahlen muss. Wirklich böse kann man dem Mann natürlich nicht sein, denn auch er muss ja irgendwie leben. Und zudem bereichert er mit seiner schillernden Art den Film – und mit seinen Konfuzius-Zitaten (Konfuzius war schließlich „chinese-Indian“!), die sich rasch verselbständigen und von den anderen Figuren „genutzt“ werden. „Confucius say 5 birds in hand worth 20 who fly away“ sagt dann Roger zu John, als er darauf beharrt, dass eine bestimmte Dienstleistung (von der er nicht wusste, dass er sie gebrauchen würde) 5 und nicht 20 Dollar kosten soll. Schließlich werden Konfuzius-Weisheiten auch ohne Anwesenheit von John Screaming Eagle ausgetauscht. „Confucius say, woman who stick nose in other people‘s drink is liable to get it punched“, zitiert Roger den chinesischen Philosophen als Abigail ihn danach fragt, wie viele Martinis er schon hatte. „Confucius say fishermen who have too many martinis only gotta catch olive“, antwortet sie prompt. Wer sagt, ostasiatische antike Philosophie sei langweilig?

Skaggs und Major Phipps, ganz Rechts Easy:
für das Drehbuch unnötig, aber warum auf sie verzichten?
Wesentlich geerdeter, wenngleich nicht weniger sympathisch sind Major Phipps und Skaggs, zwei ältere Herren und leidenschaftliche Angler, die jedes Jahr am Wettbewerb beim Lake Wakapoogee teilnehmen und sich ständig (wenngleich immer freundlich) streiten. Skaggs war letztes Jahr besser als Major Phipps, der dieses Jahr seinen Freund ziemlich rasch abhängt, weil er Roger Willoughbys Broschüre über das richtige Angeln aufmerksam gelesen hat. Zwei ältere Herrschaften, die niemandem mehr irgendetwas beweisen müssen, mit einer lockeren Haltung gegenüber den Dingen des Lebens: grumpy old men, die gar nicht so grumpy sind und deren Lockerheit mehr zählt als ihr Alter (ein bisschen wohl wie Howard Hawks selbst, der während des Filmdrehs 66 Jahre alt war).
Auf eine gewisse Art ist Maria Perschys Easy der faszinierendste Charakter des Films. Sie ist zwar Abigails „Sidekick“ (empfiehlt ihr zum Beispiel, Roger etwas offensiver ihr Interesse an ihm zu offenbaren), aber im Grunde ist sie eine Figur ohne dramaturgische Funktion. Sie ist sozusagen „unnötig“. Aber MAN‘S FAVORITE SPORT? ist kein Film, der in Kategorien von Notwendigkeiten denkt und nur sehr rudimentär in Kategorien klassischer filmischer Dramaturgie, und deshalb ist Easy einfach trotzdem die richtige Figur am richtigen Platz. Sie ist einfach da und der Film lässt sie gewähren. Und damit symbolisiert sie auch die Quintessenz dessen, was MAN‘S FAVORITE SPORT? (unter anderem) ausmacht. 

Es ist ein Film wie ein Zusammensein mit Freunden in der Kneipe. Vielleicht kann der eine besser Witze erzählen, oder auf lustigere Weise Wienerischen Dialekt nachahmen, oder der eine ist der bessere Gesprächspartner im Bereich Film, aber eine „Funktion“ hat da niemand. Man sitzt zusammen, trinkt und hat dabei am Leben Spaß. Es ist ein Gefühl, den ich mangels besserer Begrifflichkeiten als „spät-Hawks‘ianisches Feeling“ bezeichnen würde.

MAN‘S FAVORITE SPORT?, aber auch RIO BRAVO (1959) und HATARI! (1962) haben dieses Feeling. Filme natürlich, die eher „character-driven“ als „plot-driven“ sind. Ob LAND OF THE PHARAOHS (1955), Hawks letzter Film vor RIO BRAVO, schon dieses Feeling hatte, kann ich nicht beurteilen. In RIO BRAVO kommt er oft zur Geltung. Meist wird dieser Film als Western beschrieben, in der eine kleine Gruppe von Gesetzeshütern einen Verbrecher gefangen hält und von dessen Kumpanen belagert wird. Doch diese Sichtweise zwingt sich letztlich nicht auf, und man kann ihn ebenso als lockeres Kollektivportrait sozialer Aussenseiter sehen. Oder als Geschichte eines „verlorenen“ Mannes, der nach und nach, mit harter Arbeit und teils Unterstützung seiner Freunde, seine menschliche Würde wiedererlangt (diese Lesart, die ich bei der letzten Sichtung des Films überaus sinnvoll fand, macht Dean Martins Dude zur eigentlichen Hauptfigur des Films). Oder man kann RIO BRAVO auch als versteckte Screwball-Komödie sehen, bei der eine Frau mit geschädigtem Ruf aber großem Selbstbewusstsein alles tut, um den örtlichen Sheriff in ihr Bett zu bekommen. Das eigentliche Belagerungsszenario kann jedenfalls leicht in den Hintergrund gedrängt werden. Übrig bleibt ein großer Film über Freundschaft, Kameradschaft, professionelles und menschliches Ethos und Liebe. Ein Film, der komplett zu sich findet, wenn einige Männer sich zusammensetzen, Kaffee trinken und zwei Liedchen trällern (dieser wunderschöne Moment wird von vielen als Szene zur Ausbeutung von Ricky Nelsons und Dean Martins kommerziellem Sänger-Potential gesehen – zu unrecht, wie ich finde). Man könnte sagen: RIO BRAVO ist ein Film über einige Menschen, die ganz entspannt eine gute Zeit miteinander haben und dabei, wenn man so will nebenbei, von diesen belagernden Verbrechern gestört werden.

Bei HATARI! wird diese Art der Inszenierung gar radikalisiert. „Avantgardistisch“ ist ein zu akademischer Begriff, um HATARI! zu beschreiben, passt aber zu der Art und Weise, die Grundstrukturen dramaturgischen Erzählens dermaßen sorglos über Bord zu werfen, und einfach nur ein paar Männer und Frauen zu zeigen, die tagsüber arbeiten und sich abends beim Musizieren sowie bei Gesprächen und Getränken entspannen und das zweieinhalb Stunden lang! MAN‘S FAVORITE SPORT? hat vieles von diesem Feeling, von dieser Komme-was-möge-Haltung. Es gibt keine Zielgerichtetheit, auch keine wirkliche Dringlichkeit (trotzdem Roger so schnell wie möglich das Angeln lernen soll), sondern nur eine grenzenlos entspannte Atmosphäre. Das einzige, was in MAN‘S FAVORITE SPORT? vielleicht fehlt, ist eine Musiziernummer, bei der John Wayne mit lächelnder „the-Duke-approves“-Mine im Hintergrund steht (hier die Version davon in HATARI!).

Das Bemerkenswerteste ist jedoch: alle drei Filme fühlen sich dabei absolut richtig an! Sie sind gewissermassen perfekt, dabei aber vollkommen ungezwungen und federleicht. Das ist wohl der Kern des „spät-Hawks‘ianischen Feelings“ und steht im Gegensatz zu einer Perfektion von sagen wir einmal Stanley Kubrick, die niemals ungezwungen, locker und federleicht war (und ich glaube nicht, dass das ausschließlich mit seinen „schwereren“ Themen zusammenhängt). Bei Hawks gibt es keine mathematische Perfektion, die Zahnrädchen makellos ineinander greifen lässt, sondern nur dieses lockere Ensemble, wo einfach alles harmonisch zusammenpasst. Oliver Nöding in seinem wunderbaren Review von HATARI! hat dies gar als komplett alternativer Ansatz des Filmemachens beschrieben.

RIO BRAVO, HATARI! und MAN‘S FAVORITE SPORT? sind jedenfalls solche „perfekten“ Filme (man sehe sich für letzteren nur einmal auf den Screenshots die tollen Bildkompositionen an!), und konnten nur von einem wirklich großen Meister mit vielen Jahrzehnten Erfahrung gedreht werden. Perfektion in Leichtigkeit und Leichtigkeit in Perfektion: etwas, das man gerne öfter in meist eher skeptisch betrachteten „Spätwerken“ suchen könnte, statt diese pauschal als „müde“ oder „lustlos“ abzutun. Durch Hitchcocks letzten und sträflich unterschätzten Film FAMILY PLOT weht ein Hauch von etwas, das dem „spät-Hawks‘ianischen Feeling“ nahekommt. Oder auch durch den vielgeschmähten MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN des großen Hawks-Fans John Carpenter (der ironischerweise aber zugleich „Hitchcock-Film“ ist und für dessen Rufbesserung ich bereits meinen Beitrag geleistet habe). Wer weiß, vielleicht findet sich auch „spät-Hawks‘ianisches Feeling“ in Kubricks EYES WIDE SHUT?

In diesem Sinne ist MAN‘S FAVORITE SPORT? tatsächlich ein Film über einen Mann, der entspannt angeln geht. Sehr spannend ist natürlich auch eine alternative Lesart: ein meisterhafter Experte in einer bestimmten Materie, der viel Wissen durch mehr oder minder alte Männer „an der Front“ gewinnt, bricht eines Tages auf, um seine Theorie in die Praxis umzusetzen, bricht dabei alle möglichen Regeln und kommt dabei trotzdem zu einem mehr als ansehnlichen Ergebnis. Das könnte auch ein Filmkritiker sein, der von älteren Meistern (z. B. Howard Hawks) alles lernt, was es über Filme zu lernen und zu wissen gibt und dann später seine Redaktionsräume verlässt, um selbst auf bislang ungesehene Weise Filme zu drehen – also das, was die großen Hawks-Bewunderer der ersten Stunde, Jean-Luc Godard, François Truffaut, Eric Rohmer, Jacques Rivette und Claude Chabrol taten. MAN‘S FAVORITE SPORT?, eine augenzwinkernde Hommage des Meisters an seine Schüler? In der Trivia-Sektion des Films bei IMDb ist zu lesen, dass die cahiers du cinéma einmal von ihren beliebtesten auteurs O-Töne für eine Ausgabe sammeln wollten. Hawks schickte ohne weitere Erklärung ein Filmstill von Rock Hudson, der bis zum Hals im Wasser steht.

Das Statement des auteur
MAN‘S FAVORITE SPORT? ist in vielen Ländern auf DVD erhältlich. Die westeuropäische DVD von Universal Pictures dürfte in Deutschland, UK und Frankreich die gleiche sein und ist mit guter Bildqualität (wie die Screenshots hoffentlich zeigen) und optimaler Tonqualität ausgestattet.

Monsieur Fantômas, fliegende Fäuste, ein Glasauge und ein Abstecher nach Lourdes

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Belgische Avantgarde 1927-1937

Fantômas und seine Herzensdame
Die Königlich Belgische Cinematek (früher mal Cinémathèque, aber man muss ja mit der Zeit gehen) ist eine ehrwürdige Einrichtung, die sich vor allem unter ihrem langjährigen Leiter Jacques Ledoux (der in Chris Markers LA JETÉE den sinistren Chefwissenschaftler gab) große Reputation erwarb. In der Öffentlichkeit bei weitem nicht so bekannt wie sein französischer Kollege Henri Langlois, genoss Ledoux bei Filmhistorikern und filmhistorisch interessierten Filmschaffenden einen ähnlich legendären Status. Zu den heutigen Aufgaben der Cinematek gehört es auch, belgisches Filmschaffen aus vielen Jahrzehnten auf DVD und Blu-ray herauszubringen. Hier geht es nun um ein 2009 erschienenes Set aus zwei DVDs, das zehn belgische Avantgardefilme aus den Jahren 1927 bis 1937 von vier Regisseuren versammelt. Alle Filme sind schwarzweiß, und alle sind Stummfilme, auch die aus den 30er Jahren, als sich im kommerziellen Kino längst der Tonfilm durchgesetzt hatte. Für das DVD-Set wurden die Filme mit Musik versehen, eigens von sieben belgischen Komponisten geschrieben und vom Antwerpener HERMESensemble eingespielt. Sie werden alle im Booklet vorgestellt, ich will hier aber nicht weiter auf die Soundtracks eingehen. Das informative Booklet ist dreisprachig (Französisch/Niederländisch/Englisch), und für die Zwischentitel der Filme (falls vorhanden) liegen entsprechende Untertitel vor. Genau betrachtet ist das Booklet ein Buch, und an den Innenseiten der Buchdeckel sind die Halterungen der DVDs eingeklebt. Die meisten der für das Set verwendeten Kopien sind mehr oder weniger zerkratzt, und eine ist schon etwas von Zersetzung befallen. Besonders gute Bildqualität sollte man also nicht erwarten. Bestellen kann man das Set direkt bei der Cinematek, man bekommt es aber auch bei Amazon und anderswo.

Bei den Regisseuren handelt es sich um Henri Storck, Charles Dekeukeleire, Henri d'Ursel und Ernst Moerman. Henri Storck ist sicher der bekannteste von ihnen - er ist auch der einzige, den ich schon kannte, bevor ich von dem DVD-Set zum ersten Mal las. Storck und Dekeukeleire waren produktive Regisseure, die sich nach ihren Anfängen in der Avantgarde vorwiegend oder ausschließlich dem Dokumentarfilm zuwandten. Jeder der beiden ist hier mit vier Filmen vertreten. Die anderen beiden dagegen haben jeweils nur einen Film gedreht. Keiner von ihnen war ein künstlerischer Einzelkämpfer, vielmehr pflegten sie vielfältige Kontakte zu anderen Mitgliedern der zeitgenössischen belgischen und französischen Avantgarde - Regisseure, Maler, Dichter und Schriftsteller. Storck, Dekeukeleire und d'Ursel waren auch miteinander befreundet. Moerman gehörte wohl nicht zu diesem engeren Kreis, dafür zählte beispielsweise Jean Cocteau zu seinen Freunden. Zwei der Regisseure waren direkt mit der Cinematek verbunden: Henri Storck war 1938 einer ihrer drei Gründer, und Henri d'Ursel war 25 Jahre lang Vizepräsident der Institution.

Henri Storck (ganz links) in ZÉRO DE CONDUITE; Jacques Ledoux in LA JETÉE
Und nun zu den einzelnen Filmen. Die Anordnung auf den DVDs ist etwas eigenwillig. Ich weiche hier davon ab und bespreche die Filme nach den Regisseuren geordnet, und bei Storck und Dekeukeleire in chronologischer Reihenfolge.



Der aus Ostende stammende Henri Storck (1907-1999) hatte schon in jungen Jahren Kontakt zu Künstlern wie James Ensor, Léon Spilliaert und Michel de Ghelderode. 1927 sah er in einem Filmclub Robert Flahertys MOANA und wurde dadurch für den künstlerisch ambitionierten Dokumentarfilm gewonnen, 1928 gründete er mit einem Freund einen Filmclub, und ab 1929 drehte er selbst Filme. Anfang der 30er Jahre verbrachte Storck einige Zeit in Paris, wo er als (unbezahlter) Kameraassistent für Germaine Dulac arbeitete und einen Job bei Gaumont hatte. Er befreundete sich auch mit Jean Vigo, hatte einen kurzen Auftritt als ein Priester in dessen ZÉRO DE CONDUITE (1933) und wirkte auch hinter der Kamera bei diesem Film mit, wohl als Regieassistent (aber bei Vigos freier und familiärer Arbeitsweise ließ sich das nicht so säuberlich abgrenzen). 1933 entstand auch MISÈRE AU BORINAGE, der auf Storcks Initiative gemeinsam von ihm und seinem holländischen Kollegen Joris Ivens inszeniert wurde. Dieser Dokumentarfilm zeigt ungeschminkt die miserablen Lebensbedingungen der Arbeiter in einem belgischen Kohlerevier, vergleichbar vielleicht mit Luis Buñuels LAS HURDES aus demselben Jahr über eine bettelarme Region in Spanien. Er enthält auch einige Spielszenen, in denen sich die Bergarbeiter im Stil Flahertys selbst darstellen. MISÈRE AU BORINAGE und der 1944 gedrehte zweistündige BOERENSYMFONIE dürften Storcks bekannteste Filme sein. 1985 drehte er den letzten seiner rund 30 Filme, über den Maler Constant Permeke aus Ostende, den er selbst gut gekannt hatte, und der sogar mit seiner Familie verschwägert war.

POUR VOS BEAUX YEUX
POUR VOS BEAUX YEUX
1929
6:31 min (die Zeitangaben stammen alle aus dem Booklet, in Wirklichkeit sind alle Laufzeiten etwas länger)
Darsteller: Henry Van Vyve (der junge Mann), Félix Labisse, Ninette Labisse, Alfred Courmes

POUR VOS BEAUX YEUX
Ein junger Mann findet auf der Straße zufällig ein Glasauge und entwickelt eine Obsession dafür. Dieser surrealistische Film ist deutlich von Buñuels und Dalís UN CHIEN ANDALOU inspiriert. Der war zwar 1929 noch gar nicht in Belgien gezeigt worden, aber sein Ruf war ihm vorausgeeilt. Schockmomente wie das durchgeschnittene Auge gibt es bei Storck aber nicht. Die Idee zu dem Film und das Drehbuch stammten von dem mit Storck befreundeten surrealistischen Maler Félix Labisse, der auch eine kleine Rolle spielt (in ZÉRO DE CONDUITE spielte Labisse ebenfalls mit). POUR VOS BEAUX YEUX war lange verschollen, tauchte aber irgendwann wieder auf.

IMAGES D'OSTENDE - der Hafen


IMAGES D'OSTENDE
1929
10:55 min

IMAGES D'OSTENDE - Uferpromenade und Strand
Die "Bilder von Ostende" sind ein Film ohne Handlung, auch ohne dokumentarische Narration. Stattdessen gibt es poetisch aneinandergereihte Bilder, die vor allem zeigen, dass Ostende eine Stadt am Meer ist: Zu sehen sind der Hafen, die windgepeitschte Uferpromenade, Strand und Sanddünen, und das Meer selbst, Wellen, die sich am Ufer brechen, schaumige Gischt. IMAGES D'OSTENDE ist der erste von Storcks Ostende-Filmen, dem im Lauf der Jahre noch etliche weitere folgen sollten, was Storck zu so etwas wie dem offiziellen Filmchronisten seiner Heimatstadt machte.

HISTOIRE DU SOLDAT INCONNU
HISTOIRE DU SOLDAT INCONNU
1932
10:38 min

HISTOIRE DU SOLDAT INCONNU
Für diese "Geschichte des unbekannten Soldaten" drehte Storck keinen Meter selbst, sondern er montierte dafür 1928 gedrehtes Wochenschaumaterial. In diesem Jahr 1928 wurde der Briand-Kellogg-Pakt, der Angriffskriege völkerrechtswidrig machte, von zunächst elf und am Ende 62 Staaten unterzeichnet, und Storcks Film ist ein pessimistischer Kommentar dazu. Zu sehen sind Szenen militärischer Natur, dazwischen auch Gewaltszenen anderer Art. Es gibt damals modernes Kriegsgerät wie Kampfflugzeuge und Schlachtschiffe, doch im Mittelpunkt steht nicht die Kriegstechnik, sondern der ungebrochene Geist des Militarismus. Ehrenwerte und weniger ehrenwerte Figuren des Zeitgeschehens von Aristide Briand über Marschall Pétain bis Mussolini treten auf, Geistliche segnen Waffen, es gibt Truppenparaden, militärische Umzüge und Zeremonien - jede Menge Pomp und Brimborium, das sich kaum von dem des Hurra-Patriotismus im Ersten Weltkrieg unterscheidet. Storck sagt damit recht unverblümt, dass der Friedensvertrag kaum das Papier wert ist, auf dem er geschrieben steht - wie wir wissen, sollte er Recht behalten. In Frankreich wurde HISTOIRE DU SOLDAT INCONNU als "Beleidigung der Armee" klassifiziert und verboten.

SUR LES BORDS DE LA CAMÉRA
SUR LES BORDS DE LA CAMÉRA
1932
10:47 min

SUR LES BORDS DE LA CAMÉRA
Ein Film im selben Modus wie der vorige, wiederum aus Wochenschauschnipseln von 1928 montiert - ich nehme an, dass sich Storck für beide Filme gleich beim selben Fundus an Ausgangsmaterial bedient hat. Doch hier gibt es kein einzelnes hervorgehobenes Thema, sondern eine wilde Mischung: Kollektive sportliche Aktivitäten verschiedener Art auf freiem Feld, auch ein Skispringer in Zeitlupe mit den damals üblichen rudernden Armbewegungen, ein nacktes Baby, eine Erwachsenen-Ganzkörpertaufe, Seelöwen auf einem Felsen in der Brandung, ein Dirigent - vorwiegend harmlose oder positiv besetzte Szenen, teilweise ironisierend aneinandergereiht. Aber dazwischen auch Negatives wie ein Begräbnis, Strafgefangene im Gefängnishof, brennende Gebäude und Schiffe. Die fehlende Fokussierung auf ein Thema, das mehr freie Assoziieren rücken diesen Film mehr als den Vorgänger in die Nähe der Filmcollagen von Joseph Cornell, dem amerikanischen Großmeister des found-footage-Films (als dieser Begriff noch auf echtes und nicht selbst fabriziertes "Fremdmaterial" abhob).



Charles Dekeukeleire (1905-1971) aus dem Großraum Brüssel gehörte in seinen Anfängen zum Dunstkreis der Künstlergruppe 7 Arts und ihrer gleichnamigen Zeitschrift. Diese Gruppierung stand dem Surrealismus ablehnend gegenüber, auf filmischem Gebiet wurde stattdessen das cinéma pur favorisiert, und zu Dekeukeleires Einflüssen zählten Germaine Dulac, Jean Epstein und auch Dsiga Wertow. Dekeukeleire war als Regisseur noch produktiver als Storck; er hinterließ ungefähr 80 Filme (nach einer Quelle sogar 100), seit den frühen 30er Jahren vorwiegend konventionelle Dokumentarfilme.


COMBAT DE BOXE
1927
7:30 min

COMBAT DE BOXE
Dekeukeleires erster Film gilt zugleich als einer der ersten, wenn nicht der erste belgische Avantgardefilm - und es ist cinéma pur in Reinkultur. Es gibt das zu sehen, was der Titel verspricht, nämlich einen Boxkampf. Wer da gegeneinander kämpft, und wer am Ende gewinnt, wird nicht verraten, denn es spielt keine Rolle. (Tatsächlich war es kein echter Kampf, sondern er wurde von zwei Boxern für den Film gestellt.) Der Weg ist sozusagen das Ziel. Zwar wird die gewohnte Dramaturgie beibehalten - es beginnt mit dem Ticketverkauf am Schalter, dann findet der Kampf statt, und am Ende ist einer K.O. - doch das alles wird durch schnelle Montage, sehr harte Kontraste, extreme Nahaufnahmen, Doppelbelichtung und teilweise sogar Negativaufnahmen fast bis zur Abstraktion verfremdet. COMBAT DE BOXE ist sozusagen die reine Essenz eines Boxfilms, und er wirkt auf mich ungemein modern. Inspiriert wurde er von einem Gedicht von Paul Werrie, wie Dekeukeleire Mitglied von 7 Arts.


IMPATIENCE
1928
36:20 min
Darstellerin: Yonnie Selma

IMPATIENCE
Mit IMPATIENCE setzte Dekeukeleire die Tendenz zur Abstraktion und zum "reinen Kino" fort. Eine Texttafel am Anfang stellt die "Personen" vor:

DER BERG
DAS MOTORRAD
DIE FRAU
ABSTRAKTE BLÖCKE

IMPATIENCE
Und das gibt es dann auch zu sehen, abwechselnd in einem durchkalkulierten Rhythmus: Der "Berg", bestehend aus belgischen Mittelgebirgslandschaften, die aus der Fahrt (vielleicht mit dem Motorrad) heraus gefilmt werden, gelegentlich in Bewegungsunschärfe verschwimmend; das Motorrad, das nie als Ganzes gezeigt wird, sondern einzelne Teile in Großaufnahme - meist der Motorblock aus verschiedenen Richtungen, aber gelegentlich auch andere Bestandteile, wie der Gummiball der Handhupe. Das Motorrad ist in Bewegung, oder zumindest läuft der Motor, so dass die gezeigten Teile mehr oder weniger stark vibrieren. Die Frau, gespielt von Yonnie Selma von der reisenden Theatertruppe Vlaamsche Volkstooneel; mal in schwarzer Motorradkluft, mal völlig nackt, wobei sie aber nur entweder schulterfrei von vorne oder so von hinten oder der Seite zu sehen ist, dass voyeuristische Blicke kaum bedient werden. Und schließlich die grafisch-abstrakten quaderförmigen Blöcke. Diese vier Bestandteile oder "Darsteller" sind nie gleichzeitig zu sehen, sondern wechseln sich immer wieder ab. Zu so etwas wie einer Handlung fügt sich dieses Wechselspiel nicht zusammen, was die Geduld des einen oder anderen Zusehers sicher auf die Probe stellt. Ich finde die Idee und die Durchführung durchaus ansprechend, hätte aber auch nichts dagegen, wenn der Film zehn Minuten kürzer wäre.


HISTOIRE DE DÉTECTIVE
1929
50:52 min
Darsteller: Pierre Bourgeois (Monsieur Jonathan)

HISTOIRE DE DÉTECTIVE - der Detektiv und sein Arbeitsgerät
Hier nun gibt es (vordergründig) einen echten Plot: Madame Jonathan beauftragt den Privatdetektiv T, herauszufinden, was ihr Mann während langer unerklärter Abwesenheiten so treibt. (Dargestellt wird Monsieur Jonathan von dem Dichter Pierre Bourgeois, der zusammen mit seinem Bruder, dem bekannten Architekten Victor Bourgeois, 1922 die 7 Arts gegründet hatte.) Detektiv T, dessen bevorzugtes Arbeitsgerät eine tragbare Filmkamera ist, findet schnell heraus, dass es um keine amourösen Abenteuer geht. Vielmehr ist Monsieur Jonathan auf der Suche nach etwas, von dem er selbst nicht genau weiß, was es ist. Er ist leer, ausgebrannt, depressiv -"neurasthenisch", wie man früher sagte, und wie auf einer Texttafel am Anfang geschrieben steht. Es folgen weitere Zwischentitel (die teilweise grafisch aufwändig gestaltet sind), doch bald dienen sie immer weniger dazu, die Handlung voranzutreiben, und die Bilder, die das von T gefilmte "Beweismaterial" repräsentieren, korrespondieren auch immer weniger damit. Das wurde schon in der ersten Texttafel angekündigt: Es wird Lücken im Bildmaterial geben, und der in der ersten Person sprechende Dekeukeleire (oder ein fiktiver Erzähler) wird aus Respekt vor "seinem Freund T" diese Lücken nicht schließen.

Startpunkt ist Brüssel, das von einem Gewitter aus schnellen Schnitten, Bewegungsunschärfe und Doppelbelichtung visualisiert wird, und von dort fährt Jonathan (und in seinem Kielwasser der Detektiv) kreuz und quer durch Belgien (mit einem Abstecher nach Luxemburg), um schließlich in Brügge zu landen. Und dort, wo dann mehr als die Hälfte des Films spielt, versandet der Plot endgültig, dreht sich im Kreis, verliert sich in (scheinbaren?) Nebensächlichkeiten. So fährt Jonathan x-mal zwischen Brügge und dem Nordseestrand hin und her, und es ist wiederholt eine kleine Brücke vor alten Gebäuden zu sehen, auf der Jonathan herumsteht oder ziellos mal in die eine, mal in die andere Richtung geht. HISTOIRE DE DÉTECTIVE ist nicht wirklich ein Detektivfilm, sondern eher die Dekonstruktion eines Detektivfilms (und die Bezeichnung "Thriller" in der IMDb ist komplett daneben).

HISTOIRE DE DÉTECTIVE
Dafür geht es zwischen den Zeilen auch um andere Dinge. Der filmende Detektiv T ist zu sehen, wie er mit seiner Kamera und weiteren Filmutensilien hantiert, und wie er entwickelte Filme in der Hand hält und betrachtet. In diesen Szenen erinnert HISTOIRE DE DÉTECTIVE ein bisschen an Dsiga Wertows DER MANN MIT DER KAMERA. Der hatte schon im Januar 1929 Premiere, und auch wenn er wahrscheinlich nicht so schnell in Belgien zu sehen war, könnte die Kunde davon rechtzeitig zum Wertow-Bewunderer Dekeukeleire vorgedrungen sein, um ihn noch zu beeinflussen. T filmt nicht nur sein Zielobjekt Monsieur Jonathan, sondern auch seine Auftraggeberin, und implizit geht es auch um den voyeuristischen Blick des Detektivs (= des Kameramannes/Regisseurs), was auch an Wertows Konzept des "Kino-Auge" (dokumentarisches Filmen mit versteckter Kamera) anknüpft. HISTOIRE DE DÉTECTIVE zeigt auch eine leichte Annäherung an den Surrealismus. Einzelne kurze Sequenzen könnten durchaus aus einem surrealistischen Film stammen, oder würden da zumindest auch hineinpassen. Doch in seiner Gesamtwirkung ist HISTOIRE DE DÉTECTIVE für mich nach wie vor kein surrealistischer Film - er ist irgendwas anderes, ohne dass ich ihn klassifizieren könnte. - Eine ausführliche Analyse von IMPATIENCE und HISTOIRE DE DÉTECTIVE mit weiteren Hintergrundinformationen über Dekeukeleire gibt es in diesem Artikel von Kristin Thompson.

VISIONS DE LOURDES
VISIONS DE LOURDES
1932
17:54 min

VISIONS DE LOURDES
Der Titel verrät, worum es geht: Um Ansichten von Lourdes. Es beginnt mit den schroffen, von Schnee und Eis bedeckten Pyrenäengipfeln in der Nähe des Wallfahrtsorts, die in einer eigenwilligen Montage (mit Meereswellen als Überbrückung) in die berühmte Grotte überführt werden. Und dann folgen Bilder von der Architektur, den sakralen Plätzen und vor allem von den Pilgern und Wallfahrern, die Heilung von ihren Leiden suchen, und vom medizinischen und klerikalen "Bodenpersonal" vor Ort. VISIONS DE LOURDES markiert Dekeukeleires Hinwendung zum Dokumentarfilm, aber er ist noch alles andere als konventionell. Obwohl Dekeukeleire kritischer Katholik war und der Film von einer katholischen Jugendorganisation beauftragt wurde, wirkt Lourdes hier irgendwie unheimlich, morbid, fast bedrohlich auf mich. Streckenweise hat mich der Film etwas an TRÍPTICO ELEMENTAL DE ESPAÑA erinnert, auch wenn er dann doch nicht so radikal ist wie Val del Omars erstaunliches Werk.




Henri Charles François Joseph Marie, 8e duc d'Ursel et d'Hoboken, Comte de Saint-Empire, oder etwas handlicher Henri d'Ursel (1900-1974), verbrachte schon einen Teil seiner Schulzeit in Frankreich, und ab 1925 lebte der gut betuchte Aristokrat und Bankier für einige Jahre in Paris, wo er vielfältige künstlerische Kontakte pflegte, etwa mit Abel Gance, René Clair und dessen Bruder Henri Chomette (der mit Filmen wie JEUX DES REFLETS ET DE LA VITESSE und CINQ MINUTES DE CINÉMA PUR ein wichtiger Vertreter des cinéma pur war). Er war mit dem Vicomte Charles de Noailles verwandt, der zusammen mit seiner Frau Marie-Laure de Noailles Man Rays LES MYSTÈRES DU CHÂTEAU DE DÉ (1929), Buñuels und Dalís L'ÂGE D'OR (1930) und Cocteaus LE SANG D'UN POÈTE (1932) finanzierte, und in ersterem Film hatte d'Ursel einen kleinen Auftritt. Er war auch als ein Assistent an den Dreharbeiten zu Carl Theodor Dreyers LA PASSION DE JEANNE D'ARC beteiligt. 1929 lernte d'Ursel den surrealistischen Dichter Georges Hugnet kennen, und nachdem dieser erfuhr, dass d'Ursel auch mal einen Film drehen wollte, schrieb Hugnet das Drehbuch, und er spielte dann die männliche Hauptrolle. - In den 30er Jahren kehrte d'Ursel nach Belgien zurück. 1937 stiftete er den Preis Le prix de l'image für innovative Drehbücher, 1944 gründete er den prestigeträchtigen Filmclub Le Séminaire des Arts, und er entfaltete weitere Aktivitäten. Wie schon erwähnt, war er mit Storck und Dekeukeleire befreundet, und er war 25 Jahre in leitender Funktion in der Cinematek tätig. Professor für Filmgeschichte an der Brüsseler Kunsthochschule La Cambre wurde er auch irgendwann. Die Monate, in denen LA PERLE entstand, hat er später als die aufregendste Zeit seines Lebens bezeichnet.

LA PERLE - delikates Versteck für eine Perlenkette; Diebin à la Irma Vep
LA PERLE
1929
33:23 min
Darsteller: Georges Hugnet (Georges, der Mann), Kissa Kouprine (die Diebin), Mary Stutz (Lulu, die Verlobte), Renée Savoye (Schlafwandlerin)

LA PERLE - die Schlafwandlerin
So wie in POUR VOS BEAUX YEUX ein Glasauge, wird in dem in und um Paris gedrehten surrealistischen LA PERLE eine Perle zum obskuren Objekt der Begierde eines jungen Mannes. Es beginnt harmlos: Eine Auster wird aus dem Meer (eine Fantasie-Unterwasserwelt à la Méliès) geholt, die Perle daraus befreit und zu einer Perlenkette verarbeitet. Unterdessen sitzt eine schöne blonde Frau in einem paradiesischen Garten und wartet auf ihren Verlobten Georges. Dieser ist schon zu ihr unterwegs, und auf dem Weg kauft er in einem Juwelierladen die Kette mit der fraglichen Perle. Er hatte den Laden auf einer belebten Straße mitten in Paris betreten, doch als er den Laden durch dieselbe Tür verlässt, befindet er sich in einer ländlichen Gegend - und damit beginnen die Merkwürdigkeiten. Eine schöne Juwelendiebin setzt sich auf seine Fersen und will die Kette stehlen. Als die Kette zerreißt, kann sich die Diebin der einen besonderen Perle bemächtigen und entkommen. Georges trifft sie wieder, erwürgt sie und holt die Perle aus ihrem Mund - doch vielleicht ist das nur ein Traum. In einem Hotel begegnet Georges abermals der Diebin, die nun einen Bodysuit à la Irma Vep trägt, der von Musidora gespielten Schurkin aus Louis Feuillades LES VAMPIRES. (Die französischen Dadaisten und Surrealisten waren große Fans von Fantômas, der Pulp-Romane ebenso wie von Louis Feuillades Verfilmungen, und von weiteren Serials von Feuillade wie eben LES VAMPIRES.) Doch plötzlich gibt es zwei der Diebinnen im Bodysuit, vielleicht sogar viele, die sich in den Korridoren herumtreiben. Eine ganze Diebesbande, oder multiple Inkarnation derselben Frau? Georges verfällt der Diebin und schläft mit ihr, will ihr sogar die Kette schenken, doch die gelangt auf unergründliche Weise in den Besitz einer Schlafwandlerin auf dem Dach des Hotels. Am Ende gelingt es der Diebin noch einmal, die Kette an sich zu bringen, doch das geht schlecht für sie aus ...

MONSIEUR FANTÔMAS - der Erzschurke in 1000 Verkleidungen
Es herrscht eine gewisse düstere und fatalistische Grundstimmung in LA PERLE, und obwohl viel gerannt wird, bewegen sich die Personen auch immer wieder wie in Trance. Mich hat das mehr an Maya Deren erinnert als an Buñuel und Pariser Kollegen. Der Film schlug auch weniger ein als UN CHIEN ANDALOU und L'ÂGE D'OR, fand aber doch gewissen Anklang, und offenbar zog der Autor Hugnet mehr Aufmerksamkeit auf sich als der Regisseur d'Ursel (was Letzteren aber seiner eigenen Aussage nach freute). Vielleicht trug LA PERLE dazu bei, dass Hugnet Aufnahme in den engeren Kreis der Surrealisten um André Breton fand (aus dem er 1939 wieder ausgeschlossen wurde). Als sie den Film drehten, hatten d'Ursel und Hugnet von den praktischen Dingen des Filmemachens keine Ahnung, aber ihr Kameramann Marc Bujard hatte schon bei Abel Gances J'ACCUSE! und LA ROUE hinter der Kamera gestanden. Kissa Kouprine ist die einzige professionelle Filmschauspielerin in allen hier versammelten Filmen. Sie kam auf ungefähr ein Dutzend Filme, darunter mindestens fünf von Marcel L'Herbier. 1956, in der Tauwetterperiode nach Stalins Tod, ging die gebürtige Russin in ihre Heimat zurück.



MONSIEUR FANTÔMAS
Wie gerade eben erwähnt, pflegten viele französische Avantgardisten eine Leidenschaft für Fantômas, und das galt auch für manche der belgischen Kollegen, darunter Ernst Moerman (1897-1944). In seiner Kindheit flog er von einigen Schulen, darunter eine Kadettenanstalt (in die ihn vermutlich sein Vater, ein Offizier, gesteckt hatte), weil er vor einem General pinkelte. Vielleicht war es auch der Vater, der indirekt für Moermans starken Antimilitarismus, Antiklerikalismus und Spöttertum verantwortlich war. Trotz seines etwas unsteten Bildungswegs absolvierte Moerman ein Jura-Studium und erhielt die Zulassung zum Rechtsanwalt. Zuvor hatte er einige Monate auf See und dann, während des Ersten Weltkriegs, längere Zeit in holländischem Gewahrsam verbracht. Passenderweise arbeitete er dann einige Zeit als Rechtsvertreter der Vereinigung der belgischen Filmregisseure. Doch seine Leidenschaft galt nicht der Juristerei, sondern der Kunst. Schon in seiner Studentenzeit hatte er sich einem progressivem Poetenzirkel in Brüssel angeschlossen, und er spielte Banjo in einem Jazz-Sextett, das aus lauter promovierten Juristen bestand. Zu seinen Freunden aus der Kunstszene zählten u.a. der Schriftsteller und Jurist Robert Goffin, der Dichter und Journalist Carlos de Radzitzky, Paul Éluard und, wie schon erwähnt, Jean Cocteau. 1933 veröffentlichte Moerman die Gedicht- und Prosasammlung Fantômas 1933 poèmes (eines der Gedichte darin ist Louis Armstrong gewidmet); ein anderes seiner Werke trägt den Titel La vie imaginaire de Jésus-Christ. Trotz seiner Möglichkeiten als Jurist war Moerman meist schlecht bei Kasse, und seine schlechte Gesundheit zwang ihn zu Aufenthalten in Sanatorien. In seinen letzten Jahren lebte Moerman in einem Wohnwagen. Gemäß dem Motto "it's better to burn out than to fade away" zündete Moerman die Kerze von beiden Seiten an, wie es etwas blumig im Booklet heißt, und lebte ein Leben auf der Überholspur. Man erzählte, man habe ihn eines Tages tot in seinem Wohnwagen aufgefunden, doch tatsächlich starb er in einem Krankenhaus an Tuberkulose.

MONSIEUR FANTÔMAS - sind sie nicht ein schönes Paar?
MONSIEUR FANTÔMAS
1937
17:16 min
Darsteller: Jean Michel (Fantômas), Trudi Van Tonderen (Elvire)

MONSIEUR FANTÔMAS - die Polizei steht vor einer verschlossenen Tür,
da kann man nichts machen ... oder doch?
In einem Nonnenkloster gehen befremdliche Dinge vor, und dahinter steckt kein anderer als Fantômas. Doch der Erzschurke ist verwundbarer als sonst, denn er ist auf der Suche nach seiner Geliebten Elvire. Die Polizei unter Chefinspektor Juve ist ihm schon auf den Fersen, und bald ist er eingekreist. Doch Fantômas wäre nicht Fantômas, wenn er nicht immer noch einen Trick auf Lager hätte ...

MONSIEUR FANTÔMAS
So wie HISTOIRE DE DÉTECTIVE nicht wirklich ein Detektivfilm ist, ist MONSIEUR FANTÔMAS kein "echter" Fantômas-Film, sondern, wie es schon in den Credits am Anfang explizit heißt, ein surrealistischer Film. Doch während in POUR VOS BEAUX YEUX die Atmosphäre neutral und in LA PERLE eher düster ist, ist in MONSIEUR FANTÔMAS die Stimmung heiter und ausgelassen. Tatsächlich handelt es sich eher um eine Persiflage als um einen "ernsthaften" surrealistischen Film. Moerman verstand ihn als Übertragung seines Textbands Fantômas 1933 in ein anderes Medium (natürlich auch in der Hoffnung auf ein größeres Publikum). Wenn LA PERLE durch den professionellen Kameramann und Kissa Kouprine davor bewahrt wurde, ein reiner Amateurfilm zu sein, so ist MONSIEUR FANTÔMAS genau das. Keiner der Mitwirkenden hatte technische Erfahrung im Film; gedreht wurde mit einem Mini-Budget an einem Strand mit Dünen und in einem alten Kloster. Doch all das gereicht dem Film nicht zum Nachteil, ganz im Gegenteil: Er wirkt frisch, spontan und sehr unterhaltsam, mit einer Fülle an schönen Bildideen. Moerman verteilt fleißig (vorwiegend visuelle) Seitenhiebe gegen Polizei und Klerus, die aber, etwa im Vergleich zu L'ÂGE D'OR, letztlich relativ harmlos bleiben, so dass es keinen Skandal gab.

MONSIEUR FANTÔMAS - Chefinspektor Juve instruiert seine Männer
MONSIEUR FANTÔMAS - der Schurke ist umzingelt, doch dann ...

Moerman brachte einige Referenzen zu anderen Kunstwerken in seinem Film unter: Ein Zitat der Treppe von Odessa aus PANZERKREUZER POTEMKIN, den Gedichtband Capitale de la douleur (Hauptstadt der Schmerzen) seines Freundes Paul Éluard, und das Gemälde Le Viol (was "Die Vergewaltigung" bedeutet) von René Magritte. Ich weiß nicht, ob Moerman auch mit Magritte befreundet war, aber er schätzte ihn auf jeden Fall als Maler. Die Aufnahme des Films bei den "offiziellen" Surrealisten war eher verhalten, aber der vielleicht nicht ganz unparteiische Éluard zeigte sich begeistert und verglich ihn mit UN CHIEN ANDALOU. - Fantômas-Darsteller Jean Michel, bürgerlich Léon-Michel Smet, war der Vater von Johnny Hallyday, was ihm für einige Zeit eine gewisse Prominenz sicherte.

MONSIEUR FANTÔMAS - Le Viol von Magritte


Wenn ich an dem DVD-Set etwas auszusetzen habe, dann die Tatsache, dass die erste DVD nur eine gute Stunde dauert (die zweite dagegen weit über zwei Stunden - wie ich schon schrieb, ist die Anordnung der Filme etwas merkwürdig). Da wäre also noch Platz für mehr gewesen, etwa WITTE VLAM (1930) von Dekeukeleire, MISÈRE AU BORINAGE von Storck & Ivens, oder auch für den "Nachzügler" L'IMITATION DU CINÉMA (1959) von Marcel Mariën. Dann hätte zwar der Titel des Sets nicht mehr gepasst, aber was soll's. Doch das ist Jammern auf hohem Niveau - "Avant-Garde 1927-1937" ist eine sehr lobenswerte Veröffentlichung. Einige der Filme findet man natürlich auch auf den üblichen Videoportalen.

MONSIEUR FANTÔMAS - Fantômas vor Gericht; die Hinrichtung des Schurken steht bevor ... oder?

Mörderspiele, Zeitreisen und technische Pannen: das 16. goEast-Festival des mittel- und osteuropäischen Films

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Mittwoch, 20. April

20.45 Uhr, Heimkino in Jena
ASSASSINATION GAMES
Regie: Ernie Barbarash
USA 2011
96 Minuten, DVD
Zwei melancholische Killer, die aufeinander gehetzt werden sollen, tun sich zusammen, um für Geld bzw. eine persönliche Rache ihren Auftraggebern in den Allerwertesten zu treten.

Der Film, der Jean-Claude Van Dammes melancholisch-nachdenkliches Spätwerk festigte, war, quasi als „vorbereitende Hausaufgabe“, die perfekte Einstimmung auf das diesjährige goEast-Festival. US-amerikanische Verbrecher, die sich völlig entfremdet durch eine triste, namenlose (aber vermutlich ist es Bukarest) postsozialistische Metropole jagen. Der wilde Osten: was als Drehort einfach etwas billiger sein sollte als die USA und mehr up to date als etwa die Philippinen, entpuppt sich als stimmungsvolle Kulisse für melville‘ianische Mörderspiele.

Und Mörderspiele gab es auf dem goEast-Festival 2016 viele: Die interessanteste Retrospektive der diesjährigen Edition war das Symposium „Die im Schatten. Verbrechen und andere Alltäglichkeiten im mittel- und osteuropäischen Kriminalfilm ab 1945“. Insofern war ASSASSINATION GAMES, angesiedelt in Bukarest bzw. im rumänisch-ukrainischen Grenzgebiet der Karpaten, ein idealer „Vorfilm“. Und irgendwie wäre das auch eine Idee für ein „Sequel“ des Symposiums in den nächsten Jahren: Osteuropa in angelsächsischen direct-to-video-Actionfilmen ab den 2000er Jahren...


Freitag, 22. April

17.30 Uhr, Murnau-Filmtheater
UN COMISAR ACUZĂ („Ein Kriminalkommissar klagt an“)
Regie: Sergiu Nicolaescu
Rumänien 1974
113 Minuten, 35mm
Bukarest, 1940: eine Gruppe von Legionären der faschistischen Eisernen Garde ermordet in einem Gefängnis fast alle kommunistischen Häftlinge – einige können jedoch fliehen, werden später jedoch wieder gefangen genommen. Inspektor Tudor Moldovan soll den Vorfall untersuchen und letztlich die überlebenden kommunistischen Häftlinge inkriminieren. Doch Moldovan hat seinen eigenen Kopf und beginnt einen Feldzug gegen die Legionäre und die Politiker, die die Faschisten unterstützen.

Sergiu Nicolaescu als Tudor Moldovan – © goEast Filmfestival
Holla die Waldfee! Was für ein Film!
UN COMISAR ACUZĂ lief im Rahmen des Symposiums zum osteuropäischen Kriminalfilm und wurde angekündigt als einer von vielen Filmen, wie sie im Rumänien der 1970er Jahre wohl am laufenden Band produziert wurden: propagandistisch angehauchte Historienkrimis über die antikommunistischen Verbrechen der rumänischen Faschisten in den 1940er Jahren. Regisseur und Autor Sergiu Nicolaescu, der auch die Hauptfigur des Kommissars spielt, wurde von Kurator Olaf Möller als Regisseur präsentiert, der sich in seinen politischen Inhalten opportunistisch und immer nah am herrschenden Regime positionierte und sein ideologisches Fähnchen stets nach dem Wind richtete – dabei jedoch über viele Jahrzehnte ästhetisch extrem konsistent blieb. Zu ersterem kann ich nichts sagen, wenn aber letzteres stimmt, muss hier einer der energischsten und ungeheurlichsten auteurs jenseits des Eisernen Vorhangs wieder entdeckt werden!
Inhaltlich ist UN COMISAR ACUZĂ vielleicht tatsächlich ein leicht durchschaubares Propagandastück: ekelhafte Faschisten töten märtyrerhafte Kommunisten und werden bei ihren Intrigen von korrupten Politikern des alten Regimes unterstützt. Ab und zu gibt es zwischendurch auch eine kleine Rede über die blendende Zukunft, die der Kommunismus bringen wird. Doch das ganze wird verpackt im Gewand eines atemberaubenden  Cop- und Gangster-Actionfilms, der wie eine Dampfwalze alles platt drückt, was ihm in den Weg kommt. Die ersten Minuten, das Massaker an den Gefangenen, ist trotz fehlender blood squibs von ungeheuerlicher, schockierender Gewalt, die anschließende Verfolgungsjagd durch die Gänge des Gefängnisses und durch die dunklen Straßen der Nacht ist von atemloser Spannung. Hinzu kommt die knallharte, rhythmisch stark punktierte, funky-jazzige Musik, die in einem italienischen Poliziesco ebenso gut aufgehoben wäre
Überhaupt: UN COMISAR ACUZĂ erinnert eher an einen italienischen Poliziesco oder an einen New-Hollywood-Cop-Thriller als an das, was man sich unter einem rumänischen Propagandafilm aus der eisern-kalten Ceaușescu-Diktatur so vorstellen würde. Wenn bei einer rasanten Autoverfolgungsjagd gar ganze Autokolonnen zu explodieren anfangen, wird fast ein bisschen das US-Blockbusterkino der 1980er und 1990er Jahre vorweggenommen.
Die Inszenierung ist tatsächlich auch eher auf allerreinsten Pulp und fetzige Genre-Motive gebürstet als auf politischen Inhalt. Die faschistischen Legionäre werden wie Gangster gefilmt, manchmal in einer fast schon ehrfürchtigen Untersicht – besonders Gheorghe Dinică entwickelt fast schon einen ganz eigenen Glamour als Paraipan, dem charismatischen Kopf der Legionärstruppe.
Tudor Moldovan hingegen wird wie ein US-amerikanischer Loner Cop gefilmt und verhält sich auch so: gibt furztrockene One-Liner von sich, drischt den Leuten, die ihn mit einer Pistole bedrohen, nonchalant ein Paar Ohrfeigen ins Gesicht, ist immer der Schnellste beim Ziehen, springt mühelos vom vierten Stock auf den nächsten, unteren Fenstervorsprung, um seinen Angreifern zu entfliehen, fährt unerschrocken und zielsicher sein Auto und endlos cool angezogen ist er sowieso immer. Obwohl er letztendlich die Identifikationsfigur des Films ist und im letzten Drittel mit den Kommunisten sympathisiert, schließt er sich ihnen niemals an: ihnen gehöre die Zukunft, seine eigenen Kämpfe müsse er selbst und alleine ausfechten. Ein echter, archetypischer Actionheld: im Dienste einer Gesellschaft, der er nicht angehört. Dirty Tudor kommt – Harry Calahan kann sich warm anziehen!
Am unglamourösesten kommen tatsächlich die Kommunisten daher, von denen nur einer als individuelle Figur erkennbar gemacht wird, nämlich der Eisenbahnarbeiter Pîrvu, der mit seinen über fünfzig Lenzen, seinen sackartigen Gefängnisklamotten und seinem leichten Fettansatz wahrlich nicht als strahlender Held rüberkommt, auch, wenn er die Zukunft des Kommunismus predigt. Die vielleicht lebensnaheste Figur in dieser stilisierten Pulp-Delikatesse.
Völlig überzogen und dadurch erst richtig lustig sind zwei Sidekicks: ein Taschendieb, gespielt von Jean Constantin, der sich nach allen Seiten als Informant verdingt und nur dann sein Geld nicht bekommt, wenn ihn Tudor Moldovan daran hindert. Ein weiterer drolliger Sidekick ist tatsächlich einer der Legionäre, den Moldovan von seinen Chefs als Assistent und de-facto-Aufpasser zur Seite gestellt bekommt: ein Ex-Zuhälter und totaler Tollpatsch mit lächerlicher Hitlerfrisur und passendem Bärtchen, der trotz seiner Zugehörigkeit zu den Legionären nicht grund-unsympathisch gezeigt wird und am Ende sogar einen tragischen Moment bekommt.
UN COMISAR ACUZĂ gibt es, wie ich später erfahren habe zu, meiner großen Freude tatsächlich auf DVD, aber leider nur in Deutschland: die rumänische Originalfassung ist dabei, aber leider ohne Untertitel. Das Bildformat stimmt aber tatsächlich: Nicolaescus Film kommt auch im Jahr 1974 ultraklassisch im 1.33:1-Format daher.

Ein bisschen enttäuschend ist es für das restliche Festival dann schon ein bisschen, wenn keiner der nachfolgenden Filme dieses Niveau wieder erreichen kann. Aber Freitag Abend im Murnau-Filmtheater laufen halt traditionell die besten Filme des Festivals.

na ja... zumindest größtenteils...


20.00 Uhr, Murnau-Filmtheater
BYT‘ LIŠNIM / LIEKAM BŪT („Ein überflüssiges Leben“)
Regie: Aloizs Brenčs
UdSSR 1978
98 Minuten, Digibeta
Der Kleinkriminelle Voldis kommt nach mehreren Jahren aus dem Gefängnis und kehrt in seine Heimatstadt Riga zurück. Dort verliebt er sich unglücklich in eine Taxifahrerin, überwirft sich wieder einmal mit seiner Schwester und seinem Schwager und gerät in den Kreis seiner Ex-Kumpanen, die einen großen Coup planen.

Der Titel dieses Films bezieht sich auf den Topos des „überflüssigen Menschen“ aus der russischen Literatur im 19. Jahrhundert und davon ausgehend hatte ich irgendwie mehr erwartet als ein Film, der bis auf einige Traumsequenzen ein wenig zu sehr wie ein schnell herunter gekurbeltes TV-Drama wirkt. Das, was ich als „sozialistisch-realistische TV-Ästhetik“ bezeichnen würde, macht auch den trüben Fatalismus des Films unerträglich: was in einem ästhetisch stilisierten film noir funktioniert, wirkt hier unmenschlich. Natürlich lässt BYT‘ LIŠNIM / LIEKAM BŪT zwei Lesarten offen. Die einfachere wäre, dass Verbrechen sich nicht lohnt, und das Voldis natürlich am Ende mit seinem Coup scheitern muss. Etwas „subversiver“ wäre die Lesart, dass man im sowjetischen Riga so oder so dem Verderben ausgeliefert ist. Die mäßigen Schauspieler, gerade auch der hölzerne Hauptdarsteller Vytautas Tomkus, können nicht wirklich die dösige TV-Ästhetik und den enervierenden Fatalismus des Films wettmachen.
BYT‘ LIŠNIM wurde in einer wenig ansehnlichen russischsprachigen Digibeta-Kopie ohne Untertitel gezeigt. Zur Übersetzung gab es eine Simultanübersetzung per Kopfhörer mit einer Übersetzerin, deren schiere Unlust beim Einsprechen manchmal etwas zu passend den Ton des Films traf.
Eigentlich heißt der Film ja LIEKAM BŪT: gemäß IMDb ist die Originalsprache des Films nicht Russisch (wie projiziert), sondern Lettisch. Dazu gab es aber bei der Präsentation des Films keine Angaben.


22.30 Uhr, Caligari FilmBühne
RITAM ZLOČINA („Rhythmus des Verbrechens“)
Regie: Zoran Tadić
Jugoslawien 1981
90 Minuten, 35mm
Der Schullehrer Ivica wohnt in einem beschaulichen Haus in den Vororten von Zagreb. Dort sucht ihn eines Tages der pensionierte Landvermesser Fabijan auf, der ihn um eine Zwischenmiete bittet. Beide kommen gut miteinander zurecht, und so hat Fabijan auch kein Problem damit, seinem Vermieter Ivica von seinem Hobby zu erzählen: er führt Statistiken über Verbrechen in diesem Zagreber Stadtteil und ist überzeugt, dass mit stochastischen Berechnungen Taten genau vorhergesagt werden können. Bald ist sich Ivica nicht mehr sicher, ob er sich mit Fabijan nicht einen Psychopathen ins Haus geholt hat, der bereit ist, selber zu morden, um seine statistischen Berechnungen zu beweisen.


Der tolle Ivica Vidović als Ivica – © Slovenian Cinemateque
Im Kroatien der 1960er Jahre fand sich eine Gruppe von Filmregisseuren und Filmkritikern zusammen, die in Anlehnung an die „cahiers du cinéma“ ein neues Kino, ein Kino der auteurs in Jugoslawien schaffen wollten. Nach ihrem größten auteur-Vorbild wurde die Gruppe bald als die „Hičkokovi“ bezeichnet. Zoran Tadić, so Kurator der Kriminalfilm-Reihe beim diesjährigen goEast-Festival Olaf Möller, war in der Gruppe wohl der einzige Regisseur, der konsequent Kriminalfilme und Thriller (im weitesten Sinne) drehte.
Hitchcock in allen Ehren, aber RITAM ZLOČINA erinnerte mich besonders in der ersten Hälfte eher an einen anderen komplett anderen Regisseur, nämlich an Eric Rohmer (selbst natürlich ein großer Hitchcock-Anhänger und zusammen mit Claude Chabrol Verfasser einer Monografie über den Meister, die schon Jahre vor François Truffauts großes Interview-Buch erschien). Auch wenn die erotische Komponente der Rohmer-Filme fehlt: RITAM ZLOČINA ist ein über weite Strecken scheinbar locker inszenierter Film, der hauptsächlich über die langen, ausführlichen Dialoge zwischen den beiden Hauptfiguren abgewickelt wird. „Scheinbar“ locker inszeniert, weil hier jede kleine Kamerabewegung, jeder Schnitt von der Totalen auf ein Gesicht perfekt kalkuliert ist und eine besondere Wirkung zeitigt. Etwa in der Mitte, oder nach zwei Dritteln, ändert sich der Ton des Films, ohne, dass sich dabei freilich die Inszenierung wesentlich wandelt. Aus einem „heiteren Dialogfilm“ wird plötzlich ein Paranoia-Thriller. Leider habe ich diesen Übergang aufgrund einer etwa 10-minütigen Sekundenschlafattacke nicht wirklich mitbekommen – als ich wieder hellwach und 100%-ig konzentiert war, hatte sich die Atmosphäre in etwas Unheilvolles gewandelt.
Interessanterweise wirkte RITAM ZLOČINA auch unfreiwillig wie eine Absage an den Fatalismus des vorangegangenen BYT‘ LIŠNIM: die Eskalation seiner Geschichte läuft auf eine gewisse Weise zwangsläufig ab, doch das „wie“ dieser Eskalation ist wahrlich verblüffend...
Die gezeigte Kopie des Films hatte slowenische Untertitel. Englische Untertitel wurden auf eine Tafel unter der Leinwand per Beamer projiziert. Auf der Kopie waren die slowenischen Untertitel auffällig weit oben im Bild angesiedelt, aber vielleicht machten das die Slowenen eben so... dachte ich... Nach etwa einem Drittel der Laufzeit passierte dann etwas. Der Film, projiziert im Format von 1.33:1, wurde plötzlich schwarz. Man hörte irgendetwas im Projektor tatsächlich bis weit in den Saal laut klicken, und dann kam das Bild wieder – nunmehr im Format von 1.66:1 oder vielleicht auch 1.85:1, so dass die slowenischen Untertitel nun im Kader genau dort platziert waren, wo es Untertitel normalerweise sind. Wir haben also durch die Nachlässigkeit bei der Projektion einen Drittel des Films „open matte“ gesehen, und die restlichen zwei Drittel im vorgesehenen Kinoformat. Zugegeben: im Vergleich zu anderen Problemen, die ich bei goEast-Projektionen dieses Jahr so erlebte, war dieses noch harmlos (zumal „open matte“ nicht per se falsch ist), demonstriert aber doch die zunehmende Schludrigkeit, die die Digitalisierung des Kinos mit sich gebracht hat. Mehr und schlimmere Beispiele dazu weiter unten.


Samstag, 23. April

10.00 Uhr, Pressesichtungsraum im Festivalzentrum – Gebäude der Wiesbadener Casino-Gesellschaft
CÓRKI DANCINGU („Sirenengesang“)
Regie: Agnieszka Smoczyńska
Polen 2015
92 Minuten, Screener
Die beiden Meerjungfrauen Srebrna und Złota (in etwa: die Silberne und die Goldene) tauchen aus dem Wasser auf, verspeisen erst einmal einen leckeren Jungen und werden dank ihrer besonderen Eigenschaften (im Kontakt mit Wasser verwandeln sich ihre Beine in Fischflossen – logisch: sind ja Meerjungfrauen) in einem Nachtclub als Stripperinnen der besonderen Art angestellt. Doch die beiden Fabelwesen rechnen nicht damit, sich in menschliche Männer zu verlieben, und an die Grausamkeit der Menschen haben sie auch nicht gedacht.

CÓRKI DANCINGU wird auf der IMDb als das erste Musical aus Polen bezeichnet. Angesichts der Lebendigkeit der polnischen Kinogeschichte bezweifle ich das irgendwie. Zumindest könnte ich mich darauf verständigen, Smoczyńskas Film als das wahrscheinlich erste Splatter-&-Sleaze-Musical Polens zu bezeichnen.
Der Regisseurin ist ein schwebender, verträumter, poetischer, jenseitiger, manchmal schockierender Film gelungen, der besonders in den ersten beiden Dritteln voll und ganz in den Musical-, Gesangs- und Tanznummern seinen eigenartigen Rhythmus erhält. Manche Dialoge werden ebenfalls gesungen, doch auch normal gesprochene Dialoge wirken die meiste Zeit eher wie lyrische Rezitationen: auch wenn meine Polnisch-Grundkenntnisse für das Detail überfordert waren, so schien mir, dass auch einfache Dialogzeilen auf lautmalerische Reime und musikalische Rhythmik hin verfasst worden waren (wofür sich die polnische Sprache offenbar ganz besonders eignet).
CÓRKI DANCINGU ist auch ein Film, der keine Gefangenen macht: da werden wortwörtlich Herzen zerbrochen, indem sie aus Körpern herausgerissen und dann verspeist werden, da wird 1980er-Jahre-Pomp und -Glitzer aufgefahren, als hätte es die gerade im Ausverkauf gegeben und die emotionalste Gesangsnummer ist die, bei der Złota (traurig singend) auf dem OP-Tisch in zwei Teile zersägt wird, damit ihr Rumpf und Beine einer toten Frau transplantiert werden können.
Manchmal ist es schade, wenn ein Film nicht einfach 90 Minuten vor sich hin schweben kann, sondern schlussendlich doch in die Bahnen narrativer Konventionen gebracht wird, und so passiert leider genau dies mit CÓRKI DANCINGU. Wie Złota in der eben erwähnten, denkwürdigen Szene bekommt der Film seine poetische Fischflosse amputiert und bekommt „normale“ (narrative) Beine. So verliert Złota nicht nur ihre besonderen Meerjungfraukräfte, sondern der Film auch seine Magie. 
Inwiefern das am DVD-Player lag, der alle paar Sekunden das Bild kurz stocken ließ und sich gegen Ende immer mehr weigerte, richtig zu funktionieren, sei leider dahingestellt.


13.30 Uhr, Caligari FilmBühne
ILE WAŻY KOŃ TROJAŃSKI? („Wie viel wiegt das trojanische Pferd“)
Regie: Juliusz Machulski
Polen 2008
117 Minuten, 35mm
Zosia ist gerade 40 Jahre alt geworden und kommt damit nur bedingt klar. Ihr zweiter Ehemann Kuba ist ein Traummann, Tochter Florka ein absolutes Herz, aber dennoch: sie bereut die ganze verschwendete Zeit mit ihrem ersten Ehemann Darek, einem schleimigen Aufschneider; ist unglücklich darüber, eine ihrer besten Freundinnen mit einem Prügler verkuppelt zu haben; weint fast jeden Tag über die verlorene Großmutter. Silvester 1999 kommt eine harte Probe: durch ein Zeitloch wird Zosia in das Jahr 1987 zurückversetzt. Dort muss sie schauen, dass sie das Bereute nun besser macht: Darek schneller abservieren (aber dennoch mit ihm Florka zeugen), Kuba früher kennenlernen und verführen, Großmutter retten und vieles mehr...

Zosia (gespielt von der wundervollen Ilona Ostrowska) entdeckt entsetzt,
in welchem Jahr sie gelandet ist, und warum ihr nerviger Ex-Mann
(Robert Wieckiewicz) im Haus ist – © goEast Filmfestival
Das Portrait des diesjährigen goEast-Festivals war Juliusz Machulski gewidmet, einem der populärsten Mainstream-Regisseure Polens, der das Publikum seit den 1980er Jahren bis heute hauptsächlich mit Komödien begeistert. Leider hat es sich für mich abgesehen von zwei Kurzfilmen nicht ergeben, weitere Filme von Machulski zu sehen. Angesichts von ILE WAŻY KOŃ TROJAŃSKI? sicherlich ein etwas bedauernswerter Umstand.
Was ein bisschen wie eine Mischung aus BACK TO THE FUTURE und GROUNDHOG DAY klingt, entwickelt sich doch zu einem wunderbar eigenständigen Film. Das besondere polnische Setting trägt natürlich viel dazu bei, da Zosia nicht nur von einer Zeit in die andere katapultiert wird, sondern eben auch in ein anderes politisches System mit einer ganz anderen, von Mängeln gekennzeichneten Lebenswirklichkeit. Klar, Sushibars, vernünftigen Kaffee in Porzellantassen und Mobiltelefone gab es auch anderswo in den späten 1980er Jahren noch nicht. In einem der markantesten Momente möchte Zosia in einem relativ schicken Hotel übernachten, doch als Polin und ohne Sondergenehmigung darf sie das nicht – und dem Rezeptionisten erklären, dass das in zwei Jahren ganz anders sein werde, bringt ihr dann erst einmal auch nichts. Während einer Zugreise hingegen kann sie zwei Soldaten, die sich flüsternd große Hoffnung auf Solidarność und politische Reformen machen, bei einem Gespräch belauschen. Im Vorbeigehen versichert sie ihnen, dass in zwei Jahren alles besser sein wird. Oder auch nicht: an anderer Stelle beklagt sie sich, dass in der „Zukunft“ die Menschen den Wert von Freiheit nicht mehr zu schätzen wüssten.
Das alles soll nicht davon ablenken, dass ILE WAŻY KOŃ TROJAŃSKI? im Kern eine romantische Komödie mit einem klitzekleinen Sci-Fi-Twist ist, und keine schwere Abhandlung über das Verhältnis der Polen zur realsozialistischen Vergangenheit. Vor allem ist aber ILE WAŻY KOŃ TROJAŃSKI? Ilona Ostrowskas Film. Die gebürtige Stettinerin ist als Zosia wahrlich das Herz und die Seele des Films und ist dank ihrer Ausstrahlung ein fester und verlässlicher Ankerpunkt, auch, wenn sich gegen Ende die eine oder andere Länge auftut.


16.00 Uhr, Alpha-Saal im Apollo-Kinocenter
PESN‘ PESNEJ („Das Lied der Lieder“)
Regie: Eva Nejman
Ukraine 2015
76 Minuten, DCP
Der kleine Shimek liebt Busya. In ihren Kinderträumereien stellen sich beide vor, sie wären Prinz und Prinzessin. Die Realität sieht anders aus: sie wohnen in einem verarmten und heruntergekommenen russischen Schtetl Anfang des 20. Jahrhunderts. Von dort entflieht Shimek dann auch, um in der Stadt Medizin zu studieren. Nach Jahren kommt er in sein Heimatort zurück, anlässlich der Hochzeit Busyas mit einem anderen, und versucht sie, von der Eheschließung abzuhalten.

Nach einer Vorlage von Scholem Alejchem inszeniert Eva Nejman einen zärtlichen, sinnlichen, poetischen, musikalisch schwebenden Film, der eher eine geistige Welt präsentiert als eine Geschichte erzählt. Im Gegensatz zu Agnieszka Smoczyńska in CÓRKI DANCINGU gelingt es ihr auch bis zum Schluss, praktisch jeglichen störenden Plot aus ihrem Film fernzuhalten. Leider kann ich mich weder wirklich an Details noch an die Gesamtkonzeption wirklich gut erinnern, da ich PESN‘ PESNEJ aufgrund einer hartnäckigen (wohlgemerkt nicht vom Film hervorgerufenen) Schläfrigkeit nicht 100%-ig konzentriert schauen konnte. Wahrscheinlich bin ich zwischendurch wohl auch für wenige Minuten eingeschlummert – woran ich mich nicht wirklich erinnern kann, weil der Film eher flüssig dahinfließt als dass er erkennbare, einzelne Stationen abarbeitet.
Wacher war ich beim darauffolgenden Q & A mit der Regisseurin Eva Nejman, die sich sehr geduldig und tapfer durch die teils sehr belanglosen Fragen des Moderators und die bisweilen etwas nervenden Anmerkungen der Zuschauer kämpfte. Gedreht hat sie PESN‘ PESNEJ mit einem Budget von umgerechnet etwa 1,2 Millionen Euro in der Nähe von Odessa. Trotz der schwierigen politischen Situation in der Ukraine ein paradiesischer Dreh, wie sie betonte: die Gelder wurden privat spendiert, die Produzenten ließen ihr aber völlig freie Hand und sie konnte den Film genau so drehen, wie sie wollte – in Deutschland hätte sie, wie sie von deutschen Regisseur-Kollegen erfuhr, niemals so frei arbeiten können. Nejman betonte auch, dass es ihr nicht um Realismus oder um die minutiöse Rekonstruktion jüdischer Lebenswelten ging, sondern eine geistige Welt.


18.00 Uhr, Alpha-Saal im Apollo-Kinocenter
BOPEM
Regie: Zhanna Issabayeva
Kazachstan 2015
77 Minuten, DCP
Der Teenager Rayan bekommt von einem Arzt die Diagnose: in wenigen Wochen wird er an einem Gehirntumor sterben. Seine Mutter hat er bei einem Autounfall verloren, in dem ein Polizist verwickelt war, sein Vater ließ sich später von eben jenem Polizisten bezahlen, um keine Anklage zu erheben. Mit der Todesdiagnose ausgestattet beginnt Rayan einen blutigen Rachefeldzug.

In einer gerechteren Welt wäre ich bei PESN‘ PESNEJ hellwach und bei BOPEM schläfrig gewesen... Was sich in der Inhaltsangabe als ungewöhnlicher (oder doch nicht so ungewöhnlicher) Rache-Thriller anhört, ist leider eine ziemliche Schlaftablette von einem Film geworden. Ellenlange Einstellungen von Figuren, die von einem Bildrand zum anderen Bildrand laufen, ein Hauptdarsteller, dessen mimischer Stoizismus zutiefst unexpressiv bleibt und ein Rückgriff auf wirklich klischeehafte Plotelemente machen BOPEM zur Geduldsprobe. Schade: sowohl vom goEast-Festival wie auch von der Viennale war ich Besseres aus Kazachstan gewöhnt.


20.00 Uhr, Murnau-Filmtheater
ÚSMEV DIABLA („Das Lächeln des Teufels“)
Regie: Ján Zeman
ČSSR 1987
93 Minuten, 35mm
Irgendwo in einem abgelegenen Berghotel in der Slowakei: eine Crew dreht gerade eine Filmadaption von Offenbachs Oper „Hoffmanns Erzählungen“. Ein Polizeikapitän befindet sich auch dort und ermittelt – ähm... irgendetwas mit gefälschten Juwelen und bei einer Grabstätte in der Nähe des Hotels wurde wohl auch irgendetwas geplündert? Das hat wohl irgendetwas mit dem Dreh zu tun – oder auch nicht? Nun ja, der Dreh verläuft etwas chaotisch, der Polizist verliebt sich ein bisschen in die Ehefrau des Regisseurs, die zugleich – ähm... Hauptdarstellerin, oder doch nur Synchronsängerin für die eigentliche Hauptdarstellerin ist...? Einen Bestattungsunternehmenschaffeur, der zu schmierigem Stalking neigt, taucht auch auf. Während allerdings der Hund der eben genannten Sängerin verschwindet. Und der (eigentlichen?) Hauptdarstellerin tote Ratten ins Bett gelegt werden. Ein italienischer Produzent, der wie die Karikatur eines schmierigen Zuhälters aussieht, taucht auch auf. Und der Polizist ermittelt weiter – ähm... in einer Angelegenheit, bei der eine Donald-Quietschfigur ein Indiz sein soll. Und ähm... Andere Sachen, die sich nicht leicht erklären lassen, passieren auch noch... irgendwie... ???

Aus dem Dreh von Offenbachs "Hoffmanns Erzählungen"
Im Film eigentlich in Farbe zu sehen
© Slowakisches Filminstitut – Fotoarchiv/Vladimír Vavrek
Der Kurator der Kriminalfilmreihe bezeichnete ÚSMEV DIABLA als „slightly deranged little half-brother of Dario Argento‘s OPERA“. Eine schlechte Vorbereitung für diesen wunderlichen Film, der ganz bestimmt kein „slowakischer Giallo“ ist – zumal es im Grunde bis zu den letzten zehn Minuten kein richtiges Verbrechen oder gar Mord gibt (zumindest, soweit ich erkennen konnte). Wenn wir schon bei Analogien sind, würde ich eher vorschlagen: man stelle sich vor, Monty Python hätte eine Drehcrew zusammengestellt und diese François Truffaut überlassen, der dann versucht hätte, unter widrigen Bedingungen in der Slowakei und in Ko-Regie mit Helge Schneider LA NUIT AMÉRICAINE zu drehen... Aber irgendwie trifft es das auch nicht genau.
Als „Krimi“ jedenfalls ist ÚSMEV DIABLA ein totaler Reinfall. Warum gibt es denn einen ermittelnden Polizisten, wenn es nichts richtiges zu ermitteln gibt (oder zumindest nichts, was mit dem Gezeigten in Beziehung stehen würde). Dann gibt es auch Figuren, die man in einem „normalen“ Krimi als potentielle Verdächtige präsentieren würde (z. B. den schmierigen Totengräber-Chauffeur), aber wo kein richtiges Verbrechen ist, kann doch auch kein Verdacht sein. Um noch mal auf Analogien zurückzukommen: als „Krimi“ wirkt ÚSMEV DIABLA wie eine Anhäufung von Genre-Zutaten, die nicht verbunden werden – als würde jemand einen Kuchen backen, in dem er einfach Mehl, Zucker, Butter und aufgeschlagene Eier unvermischt in ein Blech kippt und das ganze in den Backofen schiebt. Heraus käme dann... Mehl, Karamell, geschmolzene Butter und etwas Eierstich-Ähnliches.
ÚSMEV DIABLA ist gewissermaßen eine Summe von Teilen, die kein Ganzes bilden. Aber was für Teile. Natürlich erst einmal der Polizeikapitän selbst, wunderbar gespielt von Pavol Mikulík, mit stets etwas melancholischen Augen, als würde er nicht so richtig durchschauen, wo er hineingeraten ist. Er ist gewissermaßen der Ankerpunkt, die Erdung des Films. Wenn sich scheinbar alles in Irrsinn und Nonsense auflöst, ist er da, um Orientierung zu bieten (auch, wenn er sie selbst vermutlich nicht hat).
Einen weiteren, ebenso „nicht-narrativen“ Fixpunkt (neben den wiederholt auftauchenden Einblendung, welcher Tag gerade ist – ob die Tage wirklich chronologisch folgen, weiß ich nicht) bieten die ausgedehnten Probe- und Drehszenen der Filmcrew. Lange Tanz- und Gesangpassagen, die entsprechend ihres Ursprungs in der Oper pathetisch, flamboyant und durch eine Prise 1980er-Jahre-Kitsch leicht campy wirken. Wunderbar: diese Montage der Balletttänzerinnen und -tänzer, die sich in knappen, genital- und busenbetonten Outfits äußerst sexy tänzelnd aneinanderräkeln, während ein junger Polizist, der irgendwie mit dem Kapitän vor Ort ist und die Probe beobachtet, ganz große Augen macht. Köstlich die Attacke des schmierigen Voyeurs, der sich in das Zimmer der jungen (Haupt-?)darstellerin schleicht, sie überrascht und sich nur einen Schnitt später nackt, mit einem Kissen zwischen den Beinen, auf ihrem Bett räkelt – wenige Sekunden, bevor sie ihn zur Sau macht und hochkant hinauswirft. Die alte und die junge Darstellerin, die im Nirgendwo spazieren und sich dann dazu entscheiden, ein Bier zu trinken. Nach einer Abwägung, ob sich das überhaupt für Damen ziemt, trinken sie sogar zwei! Irrsinniges, Absurdes, Wunderliches und Triviales, das sich vor einer malerischen Landschaft oder vor wunderschöner habsburgischer Architektur abspielt.
Die deutschen Untertitel auf der 35mm-Kopie des Films waren übrigens ein weiteres Argument gegen Verfechter der „lustigen“, sprich selbstvertrashenden Synchronisationen: komplett leserunfreundlich in Versalien, voller unfreiwillig komischer Tippfehler und mit Stilblüten übersät, als hätte der Übersetzer 1987 eine Reise in die Zukunft gemacht, um das zu benutzen, was Google-Translator bisweilen ausspuckt. Irgendwie passte das zum Film, auch wenn es das ohnehin geringe Verständnis dessen, was da passiert und was die Figuren eigentlich sagen und tun, noch weiter erschwerte.
Fazit: ich habe diesen Film nicht verstanden und ich finde ihn toll!


22.00 Uhr, Murnau-Filmtheater
DOM ZŁY („Das Haus des Bösen“)
Regie: Wojciech Smarzowski
Polen 2009
105 Minuten, 35mm
Ein verschneites Haus irgendwo auf dem flachen Land in Polen, anno 1981. Einige Polizisten stellen zusammen mit einem Verdächtigen einen Mord nach. Das gestaltet sich aufgrund des Alkoholkonsums aller Beteiligten schwierig, zumal auch noch politische Intrigen permanent wechselnde Fronten aufbauen. In Rückblenden wird dem Hergang dieser Tat aus der Ich-Perspektive des Verdächtigen nachgegangen: auf dem Weg zu seiner neuen Arbeitsstelle kommt er zu diesem Haus, wo ein älterer Bauer und seine jüngere Frau ihn bewirten. Mit dem Mann wird er Freundschaft trinken und Schwarzmarktgeschäfte planen, mit der Frau das Bett teilen – bis es zur Eskalation kommt.

© goEast Filmfestival
DOM ZŁY erzählt in der Tat die Geschichte einer doppelten Eskalation, eines doppelten Hineinschlitterns in den puren Wahnsinn. Auf zwei Ebenen verteilt ist es die Eskalation der Leidenschaft (in den Rückblenden) und die Eskalation der Politik (bei der Untersuchung). Das ist zuerst befremdlich, denn es sieht zunächst aus, als würde man zwei komplett verschiedene Filme schauen. In den Rückblenden: ein manisches Melodrama, als des Erzählers Frau von einer Sekunde auf die andere tot umkippt und er sich dann im Dreck und Wodka suhlt, bis er dann doch einen neuen Job bekommt (den er nie erreichen wird). Später das Umkippen in einen unkontrollierten Trinkkumpanen-Drama, als der spätere Verdächtige mit dem älteren Bauern eine Flasche nach der anderen kippt und dabei Größenwahnsinniges herbeispinnt. Zwischendurch immer wieder die Rückkehr in die Gegenwart, in einen Procedural, der ein wenig an Sidney Lumet erinnert: Polizisten, die eigentlich einen Mordfall ermitteln, werden des Amtsmissbrauchs, der Trunksucht, der politischen Unzuverlässigkeit angeklagt – und verlieren wird der, der als letzter die anderen denunziert.
Im Programmheft wurde Wojciech Smarzowski als Dominik Graf Polens bezeichnet. Nicht ganz abwegig: DOM ZŁY und Grafs TV-Thriller sind großes, leidenschaftliches Kino der Intensität, mit einem feinen Blick für Irrsinn und totalen Kontrollverlust.
À propos Kontrollverlust: Die gezeigte 35mm-Kopie war geradezu kristallin klar – aber warum sollte es den Zuschauern einfach gemacht werden, wenn es auch lästig geht? Die dritte Rolle wurde nämlich auf welche Weise auch immer nicht richtig in den Projektor gelegt, so dass der Bildstand knapp 20 Minuten lang extrem zittrig war – was in statischen Momenten bereits nervig war, verschwamm in Momenten mit schnellen Schnitten oder raschen Kamerabewegungen zu einem kopfschmerzinduzierenden Mischmasch. Wenn ich es richtig registriert habe, ging mindestens ein Co-Zuschauer irgendwann raus, um dies mitzuteilen, aber wirklich etwas unternommen wurde nichts. Vielleicht wäre es ja eine Lösung gewesen, den Film mal kurz anzuhalten, die Rolle zurückzuspulen und noch einmal richtig einzulegen (zumal der Vorführer im Murnau-Theater offenbar nicht die geringsten Probleme damit hat, Filme aus anderen Gründen mittendrin einfach zu stoppen – mehr dazu aber unten). Die restlichen Rollen waren dann wieder halbwegs fachmännisch eingefädelt. Wieder eine Vorführung, wo alles gegeben wurde, damit ja keine Immersion stattfindet.


Sonntag, 24. April

10.00 Uhr, Pressesichtungsraum im Festivalzentrum – Gebäude der Wiesbadener Casino-Gesellschaft
CZERWONY PAJĄK („Die rote Spinne“)
Regie: Marcin Koszałka
Polen 2015
90 Minuten, Screener
Ein Serienmörder bringt im Krakau der späten 1960er Jahre Knaben um. Eines seiner grausam zugerichteten Opfer wird von einem Medizinstudenten, der auch Wasserspringermeister der Stadt ist, am Rand eines Rummelplatzes entdeckt. Als er wenig später auch zufällig die Identität des Täters aufdeckt, beginnt eine obsessive Beziehung zwischen den beiden. Der junge Wasserspringer nimmt dabei nach und nach die Identität des Mörders an.

„So unaufgeregt wie leider auch fürchterlich unaufregend inszeniert“ ist ein Urteil, das ich auch in Bezug auf einen anderen Wettbewerbsfilm fällen werde. „Arthouse-Kino macht ein bisschen einen auf Genre“ würde ebenfalls zutreffen. Keine Frage: CZERWONY PAJĄK ist handwerklich makelloses Kino mit guten Darstellern, aber er ist eben auch leblos, fast steril. Vielleicht ist es diese „unaufgeregte“ Ästhetik, die mich gestört hat, diese langen Einstellungen, die im Grunde nichts zu sagen haben (kürzer würden sie eher zum Punkt kommen, noch länger würden sie zumindest richtig irritieren), diese Aneinanderreihung von Trivialitäten (der Student geht ein bisschen Turmspringen üben), die einen gewissen Realismus vorspiegeln sollen. Vielleicht hat mich gestört, dass im Gegensatz dazu das Drehbuch umständlich, vollkommen unfokussiert ist: soll es um die Beziehung zwischen zwei Besessenen gehen? Oder doch um eine Art Bestandsaufnahme der vergangenen, realsozialistischen Tristesse? Oder doch um einen Serienmörder-Thriller? Irgendwie scheinbar um alles und dadurch auch um nichts. Definitiv gestört hat mich der Nebenplot um eine Journalistin, die sich mehr oder minder an den Medizinstudenten (bzw. eher an den Wasserspringermeister) ranwirft – eine weibliche Figur, die auf unsagbar umständliche Weise eingeführt wird, nur, damit sie später so nonchalant wie brutal beseitigt werden kann.
Je mehr ich über den Preisträger für die beste Regie und den FIPRESCI-Preisgewinner nachdenke, umso banaler und vergesslicher erscheint er mir.


13.30 Uhr, Murnau-Filmtheater
ZIEMA OBIECANA („Das gelobte Land“)
Regie: Andrzej Wajda
Polen 1975
ca. 170 Minuten, DCP
Der Pole Karol, der Deutsche Max und der Jude Moritz sind Söhne adeliger bzw. großbürgerlicher Familien, die im Łódź des späten 19. Jahrhunderts große Karriere machen möchten. Zusammen gründen sie eine Textilfabrik und scheuen dabei vor Betrügereien, Intrigen und Grausamkeiten nicht zurück.

Daniel Olbrychski als Karol und Kalina Jędrusik als Lucy
© goEast Filmfestival
Andrzej Wajdas Adaption von Władysław Reymonts gleichnamigem Roman will in vielerlei Hinsicht zu vieles auf einmal und in gewisser Weise ist ZIEMA OBIECANA auch ein Film, der ein wenig zu vielen Leuten gefallen möchte (um das Wort „anbiedern“ mal zu vermeiden). Reymonts Geschichte wird zu einem monumentalen Epos auserzählt, das in aller Deutlichkeit und mit nur wenig Subtilität die Entwicklung des räuberischen Industriekapitalismus in den polnischen Westgebieten des Russischen Reiches darstellen will. Und so fühlt sich dann ZIEMA OBIECANA auch an: Qualitätskino mit großer Message-Keule für den realsozialistischen Gebrauch. So ist der Film in Teilen eine biedere Literaturverfilmung, aufgeblasen zu epischer Länge, damit Freunde epischer Literaturverfilmungen ihre Freude haben. Die Kapitalismuskritik des Films wird bis zum Grotesken getrieben: inmitten einer wilden Orgie, die einer der gemeinen Industriellen veranstaltet, gibt es auch einen Käfig mit einem Tiger, damit auch der dümmste anzunehmende Zuschauer die Botschaft kapiert. Und wer in das Industriegebiet von Łódź kommt, wird gnadenlos zermalmt – wenn ein älterer Arbeiter bei einem Kampf mit einem Geschäftsführer, der seine Tochter vergewaltigt hat, zusammen mit ihm in eine der großen Maschinen reinfällt, spuckt die Maschine nach wenigen Sekunden eruptiv blutiges Gekröse durch den ganzen Raum. Wer sich also Raubtierkapitalisten als perverse Lustmolche vorstellt und auch auf unmotivierten Splatter steht, wird bei ZIEMA OBIECANA ebenfalls gut bedient.
Lustig, nett und irgendwie unterhaltsam ist das alles ja schon, und tatsächlich gehen die drei Stunden überraschend flott vorüber. Wesentlich störender fand ich, wie der Film in seinen Figuren relativ nonchalant antisemitische und deutschfeindliche Ressentiments pflegt (während die polnischen Figuren auf gewisse Weise netter behandelt werden). So sind alle deutschen und jüdischen Industriellen Karikaturen von Stehaufbösewichten: der schimpfende Deutsche, der mit seinem Gehstock seine Angestellten bis aufs Blut schlägt, der schmierige Jude, der einen halben Meter hinter seinem Schreibtisch seinen Safe stehen hat. Das vermischt sich zumal mit einem etwas zweifelhaften Frauenbild. Magda Müller, die Tochter eines deutschen Industriellen (die Karol am Ende aus Karriere-Kalkül heiratet), ist die Karikatur der strohdämlichen deutschen Gans, die auf Polnisch kaum zwei Wörter geradeaus sagen kann und sich bei jeder Gelegenheit peinlich benimmt. Lucy Zucker, die junge Ehefrau eines jüdischen Industriellen und heimliche Geliebte Karols, ist hingegen die Karikatur der durchtriebenen jüdischen Nymphomanin, die, wenn sie Karol nicht gerade vernaschen möchte, andere Sachen in rauen Mengen isst (in einer denkwürdigen Szene etwa einen leicht gammelig aussehenden Fischkopf). Der Deutsche Max ist aus dem Antihelden-Trio jener, für den sich der Film am allerwenigsten interessiert. Allerhöchstens ist er ein wenig tollpatschig. Der Jude Moritz hingegen ist ein hyperaktives Stehaufmännchen. ZIEMA OBIECANA nutzt mehrere Gelegenheiten um anzudeuten, dass er homosexuell ist (und dass dies im Sinne des Films natürlich verwerflich sei): so schlägt er etwa eine Prostituierte, die sich an ihn ranmacht, hat ein Foto von Karol in seiner Brieftasche und wuselt immer etwas zu nah um Karol herum.
Ob das alles 1974, also noch nicht einmal zehn Jahre nach dem Beginn massiver antisemitischer Kampagnen in Polen, wirklich künstlerisch, politisch und allgemein menschlich „nötig“ war, sei dahingestellt. Dass eine der leidenden Arbeiterinnen, die für vielleicht zwei Minuten ein Gesicht bekommt, offensichtlich jüdisch ist und ein Fabrikangestellter mit humanistischem Gewissen deutsch, ist kein wirklicher Ausgleich...
In einem Film, wo es fast nur Bösewichte gibt, werden praktisch alle polnischen Figuren doch irgendwie anders gezeigt. Während Deutsche und Juden in Łódź Arbeiter schinden, hat sich Karols Familie auf einen Landsitz zurückgezogen: leicht dekadente Adelige, die nicht mehr besonders reich sind und keinen politischen oder wirtschaftlichen Einfluss haben, aber irgendwie keine bösen Leute. Karols polnische Verlobte (ihren Namen habe ich vergessen) ist eh eine musterhafte junge Frau – gewissermaßen die polnische Heilige zu Lucy Zuckers jüdischer Hure. Und Karol selbst? Ein Bösewicht, sicherlich, aber auch die einzige Figur, die so etwas wie Gangster-Glamour haben kann und darf.
Ein besonderes Merkmal des Films ist seine faszinierende Sprache. Polnisch ist die Hauptsprache, wird aber von vielen Figuren mit zahlreichen deutschen Begriffen aufgelockert. Sätze werden auf Polnisch begonnen und auf Deutsch beendet oder umgekehrt. Kleine Zwischenrufe werden auf Deutsch vorgetragen. Manche Dialoge sind zweisprachig, wenn etwa Karol auf Polnisch mit einem deutschen Fabrikchef spricht und dieser jeweils komplett auf Deutsch antwortet. Faszinierend, zumal hier wiederum zeitgenössischen polnischen Zuschauern doch viel zugemutet wurde. In der in Wiesbaden gezeigten DCP-Kopie, die deutsch untertitelt war, wurde konsequent alles Deutsche nicht untertitelt.
Wie gesagt: ZIEMA OBIECANA ist keineswegs zu lang, irgendwie unterhaltsam, aber angesichts der Kür zum besten polnischen Film aller Zeiten hätte ich mehr erhofft.

irgendwann zwischen 14.00 und 16.15 Uhr, Murnau-Filmtheater
ZIEMA OBIECANA - Das Bonusprogramm
Regie: Andrzej Wajda / ein Wiesbadener Filmvorführer
Polen 1975 / Deutschland 2016
ca. 20 Minuten, DCP mit exklusivem Pausenblock und raffinierter Analog-Veredelung
Ungefähr nach einer halben oder Dreiviertelstunde fror das Bild von ZIEMA OBIECANA ohne jegliche Vorwarnung auf der Leinwand ein. Es dauerte dann etwa zwei Minuten, bevor der Filmvorführer in dramatisch-theatralischer Pose den Saal betrat, um einen der Zuschauer darauf aufmerksam zu machen, dass er mit seinem Smartphone ein Bild des Films gemacht habe und dies verboten sei. Eine (der Stimme nach ältere) Zuschauerin beeilte sich, dem Vorführer beizustimmen und fuhr den Schuldigen hastig mit der Bemerkung „Dafür könnte man sogar Anzeige gegen Sie erstatten“ an. Nun denn: der Schuldige löschte das Bild, der Vorführer ging wieder in die Kabine und es konnte dann endlich weiter gehen...
Nicht, dass ich besonders viel Sympathie hätte für Leute, die mit ihren Handys ein Foto von der Leinwand machen, aber irgendwie scheint mir dieser Vorfall doch symptomatisch für eine zunehmend verfallende Filmkultur zu sein. Und damit meine ich jetzt tatsächlich die Intervention des Vorführers. Von den drei möglichen Lösungen des Problems, nämlich den fotografierenden Zuschauer NACH Ende des Films zur Rede stellen, den fotografierenden Zuschauer während des weiter laufenden Films im Dunkeln zur Rede stellen oder den Film komplett zu stoppen, um aufmerksamkeitsträchtig den fotografierenden Zuschauer mit „Beteiligung“ des restlichen Publikums zur Rede zu stellen, hat er sich ausgerechnet für die wahrhaftig dämlichste Lösung entschieden.
Wenn ich nicht so verärgert gewesen wäre, hätte ich wahrscheinlich so etwas denken können wie „Schön, wenigstens sitzt der Vorführer im Vorführraum und passt haargenau auf die Projektion auf“. Wie sehr ich mich getäuscht hätte...
Denn à propos „Haar“: eine halbe Stunde vor Ende des Films folgte der nächste Zwischenfall. Ein Faden, oder eben ein Haar, oder was auch immer, schob sich vor die Projektionslinse und teilte das Bild ungefährt in der Mitte, leicht rechts ausgerichtet, mit einem schwarzen, leicht unregelmäßig verlaufenden Strich von oben bis unten. Kritiker des digitalen Kinos (zu denen ich mich bei manchen Aspekten durchaus zähle) vermissen die Materialität von Film bei DCP-Projektionen – auf eine solche Form von Materialität konnten wir allerdings schon in Zeiten des analogen Kinos verzichten. Nun wurde ZIEMA OBIECANA gerade in dem Moment richtig spannend und nach dem Vorfall von vorhin mussten sich doch alle Zuschauer geradezu darauf verlassen können, dass der Vorführer das Haar, diesen Faden (oder was auch immer) merken würde, wenn er mit seinen Adleraugen schon so aufmerksam den Saal nach fotografierenden Zuschauern durchsucht. Nach weiteren zehn Minuten, in denen das Haar-Faden-Dings weiter das Bild trübte, entschied ich mich, Synergieeffekte zu nutzen: also aufs Klo zu gehen (was ich seit mindestens einer halben Stunde doch dringend musste) und auf dem Weg dem Vorführer bescheid zu geben. Der war nicht in der Vorführkabine, sondern irgendwo anders, so dass ich den beiden charmanten Einlassmitarbeiterinnen bescheid geben musste. Auf dem Weg von ihr wisst schon wo zurück zum Saal sah ich vor der Saaltür den Vorführer und die beiden netten Damen stehen, die mir mitteilten, dass es sich um ein Kabel handelte. Warum der Vorführer erneut nicht im Vorführraum war, sondern davor stand, verkniff ich mich zu fragen.
Die gute Nachricht allerdings: die letzten zehn Minuten des Films liefen ohne weitere Zwischenfälle.
Diese Qualität von Projektionen scheint mir für das Kino der Murnau-Stiftung, also einer Institution, die sich ein Stück weit der Bewahrung des Filmerbes verschrieben hat, vollkommen daneben zu sein. Der Kinosaal des Murnau-Filmtheaters spielt allerdings nicht nur für die Murnau-Stiftung, sondern auch für die FSK – insofern passt das also doch wieder...


17.00 Uhr, Murnau-Filmtheater
SZENVEDÉLY („Leidenschaft“)
Regie: Fehér György
Ungarn 1998
ca. 122 Minuten (?), 35mm
James M. Cains „The Postman Always Rings Twice“, angesiedelt im Nirgendwo, auf Ungarisch, in Schwarzweiß und ultralangen Plansequenzen.


Ildikó Bánsági als die Ehefrau, Đoko Rosić als der Ehemann und
János Derzsi (ein Stammdarsteller von Tarr Béla) als der Mann
© goEast Filmfestival
Die Ungarn und ihre langen Plansequenzen: hier nicht so musikalisch wie Jancsó, sondern gnadenlos streng und unerbittlich wie bei Tarr (der auch am Drehbuch mitschrieb). Minutenlange Einstellungen auf Schlammeinöde, trostlose Regenlandschaften, darin drei Menschen (später nur noch zwei), die wie leere Hüllen, Zombies, durch das Bild kriechen. Im Mittelteil diese Episode im Gefängnis mit dem langen Monolog des Anwalts, in dem wir etwa zehn Minuten lang nur sein hartes Gesicht sehen, und dann diese tiefen, düsteren Gänge mit den Stahltüren, begleitet vom gnadenlosen Hämmern der Schreibmaschine, die das Geständnis der Frau abtippt. Das Tageslicht wieder zu sehen, wirkt dann geradezu wie ein Schock.
So entsteht ein avantgardistisches Werk, der den Geist des film noir zu einer fast unerträglichen Stärke konzentriert. „The next films are about people torturing and killing each others in rural landscapes. You will die in a really slow and painful agony. Have fun!“ schloss Kurator Olaf Möller seine kurze Einführung des Films ab (womit er allerdings die beiden darauffolgenden Filme des Krimi-Symposiums ebenso dazu zählte).
Ja, die Erotik fehlt etwas bei SZENVEDÉLY, und nicht nur deshalb mag ich BODY HEAT und BASIC INSTINCT doch lieber. Nicht der beste, aber ohne Zweifel einer der abgefahrensten neo-noirs, dessen Bilder vollkommen zeitlos wirken, wie aus einem Paralleluniversum. Niederschmetternd, radikal, toll.
Ein Rätsel dieser Projektion ist und bleibt leider die Vorführzeit. IMDb sagt, dass SZENVEDÉLY 155 Minuten dauert, eine Dauer, die im Internet auch anderswo sehr häufig zu finden ist. Im Programmheft des Festivals stand etwas von 136 Minuten (seltener, aber auch auf mehreren Seiten zu finden). Ebenfalls, allerdings schon wesentlich seltener, ist die Zahl von 122 Minuten zu finden, und das war auch ungefähr die Dauer der Projektion im Murnau-Theater. Was das zu bedeuten hat, weiß ich nicht. Spontan hätte ich ja darauf getippt, dass der Filmvorführer vielleicht eine Rolle vergessen hat, was bei einem Film wie SZENVEDÉLY, der anti-narrativ und sowieso voller Ellipsen ist, sicherlich weniger aufgefallen wäre als bei einem „durchgeskripteten“ Film. Angesichts der Vorkommnisse bei den vorigen Projektionen hätte mich das nicht gewundert. Ansonsten muss davon ausgegangen werden, dass offenbar unterschiedlich lange Kopien unbekannten Ursprungs im Umlauf sind.


20.00 Uhr, Caligari FilmBühne
ORIZONT
Regie: Marian Crișan
Rumänien 2015
93 Minuten, DCP
Lucian übernimmt zusammen mit seiner Frau ein Berghotel in den Karpaten. Bald wird er vom Mafioso Zoli und seinen Schlägern bedrängt und bedroht.

Auf keinen aktuellen Film des Festivals habe ich mich so sehr gefreut wie auf diesen. 2013 hatte mich Marian Crișans ROCKER schlichtweg umgehauen. Mit ORIZONT kam jedoch eine furchtbare Ernüchterung. 
Ich zitiere mich noch einmal kurz selbst aus meiner Einschätzung zu CZERWONY PAJĄK: „So unaufgeregt wie leider auch fürchterlich unaufregend inszeniert [...] Arthouse-Kino macht ein bisschen einen auf Genre“. Es gibt ja die Auffassung, dass praktisch jede „neue Neue Welle“ seit den 1990er Jahren irgendwann beim Genre landet: die koreanische war von Anfang an dort, die Neue Berliner Schule kam zum urbanen Actionfilm, zum Western und sogar zum Sadiconazista-Film, sogar Hou Hsiao-Hsien hat jetzt kürzlich einen wuxia-Martial-Arts-Film gedreht. Auch angesichts des Plakats (siehe z. B. hier) erwartete ich eigentlich einen Gangster-Thriller, der keine Gefangenen macht. Warum auch nicht?
ORIZONT entpuppte sich dann doch als richtiger Langweiler in jeglicher Hinsicht. Hauptdarsteller András Hatházi ist vom intensiv-expressiven Dan Chiorean aus ROCKER meilenweit entfernt und bläst die meiste Zeit eher Trübsal als dass er eine richtige Figur spielen würde. Bis auf Zsolt Bogdán als Gangsterchef Zoli, der gewisse, gleichwohl unterentwickelte Ansätze an Charisma entwickelt, spielen auch die anderen Darsteller nur Dienst nach Vorschrift bzw. Drehbuch. Dessen Trivialität versucht die Inszenierung durch bedeutungsschwanger ausgedehnte Szenen zu kaschieren, die durch zu viele lens flares allerdings auch nicht besonders ansehnlich sind.
2013 schrieb ich: „Regisseur Marian Crişan hat gut verstanden, was er an Chiorean hatte, und filmt oft nicht Handlungen selbst, sondern Victors Reaktionen darauf“ – ist Marian Crișan als Filmemacher also doch nur so gut wie seine Darsteller?


22.00 Uhr, Caligari FilmBühne
AFERIM!
Regie: Radu Jude
Rumänien / Bulgarien / Tschechische Republik / Frankreich 2015
108 Minuten, DCP
Zwei Kopfgeldjäger brechen auf, um einen entflohenen Banditen zu fangen, der sich schlussendlich nur als armer Bauer entpuppt.

Präziser formuliert: Anfang des 19. Jahrhunderts fangen ein Gendarm und sein Sohn einen aus der Sklaverei eines wallachischen Bojaren entflohenen Rom. So en passant hatte ich letztes Jahr von diesem Film gehört, der tatsächlich besprochen wurde als eine Art rumänischer Western. Auch hier tat sich nun eine gewisse Enttäuschung breit, da die Ähnlichkeit zum Genre wahrhaftig sehr kursorisch ist. Eher ist AFERIM! eine Art Übertragung donquijote‘ischer Motive auf das Rumänien des frühen 19. Jahrhunderts, mit einem Helden (dem erfahrenen Gendarmen) als redseliger Draufgänger und seinem Kumpanen (dem Sohn) als Tollpatsch mit comic-relief-Potential. Ein bisschen Schwejk versteckt sich auch in den Figuren, die, egal in welcher Situation, immer irgendeine Anekdote zum Besten geben müssen, so dass der Film bisweilen einen erschlagenden Redefluss entwickelte und fast mehr wie ein Hörbuch mit Bildern als wie ein Stück Kino wirkte. Sicherlich ist AFERIM! dennoch ein engagierter Film, ein Plädoyer gegen Antiziganismus und überhaupt gegen Rassismus und Nationalismus – und bleibt dabei dennoch angenehm unpädagogisch und frei von Thesenfilmattitüden.
Und doch floss dieser Film weitestgehend an mir vorbei, ohne, dass ich irgendeine Spur von Anteilnahme entwickelte. Ich registrierte AFERIM! mehr, als dass ich ihn sah und irgendwie erinnerte mich das (und natürlich das historische Setting und das Schwarzweiß und der redselige Held) an Welles‘ CHIMES AT MIDNIGHT, den ich letztes Jahr auch eher registrierte als sah. Vielleicht lag das an meiner schwindenden Energie und der Erkältung, die sich seit Anfang des Abends immer aggressiver in mir breit machte...
Ein Kandidat für eine konzentriertere Neusichtung unter besseren Bedinungen.


Montag, 25. April

10.00 Uhr, Pressesichtungsraum im Festivalzentrum – Gebäude der Wiesbadener Casino-Gesellschaft
MEHANIZAM („Mechanismus“)
Regie: Đorđe Milosavljević
Bundesrepublik Jugoslawien 2000
94 Minuten, Screener
Die beiden Profikiller Mak und Debeli fahren zu ihrem nächsten Auftrag. Auf der Fahrt durch die Einöde gabeln sie die Autostopperin Snežana auf, eine Dorflehrerin auf dem Weg zu ihrem nächsten Job. An einem verlassenen Bahnhof wartet der mysteriöse Janko auf die Truppe, und es kommt zur Eskalation.

Nikola Kojo als sadistischer Mak, Ivana Mihić als Snežana und
Andrej Šepetkovski als Janko © goEast Filmfestival
MEHANIZAM hätte ich auf einer 35mm-Kopie anstatt ORIZONT schauen können, und er hätte wunderbar an SZENVEDÉLY anschließen können. Ich erinnere an die Worte des Symposium-Kurators: „The next films are about people torturing and killing each others in rural landscapes. You will die in a really slow and painful agony. Have fun!“ 
Der Screener hatte ein fürchterliches, abgeranztes Bild, das ein wenig an eine dreifach überspielte VHS-Aufnahme erinnerte. Auf merkwürdige Weise passte das zu diesem fiesen kleinen Film. Tatsächlich eine Art Kammerspiel, bei dem sich vier (später drei) Leute an einem heruntergekommenen Nirgendwo gegenseitig foltern und töten. Wenn irgendjemand auf die Idee gekommen wäre, MEHANIZAM das Label „tarantino‘esk“ anzukleben, hätte der Film schon längst eine vernünftige Heimvideo-Auswertung. Doch vielleicht ist er dazu auch zu eigen und sicherlich auch zu brutal für gängige Fans „tarantino‘esker“ Gangsterkomödien. MEHANIZAM ist tatsächlich eine Gangsterkomödie, aber er ist auch ein abstrakter, absurder und abgrundtief schwarzer neo-noir. Abstrakt ist natürlich das Setting: Dreiviertel des Films spielt auf einer Schlammfläche in der Nähe einer heruntergekommenen Bahnstation. Absurd mutet der Film an, weil keine Handlung irgendeinen Ursprung oder ein Motiv zu haben scheint: der Auftrag der beiden Killer bleibt lange unklar, und löst sich dann im Nichts auf, als Mak die falschen Ziele tötet, und was Janko bei der Station macht (er wartet dort offenbar auf jemanden, aber nicht auf Mak und Debeli) bleibt mysteriös. Abgrundtief schwarz ist der Todeswunsch Maks: je sadistischer er im Laufe des Films wird, umso deutlicher wird, dass er Snežana und Janko letztlich dazu bringen möchte, ihn umzubringen.
Eine Wucht von einem Film.


ca. 11.45 Uhr, Pressesichtungsraum im Festivalzentrum – Gebäude der Wiesbadener Casino-Gesellschaft
WOLNA SOBOTA („Freier Samstag“)
Regie: Juliusz Machulski
Polen 1977
12 Minuten, Screener
Kazimierz und Olenka, die sich offenbar nicht kennen, brechen zusammen zu einem Landausflug auf. Die beiden kennen sich offenbar nicht richtig, und rasch wird klar, dass das eine Zweckbekanntschaft ist: Kazimierz ist Arzt und nimmt an Olenka eine Abtreibung vor. Während Olenka sich erholt, geht Kazimierz fischen und bringt seinen Fang später zu seiner Familie mit.

Nur noch wenig Zeit, deshalb einen Kurzfilm noch genommen – leider ohne Untertitel auf dem Screener. Mit meinen rudimentären Polnisch-Kenntnissen gestaltet sich das Verständnis schwierig. Vielleicht habe ich deshalb etwas verpasst, denn in meinem Gedächtnis ist WOLNA SOBOTA tatsächlich nur ein sauberes Stück Kinohandwerk und gehört zur Sorte Kurzfilm, die eben handwerkliches Können und Potential für „mehr“ demonstrieren sollen.

GORĄCZKA MLEKA („Milchfieber“)
Regie: Juliusz Machulski
Polen 1977
15 Minuten, Screener
Ein Student trägt in einer riesigen Plattenbausiedlung Milch aus. Das Gebäude wird nach und nach zum Ort des Grauens für ihn, als eine ältere Frau die Milch nicht mehr in die Wohnung nimmt, weil sie gestorben ist.

Hier noch mehr Verständnisprobleme, weil der Film merkwürdigerweise mehr Dialoge als WOLNA SOBOTA hatte. Visuell einige interessante Thriller-Momente, denen man aber eben doch das geringe Budget einer Filmhochschularbeit ansieht.


14.00 Uhr, Caligari FilmBühne
DRAK SA VRACIA („Drache kehrt heim“)
Regie: Eduard Grečner
ČSSR 1968
81 Minuten, DCP
Der Töpfer Martin wird aus nichtigen Gründen von der Dorfgemeinschaft verstoßen und lässt seine große Liebe Eva zurück. Jahre später kehrt er zurück. Als die Kuhherde des Dorfes in einem entfernten Tal in einen Waldbrand gerät, bietet er sich an, sie zu retten.

Ein markantes, kantiges, unvergessliches Gesicht: Radovan Lukavsky
© goEast Filmfestival
Die Tschechoslowakische Neue Welle fand nicht nur in Tschechien, sondern auch in der Slowakei statt. Eduard Grečner, Anfang der 1960er Jahre noch als Regieassistent bei Štefan Uher, einem der Gründungsväter der Tschechoslowakischen Neuen Welle, drehte mit DRAK SA VRACIA seinen dritten Spielfilm und für lange Zeit auch seinen letzten: nach der Niederschlagung des Prager Frühlings wurde er in der tschechoslowakischen Filmindustrie marginalisiert und war fortan nur noch als Synchronisationsregisseur tätig. Abgesehen zweier eigener Spielfilme in den 1990er Jahren ist er das bis heute, wie Alexandra Strelková, die Leiterin des Nationalen Filmzentrums des Slowakischen Filminstituts, in ihrer Einführung sagte.
DRAK SA VRACIA ist zwar ein slowakisch-sprachiger Film, allerdings mit nur sehr wenigen Dialogen. Den großen Teil seiner Geschichte erzählt er über seine verblüffend schönen Schwarzweißbilder. Hervorzuheben sind die langen, assoziativen Montagen, in denen Martins Verdrängung aus dem Dorf in Rückblende gezeigt wird und in denen sich totale Stille und laute, sphärische Musik mit lang anhaltenden Akkorden abwechseln. Toll ist auch die absolute Abgehobenheit von Zeit und Ort: der Film spielt weder explizit in der Vergangenheit, noch explizit in der Gegenwart, sondern präsentiert eine im Grunde zeitlose Tragödie von Verstoß aus einer Gemeinschaft. Das Dorf ist auch die einzige soziale Institution im ganzen Film (abgesehen von wandernden Hirtengemeinschaften in den Bergen). Das Gefühl, das in der Welt von DRAK SA VRACIA irgendwo anders jemand leben könnte, kommt praktisch nicht auf.
DRAK SA VRACIA ist ein trauriger und hoffnungsloser Film, wenn es um die menschliche Natur geht. Statt zuzugeben, dass sie Martin unrecht getan hat, möchte die Dorfgemeinschaft am Ende lieber ein zweites Mal in Negation ihres eigenen Unrechts leben, und der „Drache“ (so Martins Spitzname), der zurückgekehrt ist, muss wieder weggehen.
Wieder eine 10-20-minütige Phase von Sekundenschlaf-Attacken, doch dieses Mal kann ich mich trösten: es gibt eine wahrscheinlich exzellente DVD-Edition des Films beim britischen Label Second Run DVD.


Persönliches Ranking

1. UN COMISAR ACUZĂ


2. RITAM ZLOČINA

ÚSMEV DIABLA

DRAK SA VRACIA


3. DOM ZŁY

SZENVEDÉLY

MEHANIZAM


4. ILE WAŻY KOŃ TROJAŃSKI?

5. PESN‘ PESNEJ


6. CÓRKI DANCINGU

7. ZIEMA OBIECANA

8. AFERIM!


9. CZERWONY PAJĄK

10. ORIZONT


11. BYT‘ LIŠNIM


12. BOPEM

Einige Spezialpreise

Beste Regie
Sergiu Nicolaescu für UN COMISAR ACUZĂ

Bester Darsteller
Sergiu Nicolaescu in UN COMISAR ACUZĂ

Beste Darstellerin
Ilona Ostrowska in ILE WAŻY KOŃ TROJAŃSKI?

Bester Filmanfang
RITAM ZLOČINA – eine lange Plansequenz durch eine ländliche Idylle, die sich durch einen Kameraschwenk als städtischer Vorort entpuppt, während die Hauptfigur ihr Fahrrad nach Hause schiebt, dazu diese Sommerferienmusik...

Beste Schlussbilder
UN COMISAR ACUZĂ – Freezeframe auf Dirty Tudor, der von einer Hundertschaft umzingelt noch einige bad guys in Tod mitreisst
ÚSMEV DIABLA – zwei Männer kreuzen ihre Blumensträuße, während die Frau, die sie bekommen soll, wegläuft (Freezeframe)
DOM ZŁY – ein Bosch‘sches Tableau des Irrsinns, mit herumliegenden Leichen, prügelnden und saufenden Polizisten, Flaschen, die knapp an der Kamera vorbeigeworfen werden und einer wahrscheinlich bald tödlichen Verfolgungsjagd im Hintergrund

Beste Musik
Richard Oschanitzky für UN COMISAR ACUZĂ – oder: was Italiener in den 1970er Jahren konnten, hatten Rumänen sowieso drauf
Hrvoje Hegedušić für RITAM ZLOČINA – idyllische Sommerferienmusik, lediglich am Anfang als Einstimmung und am Schluss als Ausklang herrlich kontrapunktisch eingesetzt

Goldener Quietsche-Donald für den besten Irrsinn
ÚSMEV DIABLA

Vintage-silbernes Spielzeugraumschiff für die beeindruckendste Zeitlosigkeit
RITAM ZLOČINA
SZENVEDÉLY
DRAK SA VRACIA

Rottropfendes Küchenmesser für den absurdesten Splattermoment
ZIEMA OBIECANA

Das Messer an Eisensteins Gurgel

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Sergej M. Eisenstein in Hollywood

Preisfrage: Was verbindet Josef von Sternbergs AN AMERICAN TRAGEDY und Luis Trenkers DER KAISER VON KALIFORNIEN? Ganz einfach: Beide Filme wurden nicht von Sergej Eisenstein inszeniert.

Was zunächst idiotisch klingt, ergibt Sinn, wenn man weiß, dass Eisenstein 1930, als er bei der Paramount unter Vertrag stand, zu beiden Stoffen ein fertiges Drehbuch ablieferte, das aber jeweils vom Studio abgelehnt wurde. Letztlich drehte Eisenstein überhaupt keinen Hollywoodfilm - und das war nur einer der Tiefschläge, die er während und nach der langen Reise einstecken musste, die ihn von 1929 bis 1932 durch verschiedene europäische Länder, die USA und Mexiko führte.

Das im Titel angesprochene Messer an der Kehle kann mit etwas Fantasie als Sinnbild dafür dienen, auch wenn es sich in Wirklichkeit nur um eine harmlose Szene handelt. Es geht dabei um zwei Fotos, die zeigen, wie sich Eisenstein auf einem Balkon oder einer Dachterrasse eines Wolkenkratzers in New York einer Nassrasur unterzieht. Die beiden Bilder können bei oberflächlicher Betrachtung auch viel positiver interpretiert werden, und tatsächlich ist genau das auch geschehen. Im Begleitbuch zur DVD-Box Unseen Cinema. Early American Avant-Garde Film 1894-1941, die ich hier schon gelegentlich erwähnt habe, ist eines der beiden Fotos abgedruckt (das Büchlein ist nicht in der DVD-Box enthalten, sondern kann separat erworben werden). Und da steht unter dem mit "ca. 1930" datierten Bild Folgendes in der Bildunterschrift:
Sergei Mikhailovich must have been feeling on top of the world when Bourke-White snapped this picture.
Doch da wurde nicht sorgfältig genug recherchiert. Eisenstein kam am 12. Mai 1930 mit dem Schiff aus Europa in New York an, und Anfang Juni fuhr er nach Kalifornien ab, wo er dann bis zu seiner Weiterreise nach Mexiko blieb. In einem der beiden Bilder (nämlich dem, das auch im Booklet enthalten ist) ist im Hintergrund das fertige Empire State Building zu sehen. Wenn man dessen Baufortschritt nachvollzieht, erkennt man, dass die Aufnahme nicht im Mai/Juni 1930 entstanden sein kann. Tatsächlich entstanden die beiden Fotos im April 1932, als Eisenstein und seine beiden Begleiter nach dem erzwungenen Abbruch der Dreharbeiten in Mexiko nochmals nach New York kamen, um das Schiff nach Bremen zu nehmen. Die Umstände sind weitgehend überliefert. Die Fotografin Margaret Bourke-White hatte nach Eisensteins erster Ankunft in New York den Kontakt mit ihm gesucht, um Empfehlungsschreiben für eine bevorstehende Reportage-Reise in die Sowjetunion einzuholen. Bourke-White ist vor allem als Fotoreporterin in die Geschichte eingegangen, aber sie betätigte sich auch als Portraitfotografin, und zu diesem Zweck hatte sie seit 1930 ein Atelier im 61. Stock des Chrysler Building, das für kurze Zeit das höchste und dann (nach dem Bau des Empire State Building) für Jahrzehnte das zweithöchste Gebäude der Welt war. Und dort stattete Eisenstein der Fotografin, die ihre sowjetische Reise erfolgreich hinter sich gebracht hatte, bei seiner Rückreise noch einen Besuch ab. Bourke-White schenkte Eisenstein ein Exemplar ihres Fotobuches Eyes on Russia mit den Bildern aus der Sowjetunion mit einer originellen Widmung: "To Sergei Eisenstein, the only man to be shaved in my studio, 800 feet above the sidewalk - the highest shave to be received by any living man." Die Widmung trägt das Datum 7. April 1932, und zwischen dem 1. (Eisensteins Ankunft in New York) und dem 7. April muss somit die Rasur stattgefunden haben.

Man weiß nicht, warum sich Eisenstein ausgerechnet in so luftiger Höhe rasieren ließ (und der Name des Barbiers im weißen Kittel ist im Dunkel der Geschichte entschwunden), und Bourke-White machte die Fotos wahrscheinlich ohne besonderen Zweck - jedenfalls wurden sie anscheinend nicht zeitnah veröffentlicht. Ganz gewiss jedoch war Eisenstein damals nicht on top of the world - ganz im Gegenteil. Allerdings war ihm auch noch nicht die ganze Tragweite seiner Niederlage bekannt. Denn der Schriftsteller Upton Sinclair, der mit seiner Frau und einigen reichen Freunden Eisensteins mexikanisches Abenteuer finanziert und dann für beendet erklärt hat, hatte versprochen, das bis zum Abbruch der Arbeit gedrehte, äußerst umfangreiche Material unverzüglich nach Moskau zu schicken, damit es Eisenstein dort gemäß seinen eigenen Vorstellungen schneiden konnte. Und in New York war Eisenstein noch zuversichtlich, dass das auch so geschehen würde. Erst zuhause erfuhr er, dass Sinclair sein Versprechen brechen und das komplette Material einbehalten würde, was Eisenstein an den Rand des Nervenzusammenbruchs, wenn nicht gar an den Rand des Selbstmords brachte. Eisenstein sah sein mexikanisches Material nie wieder.

Doch wie kam es überhaupt zu dieser langen Reise? Offizieller Zweck der Fahrt, die Eisenstein mit seinem Co-Autor und Co-Regisseur Grigori Alexandrow und seinem Kameramann Eduard Tissé unternahm, war es, sich über die Technik des Tonfilms zu unterrichten. Aber Eisenstein ging es mehr darum, möglichst viele interessante Leute kennenzulernen, und mindestens einen größeren Film im Ausland zu drehen - am besten in Hollywood. - Als Eisenstein 1922 am Moskauer Proletkult-Theater vom Bühnenbildner zum Regisseur befördert wurde, durfte er auch in einem Workshop Nachwuchskräfte unterrichten, und Grigori Alexandrow (1903-83) war einer seiner ersten Schüler. Schnell avancierte er vom Musterschüler zum Assistenten des Meisters. Bei allen Eisenstein-Filmen von STREIK bis zum unvollendeten ¡QUE VIVA MEXICO! schrieb Alexandrow mit am Drehbuch, war Regieassistent oder sogar als Co-Regisseur gelistet (obwohl Eisenstein natürlich immer die erste Geige spielte) und übernahm gelegentlich auch kleinere Rollen als Schauspieler. Durch die Fährnisse der langen Reise genervt, kühlte sein Verhältnis zu Eisenstein ab, und nach der Rückkehr nabelte er sich ab und wurde erfolgreicher Regisseur eigener Filme. Grischa, wie er von Freunden genannt wurde, verfügte über Charme und blendendes Aussehen. Oksana Bulgakowas Eisenstein-Biografie schildert ihn in seiner frühen Phase mit Eisenstein so: "Grischa hatte Erfolg bei allen - Frauen, Greisen, Kindern, Milizionären und später auch Millionären, war jedoch kein erotischer Abenteurer, auch kein erotischer Doppelgänger seines Lehrers [Eisenstein]. Er lebte streng monogam mit seiner Frau Olga Iwanowa aus der Proletkult-Truppe und war Eisenstein total ergeben." - Eisensteins erster Spielfilm STREIK war eine Coproduktion des Proletkult mit dem staatlichen Filmstudio Goskino. Während Eisenstein und Alexandrow abgesehen von der kurzen Extravaganz GLUMOWS TAGEBUCH von 1923 noch keine filmische Erfahrung hatten, war der aus Lettland stammende Eduard Tissé (1897-1961) ein bereits erfahrener Kameramann, der bei Goskino unter Vertrag stand und zu STREIK abgeordnet wurde - so kam er mit Eisenstein in Berührung. Auch sein Verhältnis zu Eisenstein litt etwas unter der Reise, aber die Arbeitsgemeinschaft blieb bestehen - außer bei GLUMOWS TAGEBUCH und IWAN DER SCHRECKLICHE stand Tissé bei sämtlichen Eisenstein-Filmen hinter der Kamera.

Am 19. August 1929 machte sich das Trio auf den Weg und kam zwei Tage später in Berlin an, wo man Visa für die USA beantragen konnte, was damals in Moskau nicht möglich war. Eisenstein hatte bereits eine Einladung von United Artists in der Tasche. Mary Pickford und Douglas Fairbanks, die beiden Mitgründer von United Artists (neben Chaplin und Griffith), reisten im Juli 1926 nach Moskau, um dem Wunderkind, das scheinbar aus dem Nichts kam und PANZERKREUZER POTEMKIN inszeniert hatte, ihre Aufwartung zu machen, und sprachen dabei das Angebot zu einer Zusammenarbeit aus. Der aus Russland stammende Produzent Joseph M. Schenck, damals Präsident von United Artists, kam im August 1928 nach Moskau, um mit Eisenstein zu verhandeln. Doch letztlich wurde nichts daraus. Das Trio hatte es überhaupt nicht eilig, in die USA zu kommen. Von Berlin aus machte Eisenstein allein oder mit den beiden Kollegen kürzere und längere Abstecher in die Schweiz, nach Belgien, Holland, England und Frankreich. Überall traf er interessante und berühmte Persönlichkeiten, hielt Vorträge, sah aktuelle europäische und amerikanische Filme. In Berlin besuchte Eisenstein auch mit Begeisterung Schwulen- und Transvestitenbars, mit Valeska Gert, die er schon aus Moskau kannte, als Begleiterin. Weil das Geld knapp war, versuchte das Trio, schon in der deutschen oder französischen Filmindustrie an Aufträge heranzukommen, aber außer den in der Schweiz bzw. Frankreich für unabhängige Produzenten gedrehten Filmen FRAUENNOT - FRAUENGLÜCK und ROMANCE SENTIMENTALE kam nichts dabei heraus. So gingen Monate ins Land, und mittlerweile gab es den Börsencrash am "Schwarzen Freitag", dem 25. Oktober 1929. In Verbindung mit den hohen Kosten für die Umstellung auf den Tonfilm mussten die Hollywood-Studios den Gürtel enger schnallen, und Joe Schenck schrieb Eisenstein, dass die Einladung von UA nicht mehr gültig war.

Die ersten Monate 1930 verbrachte die Reisegruppe vorwiegend in Frankreich. Die Reise schien ein kompletter Fehlschlag zu werden, was die Produktion eines größeren Films betrifft, da kam die (vorläufige) Rettung in Person von Jesse L. Lasky, dem Mitgründer von Paramount. Lasky war im April 1930 in Paris und bat Eisenstein zu sich. Schnell war man sich einig, und nachdem Eisenstein die Zustimmung seiner Vorgesetzten in Moskau eingeholt hatte, unterschrieb er noch in Paris am 30. April einen Vertrag mit der Paramount, der ihm freie Stoffwahl zusicherte. Sollte Eisenstein aber nicht innerhalb eines Vierteljahres ernsthaft mit den Arbeiten begonnen haben, würde das Vertragsverhältnis enden. Am 6. Mai, fast ein Drei­vier­tel­jahr nach Beginn der Reise, stachen Eisenstein, Tissé und Lasky in See (Alexandrow kam etwas später nach), und eine knappe Woche später waren sie in New York. Damals war Eisenstein tatsächlich on top of the world - er war von den Eindrücken ziemlich überwältigt.

Es wäre eine gute Idee gewesen, sich zügig für einen Stoff zu entscheiden und dann sofort mit der Arbeit am Drehbuch zu beginnen, doch wieder ließ sich Eisenstein Zeit. Schon auf der Fahrt nach Los Angeles legte er Zwischenstopps mit Empfängen und Besichtigungen ein und brauchte zehn Tage bis Kalifornien. Und dort fuhr er herum und sah sich die Gegend an, traf sich mit Regie-Kollegen, Schauspielern und allen möglichen Leuten, ließ sich mit Walt Disney und Mickey Mouse ablichten, machte Strandspaziergänge mit Salka Viertel, spielte regelmäßig Tennis mit Chaplin, und vertrödelte so wertvolle Zeit. Das Trio bekam jetzt von Paramount zusammen 900 Dollar pro Woche, nach damaliger Kaufkraft ein durchaus üppiges Gehalt, das bei Beginn der Dreharbeiten noch deutlich anwachsen würde, und sie mieteten ein Haus in Beverly Hills im spanischen Stil samt Köchin. Im Vergleich zu den Monaten in Europa und zum Alltag in der Sowjetunion war das Leben jetzt luxuriös. Paramount machte viel Publicity um Eisenstein, es gab aber auch eine negative Pressekampagne, die ein gewisser Major Frank Pease entfachte. Dieser sah in Eisenstein die jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung am Werk, die nun auch Hollywood unterwandern wolle, und forderte Eisensteins unverzügliche Ausweisung. (Eisensteins Vater war ein zum orthodoxen Christentum konvertierter Jude deutscher Herkunft, und die jüdische Herkunft der meisten Hollywood-Moguln spielte in der Kampagne auch eine Rolle - offener Antisemitismus war damals in den USA salonfähig.) "Was haben Sie vor, wollen sie den amerikanischen Film in eine kommunistische Jauchegrube verwandeln?", fragte Pease etwa am 28. Juni im Motion Picture Herald, und er bezeichnete Eisenstein darin als "halsabschneiderischen roten Hund". 1930 hatten solche Leute wie Pease noch nicht soviel Einfluss wie zu McCarthys Zeiten 15 bis 20 Jahre später, doch er schaffte es, dass sich das Fish Committee, der Vorläufer des HUAC, mit Eisenstein befasste, wo nun ein Lieutenant Colonel Leroy F. Smith weiter Stimmung gegen die rote Gefahr auf dem Regiestuhl machte. Paramount sah sich unter Druck gesetzt.

Unterdessen überlegte Eisenstein, welchen Stoff er denn nun verfilmen sollte. Verschiedene Ideen, die er selbst hatte, oder die von Paramount an ihn herangetragen wurden, verwarf er schnell wieder. Schließlich entschied er sich zunächst für einen Stoff um ein futuristisches Hochhaus aus Glas. Die Idee dazu hatte er schon 1926, als er sich in Berlin mit Fritz Lang und Thea von Harbou über METROPOLIS unterhielt, und seitdem hatte das Thema in seinem Geist noch einige Metamorphosen durchgemacht. Doch dann kam er mit dem Drehbuch nicht recht voran, und Paramount war von dem avantgardistischen Stoff (mit vermutlich geringem kommerziellem Potential) auch nicht wirklich begeistert. So gab Eisenstein schließlich auch diese Idee auf. Stattdessen entschied er sich für den 1925 erschienenen Roman Gold des Schweizer Schriftstellers Blaise Cendrars. Eisensteins englischer Freund Ivor Montagu, den er in der Schweiz kennengelernt hatte, und der jetzt auch in Hollywood war, hatte zu dieser Wahl gedrängt. Es handelt sich um die Geschichte des Schweizer Abenteurers und Geschäftsmannes Johann August Sut(t)er, der als John Augustus Sutter riesige Ländereien im damals mexikanischen Kalifornien erwarb, und der in der Raserei des Goldrausches von 1848 alles verlor und als verarmter Mann starb. Es ist dies der Stoff, den Luis Trenker 1935/36 als DER KAISER VON KALIFORNIEN verfilmte, wobei sich auch Trenker auf den Roman von Cendrars stützte. Könnte Trenker von den vorangegangenen Bemühungen Eisensteins gewusst haben? Ich weiß es nicht, aber möglich wäre es schon. Trenkers vorheriger Film DER VERLORENE SOHN von 1934 wurde von der deutschen Dependance der Universal hergestellt, und die Dreharbeiten fanden zum Teil in New York statt. Produziert wurde der Film von Paul Kohner, damals noch kein unabhängiger Künstleragent, sondern bei der Universal angestellter Produzent. Und Eisenstein hatte Kohner schon 1929 in Berlin getroffen, und auch 1930 in Hollywood hatten sie Kontakt. Kohner vermittelte Eisenstein eine Einladung bei seinem Chef und Mentor, dem Universal-Patriarchen Carl Laemmle. (Laemmle wollte gleich einen Film mit Eisenstein machen, bis man ihm diskret mitteilte, dass er schon bei Paramount unter Vertrag war.) Kohner oder sonst irgendwer könnte also Trenker von Eisensteins vergeblicher Arbeit erzählt haben - aber vielleicht ist Trenker auch ganz allein auf diesen Stoff gekommen.

Nachdem die Entscheidung gefallen war, wurde das Drehbuch nun recht schnell erstellt, nach einem schematisierten Arbeitsablauf wie am Fließband, bei dem sich Eisenstein, Alexandrow und Montagu (der von Paramount als persönlicher Drehbuchassistent für Eisenstein angeheuert wurde) die Aufgaben teilten, mit Unterstützung durch Bürokräfte von Paramount. Anfang September 1930 war das Script fertig. Paramount ließ die Kosten für die Produktion durchrechnen, kam auf drei Millionen Dollar - und lehnte das Drehbuch "aus ökonomischen Gründen" ab. Laut Eisenstein stand dahinter ein interner Machtkampf im Studio zwischen Jesse Lasky und Ben P. Schulberg, dem Produktionsleiter von Paramount. In der Sichtweise Eisensteins war Schulberg (der Vater des Schriftstellers und Drehbuchautors Budd Schulberg) eine Krämerseele, während Lasky auch die Kunst im Film sah und bereit war, Risiken einzugehen. Lasky fuhr an die Ostküste, um vom Paramount-Chef Adolph Zukor ein Machtwort zugunsten von Eisenstein einzuholen, aber vergebens - es blieb bei der Ablehnung. Nun schlug Lasky als neuen Stoff Theodore Dreisers sozialkritischen Roman An American Tragedy vor (an dem Paramount schon seit Jahren die Verfilmungsrechte besaß), und Eisenstein war schnell einverstanden, ja sogar begeistert von dem Stoff. Es geht darin um einen armen, aber ehrgeizigen jungen Mann mit einer ebenso armen Freundin. Er lernt eine schöne reiche Tochter aus gutem Haus kennen, verliebt sich in sie, und sie wollen heiraten. Doch die alte Freundin ist schwanger, so dass eine einfache Trennung nicht mehr in Frage kommt. Er will sie deshalb bei einem Bootsausflug an einem einsamen See ertränken. Im letzten Moment schreckt er vor dem Mord zurück, doch sie fällt ohne sein Zutun ins Wasser und ertrinkt. Nun wäre der Weg zum Platz an der Sonne eigentlich frei. Doch er hat bei den Vorbereitungen zum geplanten Mord zu viele verräterische Indizien hinterlassen. Er wird verhaftet, zum Tod verurteilt und hingerichtet.

Wieder schrieben Eisenstein, Alexandrow und Montagu nach demselben Fließbandprinzip wie zuvor recht zügig ein Drehbuch. Schulberg hätte gerne einen straighten, plot-getriebenen Film bekommen, mehr oder weniger einen Krimi. Doch Eisenstein und seinen Mitstreitern ging es mehr um moralische Fragen von Schuld und Sühne, fast ein bisschen Dostojewski. Und die sozialkritische Tendenz von Dreisers Roman wurde im Drehbuch noch zugespitzt, zum Verdruss von Paramount. Denn die Untersuchung des Fish Committee war gerade im Gang, und das Studio wollte einen politisch unverfänglichen Film, und nicht einen, den Eisensteins Feinde als kommunistisch verunglimpfen konnten. Auch formal plante Eisenstein Anspruchsvolles: Der Film sollte mithilfe eines inneren Monologs in das Unterbewusste des tragischen Helden vorstoßen, wobei alternierend Bild und Ton die Psyche ausloten sollten.

Am 5. Oktober wurde das fertige Script abgeliefert. Nach außen hin zeigten sich sowohl Schulberg als auch Lasky zufrieden. Doch es wurde eine externe Stellungnahme von David Selznick erbeten, und der bescheinigte dem Drehbuch zugleich höchste künstlerische Qualität und völlige kommerzielle Chancenlosigkeit. Was das in Hollywood bedeutet, ist klar, zudem bestand nach wie vor der gegen Eisenstein gerichtete politische und publizistische Druck. Am 23. Oktober, als Eisenstein und seine Freunde mit Lasky gerade in New York waren, um mögliche Drehorte zu besichtigen, wurde ihm eröffnet, dass auch dieses Drehbuch abgelehnt wird - diesmal, weil es angeblich zu lang sei -, und dass sein Vertrag gelöst wird. Der Vertrag vom 30. April sah eigentlich vor, dass der Film innerhalb eines halben Jahres abgedreht sein sollte. Dieses halbe Jahr war nun fast abgelaufen, und es war noch überhaupt nicht mit Dreharbeiten begonnen worden. Auf Bitte von Lasky erklärte Eisenstein öffentlich, dass der Vertrag im gegenseitigen Einvernehmen gelöst wurde. Dafür versprach Lasky, dass in einiger Zeit, vielleicht in einem Jahr, wenn der politische Wirbel vorbei war, der Vertrag erneuert würde. Eisenstein, der in Lasky immer einen Gentleman sah, glaubte das. Doch vorerst spendierte Paramount dem Trio nur noch die Rückfahrkarten über Hawaii und Japan in die Sowjetunion, und ließ die Presse schon die bevorstehende Abreise verkünden.

Dreisers Roman ließ die Paramount 1931 von ihrem bewährten Hausregisseur Josef von Sternberg verfilmen. Eisenstein schätzte übrigens Sternberg sehr. Er hatte ihn schon 1929 in Berlin getroffen, als er dort DER BLAUE ENGEL drehte. In einer offenbar schlecht gelaunten Stunde schrieb Eisenstein in einem Brief, dass in Hollywood alle außer Lubitsch und Sternberg Idioten seien. Es gibt auch Publicityfotos, die Paramount von Eisenstein mit Sternberg und Marlene Dietrich anfertigen ließ. Doch während Eisenstein und die Seinen die Sozialkritik im Roman noch verstärkten, machten Sternberg und sein Drehbuchautor Samuel Hoffenstein das Gegenteil - sie entschärften den Stoff zu einem individuellen Melodram ohne politische Implikationen. Theodore Dreiser war darüber so erzürnt, dass er Paramount verklagte, um die Veröffentlichung des Films zu verhindern, doch er verlor den Prozess. 1951 erschien das Remake von George Stevens unter dem Titel A PLACE IN THE SUN, mit Montgomery Clift, Liz Taylor und Shelley Winters. Diese Version ist heute viel bekannter als die von Sternberg.

Eisenstein war sicher zu blauäugig gewesen, was Hollywood und seine Mechanismen betraf, und nun war er deprimiert. Aber er wollte noch nicht aufgeben. Statt über den Pazifik nach Hause zu schippern, bemühte er sich erneut um einen Filmauftrag. Für die anderen Hollywoodstudios war er mehr oder weniger verbrannt, aber schließlich gelang es ihm, die Finanziers um Upton Sinclair von dem Mexiko-Film zu überzeugen (die Idee dazu hatte Eisenstein von dem mexikanischen Maler Diego Rivera, den er schon 1927 in Moskau kennengelernt hatte und in Hollywood wieder traf). Am 24. November wurde der Vertrag unterzeichnet, und am 5. Januar 1931 überquerte das Trio die amerikanische Grenze in Richtung Süden. (Ivor Montagu wurde von Eisenstein auch dazu eingeladen, aber der fuhr lieber heim nach England.) Was in den folgenden 14 Monaten in Mexiko alles passierte, wäre Stoff für einen ganzen Artikel (oder für einen Film, wie sich Peter Greenaway dachte), aber ich will hier nicht weiter darauf eingehen.

Durch die Kosten der Umstellung der riesigen Kinokette der Paramount auf den Tonfilm und die Auswirkungen der Wirtschaftskrise geriet das Studio immer mehr in finanzielle Schieflage, und 1933 war es bankrott. Zwar konnte der Konzern saniert werden, aber die eigentliche Macht lag nun bei Bankiers und Anwälten. Und Jesse Lasky, der Mitgründer der Firma, wurde schon 1932 gefeuert. Alle Zusagen einer erneuten Zusammenarbeit, die er Eisenstein mündlich gegeben hatte, waren damit hinfällig (falls sie überhaupt je ernst gemeint waren). Doch auch wenn es bei der Paramount anders gekommen wäre, hätte das Eisenstein wenig genützt. Weil er wiederholte Aufforderungen zur Rückkehr ignoriert hatte, bis ihm von Sinclair der Hahn abgedreht wurde, galt er in der Heimat bereits als Deserteur, und nach der letztendlichen Heimkehr sah er sich heftiger Kritik und Schikanen ausgesetzt. Seit Mitte der 30er Jahre wurden auch immer mehr seiner Freunde und Wegbegleiter abgeholt und nach Schauprozessen oder auch schnell und heimlich erschossen. Ihm selbst hätte das auch widerfahren können, er stand bereits auf einer entsprechenden Liste der Geheimpolizei NKWD. Zwar sah er auch wieder gute Zeiten - nach ALEXANDER NEWSKI und dem ersten Teil von IWAN DER SCHRECKLICHE gehörte er wieder zu Stalins Lieblingen (und sein Intimfeind Boris Schumjazki fiel selbst der Säuberung zum Opfer und wurde erschossen). Doch nach der Rückkehr von der langen Reise hat Eisenstein die Sowjetunion nie mehr verlassen.

Randnotiz: Antisozialistischer Realismus, oder: Der erste Hottentotte im Weißen Haus

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Keine Angst: Der Titel ist nicht als Provokation gegen den politischen Korrektheitsfimmel gedacht, oder gar als Beleidigung des amtierenden US-Präsidenten. Er wirft aber ein etwas schlechtes Licht auf einen seiner Amtsvorgänger.

Doch machen wir zunächst einen Abstecher in die Sowjetunion der 30er bis 50er Jahre. Da war in diesem Zeitraum (und in abgeschwächter Form auch noch danach) der sogenannte Sozialistische Realismus die staatlich verordnete Doktrin, die alle Künste (einschließlich des Films) durchdrang. Gefordert wurde eine "einfache", für die gesamte Bevölkerung verständliche Kunst mit positiven Identifikationsfiguren, die durch ihre Vorbildfunktion einen Beitrag zum Aufbau der sozialistischen Gesellschaft leiste. Zur Veranschaulichung hier ein Auszug aus den 1934 verabschiedeten Statuten des Schriftstellerverbands (zitiert nach Wikipedia):
Der sozialistische Realismus als Hauptmethode der sowjetischen künstlerischen Literatur und Literaturkritik, fordert vom Künstler wahrheitsgetreue, historisch konkrete Darstellung der Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung. Wahrheitstreue und historische Konkretheit der künstlerischen Darstellung müssen mit den Aufgaben der ideologischen Umformung und Erziehung der Werktätigen im Geiste des Sozialismus abgestimmt werden.
Offiziell eingeführt wurde der Sozialistische Realismus 1932, doch abgezeichnet hatte sich das schon etwas länger. So konstatierte schon 1927 das Sekretariat des Zentralkomitees: "Das Kino bleibt hinter den ernsthaften Bedürfnissen der Massen zurück, popularisiert nicht ausreichend die Losungen der Partei und der Sowjetmacht und bildet die neue Lebensordnung nur schwach ab.". Und als im März 1928 die erste Parteikonferenz zu Kinofragen stattfand, hieß es in der dort beschlossenen Resolution:
Die Kunst in den Händen des Proletariats besitzt sehr reiche Mittel, um die Gefühle, Stimmungen und Gedanken der Massen in Besitz zu nehmen, um den zurückgebliebensten Schichten der Werktätigen, besonders auf dem Dorf, die Perspektiven und Aufgaben des sozialistischen Aufbaus verständlich zu machen, um sehr überzeugend die entstehenden und sich entwickelnden sozialistischen Elemente in den gesellschaftlichen Beziehungen, in der Lebensweise, in der Psyche der menschlichen Persönlichkeit zu zeigen, um ein sehr scharfes Mittel des Proletariats im Kampf gegen feindliche, sich widersetzende Kräfte des Alten zu sein.
Zwar hieß es darin auch noch:
In den Fragen der künstlerischen Form kann die Partei keinerlei besondere Unterstützung der einen oder anderen Strömung, Richtung oder Gruppierung leisten. Sie lässt den Wettbewerb zwischen den verschiedenen formal-künstlerischen Richtungen und die Möglichkeit zum Experiment zu [...].
Doch das wurde dahingehend eingeschränkt, dass "das Kino eine Form, die den Millionen verständlich ist", haben solle.

Hochrangige Politiker wie Boris Schumjazki und etwas später Andrej Schdanow kritisierten Sergej Eisenstein, Wsewolod Pudowkin, Alexander Dowschenko, Lew Kuleschow, Grigori Kosinzew und Leonid Trauberg, Dsiga Wertow und weitere Vertreter der weltweit bewunderten sowjetischen Montage-Schule, sowie in der bildenden Kunst die Vertreter von Konstruktivismus und verwandten Strömungen, weil ihre Kunst für die breite Masse zu kompliziert, ja völlig unverständlich sei und somit keinen angemessenen Beitrag zum Aufbau der Gesellschaft leiste. In Literatur und Musik gab es analoge Tendenzen. Zusammengefasst wurden die Vorwürfe unter dem Schlagwort des Formalismus. Ein Künstler, der weiterhin dem Formalismus frönte, war zunehmend supekt, schließlich "bourgeois", ja sogar "reaktionär" oder "konterrevolutionär". Gewünscht waren dagegen heroische Filme wie TSCHAPAJEW (1934) und Komödien (gerne mit Musik). "Die siegende Klasse will freudig lachen", war ein Wahlspruch von Schumjazki, von 1930 bis zu seinem jähen Sturz im Januar 1938 der oberste sowjetische Filmfunktionär.

Bezeichnend auch dieses Zitat des hochrangigen Kulturfunktionärs Georgi Antonowitsch Donderow:
Formalistische Kunst ist reaktionär, weil sie verzerrt und hässlich ist, weil sie unser schönes Land, unsere freudigen und lächelnden Menschen und unseren materiellen Fortschritt nicht verherrlicht. Kunst, die unser schönes Land nicht verherrlicht, in geradlinigen einfachen Formen, die jeder versteht, erzeugt Unzufriedenheit. Sie ist deshalb im Gegensatz zur Partei, und diejenigen, die sie fördern, sind Feinde.
Doch halt - Kommando zurück! Soeben habe ich nämlich massiv geschummelt. Das letzte Zitat stammt überhaupt nicht von dem (fiktiven) Georgi A. Donderow, sondern vom (real existierenden) George A. Dondero, seines Zeichens republikanischer Abgeordneter für Michigan im Repräsentantenhaus, und damals (1947-49 und 1953-55) auch Vorsitzender des Committee on Public Works. Und das Zitat lautet auch etwas anders, nämlich so:
Moderne Kunst ist kommunistisch, weil sie verzerrt und hässlich ist, weil sie unser schönes Land, unsere freudigen und lächelnden Menschen und unseren materiellen Fortschritt nicht verherrlicht. Kunst, die unser schönes Land nicht verherrlicht, in geradlinigen einfachen Formen, die jeder versteht, erzeugt Unzufriedenheit. Sie ist deshalb im Gegensatz zu unserer Regierung, und diejenigen, die sie fördern, sind Feinde.
Um dem möglicherweise aufkommenden Verdacht einer tendenziösen Übersetzung zu begegnen, hier der Originalwortlaut:
Modern art is Communistic because it is distorted and ugly, because it does not glorify our beautiful country, our cheerful and smiling people, our material progress. Art which does not glorify our beautiful country in plain simple terms that everyone can understand breeds dissatisfaction. It is therefore opposed to our government and those who promote [in einer anderen Quelle steht create statt promote] it are our enemies.
Huch! Die strukturelle Gleichheit der Gedanken von Dondero und seinen sowjetischen Kollegen wie Schdanow ließ mich spontan den Begriff Antisozialistischer Realismus für Donderos Wunschvorstellungen (für die er eine Goldmedaille des International Fine Arts Council erhielt - kein Witz!) erfinden. Ob Dondero wohl die Ironie in dieser Äquivalenz erkannte? Eher nicht. Er wurde tatsächlich einmal darauf angesprochen, von einer Kunstkritikerin der New York Herald Tribune. Darüber geriet er so in Rage, dass er dafür sorgte, dass die Kritikerin von ihrer Zeitung gefeuert wurde.

Dondero war nicht der einzige seiner Couleur. Besonders deutlich zeigte sich das 1946/47, als der Kalte Krieg gerade entbrannte. Damals hatte das amerikanische Außenministerium eine bemerkenswerte Idee: Es sollte eine Ausstellung moderner amerikanischer Kunst zusammengestellt und auf Tournee ins Ausland geschickt werden. Der Zweck war ein doppelter: Das unter europäischen Intellektuellen verbreitete Vorurteil, die USA seien eine kulturelle Wüste, sollte widerlegt werden. Vor allem aber war die Ausstellung - zweitens - als Waffe im Kalten Krieg gedacht: Die Überlegenheit einer freien Entfaltung künstlerischer Kreativität - gerade im Vergleich zu den stereotypen Werken des sowjetischen Sozialistischen Realismus - sollte demonstriert werden. Und damit natürlich die Überlegenheit der westlichen Lebensweise überhaupt. Zu diesem Zweck wurden vom Außenministerium 117 Gemälde und Grafiken führender Vertreter der modernen US-Kunst angekauft. Nach der Premiere in New York im Oktober 1946 wurde die Ausstellung mit dem Titel Advancing American Art in zwei Hälften geteilt und auf Reisen geschickt. Der eine Teil gastierte zunächst in Paris und sollte dann durch Osteuropa touren, kam aber nur noch bis Prag. Der andere Teil, der die Karibik und Lateinamerika bereisen sollte, sah nur Kuba und Haiti, schaffte es aber nicht mehr bis Venezuela.

Denn der Schuss ging nach hinten los. Sogleich nach Beginn der Ausstellung meldete sich das amerikanische "gesunde Volksempfinden" zu Wort. Diese Kunst sei unamerikanisch und subversiv, glaubten viele Medien ihren Lesern mitteilen zu müssen, vor allem aber: Dieses merkwürdige Zeug, das sich frecherweise "Kunst" nennt, ist in Wirklichkeit natürlich überhaupt keine Kunst. Und viele Politiker sprangen auf diesen Zug auf. "I am just a dumb American who pays taxes for this kind of trash", beschwerte sich etwa ein Kongressabgeordneter. Und kein Geringerer als Präsident Truman fühlte sich auf einer Pressekonferenz zu folgender Erklärung bemüßigt: "Wenn das Kunst ist, dann bin ich ein Hottentotte" (If that's art, then I'm a Hottentot!).

Nun denn, so sei es. Da haben wir ihn also, den ersten Hottentotten im Weißen Haus.

Das Außenministerium zog die Notbremse und brach die Wanderausstellung ab. Die 117 Werke, die sich ja im Eigentum des Ministeriums befanden, wurden daraufhin an diverse Universitäten bzw. damit assoziierte Museen und andere öffentliche Einrichtungen verschleudert - es gab Preisnachlässe bis zu 95%. Beispielsweise ging ein Gemälde von Georgia O'Keeffe für rund 50 Dollar über den Ladentisch. - Vor einigen Jahren stemmten mehrere amerikanische Museen gemeinsam die Aufgabe, die glücklose Ausstellung wieder aufleben zu lassen. Immerhin 107 der 117 Werke wurden ausfindig gemacht und ausgestellt, nur von zehn fand sich keine Spur mehr (sie befinden sich wohl in Privatbesitz). Mindestens zwei Bücher (dieses und jenes) sowie der Katalog der neu aufgelegten Ausstellung berichten über dieses bemerkenswerte Kapitel amerikanischer Kulturpolitik.

Die Angelegenheit hatte noch ein lang andauerndes und einigermaßen bizarres Nachspiel. Denn das Außenministerium fand seine Idee nach wie vor gut und wollte daran festhalten. Aber offen ging das nun nicht mehr. Wen betraut man staatlicherseits mit einer geheimzuhaltenden Operation? Einen Geheimdienst natürlich. Und so wurde doch tatsächlich die CIA damit beauftragt, moderne amerikanische Kunst (und vor allem die besonders umstrittene Richtung des Abstrakten Expressionismus) zu fördern und zu protegieren. Und anders als bei den Contras in Nicaragua, afrikanischen und lateinamerikanischen Diktatoren und dubiosen Drogenbaronen durften hier auch die Geförderten nicht erfahren, aus welchen geheimen Kassen das Geld stammte, das ihnen zufloss. Aber das ist eine andere Geschichte.

Ach ja, bevor ich es vergesse: Verkauft mir jemand ein Gemälde von Georgia O'Keeffe für 50 Dollar? Notfalls würde ich den Betrag auch verdoppeln ...

Ein toter Soldat und ein toter Radfahrer – Tony Scotts frühe Filme

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ONE OF THE MISSING
UK 1969
Regie: Tony Scott
Darsteller: Stephen Edwards (James Clavering)


Im August 1863, im Süden Georgias, während des amerikanischen Bürgerkriegs: der Soldat James Clavering wird zur Aufklärung in Feindesgebiet geschickt. Dort versteckt er sich in einer Häuserruine und beobachtet eine feindliche Einheit, die sich gerade zum Aufbruch bereit macht. Deren Artillerie verschießt kurz vor dem Weiterziehen eine überflüssige Kanonenladung und der Schuss trifft ausgerechnet die Ruine, in der sich James versteckt hat. Der Aufklärungssoldat wird unter einem Haufen Trümmer vergraben. Als er wieder aufwacht, kann er sich unter dem Geröll kaum bewegen – schlimmer: sein eigenes Gewehr, ebenfalls begraben unter Trümmern, ist direkt auf ihn gerichtet. In dem Versuch, sich aus dem Schutt zu befreien, ohne dabei das Gewehr zum Abschuss zu bringen, verliert James nach und nach den Verstand...

James Clavering in Aufklärungsmission. Ein feindlicher Kanonenschuss bringt
ihn in eine missliche Lage. (Der Soldat im Vordergrund oben rechts wird
übrigens von Ridley Scott gespielt)
1969 war der 25-jährige angehende Maler Anthony Scott ein Absolvent des Sunderland Colleges und belegte am Leeds College of Art einen Malerei-Lehrgang. In dieser Zeit trat der Künstler an den BFI Production Board heran, um sein erstes Filmprojekt, eine Adaption der Kurzgeschichte „One Of The Missing“ von Ambrose Bierce, zu finanzieren. Das British Film Institute vergab schon seit Anfang der 1950er Jahre Zuschüsse an junge Regisseure und genehmigte Scott 750 £ (die Summe wurde später auf 1100 £ erhöht) für seinen ersten Film ONE OF THE MISSING.

Scott fungierte als Regisseur, Produzent, Autor, Kameramann und Cutter. Seine Schauspieler waren allesamt Laien, die meisten von ihnen, inklusive Hauptdarsteller Stephen Edwards, Kommilitonen Scotts am Leeds College of Art. Auch Scotts älterer Bruder Ridley wirkte als Darsteller (als einer der gegnerischen Soldaten) mit. In dessen Debütfilm BOY AND BICYCLE, gedreht 1961/62, veröffentlicht 1965, hatte Tony selbst wiederum die Hauptrolle gespielt.
ONE OF THE MISSING wurde an der Filmabteilung des Leeds College fertig gestellt und erlebte seine Premiere im Januar 1969 am National Film Theatre in London. Der nicht einmal 30 Minuten lange Film wurde zu einem kleinen Hit: er gastierte auf 19 Filmfestivals und räumte dort auch zahlreiche Preise ab. Ein 35mm-Blowup (der Film wurde auf 16mm gedreht) kam schließlich in die britischen Kinos.

James gerät zunehmend in Panik
Ein britischer Kunststudent dreht einen im Amerikanischen Bürgerkrieg angesiedelten Film – und nannte einen Ungarn als größte Inspirationsquelle! Es scheint merkwürdig, dass Tony Scott, bekannt als Blockbuster-Regisseur von Hollywood-Actionfilmen, in Interviews in den späten 1960er Jahren ausgerechnet Jancsó Miklos als Vorbild nannte. Die Ähnlichkeiten liegen aber auf der Hand: in ONE OF THE MISSING wie in vielen Jancsó-Filmen laufen uniformierte Männer durch eine leere und merkwürdig abstrakte Landschaft, die zwar historisch datiert ist, aber auch völlig von Zeit und Ort enthoben zu sein scheint. Mit viel Vorstellungskraft kann man ONE OF THE MISSING als Western sehen, doch die Verortung der Situation im Amerikanischen Bürgerkrieg spielt im Grunde keine Rolle – genauso wie es auch bei Jancsó zwischen dem Post-1848-Ungarn, dem antiken Griechenland und Russland während des Bürgerkriegs nur sehr graduelle Unterschiede gibt. Jancsós SZEGÉNYLEGÉNYEK („The Round-Up“ / „Die Hoffnungslosen“), in dem Gefangene in der ungarischen Steppe nach 1848 systematisch schikaniert, gefoltert und getötet werden, lief tatsächlich im November 1966 in den britischen Kinos. Es ist also nicht unwahrscheinlich, dass Scott ihn in dieser Zeit sah. Neben der abstrahierten Handlung teilt ONE OF THE MISSING eine Besonderheit mit SZEGÉNYLEGÉNYEK: die zirpenden Vögel als Soundkulisse.

„Narrative frustrates me. I would like to move away from it to create an inner continuity of mood, to use costume and landscape the way Jancso does.“ Hier liegt nach Ignatiy Vishnevetsky, dessen großartigen und zutiefst leidenschaftlichen Artikel „Smearing the Senses: Tony Scott, Action Painter“ ich schon in anderen Artikeln bei Whoknows Presents zitierte, auch trotz der äußerlichen Unterschiede die Gemeinsamkeiten Jancsós und Scotts: die Abstrahierung der Handlung durch halluzinatorische Bilder – was Scott, so Vishnevetsky, in den viel geschmähten Filmen seiner späten „abstrakt-impressionistischen“ Phase erreichte (ENEMY OF THE STATE, SPY GAME, MAN ON FIRE, DOMINO, DÉJÀ VU, THE TAKING OF PELHAM 1 2 3). Und vielleicht tatsächlich gegen Ende von ONE OF THE MISSING.

James verliert schließlich den Verstand – und stirbt.
Die Unterschiede liegen bei ONE OF THE MISSING trotzdem noch etwas deutlicher auf der Hand: hier gibt es keine kunstvoll choreografierten, „tanzenden“ Plansequenzen wie bei Jancsó, sondern eher viele kurze Tableaus, ab und zu kleine Schwenks und langsame Zoom-Ins und Zoom-Outs. Abgesehen von einigen Wortfetzen im Hintergrund hat ONE OF THE MISSING keine Dialoge. Musik, in Form elektronisch verfremdeter Akkorde, gibt es nur bei den kurzen Träumen bzw. Visionen des Soldaten. Das Sound-Design des Films ist nichtsdestotrotz bemerkenswert. Erwähnt wurde bereits das Vogelgezwitscher in den Eingangsszenen, als James Clavering durch den Wald schleicht: das wirkt durch die Waldkulisse weniger befremdlich als in Jancsós SZEGÉNYLEGÉNYEK (wo das Vogelgezwitscher besonders irritierend ist, weil: wo soll es denn Waldvögel in der nackten Steppe geben), aber dennoch extrem stilisiert. Als der Soldat unter den Trümmern begraben wird, kommt das entnervende Geräusch summender Fliegen hinzu: die Idylle der singenden Vögel war eine illusorische Idylle, jetzt übernehmen die Fliegen (die für Verfall stehen). Als der Soldat zunehmend verzweifelt und den Verstand verliert, kommt sein eigenes Stöhnen, schließlich sein Schreien hinzu.

Mit dem zunehmenden Wahnsinn löst sich ONE OF THE MISSING nach und nach auf. Zunehmend schnelle Schnittfrequenz und die verzweifelt „suchenden“ Point-of-View-Shots münden schließlich darin, dass sich die Kamera, den Soldaten im Visier, wild um die eigene Achse dreht. Die Bildauflösungen des späten, „abstrakt-impressionistischen“ Scotts, etwa in MAN ON FIRE und besonders in DOMINO, sind also wenn man will schon in ONE OF THE MISSING angelegt.


LOVING MEMORY
UK 1971
Regie: Tony Scott
Darsteller: Rosamund Greenwood (die alte Frau), Roy Evans (Ambrose), David Pugh (der junge tote Mann)



In LOVING MEMORY von 1971 ist ein anderer, späterer Film Scotts auch thematisch bereits vorweggenommen, aber dazu gleich mehr...

Ein tödlicher Unfall leitet eine außergewöhnliche Begegnung ein...
Ein junger Mann, der offensichtlich einen Botenjob hat, schwingt sich mit seiner Fracht (einer Packung Eier) auf‘s Fahrrad und radelt beschwingt los. Auf der Landstraße gerät er jedoch in einen Unfall, wird von einem Auto überfahren und ist sofort tot. Die Insassen des Autos (ein altes Paar) steigen aus, begutachten nicht sonderlich schockiert, aber dennoch etwas traurig den toten Radfahrer und verfrachten seinen Leichnam ins Auto. Ambrose und die alte Frau, deren Namen wir nicht erfahren, leben auf einem abgeschiedenen Landhaus. Er arbeitet tagsüber irgendetwas in einer Mine (offensichtlich als Ein-Mann-Unternehmen) und sie kümmert sich um den Haushalt – und nun auch um den neuen „Gast“. Den toten Radfahrer platziert sie nämlich auf einen Sessel in der Dachkammer.

Hier beginnt nun die rührend-traurige Beziehung zwischen dem toten Radfahrer und der alten Frau. Sie kann den jungen Mann von Anfang an gut leiden, denn er hat eine gewisse Ähnlichkeit mit James! James ist ein Verwandter der älteren Dame (ob älterer Bruder, jüngerer Bruder oder gar Sohn, bleibt unklar) und sie lässt es sich nicht nehmen, ihrem „Gast“ vieles von James zu erzählen. Wie er in den Krieg zog (welcher Weltkrieg wird nicht klar: LOVING MEMORY spielt nicht in einer eindeutig bestimmbaren Zeit) und sein Flugzeug abgeschossen wurde – den Propeller des abgeschossenen Flugzeugs nahm der Kriegsversehrte dann mit nach Hause und hing ihn an der Decke der Dachkammer auf. Dann wurde James krank und starb schließlich. Die alte Dame sagt nicht sterben, sondern: „He slept for a long time before Ambrose took him up the hill.“ James lag also möglicherweise mehrere Tage tot im Haus, bevor er von Ambrose auf einem Hügel in der Nähe begraben wurde (offensichtlich ohne jegliche vorangehende Meldung an die Behörden).

Die alte Frau kümmert sich auf rührende Weise um ihren Gast:
wäscht ihn, trinkt mit ihm Tee, sieht sich mit ihm alte Fotoalben an...
Traurig – aber kein Grund, die Laune des neuen „Gasts“ zu vermiesen. Liebevoll bringt sie ihm jeden Morgen eine Tasse Tee (die er, seinem Zustand verschuldet, nicht austrinken kann – und deshalb sammeln sich zu seinen Füßen immer mehr unberührte Teetassen). Die alte Dame kramt auch Fotoalben von James hervor, der offenbar ein guter Hobby-Fotograf war und erzählt dem toten Radfahrer Geschichten zu den Bildern. Gleich zu Beginn leiht sie dem toten jungen Mann auch James‘ Kleidung aus, da seine ja wegen des Unfalls dreckig und zerrissen ist. Seine Brille ist zersprungen, und deshalb bekommt er James‘ Brille ausgeliehen. Die alte Frau ist von der Ähnlichkeit ihres „Gastes“ zu James so sehr hingerissen, dass sie ihm später auch James‘ Armeeuniform ausleiht. Schließlich scheint die alte Frau etwas verwirrt zu werden und beginnt irgendwann, ihren neuen Gast „James“ zu nennen. Doch die Stunde hat geschlagen, in der Ambrose den toten Radfahrer „up the hill“ bringt. Die alte Frau versucht zwar, den Flugzeugpropeller an der Decke so zu manipulieren, dass Ambrose davon, wenn er den jungen Mann abholt, erschlagen wird, aber das klappt nicht so wirklich. Und so wird denn auch der tote Radfahrer in einem Wäldchen auf einem naheliegenden Hügel neben James begraben...

...währenddessen arbeitet Ambrose tagsüber in einer Mine
– und bereitet nach der Arbeit den Sarg für den Hausgast vor.
Vielleicht eines vorweg: so unfassbar düster-morbide und latent pervers LOVING MEMORY auch klingen mag – er ist es nicht. Scott gelingt das kleine Wunder, diese heikle Geschichte überaus würdig, pietätsvoll und ohne jegliche Vulgarität als melancholische, platonische Romanze zu inszenieren. LOVING MEMORY, gedreht in den Moorlandschaften der nordenglischen Grafschaft Yorkshire, war der erste Film von Scott Free Films, der gemeinsamen Produktionsgesellschaft der Gebrüder Ridley und Tony Scott, die noch heute existiert. In Teilen wurde der Film von Memorial Enterprises des britischen Schauspielers Albert Finney finanziert, der kurz zuvor auch Lindsay Andersons IF.... produziert hatte. Albert Finney hatte tatsächlich ONE OF THE MISSING gesehen und sich entschieden, Scotts zweiten Film zu produzieren. Den größten Teil der Finanzierung (der Film kostete 12.000 £) übernahm jedoch das British Film Institute mit etwa 8.000 £. Davon kam das meiste aus dem Vivian Leigh Award – ein Spendentopf zur Unterstützung junger Filmemacher, den der BFI bei einer Galavorstellung von GONE WITH THE WIND zu Ehren der kürzlich verstorbenen Vivian Leigh gesammelt hatte.

LOVING MEMORY hatte wie Scotts erster Film seine Premiere am National Film Theatre in London und wurde darauf in die Kritikerwochen des Cannes-Festivals 1971 aufgenommen. Bei Filmfestivals lief er mit gutem Erfolg, kam in Großbritannien jedoch nicht in die Kinos. Die nekrophile Thematik des Films galt den hiesigen Verleihen wohl als zu heikel. Des weiteren war LOVING MEMORY mit seiner Laufzeit von 52 Minuten schwer vermarktbar: zu lang für einen Kurzfilm und zu kurz für einen „richtigen“ abendfüllenden Langfilm. Mit Ausnahme der englisch-sprachigen Episode L‘AUTEUR DE BELTRAFFIO (in der Rosamund Greenwood auch mitspielte) für die französisch-britische TV-Serie NOUVELLES DE HENRY JAMES im Jahr 1976 wandte sich Tony Scott für lange Zeit vom narrativen Film ab und drehte Werbespots für Scott Free Films. Sein nächster Kinofilm (und erster „abendfüllender“ Film), THE HUNGER mit David Bowie, Catherine Deneuve und Susan Sarandon, kam erst 1983 heraus – zugleich seine Eintrittskarte für Hollywood.

Der Arbeitstitel von LOVING MEMORY lautete EARLY ONE MORNING, und im Gegensatz zu ONE OF THE MISSING wirkte nun eine professionelle Filmcrew mit. Gefilmt wurde auf 35mm. Scott selbst übernahm wieder einen Teil der Fotografie, doch der überwiegende Teil wurde von Chris Menges gefilmt, der Ken Loachs KES fotografiert hatte und später in Großbritannien wie auch in Hollywood zum begehrten DoP wurde. Die Bilder von LOVING MEMORY sind schwelgerisch, nostalgisch, teilweise etwas überbelichtet, mit eher schwachen Kontrasten – sicherlich einer der Gründe dafür, weshalb der Film praktisch keinerlei Gedanken zulässt, dass man einem Horrorfilm oder etwas wirklich Bedrohlichem zuschaut. Nachdem der „Gast“ in dem Sessel in der Dachkammer installiert wurde, gibt es auch nur noch selten harte Schnitte, sondern fast nur noch Überblendungen, die eine Szene in die nächste sanft fließen lassen.

James' Geist beherrscht das Haus und die Gedanken der alten Dame.
LOVING MEMORY hat überhaupt keine extradiegetische Musik. Nur zwischendurch legt die alte Frau eine Schallplatte mit dem Standard „Button Up Your Overcoat“ – ein beschwingt heiteres Lied, das atmosphärisch ganz im Kontrast zur traurig-melancholischen Atmosphäre des Films steht (besonders am Ende, als es dann einen Teil der Beerdigung begleitet). LOVING MEMORY hat im Grunde auch keine richtigen Dialoge: die alte Frau spricht lediglich lange Monologe, auf die der tote Radler naturgemäß nichts antworten kann. Die Monologe gehen teils auch bei Szenenwechsel einfach weiter und bilden so etwas wie einen roten Faden, eine Art Voice-Over. So umfassend die Kommunikationsbereitschaft der alten Dame gegenüber ihrem toten „Gast“, so wortkarg ist sie gegenüber Ambrose (der selbst während des ganzen Films nicht ein Wort sagt). Verstehen sich die beiden auch so ohne Worte gut? Oder lauern da tiefe Abgründe (wie ihr – man muss es ja im Grunde so nennen – Mordanschlag auf ihn am Ende des Films vermuten lässt)?

Irgendwie scheint es für die meisten Leute, die über den Film schreiben, völlig klar zu sein, dass die alte Dame und Ambrose Geschwister sind – ich sehe dafür im Film selbst keine konkreten Hinweise (sollte ich eine kleine Nuance in den Monologen bzw. in den Untertiteln verpasst haben, bitte ich das Folgende zu ignorieren oder zumindest nicht auf die Goldwaage zu legen). Auf Anhieb wäre es meiner Meinung nach tatsächlich naheliegend, die alte Frau und Ambrose als Ehegatten zu sehen – und James, von dem sie erzählt, als ihr verstorbener Sohn. Über direkte Verwandtschaftsverhältnisse spricht die alte Frau nur in Bezug auf „mom“ und „dad“, die sie kurz erwähnt, und die James auch kannte – aber keine Hinweise, dass es auch Ambroses und James‘ Eltern waren. So bleibt der einzige, aber nicht film-immanente Hinweis das Exposé, das Scott dem BFI Production Board mit dem Finanzierungsantrag vorlegte, und in dem es heißt, dass James der ältere Bruder von Ambrose und „Jessica“ (so der Name der Frau im Entwurf) gewesen sei. Das im Film wirklich festzumachen, scheint mir fast unmöglich, zumal LOVING MEMORY von jeglicher Zeit enthoben zu sein scheint. Die Handlung könnte in den späten 1930er ebenso angesiedelt sein wie in den späten 1950er Jahren. James‘ Geist, von dem die alte Frau geradezu beseelt ist, bleibt zeitlos: seine Fotografien sind irgendwie alt – aber wie alt? Der junge Mann, der James einmal war – wie alt wäre er in der Jetztzeit der Filmhandlung? Zeit ist in LOVING MEMORY, ebenso wie die verwandtschaftlichen Beziehungen der Figuren, relativ und auch dehnbar, teils aufgehoben. Dazu trägt auch bei, dass alles im Film zirkular zu verlaufen scheint: ein Kreislauf aus Tod, kurzzeitige Wiederauferstehung und Beerdigung. Manche Bilder und kleine Handlungen werden immer wieder reimhaft wiederholt: Ambrose, der eine Pendeluhr im Wohnzimmer aufzieht, die alte Frau, die eine alte Platte auflegt oder verträumt aus dem Fenster schaut, und natürlich ihre vielen „Gespräche“ mit dem Radler in der Dachkammer.

Eine ungewöhnliche Liebesgeschichte zwischen einer alten Frau und einem toten jungen Mann...
Ein eher dem Arthouse zuzurechnender Film über eine verwirrte alte Frau, die mit einer Leiche spricht: das würden wohl wenige von Tony Scott erwarten, der in den 1980er, 1990er und 2000er Jahren adrenalinpumpende Hollywood-Actionfilme drehte. Oder doch...? LOVING MEMORY ist auch eine nekrophile Romanze über eine alte Frau, die von einer unerotischen, aber zumindest schwesterlichen oder mütterlichen Liebe zu einem toten jungen Mann ergriffen wird und durch die Schaffung einer besonderen Situation dessen Tod zu überwinden versucht. 35 Jahre später drehte Tony Scott eine weitere nekrophile Romanze, diesmal über einen Mann, der sich in eine tote Frau verliebt (hier allerdings durchaus in einem erotischen Sinne) und anschließend alle menschenmöglichen und technologischen Mittel aufwendet, um ihren Tod zu überwinden: DÉJÀ VU.

...variiert in DÉJÀ VU:
Doug verliebt sich in die tote Claire am Autopsietisch, entwickelt eine
Obsession für ihre Bilder und rettet sie schließlich mit einer High-Tech-Kamera.
DÉJÀ VU von 2006 gehört zur Reihe der oft stark geschmähten Scott-Filme aus seiner späten, „abstrakt-impressionistischen“ Phase. Er wurde gescholten als völlig misslungene Aufarbeitung nationaler US-Traumata (9/11, Katrina, teils der Anschlag von Oklahoma City von 1995), als Zeitreisefilm mit lächerlich vielen Logiklöchern, als vulgäre Ausbeutung der Folgen von Katrina – am Ende distanzierte sich Scott selbst teilweise von dem Film, indem er seine Inszenierung als „mediocre“ bezeichnete. Dennoch: mit DÉJÀ VU drehte Scott tatsächlich seinen VERTIGO (der deutsche Untertitel des Hitchcock-Films „Aus dem Reich der Toten“ würde zu Scotts Film sogar noch besser passen als das schnöde „Wettlauf gegen die Zeit“ – den Vergleich ziehe ich übrigens nicht als erster, siehe hier und hier). Im Kontext von Scotts eigenem Werk wirkt DÉJÀ VU aber tatsächlich wie eine Variation von LOVING MEMORY – mit Explosionen, Zeitreisemaschinen, Verfolgungsjagden in doppelten Zeitebenen und einem kleinen Gender-Switch (Denzel Washington statt Rosamund Greenwood sowie Paula Patton statt David Pugh). Die wichtigste Änderung dürfte die sein, dass der Tod am Ende überwunden werden kann, und das nicht nur unbedingt, weil Doug eine etwas dynamischere Figur ist als die fatalistische alte Frau, sondern weil er ein anderes Medium als sie nutzt, um seine geliebte Person zu erreichen. Sie hatte nur die mündliche Erzählung, er hat hingegen eine komplexe Vergangenheitsüberwachsungsapparatur, die nicht umsonst ein wenig an eine Kinokamera erinnert (diese Analogien, auch zum voyeuristischen Aspekt des Filmens, sind in DÉJÀ VU nicht besonders subtil oder gar versteckt inszeniert – wurden aber wohl trotzdem von vielen übersehen, die nur die „Logiklöcher“ des Zeitreiseszenarios in ihre Strichliste eintrugen). Die alte englische Frau kann tatsächlich nur einen toten Körper mit einer Erzählung über und vielen Erinnerungen an einen anderen toten Mann zu beleben versuchen. Doug hingegen rettet seine geliebte Claire tatsächlich mit einer Kinokamera: aus dem toten Körper wird ein Bild der Frau aus der (parallelen?) Vergangenheit und aus dem Bild später wieder ein lebender Mensch... DÉJÀ VU ist daher nicht nur ein „Remake“, ein Sequel, eine auteuristische Variation, sondern eben auch die Vollendung von LOVING MEMORY.

LOVING MEMORY ist als Hauptfilm zusammen mit ONE OF THE MISSING und Ridley Scotts BOY AND BICYCLE als Bonusfilme auf einer wunderschönen DVD-Blu-ray-Dual-Edition des British Film Institutes erschienen. Bild und Ton sind zumindest auf der DVD exzellent (die Blu-ray kann ich nicht beurteilen), aber trotzdem nicht zur Sterilität kaputt restauriert. Als Beigabe gibt es ein Booklet mit zwei Essays (über die frühen Filme von Tony und Ridley Scott sowie über deren Arbeitsbeziehung zum British Film Institute), aus denen ich einige Infos zu den Produktionsumständen entnommen habe. Das Büchlein wird mit einem Artikel aus dem Magazin „Time Out“ von 1970 mit einigen O-Tönen von Tony Scott sowie je einem Faksimile von Scotts Exposé zu LOVING MEMORY und einer Seite aus dem Drehbuch von BOY AND BICYCLE ergänzt.
DÉJÀ VU ist in vielen DVD-Editionen erhältlich. Egal welche Edition: ein Double-Feature mit LOVING MEMORY wird von mir wärmstens empfohlen!
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