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Pinguine in der Bronx

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FIVE CORNERS (dt. PINGUINE IN DER BRONX)
Großbritannien/USA 1987
Regie: Tony Bill
Darsteller: Jodie Foster (Linda), Tim Robbins (Harry), John Turturro (Heinz), Todd Graff (James), Rodney Harvey (Castro), Daniel Jenkins (Willie), Elizabeth Berridge (Melanie), Cathryn de Prume (Brita), Carl Capotorto (Sal), John Seitz (Inspector Sullivan), Gregory Rozakis (Mazola), Kathleen Chalfant (Harrys Mutter), Rose Gregorio (Heinz' Mutter), Eriq La Salle (Samuel Kemp)

Many thanks to the Penguins in this film. They were treated most respectfully and no harm ever came to them in their work. (aus den Credits)

Pinguine in der Bronx
Ein Mathematiklehrer hat einen Stapel Prüfungsarbeiten vor sich, die er reihenweise mit dem Stempel "Durchgefallen" versieht. Nach getaner Arbeit packt er seine Sachen zusammen und geht mit seiner Aktentasche forschen Schritts durch die Straßen der Bronx. Ein Pfeil schwirrt heran und trifft ihn in den Rücken. Der Lehrer bricht zusammen und haucht sein Leben aus. Das ist der - gelinde gesagt - ungewöhnliche Auftakt von FIVE CORNERS.

Ein Lehrer wird zur Strecke gebracht
Five Corners ist eine Ecke in Van Nest, das wiederum ein Viertel in der New Yorker Bronx ist. Es ist ein kleinbürgerliches Viertel - man kennt sich gegenseitig, und man geht (meistens jedenfalls) respektvoll miteinander um. Hier tragen sich an zwei Tagen im Herbst 1964 einige bemerkenswerte Dinge zu. - Zunächst also der Mord an dem Lehrer. Die Polizei in Person von Inspector "Bigfoot" Sullivan und seinem Partner Mazola vom 33. Revier steht vor einem Rätsel. Die Bronx war ja mal Indianergebiet, bevor hier die ersten holländischen Siedler auftauchten. Sollte es hier etwa noch Indianer geben? Aber nein, die Idee ist zu abwegig und wird verworfen. Doch wer war es dann?

Linda und James
Noch eine Nachricht macht die Runde: Heinz ist wieder da. Der allseits bekannte und unbeliebte Psychopath Heinz Sabantino war einige Zeit im Gefängnis, weil er versucht hatte, Linda zu vergewaltigen, eine Verkäuferin in der Zoohandlung ihres Vaters. Lindas Freund James hatte damals versucht, sie zu beschützen, doch er war Heinz hoffnunglos unterlegen und trug aus der Begegnung eine steife Hüfte davon. (In den üblichen Quellen wird er "Jamie" genannt, aber wenn ich nichts überhört habe, fällt diese Koseform des Namens im Film kein einziges Mal, und in den Credits am Ende steht auch "James" und nicht "Jamie".) Gestoppt wurde Heinz erst durch Harry, damals ein rustikaler Schläger. Er zog Heinz mit dem Bierkrug einen Scheitel, und damit war die Angelegenheit beendet. - Nun ist Heinz also wieder da, und er wohnt wieder bei seiner alleinstehenden Mutter, die in hellen Momenten schrullig und in weniger hellen Momenten nicht mehr ganz dicht ist. Linda befürchtet - zu Recht, wie sich bald zeigt -, dass Heinz sein unvollendetes Werk fortsetzen und sich erneut an sie heranmachen wird. James ist wie damals bereit, sie zu verteidigen, doch Linda fürchtet um seine Gesundheit und gibt ihm deshalb kurzerhand den Laufpass, um ihn aus der Schusslinie zu nehmen, was er aber keinesfalls akzeptieren will. Linda sucht aber lieber erneut Hilfe bei Harry, doch der hat sich radikal geändert. Nachdem sein Vater, ein Polizist, im Dienst erschossen wurde, hat Harry unter dem Einfluss der Reden von Martin Luther King der Gewalt abgeschworen. Mehr noch, er hat sich der Bürgerrechtsbewegung angeschlossen und will in wenigen Tagen nach Mississippi fahren, um dabei mitzuhelfen, Schwarze als Wähler zu registrieren, gegen den erheblichen Widerstand der weißen Bevölkerung und der lokalen Behörden. So vertröstet er Linda nur und meint, dass schon nichts passieren wird.

Harry, Buddha und Heinz - unverhofftes Wiedersehen
Um seine Mitwirkung an der Kampagne in Mississippi zu sichern, fährt Harry nach Harlem und trifft sich mit zwei schwarzen Aktivisten. Mit dem einen ist er schon befreundet, doch der Wortführer, Samuel Kemp, ist ein kühler Intellektueller, der den "reichen Harvard-Schnösel" sehr herablassend behandelt. Kemp (ein fiktiver Charakter) hat schon mit dem radikalen Stokely Carmichael (der in seiner Jugend in Van Nest lebte) zusammengearbeitet, und dass er mit seiner Brille äußerlich an Malcolm X erinnert, ist vielleicht auch kein Zufall. Harry hat es also schwer, akzeptiert zu werden, doch als er klarstellt, dass er weder reich noch Harvard-Absolvent ist, und als er die Gründe für seine Wandlung darlegt, taut Kemp etwas auf - vielleicht gibt es doch eine Basis zur Zusammenarbeit. Harrys Mutter wäre aber das Gegenteil lieber, denn sie hat Angst um ihren Sohn, den sie nicht auch noch verlieren will, nachdem sie schon Witwe ist. Gerade kam nämlich im Fernsehen die Nachricht, dass in Mississippi die Leichen von drei wochenlang vermissten jungen Bürgerrechtsaktivisten, einem Schwarzen und zwei Weißen, aufgefunden wurden. Wie sich bald erwies, wurden sie von Mitgliedern des Ku-Klux-Klans unter tatkräftiger Mithilfe der örtlichen Polizei ermordet. Es handelt sich um jenen realen Mordfall, der auch Alan Parkers MISSISSIPPI BURNING zugrunde liegt.

Heinz Sabantino ...
Parallel zur Haupthandlung um Linda, Heinz, Harry und James gibt es in FIVE CORNERS einen zweiten Handlungsstrang, der sich nur sporadisch mit dem ersten überkreuzt. Sal kurvt in seinem roten Cabrio durch Van Nest, seine Verlobte Melanie und deren Freundin Brita auf dem Rücksitz. Die beiden aufgebrezelten Mädels werfen ständig Pillen ein und schnüffeln Klebstoff, so dass Sal, eigentlich kein Kind von Traurigkeit, schließlich gewaltig genervt davon ist, dass die beiden pausenlos zugedröhnt sind. So lädt er sie kurzerhand auf der Straße bei den beiden schrägen Teenagern Castro und Willie ab, denen er noch fünf Dollar dafür zahlt, dass sie ihm die beiden vorübergehend abnehmen. Am nächsten Morgen wachen Melanie und Brita nackt in einer ihnen fremden Wohnung auf, ohne sich an viel zu erinnern, doch sie nehmen es sportlich, und schon werden sie wieder von Castro und Willie aufgegabelt. Die beiden haben schulfrei, weil gerade ihr Lehrer ermordet wurde, wie sie erzählen. Die vier ziehen also zusammen durch die Gegend und erkunden dabei den Fahrstuhlschacht eines Wohnhauses. Zu einer Arie aus der Oper Lakmé von Léo Delibes (gesungen von Joan Sutherland in einer Aufnahme von 1967) entwickelt sich in dieser sehr schönen Szene fast so etwas wie ein vertikales Fahrstuhl-Ballett, und am Ende erinnert es etwas an die Fahrstuhlszene in John Carpenters DARK STAR. Aber ebenso wie bei Carpenter geht es auch hier gut aus. Sal ist inzwischen auf der Suche nach den für ihn verschollenen Mädels, und er will sogar die Polizei einschalten, wird aber abgewimmelt. Schließlich findet er die vier in einer Bowlinghalle. Nach einem veritablen Krach mit Melanie, der nicht entgangen ist, dass sie für fünf Dollar sozusagen verkauft wurde, versöhnen sich die beiden wieder.

... und seine Mutter
Die Haupthandlung nimmt Fahrt auf, als Heinz spät abends bei Linda anruft und sie zu einem mitternächtlichen Rendezvous am Brunnen, einem großen Bassin mit Wasserfontänen, auffordert. Er will ihr dort ein Geschenk überreichen. Linda lehnt natürlich ab, doch Heinz droht unverblümt, James etwas anzutun, so dass sie nun doch zusagt. Bevor sie sich auf den Weg macht, will sie Harry anrufen, damit er auch zum Brunnen kommt, doch sie erreicht nur seine Mutter, weil Harry noch nicht von seinem Treffen in Harlem zurück ist. So trifft sie sich also mit sehr mulmigem Gefühl allein mit Heinz. Und der packt sein Geschenk aus - zwei Pinguine, die er im Zoo der Bronx geklaut hat. Linda findet die im Bassin planschenden Vögel für einen Moment sehr süß, doch schnell ist sie wieder in der Realität. Sie eröffnet Heinz, dass sie das Geschenk nicht annehmen kann, weil die Pinguine wieder in den Zoo müssen, sonst würden sie nicht lange überleben. Und nun erweist sich Heinz als wahrer Psychopath. Weil Linda sein Geschenk abgelehnt hat, schlägt er einen der Pinguine mit einem Knüppel zu Brei. Linda ist in einer Mischung aus Ekel, Wut und Angst zur Salzsäule erstarrt. Und Heinz fragt, ob sie denn nun wenigstens den anderen Pinguin annehmen will. Natürlich will sie. Als Heinz zum Dank für das "Geschenk" einen Kuss und dann noch einen fordert, zieht sie nun ihm mit dem Knüppel eins über die Rübe und flieht mit dem verbliebenen Pinguin. Heinz ist vorerst zu benommen, um ihr zu folgen.

Melanie, Brita und Sal kurven durch Van Nest
Linda lädt den Pinguin vorübergehend bei James ab und will dann mit der U-Bahn zu ihrer Tante fahren, weil sie sich in ihrer Wohnung nicht sicher vor Heinz fühlt. James begleitet sie zur U-Bahn-Station, doch Heinz hat sich inzwischen wieder aufgerappelt, und die beiden laufen ihm genau in die Arme. Er schlägt Linda K.O. und entführt sie, während James durch das Sperrgitter abgehängt wird. Unterdessen wurde der zurückgekehrte Harry von seiner Mutter verspätet über Lindas Anruf informiert. Mit seinem Bernhardiner "Buddha" macht er sich auf den Weg zum Brunnen, kommt aber zu spät und schaltet deshalb die Polizei ein. Weil sein Vater einst Inspector Sullivan das Leben gerettet hat, wird er nicht abgewimmelt, sondern ernst genommen, und Sullivan, Mazola und Harry entdecken am Brunnen den zermatschten Pinguin. Vorübergehend taucht die Frage auf, ob es in der Bronx womöglich auch noch Eskimos gibt, doch bald herrscht Klarheit, denn James erscheint auch auf dem Polizeirevier und meldet die Entführung. Neben den üblichen polizeilichen Maßnahmen wird jetzt auch Buddha als Spürhund eingesetzt, und tatsächlich findet er Heinz und Linda recht schnell, aber das geht erst mal schlecht für Mazola aus. Heinz bringt die bewusstlose Linda in seine Wohnung, wo er eine Art Aussprache (wenn man das so nennen will) mit seiner Mutter hat, die ziemlich bizarr endet. Am Schluss sind Linda, Heinz, Harry und James auf dem flachen Dach des Nebenhauses versammelt, das inzwischen von der Polizei umstellt ist. Die nach wie vor weggetretene Linda liegt direkt am Rand und droht bei einer falschen Bewegung in den Tod zu stürzen, James ist mit seiner steifen Hüfte Heinz noch hoffnungsloser unterlegen als beim ersten Mal, und Harry steht sich mit seiner Gewaltlosigkeit selbst im Weg. So kommt es auf dem Dach zu einem recht ungewöhnlichen Showdown. Und am Ende schwirrt wieder ein Pfeil durch die Luft ...

Samuel Kemp, rechts Malcolm X im März 1964 - Ähnlichkeit vermutlich beabsichtigt
(rechtes Teilbild: Public Domain, Quelle: Wikipedia)
In den ersten Minuten der Szene mit Sal, Melanie und Brita im roten Cabrio scheint sich FIVE CORNERS in die Richtung eines knallbunten Nostalgiefilms à la AMERICAN GRAFFITI zu entwickeln, doch dieser Eindruck verflüchtigt sich schnell. FIVE CORNERS ist etwas anderes - er ist vielschichtiger und tiefgründiger. Dass es sich um keinen solchen Nostalgiefilm handelt, sieht oder vielmehr hört man auch am Soundtrack. Zeitgenössische Pop- oder Rocksongs sind nämlich nur spärlich vorhanden. Im Vor- und Abspann ertönt jeweils "In My Life" von den Beatles, in Harrys Zimmer spielt ein Radio oder Plattenspieler kurz "The Times They Are A-Changin'" von Bob Dylan, und in der besagten ersten Cabrio-Szene kommen zwei oder drei Songs aus dem Autoradio - und das war es dann schon fast. Stattdessen schrieb James Newton Howard, damals noch ziemlich am Anfang seiner erfolgreichen Laufbahn als Filmkomponist, einen atmosphärisch stimmigen Score, der gerade auch die düsteren und dramatischen Aspekte der Geschichte betont.

Harrys Mutter, rechts die Eltern des Mordopfers Andrew Goodman im Fernsehen
Neben den Protagonisten der beiden Handlungsstränge gibt es noch eine Reihe von Nebenfiguren, die teilweise recht skurril und durchweg positiv gezeichnet werden, wie die beiden alten jüdischen Lebensmittelhändler Murray und George (offensichtlich ein Brüderpaar). Tatsächlich sind Heinz und der schnell dahingeschiedene Mathelehrer die einzigen wirklich negativen Figuren im Film. Trotz oder vielleicht gerade wegen bestehender kultureller Unterschiede geht man, wie schon erwähnt, respektvoll miteinander um. Familiennamen wie Kompelski (Linda), Fitzgerald (Harry) und Sabantino (Heinz) sind dezente Hinweise auf jüdische/osteuropäische, irische und italienische Herkunft vieler Einwohner des Viertels. Die Eigenschaft, ein kultureller Schmelztiegel zu sein, die ja New York insgesamt nachgesagt wird, gilt offenbar auch im Kleinen für Van Nest. (Wie Heinz zu seinem für Italiener ebenso wie für Amerikaner ungewöhnlichen Vornamen kam, wird übrigens nicht erörtert.) Gelegentlich wird die räumliche Nähe der Geschehnisse in FIVE CORNERS durch die Kameraarbeit betont, wenn von einem Schauplatz oder einer Personengruppe des einen Handlungsstrangs durch einen nur kleinen Schwenk zum anderen Strang übergeleitet wird, ohne dass sich die Handlungsfäden wirklich überkreuzen (was, wie auch schon erwähnt, nur sporadisch geschieht). Durch all diese Figuren und Stilmittel verdichtet sich FIVE CORNERS auch zu einem humanistisch und liebevoll gezeichneten Portrait eines kleinen Viertels in einer großen Stadt. Damit steht der Film in einer Tradition, die (mindestens) bis zu René Clairs UNTER DEN DÄCHERN VON PARIS zurückreicht. Hauptverantwortlich dafür war Drehbuchautor John Patrick Shanley, der in Van Nest aufgewachsen ist und Kindheits- und Jugenderinnerungen in sein Script einfließen ließ. Shanley bekam 1988 einen Oscar für sein Drehbuch zu MOONSTRUCK mit Cher und Nicolas Cage, und vor einigen Jahren ging er unter die Regisseure, indem er sein eigenes preisgekröntes Bühnenstück Doubt erfolgreich mit Meryl Streep und Philip Seymour Hoffman verfilmte.

Murray und George in ihrem Lebensmittelladen
Nicht nur Heinz sorgt dafür, dass FIVE CORNERS nicht im Idyll versandet, auch die Verankerung des Films im politischen Zeitgeschehen des Jahres 1964 ist dafür verantwortlich. Die Konfrontation zwischen Bürgerrechtlern und reaktionären Rednecks in den Südstaaten spielt eine wichtige Rolle, auch wenn sie sozusagen nur indirekt präsentiert wird. Ganz am Anfang, noch vor dem Mord am Lehrer, sieht man kurz Harry, wie er im Fernsehen einen (echten, nicht nachgestellten) Auftritt von Martin Luther King ansieht, später im Film verfolgt seine Mutter einen (ebenfalls authentischen) Bericht über die Auffindung der drei Leichen in Mississippi. Darin sind auch die Eltern des Mordopfers Andrew Goodman zu sehen, die die Freunde und Gleichgesinnten ihres Sohns auffordern, sich nicht einschüchtern zu lassen, sondern ihr Engagement fortzusetzen. Dazu kommt Harrys Gespräch in Harlem über seine Mitwirkung und die ablehnende Reaktion seiner Mutter darauf. FIVE CORNERS arbeitet hier also mit sparsamen Mitteln ein ernstes Thema heraus, anders als etwa MISSISSIPPI BURNING, der die Atmosphäre der Konfrontation in den Südstaaten mit martialischen Breitseiten heraufbeschwört (oder auch ziemlich verfehlt, wie Jonathan Rosenbaum in einem heftigen, aber gut begründeten Verriss schrieb). Den Gegenpol zu Harrys politischem Engagement, für das Heinz nur ein kurzfristiger Störfaktor ist, bildet der Präsidentschaftswahlkampf des ultra-konservativen Barry Goldwater, der im Film auch kurz und dezent angerissen wird. (Die Verantwortlichen für die dt. Untertitel auf meiner DVD waren auf dem zeitgeschichtlichen Terrain nicht besonders firm. Sie machten aus Stokely einen Stopley Carmichael, und aus der Politik von Goldwater wurde eine Coldwater-Politik. Schluss mit den Warmduschern, oder was hatten diese Leute da im Sinn? Es finden sich noch mehr Klöpse, so wurde aus der Fordham University, die Harry besucht hat, eine Fortim University.)

Melanie (links), Brita und Willie beim Bowling
Es steckt also viel drin in diesem kleinen Film. Aber wieso eigentlich "kleiner Film"? Immerhin spielen ja Jodie Foster, Tim Robbins und John Turturro die Hauptrollen. Doch von denen war damals nur Foster ein Star, spätestens seit 1976, als sie in BUGSY MALONE, TAXI DRIVER und THE LITTLE GIRL WHO LIVES DOWN THE LANE gleich drei prägnante Rollen hatte. Tim Robbins dagegen hatte zwar unmittelbar vor FIVE CORNERS schon in HOWARD THE DUCK und TOP GUN mitgespielt, aber seine großen Erfolge wie ERIK THE VIKING, JACOB'S LADDER, BOB ROBERTS und THE PLAYER kamen erst danach. Und auch John Turturro hatte schon einige mittelgroße Rollen gespielt, aber sein endgültiger Durchbruch, vor allem mit MILLER'S CROSSING und BARTON FINK von den Coen-Brüdern, erfolgte erst nach FIVE CORNERS. Tony Bill und der für das Casting zuständige Doug Aibel hatten also ein gutes Händchen, und zwar nicht nur, was die zukünftigen Star-Qualitäten ihrer Darsteller betraf, sondern auch in Bezug auf ihre schauspielerischen Fähigkeiten. Sie sind nämlich alle famos in ihren Rollen. Das gilt auch für Todd Graff, der als der etwas zappelige, aber sehr mutige James keineswegs hinter seine heute bekannteren Kollegen zurückfällt. Auch die Chemie untereinander stimmt, und so ergibt sich eine sehr erfreuliche Ensemble-Leistung. Wenn man aber einen herausgreifen müsste, dann wohl Turturro, denn sein Heinz ist eine Schau. Mit flackerndem Blick und gelegentlich linkischen Bewegungen, wirkt er doch nie lächerlich, und am Ende hat man fast noch Mitleid mit dem Monster.

Nächtliches Rendezvous am Brunnen (mit Pinguin im Sack)
FIVE CORNERS ist durch und durch amerikanisch, und doch ist es offiziell ein britischer Film, denn produziert wurde er von George Harrisons HandMade Films. Diese Firma entstand aus der Not heraus, aber nicht Harrisons Not, sondern die der Monty Pythons. Die steckten gerade in der Produktion von LIFE OF BRIAN, da las irgendjemand bei der EMI, die den Film eigentlich produzieren sollte, das Drehbuch, bekam einen gehörigen Schreck, und der Konzern zog sich aus der Finanzierung zurück. Der ganze Film stand nun auf der Kippe, da sprang der Ex-Beatle und Monty-Python-Fan Harrison ein. Mit seinem damaligen Finanzberater und Geschäftspartner Denis O'Brien gründete er HandMade Films, und die Firma produzierte in den darauffolgenden zehn Jahren nicht nur LIFE OF BRIAN, sondern eine ganze Reihe von meist hochkarätigen britischen Filmen (etliche davon mit Bob Hoskins und/oder Maggie Smith in Hauptrollen). FIVE CORNERS ist einer der wenigen "Ausflüge" von HandMade Films über den großen Teich, und Harrison und O'Brien sind denn auch die Executive Producers (also die mit der dicken Geldbörse) des Films. Nach ungefähr einem Jahrzehnt verlor Harrison das Interesse am Filmgeschäft, außerdem verkrachte er sich mit O'Brien, und so stellte HandMade Films vorübergehend die Tätigkeit ein und wurde dann an die kanadische Paragon Entertainment Corporation verkauft. Deren Logo ziert nun (zumindest auf meiner DVD) den Vorspann von FIVE CORNERS, ohne dass diese Firma etwas mit der Entstehung des Films zu tun gehabt hätte.

Bigfoot Sullivan - nomen est omen
Der 1940 in San Diego geborene Tony Bill war und ist (in dieser zeitlichen Reihenfolge und teilweise überlappend) Schauspieler (z.B. in ICE STATION ZEBRA und SHAMPOO), Produzent (zusammen mit zwei Kollegen Oscar für THE STING als bester Film) und Regisseur. FIVE CORNERS ist sein dritter Kinofilm als Regisseur. Es folgten noch einige mehr, aber seit Mitte der 90er Jahre hat er fast nur noch für das Fernsehen gearbeitet.

Heinz hat eine Aussprache mit seiner Mutter
Die Mischung eines schwerwiegenden Themas wie den Morden an den Bürgerrechtlern mit so skurrilen bis bizarren Figuren und Ereignissen wie in FIVE CORNERS ist vielleicht nicht jedermanns Sache, ich finde sie aber überaus gelungen. FIVE CORNERS ist ein sehr sympathischer und kurzweiliger Film! In Deutschland ist er auf zwei verschiedenen DVDs erschienen, in den USA gibt es ihn auch auf Blu-ray.

Finale auf dem Dach

Belagerung, Invasion, Isolation – John Carpenter wieder- und neuentdeckt

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John Carpenter mit cooler Lederjacke am Telefon – ein Cameo in VILLAGE OF THE DAMNED

Ein „Gesamtkunstwerk des Unbehagens“: so wurde John Carpenters Œuvre im Programmheft einer Retrospektive genannt, die im Wiener Gartenbaukino vom 20. Mai bis 2. Juni dieses Jahres lief (dies mit besonderem Hinblick darauf, dass Carpenter die markante Musik zu seinen Filmen oft selbst komponierte). Als Erschaffer von Ur-Erzählungen bezeichnete implizit der von mir sehr geschätzte Oliver Nöding John Carpenter im Rahmen seiner eigenen Werkschau (hier in der Besprechung von ELVIS). John Carpenters Filme seien der (Alb-)Traum einer isolierten, einsamen Insel – so in einem ausführlichen Essay (englische Übersetzung& französisches Original), in dem Emmanuel Siety die Filmemacher  und Howard-Hawks-Fans Jacques Rivette und John Carpenter vergleicht. Ein Poet des radikal verkürzten Tages und der nie enden wollenden Nacht, dessen Filme geradezu obsessiv um die wiederkehrenden Themen Belagerung, Invasion und Isolation kreisen – so könnte man Carpenter auch bezeichnen und das tue ich hiermit mal.
Auch beim Showdown: immer Zeit und Platz für
eine Hawks-Hommage (THE FOG)
Auf der anderen Seite dieses wiederkehrende Narrativ: der Meisterregisseur, der in den 1970er Jahren großartige Filme inszenierte, irgendwann aber anfing, nur noch totalen Mist zu drehen und bei dem die Welt froh sein sollte, dass er offenbar nun keine Filme mehr drehen wird (sondern nur noch musiziert). Der Startpunkt von „des Meisters John unumkehrbare Dekadenz“ variiert je nach Erzählung: manchmal „alles nach THE THING“ (also 1982) und manchmal „alles nach IN THE MOUTH OF MADNESS“ (also 1994). Dieses Meisternarrativ (als Narrativ des „gefallenen Meisters“ und als „Ur-Erzählung“) finde ich schrecklich langweilig, erkenntnisarm – und versuchte es bereits in meiner ausführlichen Besprechung des sträflich unterschätzten und viel geschmähten MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN zu entkräften. Im Zuge einer umfassenden Retrospektive, für die ich die ersten fünf Monate dieses Jahres in Anspruch nahm, habe ich gemerkt, dass ich in beiden Punkten recht habe: ja, MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN ist John Carpenters bester Film, und ja, das Narrativ des gefallenen Meisters ist absoluter Blödsinn!

Aber das ist nicht der Grund, weshalb ich Anfang Januar eine persönliche Carpenter-Retrospektive startete. Ich brauchte vier Filme, bis ich zu dieser Entscheidung kam, akribisch die Filmographie Carpenters abzuarbeiten (wenngleich nicht wirklich „systematisch“ oder gar chronologisch, sondern eher nach rein technischen Möglichkeiten der Verfügbarkeit). THEY LIVE, den ich in der Uralt-DVD-Fassung mit komischem Bildformat (2.17:1) zu Weihnachten bekommen habe, begeisterte mich Anfang Januar bei der Wiedersichtung. Wenig später, bei einer Schnäppchen-Aktion in der Drogerie meines Vertrauens, kamen die beiden Plissken-Filme hinzu: eine fantastische Wiedersichtung bei ESCAPE FROM NEW YORK, ein etwas befremdliches, aber nicht unbefriedigendes Kennenlernen von ESCAPE FROM L.A. Der berühmteste Recycler des abseitigen Films innerhalb des Mainstreamkinos, Quentin Tarantino, brachte mich zum nächsten Carpenter-Film, als er mich Ende Januar mit seinem neuesten Film THE HATEFUL EIGHT milde enttäuschte – zugleich aber das wirklich dringende Bedürfnis hervorrief, jenen Film zu sehen, auf den sein ausgedehnter Dreistünder zum Teil basierte: THE THING. Eine grandiose Zweitsichtung, die mir den Film nach einer etwas distanzierten Erstsichtung „öffnete“. 

Bennett lehnt ein Gläschen Wein ab und möchte lieber bald bezahlt
werden – Carpenters Cameo in THE FOG
Ich sprach eben von „dringendem Bedürfnis“. Nun, nach THE THING war dieses nicht geringer geworden. Denn zwei Wochen später wachte ich an einem Samstag Morgen auf und spürte ein furchterregendes Alien-Ding in meinem Bauch – nun, das jetzt nicht, aber doch den fast schon irrationalen Zwang, jetzt mal endlich was Neues von Carpenter zu sehen. Wieder in der Drogerie meines Vertrauens – François Truffaut bezeichnete Filmliebhaber als kranke Menschen, wie passend, dass ich also für meine Sucht zur „Drogerie“ gehen musste – stillte ich also mein Bedürfnis, setzte quasi meinen Entzugserscheinungen ein Ende, als ich PRINCE OF DARKNESS zu einem leicht erhöhten Preis erwarb und für den Abend nun Stoff hatte. Von nun an, von Anfang Februar bis Ende Mai, schaute ich regelmäßig jedes Wochenende, meist am Samstag Abend, mindestens einen Carpenter-Film. Die Beschaffung des „Stoffes“ organisierte ich dann auch etwas systematischer, auch wenn ich an manch einem Freitag bangte, dass das Paket nicht rechtzeitig kommen würde. Ich habe im Laufe vieler Wochen geradezu physisch erkannt, welch zwanghaftes, suchthaftes Potential Filmliebhaberei haben kann. Es ist wie Kratzen: das Jucken wird nur noch stärker, aber welch grandioses und erleichterndes Gefühl...

Die umfassende Rundreise durch John Carpenters Œuvre hat sich gelohnt. Am Ende stehen sehr viele Wiedersichtungen voller Genuss, viele Neusichtungen voller Überraschungen – und auch einige Enttäuschungen. Aber nun: Lieblingsregisseure zeichnen sich dadurch aus, dass man auch ihre Schwächen liebt oder zumindest verzeiht. Gewissermaßen hat die Retrospektive bestätigt, was ich implizit schon vor dem Jahr 2016 wußte: dass John Carpenter wohl zu meinen Top-10-Lieblingsregisseuren gehört.

Nun zur eigentlichen Rundreise, chronologisch nach den einzelnen Etappen...


THEY LIVE (1988)
2. Januar – 3. oder 4. Sichtung
Ein Arbeiter und sein Buddy enttarnen eine Invasion neoliberaler Aliens.
Ich habe THEY LIVE bislang immer im Fernsehen gesehen: meist hatte ich den Anfang verpasst und Tugendwächter hatten zusätzlich Hand angelegt (der Hawks‘ianische Kampf zwischen „rivals-to-be-friends“ dauerte dann statt 5 1/2 nur knapp 2 Minuten). So richtig vollständig habe ich ihn nun zwar aufgrund des leicht beschnittenen Bilds nicht gesehen, aber bereits in den ersten Sekunden zeigte sich die schiere Brillanz dieses Films: ein Holzfäller-Typ wandert mit einem großen Rucksack durch die Stadt, lernt dabei verschiedene Winkel kennen (abgeranzte Bahnhöfe, die hektischen Boulevards der Innenstadt, die Slum-Ränder) und wird dabei von Carpenters bluesigen Country-Score begleitet. Mit diesen simplen Mitteln bekommt der Film schon in den ersten Minuten einen eigenen, lebendigen Puls, einen eigenen Rhythmus.
In seinen Themen (es geht wieder einmal um eine Alien-Invasion und um einen Protagonisten, der über weite Strecken des Films komplett isoliert ist) erscheint THEY LIVE als archetypischer Carpenter-Film. Er sticht aber zugleich als sein wohl einzig wirklich politischer Film heraus (vielleicht von gewissen Aspekten der Geschlechterpolitik in THE WARD abgesehen und einigen Details in ESCAPE FROM L.A.). Die persönliche Rache an den „Schrecken der Reagan-Jahre“ bleibt dabei unangenehm ambivalent: Nada und Frank, die Kämpfer gegen die neoliberale Reagan‘schen Invasion, könnten von ihrer Veranlagung her genauso sehr für die andere Seite eingespannt werden. Man kann sie sich heutzutage gut als potentielle Tea-Party- oder Trump-Anhänger vorstellen. Diese Mischung aus dezidiert „linker Reagan-Satire“ und einer Ästhetik des „reaktionär-halbfaschistischen 80er-Jahre Actionkinos“ scheint mir besonders faszinierend (die Anführungszeichen sollen darauf hinweisen, dass ich mir der extremen Vereinfachung des Sachverhalts bewusst bin). Ob er damit singulär ist? Wahrscheinlich nicht (LETHAL WEAPON 2 ist da ein bisschen ähnlich). Trotzdem einer von Carpenters besten und am sträflichsten unterschätzten Filmen.


ESCAPE FROM NEW YORK (1981)
23. Januar – 3. oder 4. Sichtung
Snake Plissken soll aus dem Riesengefängnis Manhattan den Präsidenten retten.
Es ist faszinierend, wie „unspektakulär“ ESCAPE FROM NEW YORK eigentlich ist (worin er nicht nur ASSAULT ON PRECINCT 13 ähnelt – sondern im Bereich der postapokalyptischen Actionfilme auch den ersten beiden MAD MAX-Filmen). Und dabei dennoch so perfekt, so aus einem Guss. Ein Mann, eine Mission, ein Ort, 24 Stunden. Konzentriert, aber nicht gehetzt.
Ich bin etwas enttäuscht, dass ich zu Carpenters vielleicht zweitbestem Film gerade nicht viel mehr zu sagen habe. Kommt das daher, dass er nicht inszeniert wirkt, sondern so, als wäre einfach immer da gewesen?
Die Zivilisation ist untergegangen, Pomp und Kitsch leben weiter:
des Dukes schickes Gefährt
P.S.: recht einzigartig ist der durch und durch individuelle und charismatische Bösewicht, kongenial von Isaac Hayes mit nervösem Gesichtszucken dargestellt. Im Grunde fast ein Unikum in Carpenters Schaffen. Der „Bösewicht“ ist ja oft entweder komplett unsichtbar (THE WARD, SOMEONE'S WATCHING ME!), eine größere Bande (ASSAULT ON PRECINCT 13, VILLAGE OF THE DAMNED), gar eine organisierte Gruppe (THEY LIVE), oder aber ein übertragbares Konzept des Bösen (THE THING) oder gar nur ein Nebel (THE FOG) oder Schleim-Dings (PRINCE OF DARKNESS). Michael Myers in HALLOWEEN würde ich nicht als wirkliche (geschweige denn charismatische) Figur ansehen, sondern eher als latent materialisiertes Konzept. Und Kandidaten aus ESCAPE FROM L.A., VAMPIRES und GHOSTS OF MARS kommen mangels Charisma nicht in Frage. Ernsthafte Konkurrenten findet The Duke (Isaac Hayes) wohl nur in David Jenkins (Sam Neill) aus MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN, aber der hatte nicht einen so furchterregenden Assistenten namens Romero (ein wahrhaft Schrecken einflößender Frank Doubleday) – und auch kein so cooles Auto mit aufmontierten Kronleuchtern und einer Disco-Kugel am Rückspiegel!


ESCAPE FROM L.A. (1996)
24. Januar – Erstsichtung
Snake Plissken soll aus dem Riesengefängnis Los Angeles ein komisches Satellitensteuerungsgerät retten.
Sequel, Remake, auteuristische Variation, Parodie, postmoderne Pastiche?
Es gibt keinen Zweifel daran, dass ESCAPE FROM L.A. über weite Strecken fürchterlich albern ist. Die einzige wirkliche Härte, die erinnerungswürdig ist, kommt relativ früh, als Snake sieht, dass die Leiche seines Verbindungsmanns in einem Casino als Zielscheibe für Messerwurfübungen genutzt wird. Und die unterirdische Schönheitsklinik des Dr. Bruce Campbell ist zugegeben sehr grotesk. Der Rest wirkt ein wenig wie eine Disneyland-Variation von ESCAPE FROM NEW YORK – nicht aus Plastik, sondern größtenteils aus miserablen Computereffekten. Es geht von einem Camp-Höhepunkt zum nächsten, und Snakes Surf-Ritt auf der Welle mit Peter Fonda ist wahrscheinlich die Camp-Krönung von Carpenters gesamten Werk (man könnte ihn aber auch als kleine Selbst-Hommage an den Surf-Ritt am Schluss von DARK STAR sehen).
Nach der Absolvierung verschiedener Stationen wirkt gar der finale Kampf antiklimaktisch. Doch das alles wird irgendwie doch wettgemacht. Denn erstens macht es doch Spaß, Kurt Russell dabei zuzusehen, wie er als Snake Plissken Sachen macht (und seien sie noch so furchtbar albern). Und zweitens hat ESCAPE FROM L.A. das vielleicht stärkste Filmende in Carpenters Karriere. Plisskens Rache ist grausam, aber auch folgerichtig, wenn er mit einem Knopfdruck die Welt ins Mittelalter zurückbeamt. Und plötzlich ergeben die ganzen scheusslichen Computereffekte einen Sinn: Snake Plissken, ein kernig-körperlicher analoger und anarchischer Mann, hat über eine entkörperlicht-digitale, christlich-fundamentalistische Dystopie gesiegt.
ESCAPE FROM L.A. ist nicht der große Wurf, oft holprig inszeniert – aber irgendwie trotzdem liebenswert.


THE THING (1982)
30. Januar – Zweitsichtung
Ein wandlungsfähiges und höchst aggressives Alien-Ding greift eine Polarstation an.
Hochkonzentrierte Paranoia auf engstem Raum – die berühmte Bluttestszene
(und der Beweis, dass sowohl Brian De Palma wie auch Quentin Tarantino
in Sachen Split Diopter von John Carpenter einiges hätten lernen können)
Besonders der fast unmittelbare Vergleich mit Quentin Tarantinos Semi-Remake/Semi-Variation THE HATEFUL EIGHT offenbarte die Stärken von THE THING. Wo Tarantino aus seinem verschneiten Setting ein hoffnungslos ver- und zerlabertes Kammerspielchen macht, bei dem man sich tatsächlich zwischendurch in einer Agatha-Christie-TV-Verfilmung wähnt, lädt Carpenter zu einer wahrhaftigen Apokalypse aus Paranoia und geschundenen Körpern ein.
Ich habe es erst bei PRINCE OF DARKNESS wirklich gemerkt: Carpenters Expositionen wirken oft sehr lang, wann aber die „wirkliche“ Handlung anfängt, bleibt dennoch oft unklar (dazu gleich mehr). Bei THE THING ist das offenkundig. Gerade die Zweitsichtung offenbart, dass von Anfang an etwas nicht in Ordnung ist: natürlich, der Hund, der von den Norwegern verfolgt wird, aber eben auch ein großer Fatalismus seitens der Mannschaft auf der Station.
Überhaupt: Carpenters fatalistischster und pessimistischster Film. Kein Entkommen. Nie wieder ein Ausgang aus der Nacht.


PRINCE OF DARKNESS (1987)
13. Februar – Erstsichtung
Ein Kessel mit grünem Satanszeug wird im Keller einer Kirche gefunden und einige Wissenschaftler versuchen, damit irgendwie fertig zu werden.
PRINCE OF DARKNESS enthält möglicherweise die merkwürdigste Exposition in Carpenters Filmographie (und damit meine nicht nur, weil die opening credits mit 9 Minuten so lang sind). Seine Expositionen sind oft sehr lang – auch, weil die Situation, in die die Protagonisten hineingeraten, von Unsicherheit geprägt sind, und der „Startpunkt“ der „eigentlichen“ Handlung fast immer etwas unklar bleibt. Die Expositionen bei Carpenter sind oft verlängerte Momente der totalen Unsicherheit – wenn diese Momente überhaupt aufhören. Auf eine gewisse Weise fangen also viele seiner Filme „mittendrin“ im Geschehen an. Nun: Carpenter erscheint mir oft eher als „Realist“ denn als „Expressionist“ oder „Impressionist“. Doch die ersten 15-25 Minuten seines ersten Nicht-Studiofilms seit ESCAPE FROM NEW YORK wirken tatsächlich impressionistisch – unfokussiert, unkonzentriert könnte man das nennen, wie hier verschiedene Figuren eingeführt werden: Wissenschaftler, Priester, und diese beiden Studenten, die sich ineinander verlieben, während der andere lieber sein Wochenende beim Feiern als bei semi-obligatorischen Praxisstunden in einer Kirche verbringen möchte. Doch durch die merkwürdige Montage wirkt das alles so flüssig in der Ordnung und so flüchtig in den Emotionen...
So ist der Anfang von PRINCE OF DARKNESS in seiner Machart schon ein wenig jenseitig, verträumt. Der Rest des Films, der Carpenters übliche Themen verarbeitet (eine Invasion durch das grüne Schleimding, eine Belagerung durch die zombieartigen Obdachlosen, Isolation durch zunehmende Dezimierung und Paranoia), ist von der merkwürdigen Exposition nur mäßig geprägt und bietet solides Carpenter-Handwerk. Beide Teile passen irgendwie nicht wirklich zusammen, stehen sich aber nicht im Weg.
Weitere Sichtungen werden vielleicht dennoch offenbaren, dass hier möglicherweise sogar große Carpenter-Kunst lauert.


THE FOG (1980)
20. Februar – Zweitsichtung
Ein tödlicher Nebel mit schauerhaften Geistern belagert eine Küstenstadt und eine Radiomoderatorin muss den Tag retten.
Die wundervolle Adrienne Barbeau als Stevie Wayne
„Solides Carpenter-Handwerk“ war wohl ungefähr mein Urteil bei der Erstsichtung Anfang 2014. Nach der Zweitsichtung revidiere ich: THE FOG ist „große Carpenter-Kunst“. Auf jeden Fall ist er vielleicht der Carpenter-Film mit den schönsten Figuren. Nick und Elizabeth (Tom Atkins und Jamie Lee Curtis), die sich in der einsamen Nacht auf der Straße ein Bier teilen – und später das Bett und ansonsten völlig verloren durch diese Belagerungsgeschichte wandeln. Die windige, aalglatte Bürgermeisterin (Janet Leigh) mit ihrer dauerangepissten Assistentin (Nancy Loomis) – „You‘re the only person I know who can make ‚yes, Ma‘am‘ sound like ‚screw you‘!“. Hal Halbrook als weinseliger Priester. Am wunderschönsten ist sicherlich Stevie Wayne, in der Adrienne Barbeau ihre wohl schönste Rolle (zumindest in Carpenter-Film) gefunden hat und die die wunderbarste weibliche Carpenter-Figur ist, noch vor Laurie Zimmers Leigh in ASSAULT ON PRECINCT 13. Wirklich bewundernswert ist, wie THE FOG sie vollkommen und zu 100 % akzeptiert: dass die Hauptfigur eine alleinerziehende Mutter ist und einem eher „männlichen“ Beruf nachgeht, wird in keiner Weise thematisiert oder gar problematisiert  – sie ist es einfach und vor allem rettet sie den Tag (bzw. bei einem Carpenter-Film: die Nacht). Nicht das „Sein“ bestimmt das „Bewusstsein“ – das „Handeln“ bestimmt das „(Weiter-)Sein“ – was im Kern ziemlich Hawks‘ianisch ist.
(In Zeiten, in denen tatsächlich Leute ernsthaft rumpöbeln, weil eine Frau dieses komische Spiel mit den 22 Spielern und dem Ball kommentiert, ist das alles offenbar keine Selbstverständlichkeit.)


BIG TROUBLE IN LITTLE CHINA (1986)
27. Februar – Erstsichtung
Ein Trucker plagt sich mit komischen chinesischen Geistern in Chinatown rum.
Manche Filme laufen nebenbei wie im Autopilot-Modus: man sieht sie, registriert sie also audiovisuell, statt sie wirklich zu schauen, also intellektuell und emotional zu verarbeiten. So bei mir BIG TROUBLE IN LITTLE CHINA. Die Erinnerungen an diesen Film sind größtenteils bereits wieder verblasst. Kein schlechter Film, nein, sogar makellos gemacht. Aber irgendwie trotzdem egal. In kaum einem anderen Film ist es Carpenter „gelungen“, sich so sehr seelenloser Mainstream-Massenware anzunähern... In Sachen „irgendetwas Fantasy-mäßiges mit ostasiatischem Exotik-Einschlag“ bleibe ich lieber bei THE GOLDEN CHILD.


CHRISTINE (1983)
5. März – Zweitsichtung
Die zarte Liebesgeschichte zwischen einem gemobbten Schüler und einem tödlich eifersüchtigen Auto.
Das unvergesslichste Bild aus CHRISTINE 
Vielleicht der erste Carpenter, den ich jemals sah: damals, in meiner frühen Teenager-Ära als großer Fan von Stephen King, gehörte er zum Pflichtprogramm. Nun, Jahre später, bin ich etwas enttäuscht. Den Ansatz, CHRISTINE als proto-Cronenberg‘ianischen Film über Fetische zu lesen, als Vorgänger von CRASH, finde ich höchst spannend (THE THING könnte man im Grunde auch als proto-Cronenberg‘ianischen body-horror sehen): mir hat sich diese Deutung leider keineswegs aufgedrängt oder als „am Text“ (also an den Bildern) nachvollziehbar gezeigt. Davon habe ich nur Trümmerteile (bad pun intended) gesehen. Vor allem wirkte für mich CHRISTINE wie ein unfokussiertes Teenager-Melodrama, in dem zwischendurch auch ein Killer-Auto zu sehen ist. Ein Film, der nicht weiß, ob Dennis oder Arnie oder Christine die Hauptfigur sein soll (anscheinend irgendwie alle). Neben vielen laberseligen Momenten bleiben aber dennoch einige unvergessliche Bilder hängen. Die junge Frau, die nachts im Inneren des überhell erleuchteten Autos sitzt, das sie offenbar umbringen will (wie genau, versteht man nicht – wohl irgendwie „erwürgen“ oder „ersticken“ – und gerade das macht es noch gruseliger). Und natürlich das ikonische brennende Auto, das eines der Gangmitglieder verfolgt, es überrollt und dann brennend in der Nacht liegen lässt...


VILLAGE OF THE DAMNED (1995)
12. März – Erstsichtung
Ein Alien-Geist schwängert in einer Art massenhaften „unbefleckten Empfängnis“ alle Frauen einer Stadt und die heranwachsenden Kinder bereiten später den Erwachsenen der Gemeinde große Probleme.
Hier soll er also sein: John Carpenters Totalabsturz in die völlige Mediokrität. VILLAGE OF THE DAMNED – für viele ein Mahnmal der Dekadenz eines einst großen Regisseurs, der spätestens in den 1990er Jahren dem totalen Blödsinn verfiel. Viele finden allerdings auch Toast Hawaii lecker und das Spiel mit den 22 Typen und dem Ball total spannend!
VILLAGE OF THE DAMNED, und das kam für mich aufgrund der vielen unfreundlichen Worte über diesen Film überraschend (auch, wenn ich gegenüber solchen Urteilen erst einmal bis zur Sichtung skeptisch bleibe), ist ganz große Carpenter-Kunst. Wie irgendjemand auf die Idee kommt, diesen Film als lächerlichen „baddie“ abzutun, ist mir ein Rätsel.
VILLAGE OF THE DAMNED ist vielleicht Carpenters am wenigsten „abstrakter“ Film, möglicherweise vor allem sein humanistischster. Das Böse ist in den meisten seiner Filme eine absolute, alles infizierende Kraft (am heftigsten in HALLOWEEN) – und hier kommt die Figur des kleinen Jungen David, der aus dem Geist des Bösen gezeugt wurde und für das Böse bestimmt ist, aber im Laufe des Films immer mehr Zweifel an den Tag legt, weil er Gefühle und ein Gewissen entwickelt – und damit zum totalen Außenseiter wird. VILLAGE OF THE DAMNED ist hier fast schon utopisch: das Böse ist gestört, und Humanität kann in Ansätzen doch siegen. Die andere Seite der Medaille ist natürlich, dass die „bösen“ Kinder teilweise mit Erwachsenen konfrontiert werden, die kleinlich, borniert, dumm und teils selbst keine Engel sind – sie zerstören keine Idylle, sondern ein brodelndes Etwas mit einer idyllischen Fassade. Das Mitgefühl des Films gehört auch einer jungen Dorfbewohnerin, die unter schweren Depressionen leidet und in der Gemeinde als Außenseiterin lebt.
In VILLAGE OF THE DAMNED passiert auch ein Wunder. Die Offenbarung des David als Alien-Brut mit menschlichen Gefühlen passiert unter freiem Himmel im Gespräch mit Christopher Reeves Arztfigur. Es ist sonnig hell, aber während des Dialogs verschwindet für einige Sekunden die Sonne (nachdem David gefragt hat „You've lost someone too?“), um dann wieder – gefühlt noch heller – aufzutauchen. Wahrscheinlich ein ungeplanter Umstand, der der Szene eine ungemeine Kraft verleiht.
VILLAGE OF THE DAMNED ist vielleicht auch jener Carpenter-Film, in dem er seine Meisterschaft des Cinemascope-Formats am eindrücklichsten unter Beweis stellt.

Meisterhafte Cinemascope-Komposition mit zwei Außenseitern
Magischer Moment mit verschwindender und wieder auftauchender Sonne

MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN (1992)
19. März – 10., 11. oder 12. Sichtung (?)
Ein totaler Nobody wird unsichtbar, muss damit klar kommen und nebenbei seine Traumfrau erobern sowie einem tödlichen CIA-Agenten entfliehen.
Carpenters Gottwerdung. Sein bester Film. Einer der besten Filme der 1990er Jahre. Ein praktisch unübertreffbares Meisterwerk.
MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN ist Carpenters „Hitchcock“-Man-on-the-run-Film, aber nach der offenbarenden Sichtung von Howard Hawks‘ MAN‘S FAVORITE SPORT? bin ich mir sicher, was die größte Stärke des Films ist: er ist voll und ganz „spät-Hawks‘ianisch“ – ein absolut perfekter Film, der dabei von größtmöglicher Lockerheit und Wärme ist.
Was ich bereits einmal hier auf diesem Blog über diesen Film geschrieben habe, scheint mir weiterhin sinnvoll.


HALLOWEEN (1978)
27. März – Zweitsichtung
Michael Myers flieht aus der Irrenanstalt, um seiner Heimatstadt einen überaus tödlichen Besuch abzustatten.
HALLOWEEN ist sicherlich einer von Carpenters best-inszenierten Filmen aus einer rein technischen Perspektive. Geradezu ein filmästhetisches Lehrstück in Sachen ultrakonzentriertes Filmemachen (also zumindest für erwachsene Zuschauer).
Zugleich ist HALLOWEEN auch Carpenters kältester und auch unmenschlichster Film. Ich bin mir nicht sicher, ob sich das Böse in Form des Michael Myers möglicherweise nicht nur in die intradiegetische Umgebung des Films, sondern auch in den kompletten Film an und für sich hineingefressen hat. In diesem Sinne wäre der Film „übergelungen“.
Ein bemerkenswerter Film, mit dem ich allerdings auch beim zweiten Mal nicht so richtig warm (im fast wörtlichen Sinne) wurde.


IN THE MOUTH OF MADNESS (1994)
2. April – Erstsichtung
Ein Privatdetektiv sucht einen verschollenen Horrorschriftsteller und gerät in dessen tödliche literarische Welt.
Hier ist er also: John Carpenters angeblich „letzter guter Film“ oder zumindest „letztes interessantes Werk“, bevor die völlige Dekadenz zuschlug... Das Narrativ des Regisseurs, der es irgendwann einmal nicht mehr bringt, kennt zumeist ein Zäsurwerk – der letzte Film vor dem Abstieg in die Mediokrität. Als solcher gilt gemeinhin IN THE MOUTH OF MADNESS. Ich widerspreche dem. Das hier ist nicht Carpenter auf dem Weg zu seinem Schlechtesten: vielmehr ist das hier schlicht und ergreifend sein schlechtester Film!
Mit seiner Verzahnung aus 1990er-Jahre-Ironie und postmoderner Dekonstruktion der Erzählung schafft IN THE MOUTH OF MADNESS eine Gruselgeschichte, die nicht gruselig ist, weil sie eh nur „Dekonstruktion“ ist, und zugleich eine Dekonstruktion, die sich als besonders originell geben möchte, aber nicht merkt, dass das Genre der „Dekonstruktion“ seine eigenen Klischees hervorbringt. Kurz: der Film war zumindest für mich einfach nur vollkommen egal. Überhaupt fällt es mir schwer, mich an irgendwelche Bilder zu erinnern. Carpenters Handschrift scheint mir recht abwesend zu sein, und man erkennt sie am ehesten beim „Übergang“ des Protagonisten in die jenseitige Welt, als er durch die schwarze Nacht fährt und dabei einen unheimlichen Radfahrer trifft...
Aber das ist auch schon alles! IN THE MOUTH OF MADNESS ist vielleicht der einzige Film in Carpenters Werk, bei dem ich erst einmal wirklich keine Lust verspüre, mich in näherer Zukunft damit wieder auseinanderzusetzen.


DARK STAR (1974)
9. April – 4. Sichtung
„Warten auf Godot“ im Weltall... (O-Ton Carpenter selbst) – oder: Die Besatzung eines Raumschiffs kämpft mit tödlicher Langeweile, neckischen Gummiballon-Aliens und redseligen Atombomben.
DARK STAR war jetzt ein paar Jahre der „nette kleine Geheimtipp“ und besonders bei meiner dritten Sichtung (März 2015) sah ich ihn sogar als potentiell „großen Carpenter“. Ich weiß nicht warum, aber dieses Mal hat er mir einen Tick weniger gefallen. Trotz der kurzen Dauer schienen mir viele Szenen etwas zu sehr in die Länge gezogen. Die träumerische Melancholie, die mir beim letzten Mal so gefallen hatte, war nicht mehr so greifbar. Trotzdem: immer noch ein sympathischer, entspannter Film, und lieber als jeder einzelne Teil der ALIEN-Teile ist er mir auch. Vielleicht eine Frage der Tagesform.


THE WARD (2010)
17. April – Erstsichtung
Eine pyromanische junge Frau wird in eine Psychiatrie eingewiesen, wo der böse Geist einer ehemaligen Patientin ihr und ihren Mit-Insassinnen nach dem Leben trachtet.
In einer Welt leben zu müssen, in der – zumindest außerhalb Frankreichs – ein so wunderbarer Film praktisch einhellig als totaler Mist gilt, ist zutiefst deprimierend und traurig. THE WARD ist kein Meisterwerk im engeren Sinne, aber er ist unverkennbar das Werk eines Kinomeisters, der alle Register seines Fachs kennt und dabei trotzdem fast nonchalant wirkt. Man könnte auch sagen: THE WARD enthält deutliche Spuren „spät-hawks‘ianischen Feelings“.
Sicher: die Auflösung mag etwas klischeehaft und an den Haaren herbeigezogen sein und der Showdown ist nach dem sehr langsamen Aufbau schlussendlich etwas zu überstürzt. Aber wie viele Filmemacher können schon lange, leere Gänge so unheilschwanger inszenieren? Wie viele Regisseure schaffen es, auf eine derartig filmische, fast dialogfreie Weise die Grundsituation des Geschehens zu fotografieren? Und einen finalen Jumpscare mit einer kleinen Verzögerung von einigen Sekunden so effektiv hinzubekommen?
Ausgelassen tanzende Insassinnen – kurz vor dem Schreckmoment
THE WARD handelt von Frauen, die in einer extrem autoritären Psychiatrie (der Film spielt in den 1960er Jahren) eingesperrt sind, obwohl ihnen eine betreute Sozial-WG, oder ein entspannender zweiwöchiger Urlaub oder eine etwas weniger sexistische, sexuell sexuell repressive, frauenverachtende und latent gewalttätige Gesellschaft ganz gut tun würde. In dieser bedrückenden Umgebung schleicht sich dann dennoch einige „spät-hawks‘ianische“ Momente ein, unter anderem, als die Mädchen sich eine Pause gönnen, eine Rock‘n‘Roll-Platte („Run Baby Run“ von den Newbeats) auflegen und zu tanzen beginnen. Vielleicht einer der schönsten, zumindest einer der ausgelassensten und fröhlichsten Momente in Carpenters Filmographie (der aber auch jäh wieder unterbrochen wird – wir befinden uns schließlich in einem Horrorfilm). Die schönsten und dabei furchterregendsten opening credits hat THE WARD ohnehin.
Bei THE THING war das schon bemerkbar und hier wird es wieder deutlich: wenn Carpenter einem externen Komponisten mit einem Score beauftragt, haucht er ihnen offenbar vorher seinen Geist ein (mit Ausnahme von MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN, wo der Score eher an Bernard Herrmann orientiert wurde) – der wunderschöne und effektive Score des Südafrikaners Mark Kilian wirkt für mich extrem Carpenter‘ianisch (auch wenn viele das verneint haben), wie einst Ennio Morricones Score zu THE THING Carpenter‘ianisch klang.


GHOSTS OF MARS (2001)
17. April – Erstsichtung
Auf dem Planeten Mars soll ein Gefangener von einem Ort in den anderen eskortiert wird, was sich aufgrund eines roten Nebels, der die Anwohner in wilde Dekapitations-Junkies verwandelt, schwierig gestaltet.
GHOSTS OF MARS ist die kleine, verschmutzte, radioaktive Recycling-Tonne in Carpenters Œuvre: als hätte er einen Teil ASSAULT ON PRECINCT 13, einen Teil THE FOG, einen Teil THE THING, einen Teil Uran und einen Teil materialisierte Albernheit in einen Mixer gesteckt und durchgequirlt – um dann die Mischung einem anderen Regisseur zu geben...
Tatsächlich scheint GHOSTS OF MARS thematisch der absolut ultimative Carpenter-Film zu sein, eine Art Resumee seiner bisherigen Filme – und ist ästhetisch zugleich vollkommen untypisch: GHOSTS OF MARS scheint oft unruhig inszeniert, nervös, voller merkwürdiger point-of-views mit Handkamera, mit Szenen, die sich in befremdlichen Fade-Outs geradezu auflösen. Einige Wochen später merkte ich, dass dieser Ansatz bereits im Vorgänger VAMPIRES angelegt war und hier radikalisiert wurde. Ein ästhetisches Experiment, das meiner Meinung nach recht misslungen ist. Die verschachtelte Struktur (die eigentliche Handlung ist ein Flashback, in dem es dann wiederum eigene Flashbacks gibt – die teilweise selbst „Unter-Flashbacks“ haben) wirkt zudem weniger überfordert als teils eher wie eine Parodie ihrer selbst.
Dennoch: GHOSTS OF MARS würde ich in Richtung ESCAPE FROM L.A. einordnen (tatsächlich war er ursprünglich als dritter Plissken-Film geplant). Vorwürfe eines Qualitätskinos sind hier undenkbar, eine leichte Albernheit durchzieht viele Szenen, die Macho-Atmosphäre (gleichwohl gebrochen durch die weibliche und andeutungsweise lesbische Hauptfigur) mit ihren vielen nur teils gelungenen One-Linern wirkt irgendwo zwischen ranzig und bemüht – aber irgendwie kann ich diesem Film nicht wirklich böse sein und habe ihn fast schon ein klein wenig lieb. Nun gut: Betonung auf „klein wenig“. 


MASTERS OF HORROR: CIGARETTE BURNS (2005)
7. Mai – Erstsichtung
Ein Kinobesitzer sucht nach einem Film, dessen Sichtung in Chaos, Gewalt und Mord münden soll.
Nach GHOSTS OF MARS war Carpenter angeblich kurz vor dem Zusammenbruch durch Erschöpfung und dies war seine erste Rückkehr zum Film – erst einmal im Fernsehformat. Und vieles in CIGARETTE BURNS fühlt sich ein wenig nach Fernsehformat an. Über das Niveau okay kommt er kaum je hinweg. Dass das Thema des Films im Film nicht für postmodern-ironische Uneigentlichkeits-Spielchen genutzt wird, ist eigentlich angenehm, aber Carpenter macht weder semantisch noch visuell wirklich etwas aus dem spannenden Grundthema, dass Film etwas grundsätzlich Gefährliches ist. Nur gegen Ende taucht eine wirklich tolle Idee auf: ein Filmbesessener schlitzt sich den Bauch auf, nimmt seine Gedärme raus und versucht, sie in einen Filmprojektor einzuwickeln. Ein drastischer, grausig-splatteriger Moment, vor allem aber auch ein sehr poetisches und tiefsinniges Bild über das Filmemachen und das Filmelieben (auch wenn übereifrige Tugendwächter hierzulande anderer Meinung sind).
Ansonsten: für einen einstündigen Film okay, plätschert etwas vor sich hin, aber Norman Reedus hält das ganze mit seiner charismatischen Präsenz etwas zusammen.


MASTERS OF HORROR: PRO-LIFE (2006)
7. Mai – Erstsichtung
Ein christlich-fundamentalistischer Fanatiker belagert mit seinen Söhnen eine Abtreibungsklinik, wo sich seine von Satan geschwängerte Tochter barrikadiert hat.
Der Beginn ist recht unscheinbar und könnte ein bisschen von einem beliebigen TV-Schichtarbeiter stammen. Doch die zweite Hälfte von PRO-LIFE hat es in sich und vereint alles Gute, was man von einem Ur-Carpenter‘schen Belagerungsszenario erwartet, mit einem netten kleinen Paradoxon als Beigabe (der christliche Fundamentalist, der im Grunde die Geburt des Antichristen befürwortet). Und bietet dann trotzdem noch einige Überraschungen. Der Vater (vorzüglich grimmig von Ron Perlman gespielt) ist rasch als Un-Sympath etabliert, doch wie später die Satansbrut und der Satan dargestellt wird, hat es in sich – zumal in einem Film, der nur die Episode einer Fernsehserie ist: das Biest wird erstaunlich menschlich und verletzlich dargestellt und schlussendlich gar als trauerndes Elternteil. Wie vielen Filmemachern würde es gelingen, dies zu zeigen, ohne, dass es lächerlich wirkt? Und wie Carpenter am Ende das Schicksal einer der Figuren einfach durch eine Ellipse offen lässt, hat fast schon etwas freches. Von wegen Carpenter bringt es seit Anfang der 1990er nicht mehr!


BODY BAGS (1993)
7. Mai – Erstsichtung
Rahmenhandlung: ein verrückter und recht pietätsloser Pathologe, der verdächtig wie John Carpenter aussieht (wahrscheinlich, weil er von ihm gespielt wird) brabbelt im Leichenschauhaus verwirrtes Zeug und führt die drei Episoden ein.
„The Gas Station“: eine Studentin wird bei ihrem Nachtjob an der Tankstelle von zweifelhaften Gestalten und einem Serienkiller belagert.
„Hair“: ein Mann in den „besten Jahren“ mit leichten Geheimratsecken probiert ein Wundermittel gegen Haarausfall, das drastische Nebenwirkungen hat.
„Eye“ (inszeniert von Tobe Hooper): nach einer Augentransplantation bekommt ein Ex-Baseballspieler furchterregende Visionen und mörderische Impulse.
Belagerung des Tankstellen-Kassiererhäuschens: hier ein penetranter,
aber noch harmloser Kunde
Carpenter auf Fernsehformat ist gewissermaßen die Belagerung eines Tankstellen-Kassiererhäuschens und die Episode „The Gas Station“ bietet mit seinem nächtlichen Serienmörder-Belagerungsszenario in knapp einer halben Stunde ein funkelndes Stück Carpenter-Essenz: trotz der albern-selbstironischen Rahmenhandlung 100 % straight, von der ersten Minute an spannend, voller Unheil in jeder Ecke des Bildes – und auch zusammengestaucht auf das Format 1.33:1 schlägt sich Carpenter überaus tapfer (sehr geschickt baut er einige Bildkompositionen statt in der Horizontale in der Vertikale auf).
„Hair“ präsentiert in den ersten Momenten etwas, was wie eine manische Screwball-Komödie im übersteuerten Camp-Modus wirkt und zugleich auch wie eine hintergründige Satire auf Männlichkeitsfantasien. Ein wunderbarer Stacy Keach –
...ein kleiner Exkurs an dieser Stelle: eine sträflich unterschätzte Qualität Carpenters ist jene, oftmals das Beste aus seinen Schauspielern herauszubekommen. Ja, es gibt einige schwache Filme in seiner Filmographie, doch abgesehen von vielleicht DARK STAR, wo die Darsteller manchmal etwas hölzern wirken, fiele mir spontan kein Carpenter-Film mit schlechten Darstellern ein. Die Sorgfalt reicht bis zu den Nebendarstellern, die oft sehr charaktervoll und charismatisch sind – man denke nur an Charles Cyphers, der gleich sechs frühe Carpenter-Filme mit seinem unvergesslichen Gesicht veredelte, oder Frank Doubleday, ohne dessen markante Präsenz weder ASSAULT ON PRECINCT 13 noch ESCAPE FROM NEW YORK denkbar wären.
– ein wunderbarer Stacy Keach also jammert sich durch den Beginn der Episode, weil sein Haupthaar schwindet und legt seiner Freundin das ganze als absolut ultimative existentielle Krise dar. Als er seine Kur bei einem zwielichtigen Arzt bekommen hat, weicht die absurde Screwball-Komödie einem bizarren Fetisch-Groteske: dieser Mann findet fast schon erotisches Vergnügen an seinen neuen, Rockstar-mäßig langen Haaren (das hat fast schon was von einem Cronenberg-Film, den Cronenberg nie drehte) – ein bisschen lustig ist das schon, wenn Stacy Keach mit, ähm, „Haarteil“ quietschvergnügt vor dem Spiegel steht und sich bewundert. Dann endet das ganze mit einem typischen Carpenter-Invasions-Szenario (die Haarimplantate waren Alien-Dinger, die nun das Gehirn des eitlen Mannes übernehmen).
Die von Tobe Hooper gedrehte Episode „Eye“ ist übrigens auch toll, und Mark Hamill bekam dann wiederum von Carpenter später die schöne und tragische Rolle des Gemeindepriesters in VILLAGE OF THE DAMNED.

Ein Toupet sieht nicht schick aus, stattdessen gibt es neue Haare beim Wunderdoktor
– mit streitbaren ästhetischen Ergebnissen und schrecklichen Nebenwirkungen

SOMEONE‘S WATCHING ME! (1978)
7. Mai – Erstsichtung
Eine junge Frau wird von einem Telefon-Stalker bedroht.
In Form und Inhalt ist der TV-Film SOMEONE‘S WATCHING ME! Carpenters allerreinster „Hitchcock-Film“: ohne die vielen Implikationen über Voyeurismus und vielleicht ein bisschen länger, als es ihm gut tut. Solide, wenngleich nicht übermäßig originelle Thriller-Kost.
Ein bemerkenswertes Detail ist sicherlich, dass Adrienne Barbeaus Nebenfigur, eine Arbeitskollegin der Protagonistin, bei einem kurzen Dialog als lesbisch präsentiert wird – das aber im Verlauf des Films nicht mehr die geringste Rolle mehr spielt. Sie ist einfach nur da und hilft dann auch der Protagonistin im Kampf gegen den Stalker. Ein wundervoller Respekt für eine Nebenfigur – wie Brian De Palma das ganze schamlos ausgeschlachtet hätte, ist gut vorstellbar.


STARMAN (1984)
22. Mai – Erstsichtung
Ein hochentwickelter Alien reist mit einer Frau in Gestalt ihres verstorbenen Mannes durch die USA, um sein Raumschiff nach Hause noch rechtzeitig zu bekommen.
Der Starman und Jenny beim Abendessen: Carpenters schönstes Paar
STARMAN wird oft als Carpenters „Entschuldigung“ für die nihilistischen Gewalt-Exzesse von THE THING interpretiert. Ich würde es etwas positiver formulieren: STARMAN ist die B-Seite von THE THING. Den größeren Gegensatz sehe ich eher zu HALLOWEEN, insofern das Roadmovie um das Alien im menschlichen Körper Carpenters wärmster Film ist. Wo in anderen Carpenter-Filmen (und teils auch hier) Menschen oft unmenschlich sind, zeigt er hier, dass man kein Mensch sein muss, um menschlich zu sein. 
Die Mischung aus SciFi, Liebesfilm, Roadmovie und Paranoia- und Verfolgungsthriller ist insgesamt gelungen, auch, wenn ich mir von letzterem etwas weniger gewünscht hätte und dafür ein wenig mehr Roadmovie und Liebesfilm. Es gibt, nach meinem Geschmack, zu viel Plot, zu viele Wendungen, zu viele Verfolgungsmomente. Dafür erscheinen die Szenen, in denen die beiden Protagonisten einfach nur sich selbst und miteinander sein können, mit dieser langsam entstehenden Freundschaft und schließlich Liebe, zu kurz. An Karen Allen und Jeff Bridges wäre das bestimmt nicht gescheitert!
Das ist freilich Jammern auf hohem Niveau. Und wer kann schon einem Film widerstehen, der solche Dialoge hat:
– „Stay clear of that bozo.“
– „Define bozo!“
– „Jerk.“


VAMPIRES (1998)
28. Mai – Zweitsichtung (erste ungekürzte Sichtung)
Vampirjäger jagen Vampire und besonders den Obervampir.
VAMPIRES sollte etwas besonderes sein: nämlich John Carpenters einziger „wirklicher“ Western (ASSAULT ON PRECINCT 13 und später auch GHOSTS OF MARS kommen dem recht nahe und mit viel Fantasie könnte man THE THING als Schnee-Western lesen)! Doch spätestens nach einer Dreiviertelstunde ertappte ich mich dabei, wie ich etwas ungeduldig auf die Uhr schaute. Es gibt keinen Zweifel daran, dass es unendlich viel Spaß macht, James Woods in einer schönen Hauptrolle zu sehen. Und trotzdem ist dieser Film eine Enttäuschung. Ästhetisch mixt er auf sehr uneinheitliche Weise den typisch minimalistisch-ruhigen Carpenter-Stil und ein Herumexperimentieren mit merkwürdigen Überblendungen und Fade-Outs – ohne, dass das auch nur annähernd harmonieren oder gut aussehen würde. 
VAMPIRES ist nicht nur enttäuschend, sondern auch schmerzhaft. Es ist ein Film, bei dem man sich ehrlich wünscht, er sei besser geworden.


ELVIS (1979)
29. Mai – Erstsichtung
Elvis, wie er leibt, lebt und legendet.
ELVIS hat den Atem eines wahren Epos und dabei doch eine kammerspielartige Intimität. Dabei wartet er mit einer tollen Überraschung auf: Kurt Russell – der zur gleichen Zeit als Elvis absolut perfekt und, durchaus im guten Sinne, „fehlbesetzt“ ist. Russell legt, besonders in der ersten Hälfte, seinen Elvis erstaunlich androgyn an, spielt ihn mit einer großen Künstlichkeit und sieht eher wie ein Elvis-Imitator als wie Elvis aus – damit sorgt er für eine sehr erfrischende Irritation. Später (also auch bei zunehmender Legendenbildung) wird Russell immer „natürlicher“, nähert sich dabei paradoxerweise immer mehr der Legende Elvis an, bis man stellenweise fast denkt, dass der „King“ höchstpersönlich da steht. Das ist eine grandiose Leistung von Kurt Russell, und dass Carpenter ihn später für viele weitere Filme verpflichtete, ist kein Wunder.
Jenseits von Russell hat ELVIS, besonders im ersten Drittel, einige schier magische Filmmomente: wenn ein Autokorso in den opening credits zu fetzigem Rock‘n‘Roll durch die Wüste von Nevada fährt – wenn Klein-Elvis durch einen scheinbar magisch belebten Herbstwald voller fallender Blätter rennt – wenn Teen-Elvis auf dem Rasen im Pausenhof seine Gitarre nimmt und zu singen anfängt.
Trotz der scheinbaren Exzentrik im Gesamtwerk ist ELVIS ein geradezu Ur-Carpenter‘ianischer Film über Belagerung und Isolation. Ein Film über eine Märtyrer-Figur, die von hysterischen Fans belagert wird und zwischen Mensch-Sein und Legenden-Sein auch zunehmend im Kreise seiner Freunde und seiner Familie isoliert wird. ELVIS ist dennoch nicht ohne Makel. Mit zunehmender Laufzeit funktioniert er doch etwas zu sehr wie ein typisches Biopic (Kindheit, Aufstieg, Glorie, Fall, Wiederauferstehung) – wobei sich natürlich die Frage stellt, inwiefern der Film selbst ein Klischee geformt hat, dass es so damals noch nicht gab. Unbemerkt blieb ELVIS keineswegs: ich kann mir nicht vorstellen, dass James Mangold Carpenters Film in Vorbereitung zu seinem Johnny-Cash-Biopic WALK THE LINE nicht gesehen hat. 
Mit 163 Minuten ist ELVIS der längste Film in Carpenters Filmographie, die ansonsten keinen einzigen Film über zwei Stunden enthält (und die meisten sind den anderthalb Stunden näher als der 120-Minuten-Marke) – vielleicht einen Tick zu lang. Trotzdem unter den eher unbekannteren Werken des Meisters ein sehenswerter Film.

Klein-Elvis rennt durch einen belebten Herbstwald
Teen-Elvis singt auf dem Pausenhof

ASSAULT ON PRECINCT 13 (1976)
30. Mai – 6. oder 7. Sichtung
Ein Polizist, zwei Polizeisekretärinnen und zwei Schwerverbrecher werden in einer Polizeistation von einer Gang belagert.
Was gibt es viel über dieses Wunderwerk zu sagen? Über diesen Film, der mit jeder neuen Sichtung neues Erstaunen über seine Brillanz hervorruft, und dabei doch immer wieder Neues entdecken lässt.
So etwa der erste Angriff – ein Moment des puren Kinos: mit Schalldämpfern schießen die Gangmitglieder auf das Gebäude, und fast lautlos wird alles im Empfangsraum der Polizeistation zerbrochen oder durch die Luft gewirbelt... Ein Moment, der fast noch spektakulärer ist als die späteren, „richtigen“ Angriffe.
Napoleon und Leigh: das schönste Paar in Carpenters Filmographie,
das nicht zusammen kommt
Dieser wunderschöne „kleine“ Augenblick, bei dem ich tatsächlich drei Mal zurückspulen musste: Napoleon fragt Lieutenant Bishop, ob dieser eine Zigarette für ihn habe, und als dieser mit „No [kurze Pause] I‘m sorry“ antwortet, verliert Napoleon kurz, aber doch sichtlich die Fassung, weil sich eben ausgerechnet ein Polizist bei ihm entschuldigt hat.ASSAULT ON PRECINCT 13 wird oft als Carpenters RIO BRAVO bezeichnet. Wenn Hawks‘ Meisterwerk tatsächlich ein Film darüber ist, wie ein heruntergekommener Mann (Dude – Dean Martin) seine Würde wiederfindet, dann ist ASSAULT ON PRECINCT 13 auch ein Film darüber, wie ein Krimineller mit legendärer Aura (Napoleon Wilson – Darwin Joston) wieder zu einem respektierten, gesellschaftlich integrierten und „normalen“ Menschen wird – wenn auch unter außergewöhnlichen Umständen. Und am Ende aufrecht stehend und gleichberechtigt mit einem Polizisten in die Morgendämmerung hinausläuft.
Und dann auch diese sexuelle Spannung zwischen Leigh und Napoleon: sie war natürlich schon immer da, aber bei dieser Neusichtung spürte ich Funken sprühen wie nie zuvor.

Und jetzt zum Dessert...
(John Carpenter als verrückter Pathologe in BODY BAGS)

John Carpenter wieder- und neuentdeckt – Die großen Überraschungen:
– VILLAGE OF THE DAMNED
– THE WARD
– BODY BAGS


John Carpenter wieder- und neuentdeckt – Die großen Enttäuschungen:
– IN THE MOUTH OF MADNESS
– VAMPIRES
– CHRISTINE


John Carpenter wieder- und neuentdeckt – Eine persönliche und provisorische Präferenzliste:

1 MEMOIRS OF AN INVISIBLE MAN


2 ASSAULT ON PRECINCT 13
– ESCAPE FROM NEW YORK


3 THEY LIVE

4 THE THING


5 THE FOG

6 VILLAGE OF THE DAMNED

7 THE WARD

8 BODY BAGS


9 PRINCE OF DARKNESS

10 STARMAN

11 HALLOWEEN

12 ELVIS


13 SOMEONE‘S WATCHING ME!

14 DARK STAR


15 ESCAPE FROM L.A.

16 CHRISTINE

17 PRO-LIFE


18 GHOSTS OF MARS

19 CIGARETTE BURNS

20 BIG TROUBLE IN LITTLE CHINA


21 VAMPIRES


22 IN THE MOUTH OF MADNESS

Close Up und BORDERLINE: Beziehungskisten in der Schweiz

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BORDERLINE
Großbritannien/Schweiz 1930
Regie: Kenneth Macpherson
Darsteller: Paul Robeson (Pete), Eslanda Robeson (Adah), H.D. (= Hilda Doolittle, Astrid), Gavin Arthur (Thorne), Bryher (Chefin des Lokals), Charlotte Arthur (Bardame), Robert Herring (Pianist), Blanche Lewin (alte Frau)


1930 drehte der schottische Schriftsteller, Kritiker und Fotograf Kenneth Macpherson mit einer Handvoll Laiendarsteller, die durch gemeinsame künstlerische, weltanschauliche und sexuelle Interessen mit ihm und miteinander verbunden waren, sowie mit dem professionellen schwarzen Sänger und Schauspieler Paul Robeson und dessen Frau Eslanda in der Westschweiz einen 73-minütigen avantgardistischen Stummfilm. (In IMDb und engl. Wikipedia wird eine Länge von 63 min angegeben, aber die in Deutschland und England auf DVD erhältliche Fassung hat umgerechnet eine Kino-Laufzeit von 73 min.) Der Film hat gerade mal 1000£ gekostet - auch damals schon eine lächerliche Summe (dabei hätten sich die Macher durchaus mehr leisten können, denn eine der Beteiligten war die designierte Erbin eines sehr üppigen Vermögens). Als BORDERLINE in die Kinos kam, wurde er von den meisten Kritikern heftig verrissen, und er verschwand in der Versenkung, und Macpherson drehte keine Filme mehr. Doch Jahrzehnte später wurde der Film als ein Werk der Avantgarde wiederentdeckt, das mit wenig Handlung auf damals gewagte Art sexuelle und emotionale Konflikte entlang der sich überkreuzenden Grenzlinien "Hautfarbe" und "Geschlechterrollen" erforscht. Es ist kein Zufall, dass abgesehen von den Robesons fast alle Beteiligten homosexuell oder bisexuell waren.

Astrid
Ein kleiner namenloser Ort, irgendwo in den Bergen der französischsprachigen Schweiz, um 1930. In einem Gasthaus mit Fremdenzimmern logiert eine Ménage-à-trois aus ausländischen Gästen (wohl Engländer oder Amerikaner, aber das wird nicht weiter thematisiert), die durch die Ankunft eines weiteren Gasts am Anfang des Films zu einer Ménage-à-quatre wird. Das weiße Paar Astrid und Thorne ist miteinander verheiratet, doch Thorne hat sich von ihr getrennt, weil er eine Affäre mit der schwarzen (oder "farbigen" - sie ist recht hellhäutig) Adah hat, die eigentlich mit dem schwarzen Pete liiert (oder verheiratet?) ist, aber momentan getrennt von ihm lebt. Astrid ist vor Eifersucht halb wahnsinnig, aber auch bei Thorne, der gerade einen Streit mit Adah hatte, sind die Nerven gespannt. In dieser Situation erscheint nun auch Pete als Neuankömmling im Ort, der Adah zurückgewinnen will. Und er scheint Erfolg zu haben - Adah hat anscheinend genug von Thorne, und sie zeigt sich Petes Avancen nicht abgeneigt.

Thorne
Mit distanziertem, aber wohlwollendem Interesse beobachtet wird das Treiben der freizügigen ausländischen Gäste durch einige Nebenfiguren: Der burschikosen, androgynen Besitzerin oder Geschäftsführerin des Gasthauses, ihrer stets gut gelaunten Bardame und dem Pianisten, der die Gäste des Lokals unterhält. Die einheimischen Gäste dagegen begegnen den Fremden (vor allem den dunkelhäutigen) mit einem gewissen Missfallen, wenn auch vorerst noch ohne öffentliche Unmutsäußerungen. Nur eine alte Frau mit freundlichem Gesicht meint, wenn es nach ihr ginge, dann wären in diesem Land keine Neger erlaubt. (Um der politischen Korrektheit Genüge zu tun: Damals wurde das Wort "Negro" weit unbefangener verwendet als heute, nicht nur von Weißen, sondern auch von Schwarzen (einschl. Paul Robeson). In den Credits von BORDERLINE werden sogar Pete als "a negro" und Adah als "a negro woman" bezeichnet. Wenn ich das Wort aus der Äußerung der rassistischen Dame mit dem freundlichen Gesicht als "Neger"übersetze, heißt das natürlich nicht, dass ich diesen Begriff selbst verwenden würde.)


Nachdem ihm Adah abspenstig gemacht wurde, ist nun auch Thorne eifersüchtig und wütend. Er beschuldigt Astrid, dass sie es war, die Pete herbeigelockt hat, was Astrid auch ohne Umschweife zugibt. Ihr Plan war, dass Thorne zu ihr zurückkehrt, wenn er Adah erst einmal an Pete verloren hat. Doch wenn der erste Teil des Plans geklappt hat, so geht der zweite Teil gehörig in die Hose. Denn Thorne ist nun erst recht wütend auf Astrid. Als diese erkennt, dass Thorne nicht zu ihr zurückkommen, sondern sie endgültig verlassen wird, kommt es zum finalen Streit zwischen den beiden. Astrid fuchtelt mit einem Messer herum und verwundet Thorne leicht - und am Ende liegt sie tödlich verletzt am Boden. Anscheinend hat Thorne sie im Getümmel versehentlich getötet, doch so ganz klar ist das nicht, weil man den entscheidenden Moment nicht sieht - vielleicht hat er auch die Kontrolle verloren und selbst zugestochen. Doch die Polizei glaubt seiner Darstellung, und er wird nicht angeklagt. Nach Astrids Tod geht das Gerede unter den Einheimischen nun so richtig los, und Pete streckt einen, der ihn offenbar beleidigt hat, mit einem Kinnhaken zu Boden. Doch damit liefert er den Leuten nur einen bequemen Vorwand: Der Bürgermeister verfügt auf Beschluss des Stadtrats seine sofortige Ausweisung aus dem Ort. Die Chefin des Gasthauses bedauert das. "Was es noch schlimmer macht", meint sie resignierend zu Pete, "ist, dass sie glauben, im Recht zu sein. So sind wir eben." - "Ja, so sind wir", bestätigt Pete, und verwandelt damit eine Aussage über die Schweizer oder über alpine Kleinstädter in eine allgemein-(un)menschliche.

Adah
Noch einen Tiefschlag muss er hinnehmen: Adah fühlt sich mitschuldig an Astrids Tod, und um mit sich ins Reine zu kommen, verlässt sie Pete und reist ab. Sie verabschiedet sich nicht persönlich, sondern hinterlässt Pete nur einen Brief, so dass er nichts dagegen machen kann. Wenigstens verträgt er sich jetzt wieder mit Thorne, da nun keine Frau mehr zwischen ihnen steht. Am Ende steht Pete am Bahnhof und wartet auf seinen Zug, und Thorne sitzt grübelnd in einer Wiese und starrt ins Leere.

Pete
Von 1927 bis 1933 erschien die größtenteils englischsprachige Filmzeitschrift Close Up (ein kleiner Teil der Artikel war auf Französisch), die als eines der ersten europäischen Journale Film konsequent als eine Kunstform begriff. Die Zeitschrift erschien von Juli 1927 bis zum Dezember 1930 monatlich, dann bis Ende 1933 vierteljährlich, zusammen 54 Ausgaben in einer Auflage von 500 Stück. Gedruckt wurde Close Up zunächst in Dijon in Frankreich, dann ab September 1928 in London, doch konzipiert und redigiert wurde das Magazin in der Schweiz, und zwar von dem Trio Kenneth Macpherson, Bryher und H.D., die sich zusammen The Pool Group nannten. Die drei waren Herausgeber (wobei H.D. nicht im Impressum genannt wurde) und schrieben auch einen beträchtlichen Teil der Artikel. Daneben gab es feste Mitarbeiter, vor allem den Engländer Oswell Blakeston, der ab 1931 auch Mitherausgeber war. Die Zeitschrift unterhielt Korrespondentenbüros in Paris, London, Berlin, Hollywood und anderswo, zu den Korrespondenten zählte u.a. Marc Allégret, der zu jener Zeit auch seine ersten Filme als Regisseur drehte. Daneben gab es Beiträge von vielen Gastautoren - Schriftsteller wie (recht häufig) Dorothy Richardson, Gertrude Stein und André Gide, Psychologen und Psychoanalytiker wie Havelock Ellis, Barbara Low und Hanns Sachs (die Herausgeber hatten ein Faible für die Psychoanalyse, und H.D. ließ sich in den 30er Jahren von Sigmund Freud persönlich analysieren), und natürlich von progressiv bis avantgardistisch gesinnten Filmkritikern und Filmschaffenden aus aller Welt. So wurde etwa das Tonfilmmanifest, das Sergej Eisenstein, Grigori Alexandrow und Wsewolod Pudowkin im August 1928 in einer Leningrader Zeitschrift veröffentlicht hatten, in der Ausgabe vom Oktober 1928 in englischer Übersetzung nachgedruckt.

Die Bardame (links oben) und ihre Chefin
Damit sind wir bei einem der Schwerpunkte von Close Up: Das sowjetische Montage-Kino der 20er und frühen 30er Jahre wurde in der Zeitschrift ausgiebig gewürdigt, und insbesondere Eisenstein war einer der Helden der Herausgeber. Als sich Eisenstein 1929 längere Zeit in Berlin aufhielt, traf ihn Macpherson dort persönlich, und sie schlossen Freundschaft. Eisenstein veröffentlichte nach dem Tonfilmmanifest einige weitere Artikel in Close Up, etwa über Fragen zukünftiger Breitbildformate (im Jahr 1931!) oder über die staatliche Filmhochschule in Moskau, wo er nach seiner Rückkehr aus Mexiko selbst unterrichtete, und natürlich über seine sich im Lauf der Zeit weiterentwickelnde Montage-Theorie. Eisensteins Frau Pera Ataschewa war die Moskauer Korrespondentin von Close Up.

Der Pianist und sein Objekt der Begierde, an das Klavier gehlemmt
Ein weiteres Idol der Pool Group war G.W. Pabst mit seinem der Neuen Sachlichkeit verpflichteten psychologischen Realismus. Bryher und Macpherson trafen Pabst erstmals im Oktober 1927, und der Regisseur war da schon seinerseits ein Fan von Close Up. Er fand es "so furchtbar funny" (Bryher in einem Brief), dass ausgerechnet Engländer so ein Magazin auf die Beine gestellt hatten. Pabst hatte auch mit GEHEIMNISSE EINER SEELE (1926) den ersten größeren Spielfilm vorgelegt, der explizit die Psychoanalyse thematisiert, und der oben erwähnte Hanns Sachs war Berater bei diesem Film. Eisenstein und Pabst, Montage und psychologische Durchdringung - zwischen diesen Polen bewegt sich auch BORDERLINE. Dazu weiter unten mehr. Kritisch ging man dagegen mit Hollywood um, wobei aber durchaus zwischen einzelnen Filmen bzw. Regisseuren differenziert wurde (so schätzte man King Vidor und insbesondere sein THE BIG PARADE), und noch kritischer mit dem zeitgenössischen britischen Film, der regelmäßig geschmäht wurde, so etwa von Robert Herring (dem Pianisten in BORDERLINE) in einem Artikel mit dem schön polemischen Titel Puritannia Rules the Slaves. Ein persönliches Anliegen war den Herausgebern der Kampf gegen die britischen Zensurbestimmungen.

Die alte Frau
Die aus Pennsylvania stammende Dichterin und Schriftstellerin Hilda Doolittle (1886-1961), die sich den Pen Name H.D. gab, gehörte in ihren jungen Jahren zur literarischen Bewegung der Imagisten (in den Credits von BORDERLINE wird sie "Helga Doorn" genannt, ein Name, den sie sonst meines Wissens nie benutzte). Schon während ihres Studiums in Pennsylvania lernte sie Ezra Pound kennen, der einer der Begründer des Imagismus war. Sie verliebte sich in ihn, und zeitweilig waren sie sogar miteinander verlobt. Ebenfalls noch in den USA hatte die bisexuelle H.D. ein Verhältnis mit der Dichterin Frances Gregg. Ezra Pound lebte seit 1909 in London, und 1911 folgten ihm H.D. und Gregg über den großen Teich. In London wurde sie von Pound schnell in die Literaturszene eingeführt, und sie begann, ihre Gedichte zu veröffentlichen. Nach dem Ende ihrer Beziehung mit Gregg hatte sie wechselnde Verhältnisse mit Männern und Frauen, und 1913 heiratete sie den englischen Dichter Richard Aldington, der ebenfalls den Imagisten zuzurechnen war. 1919 wurde ihre Tochter Frances Perdita als ihr einziges Kind geboren ("Frances" nach Frances Gregg, aber ihr Rufname war "Perdita", nach einer Shakespeare-Figur). Zu diesem Zeitpunkt hatten sie und Aldington, der durch seine Teilnahme am Ersten Weltkrieg schwer erschüttert wurde, sich auseinandergelebt und getrennt. Sie blieben aber befreundet und ließen sich erst 1938 scheiden. Sowohl H.D als auch später Perdita machten ein Geheimnis aus der Identität von Perditas Vater. Das führte zu allerlei Spekulationen, "verdächtigt" wurden u.a. Aldington, Pound und D.H. Lawrence (mit dem sie befreundet war, aber, soweit man weiß, kein Verhältnis hatte). Erst 1983 enthüllte Perdita, dass es sich bei ihrem biologischen Vater um den schottischen Musikkritiker und Komponisten Cecil Gray handelte. 1918 lernte H.D. Bryher kennen, und sie wurden bald ein Paar und blieben es bis zu H.D.s Tod 1961. Es war aber eine offene Partnerschaft, und beide hatten gelegentlich noch weitere Partner, so hatte H.D. um 1927/28 ein Verhältnis mit Macpherson.

Einheimische
Nicht nur "H.D.", sondern auch "Bryher" war ein Pen Name, und seine Trägerin hieß ursprünglich Annie Winifred Ellerman (1894-1983). (In der IMDb ist sie gleich doppelt vorhanden, als "Winifred Ellerman" und als "Bryher MacPherson". Nicht nur die Verdoppelung ist unsinnig, sondern auch die letztere Schreibweise, denn der Name war einfach nur "Bryher" ohne "MacPherson", und nebenbei schreibt man Kenneth Macpherson auch ohne Binnenmajuskel.) Bryher war die Tochter des Schiffsmagnaten Sir John Ellerman, der zeitweilig als reichster oder zweitreichster Mann (nach dem König) Großbritanniens galt. Sie hatte also ein reiches Erbe in Aussicht und wurde schon zu Lebzeiten des Vaters finanziell üppig ausgestattet. Schon als Kind und Jugendliche war sie viel auf Reisen, was sie als Erwachsene fortsetzte. Bryher war lesbisch, und wie gesagt waren sie und H.D. seit spätestens 1919 ein Paar, und sie reisten fortan viel gemeinsam, wobei sie sich gelegentlich als Cousinen ausgaben, um keinen Anstoß zu erregen. 1920 nahm sie offiziell den Namen "Bryher" an, den sie von einer der Scilly-Inseln im Atlantik südwestlich von Cornwall entlehnte, wo es ihr auf einer Reise gut gefallen hatte. Um dem steifen Klima in England im Allgemeinen und ihrer in den Adelsstand versetzten Familie im Besonderen zu entgehen, verbrachte sie bis 1927 die meiste Zeit in Paris, wo sie zur großen anglo-amerikanischen Community gehörte, die man mit dem Namen Lost Generation belegt hat. Doch Paris ist nicht so weit von England entfernt, und auf Druck ihrer Eltern, die die gesellschaftlichen Konventionen gewahrt wissen wollten (anscheinend wurde sogar mit Enterbung gedroht), heiratete Bryher 1921 den bisexuellen amerikanischen Schriftsteller und Verleger Robert McAlmon, der ebenfalls zur Pariser Kolonie gehörte. Es war eine typische marriage of convenience, in der beide unter einem gesellschaftlich akzeptierten Deckmantel ihren sexuellen Neigungen nachgehen konnten. Zusammen gründeten sie in Paris den Verlag Contact Editions, der von McAlmon geleitet und von Bryher finanziert wurde, so dass man nicht auf Gewinne achten musste. Der Verlag veröffentlichte nicht nur Werke von H.D., Bryher und McAlmon selbst, sondern auch Bücher von Schriftstellern wie Hemingway, Gertrude Stein, William Carlos Williams, Ford Madox Ford und Djuna Barnes, die damit indirekt von Bryher subventioniert wurden. Einige Künstler unterstützte sie auch direkt finanziell, neben H.D. etwa die schrille Dadaistin Elsa von Freytag-Loringhoven.

Das tödliche Messer
1927 ließ sich Bryher scheiden, weil McAlmon zuviel trank (der Verlag existierte dann noch bis 1929), und ein Ersatz musste her. Der fand sich in Macpherson, der gerade der aktuelle Liebhaber von H.D. war, die er seit 1926 kannte. Kenneth Macpherson (1902 (nach einigen Quellen 1903)-1971) entstammte einer schottischen Künstlerfamilie, aber über sein Leben vor 1927 ist wenig bekannt. Der bisexuelle (aber wohl mehr den Männern zugeneigte) Macpherson hatte also eine Affäre mit H.D., die 1928 sogar von ihm schwanger war, sich aber zur Abtreibung entschloss, die in Berlin durchgeführt wurde (sie war schon nach der Geburt von Perdita fast gestorben). Geheiratet hat er aber nicht H.D., die ja ohnehin noch mit Aldington verheiratet war, sondern Bryher. Es war erneut eine marriage of convenience, die beiden Partnern die Gelegenheit bot, ungestört ihrem jeweiligen Privatleben nachzugehen. Doch während H.D. zuvor zu McAlmon wohl kein besonders enges Verhältnis hatte, entstand nun eine echte Ménage-à-trois. Die drei formierten sich zur Pool Group und riefen als deren wichtigste Aktivität Close Up ins Leben (daneben verlegten sie auch Bücher, vorwiegend eigene Werke und solche von Close Up-Mitarbeitern). Alle drei übersiedelten samt Perdita in die Schweiz und lebten und arbeiteten von 1927 bis 1931 in Territet am östlichen Ende des Genfer Sees, wo Bryher schon seit einigen Jahren ein Haus hatte. Daneben verbrachten sie aber weiterhin einen Teil ihrer Zeit in Paris, London oder Berlin. Alle drei kümmerten sich, sozusagen als erweitertes Elternpaar, um die Erziehung von Perdita, die keine Schule besuchte, sondern zuhause unterrichtet wurde. 1928 adoptierten Bryher und Macpherson das Kind, und aus Frances Perdita Aldington wurde Frances Perdita Macpherson. Die unorthodoxen Familienverhältnisse haben ihr offenbar nicht geschadet. Perdita Macpherson Schaffner (1919-2001), wie sie nach ihrer Heirat hieß, war im Zweiten Weltkrieg beim britischen Geheimdienst beschäftigt, zeitweise in Bletchley Park, wo die Chiffriermaschine Enigma entschlüsselt wurde. Nach dem Krieg ging sie in die USA, wo sie einen Literaturagenten heiratete und vier Kinder bekam. Sie betätigte sich als Essayistin und Philanthropin, die Theater und andere kulturelle Einrichtungen unterstützte.

Der Schauplatz
1931 zogen die vier von Territet in die eindrucksvoll modernistische Villa Kenwin (von KENneth und WINifred), die Bryher und Macpherson im Bauhaus-Stil von den Architekten Sándor (Alexander) Ferenczy und Hermann Henselmann errichten ließen. Kenwin liegt einige Kilometer nordwestlich von Territet in La Tour-de-Peilz, ebenfalls am Genfer See, zwischen Montreux und Vevey. Die große mehrstöckige Villa sollte nicht nur als Wohnort und als Zentrale von Close Up dienen, sondern auch als Studio für neue Filme von Macpherson - die dann aber wegen der schlechten Kritiken für BORDERLINE nie gedreht wurden. Heute gehört die Villa zum offiziellen Kulturerbe der Schweiz.

Villa Kenwin (aus KENWIN von Véronique Goël)
Wer bei diesem ganzen komplizierten Beziehungsgeflecht den Überblick verloren hat, dem hilft vielleicht diese Grafik weiter. - Um dieses Thema abzurunden: Gavin Arthur (1901-72), der Darsteller von Thorne, war der Enkel eines US-Präsidenten und Sohn eines reichen Unternehmers in Colorado. Nach seinem abgebrochenem Studium an der Columbia University betätigte er sich in einer Organisation, die der IRA nahestand (und wurde deshalb auch einmal verhaftet). Er lebte damals in New York, Irland und Frankreich, aber ich weiß nicht, wie er mit der Pool Group in Kontakt kam. In den 30er Jahren zog es ihn nach Kalifornien, wo er eine Kunst- und Literaturkommune gründete und ein Magazin herausgab. Nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem er in der Navy war, war das elterliche Vermögen offenbar aufgebraucht, denn neben seinen kulturellen Aktivitäten betätigte er sich auch als Zeitungsverkäufer und Goldsucher, noch später als Astrologe und als Sexologe (aus astrologischer Perspektive). Er war mit etlichen Vertretern der Beat Generation befreundet, darunter Allen Ginsberg, und war in der amerikanischen Schwulenbewegung aktiv, denn - Überraschung! - auch Gavin Arthur war bisexuell. Charlotte Arthur, die Barfrau in BORDERLINE, war von 1922 bis 1932 seine Frau (er war danach noch zweimal verheiratet), und sie hat 1930 auch einen zweiteiligen Artikel für Close Up geschrieben. - Robert Herring (1903-1975), der Pianist, war der Londoner Korrespondent und regelmäßiger Autor von Close Up. 1935 kaufte Bryher die Literaturzeitschrift Life and Letters Today, und Herring wurde für 15 Jahre ihr Chefredakteur. Die Zeitschrift war in gewissem Sinn ein Nachfolgeprojekt zu Close Up, und eine Reihe von Close Up-Autoren war auch hier wieder mit Artikeln oder literarischen Texten vertreten, darunter H.D., Macpherson und Eisenstein. Herring schrieb auch Gedichte und einen Roman, und auch er war homo- oder bisexuell. - Über Blanche Lewin, die alte Frau in BORDERLINE, konnte ich nichts Substanzielles herausfinden. Aber sie gehörte jedenfalls auch zum Dunstkreis der Pool Group und hatte schon in einem von Macphersons Kurzfilmen mitgespielt. Auf Paul und Eslanda Robeson komme ich weiter unten zu sprechen.


Mit der Ausgabe vom Dezember 1933 stellte Close Up das Erscheinen ein. H.D. schrieb nur in der Anfangszeit halbwegs regelmäßig Artikel, und in den 30er Jahren erschienen in Close Upüberhaupt keine Beiträge mehr von ihr. Ihre Mitherausgeberschaft war ohnehin nur ideell, weil sie keinen Sinn für's Praktische hatte und psychisch labil war. Und Macpherson verlor nach dem ausbleibenden Erfolg mit BORDERLINE nicht nur die Lust, weitere Filme zu drehen, sondern langsam auch das Interesse am Film insgesamt. Sowohl seine eigenen Artikel als auch seine editorischen Aktivitäten gingen stark zurück, was zunächst dadurch kompensiert wurde, dass Oswell Blakeston, der fleißigste Schreiber der Zeitschrift, zum Mitherausgeber befördert wurde. Doch schließlich nabelte sich Macpherson ganz ab, er ging ab 1934 auf ausgiebige Reisen. Bryher und H.D. traf er nur noch selten, aber die Mitglieder der Patchwork-Familie und ihr großer Freundeskreis schrieben sich regelmäßig Briefe und blieben so in Kontakt. Anfang der 40er Jahre ließ sich Macpherson in New York nieder. Sein besonderes Interesse galt Harlem, sowohl in kultureller wie in sexueller Hinsicht. Er hatte damals aber auch eine Affäre mit der Kunstsammlerin und Mäzenin Peggy Guggenheim, bei der er auch längere Zeit wohnte. Hier kehrte Macpherson noch einmal zum Film zurück: Er produzierte (letztlich mit Guggenheims Geld) ab 1944 den surrealistischen DREAMS THAT MONEY CAN BY, den der aus Deutschland emigrierte Dadaist Hans Richter konzipierte und zusammen mit Kollegen wie Man Ray und Max Ernst inszenierte. Der Film nahm einige Zeit in Anspruch und erschien 1947. In diesem Jahr wurde die Zweckehe mit Bryher, die längst keinen Sinn mehr hatte, geschieden. Ebenfalls 1947 übersiedelte Macpherson nach Italien, und für den Rest seines Lebens wohnte er nacheinander auf Capri, in Rom und in der Toskana, wo er 1971 starb.


Bryher war es, die bei der Herausgabe von Close Up die meisten praktischen Dinge erledigte, sie hatte die nötige Energie und das Organisationstalent dazu (auch bei der Erziehung von Perdita schien sie den Ton angegeben zu haben). Doch auch sie orientierte sich um 1933 neu. Einerseits wollte sie eine Ausbildung als Psychoanalytikerin absolvieren (nachdem sie sich von Hanns Sachs selbst hatte analysieren lassen), was sie dann aber nicht konsequent durchzog. Andererseits wurde sie durch die politische Entwicklung in Deutschland zu neuen Prioritäten geführt. Bei ihren häufigen Besuchen in Berlin hatte sie selbst sehen können, wie die Nazis das Land veränderten. Schon in der Close Up vom Juni 1933 veröffentlichte sie unter dem Titel "What Shall You Do in the War?" einen Artikel über Deutschland, in dem es etwa im zweiten Absatz heißt: "Tortures are freely employed, both mental and physical. Hundreds have died or been killed, thousands are in prison, and thousands more are in exile." Und der Artikel endet mit einer Art von Aufruf: "The future is in our hands for every person influences another. The film societies and small experiments raised the general level of films considerably in five years. It is for you and me to decide whether we will help to raise respect for intellectual liberty in the same way, or whether we all plunge, in every kind and colour of uniform, towards a not to be imagined barbarism." Fortan investierte sie viel Geld und Energie darin, Juden und anderen Verfolgten die Flucht aus Deutschland zu ermöglichen, wobei Kenwin als Durchgangsstation diente. Sie hatte auch mehr denn je die Mittel dazu, denn im Juli 1933 starb ihr Vater. Zwar erbte den Löwenanteil des Vermögens, ca. 20 Mio. £, Bryhers jüngerer Bruder John, der die Schiffahrtslinien und sonstigen Geschäfte weiterführte. Auch John Ellerman jr. verwendete viel Geld darauf, Juden bei der Flucht aus Deutschland zu helfen, und nebenbei beschäftigte er sich als Gelehrter mit den Nagetieren. Doch Bryher erhielt aus dem Erbe auch noch üppige 900.000£, nach heutigem Wert ein zweistelliger Millionenbetrag.


Die Involvierung des Trios in Fragen der Psychologie und Psychoanalyse war tiefgehend und lang anhaltend. Schon in den frühen 20er Jahren waren Bryher und H.D. mit dem Psychologen und Sexualforscher Havelock Ellis auf Reisen, und nicht nur Bryher ließ sich von Hanns Sachs analysieren, sondern auch H.D.. Sachs gehörte zum engsten Kreis um Sigmund Freud, und er war einer der ersten, die die Psychoanalyse nicht nur rein medizinisch verstanden, sondern auf kulturelle Phänomene anwandten, insbesondere auf Literatur und dann auch auf den Film. Sachs und sein Kollege Karl Abraham, ebenfalls aus dem engen Kreis um Freud, waren die fachlichen Berater bei Pabsts GEHEIMNISSE EINER SEELE (Pabst und sein Produzent Hans Neumann wollten auch Freud als Berater, doch der lehnte kategorisch ab). Sachs' Theorien über Psychoanalyse und Film überzeugten auch Macpherson, und sie beeinflussten seine Art, wie er Eisensteins Montagetheorie verstand. Sachs emigrierte 1932 in die USA, ohne dass H.D.s Analyse schon abgeschlossen gewesen wäre. Deshalb setzte sie, mit einer Empfehlung von Sachs versehen, die Behandlung bei keinem Geringeren als Freud selbst in Wien fort.


Im Zweiten Weltkrieg lebten Bryher und H.D. zusammen in einer Wohnung in London. Ab 1946 wohnten sie nicht mehr zusammen, und die immer labile H.D. hatte in diesem Jahr einen Nervenzusammenbruch. Die beiden blieben aber auf einer loseren Ebene ein Paar, und Bryher sorgte weiterhin für H.D.s Lebensunterhalt und erledigte viele praktische Dinge, so dass sich H.D. ganz auf ihre Gedichte und sonstigen literarischen Aktivitäten konzentrieren konnte. Sie wohnte wieder in der Schweiz, und 1961 starb sie nach einem Schlaganfall in Zürich. Bryher schrieb in den 50er und 60er Jahren einige erfolgreiche historische Romane, die sie über die Avantgarde-Zirkel hinaus bekannt machten. Zeitweise wohnte sie auch wieder in Kenwin, und gestorben ist sie 1983 in Vevey, nicht weit von der Villa.


Ich habe es oben schon angedeutet: Vor BORDERLINE drehte die Pool Group schon drei Kurzfilme, nämlich WING BEAT (1927), FOOTHILLS (1928) und MONKEYS' MOON (1929), die alle in und um Territet entstanden. Die ersten beiden sind nur in Fragmenten erhalten, von letzterem wurde vor einigen Jahren eine Kopie wiederentdeckt. Die Arbeit an BORDERLINE begann im Mai 1929: Macpherson verfertigte das Drehbuch in Form eines umfangreichen kommentierten Storyboards mit fast 1000 Zeichnungen. Die Dreharbeiten in der Nähe von Territet begannen im März 1930, und sie dauerten keine zwei Wochen, denn es wurde kaum geprobt, und fast jede Einstellung wurde nur einmal gedreht. Macpherson war Regisseur und führte die Kamera (eine handliche 35mm-Kamera vom Typ Debrie Parvo L, die man sowohl kurbeln als auch elektrisch antreiben konnte), und sein Vater, der Maler John Macpherson, assistierte als Beleuchter. Den Schnitt besorgte das Pool-Trio gemeinsam, und im Juni war der Film fertig. Er wurde in ausgewählten Kinos und Filmclubs gezeigt, etwa in Berlin im Kino "Rote Mühle", und in Brüssel bei einem Filmkongress. Wie schon erwähnt, waren die meisten Kritiken ungnädig, und in England sogar ausgesprochen hämisch. BORDERLINE hätte 1931 auch in den USA gezeigt werden sollen, wurde aber bei der Einfuhr aus unbekannten Gründen vom Zoll konfisziert. Die häufigste Begründung für die schlechten Noten war, dass die Handlung "unklar" oder "obskur" und die Struktur "chaotisch" sei.


In der Tat ist die ohnehin knappe äußere Handlung auch recht elliptisch dargeboten, so dass man sich manches selbst zusammenreimen oder aus eher versteckten Details erschließen muss. So ist etwa ein im Lokal hängendes Plakat, das Reklame für die schweizerische Schifffahrtslinie auf dem Genfer See macht, der (wenn ich nichts übersehen habe) einzige Hinweis darauf, wo das Ganze ungefähr spielt. Aber auch im Beziehungsgeflecht der vier Hauptpersonen bleibt manches unklar und der Interpretation des Zuschauers überlassen. Denn die Beziehungen werden zum größten Teil nicht durch Dialoge oder gar erläuternde Texttafeln transportiert, sondern einerseits durch Gesten und Blicke, und andererseits durch symbolische Zwischenschnitte. Es wird viel geblickt in BORDERLINE, Blicke, die Begehren, Eifersucht oder Wut ausdrücken, aber wenig gehandelt und wenig geredet (in dem Sinn, dass es nur wenige Zwischentitel mit Dialogen gibt, die dann auch immer recht knapp ausfallen). Und zwischen den Einstellungen, die den Plot voranbringen, gibt es Bilder etwa von einer Katze auf der Straße, die sich aus einem Wasserglas einen Fisch angelt, von Bergen und einem ziemlich grandiosen Wasserfall, aber auch Großaufnahmen von den Körpern der Darsteller (und hier vor allem von Robesons Körper). Auch die Symbolik dieser Zwischenschnitte wird nicht auf dem Präsentierteller dargeboten, sondern bleibt offen für Interpretationen. Das Thema Homosexualität wird nicht offen angeschnitten, ist aber sehr wohl unterschwellig vorhanden. Der Pianist hat ein Foto von Pete an sein Klavier geklemmt, direkt neben den Noten, so dass er es jederzeit betrachten kann (womit wir wieder bei den Blicken sind). Und die Bardame und ihre Chefin wirken sehr vertraut miteinander, die eine krault der anderen auch mal das Haar - vielleicht sind sie mehr als nur Freundinnen. Andeutungen, Indizien ...

Zwischenschnitte
Das Schnitttempo von BORDERLINE ist über die gesamte Laufzeit gemessen nicht übermäßig hoch, er entspricht in dieser Hinsicht also keineswegs einem der Revolutionsfilme von Eisenstein oder Pudowkin. Doch an einzelnen Stellen, vor allem beim tödlichen Streit zwischen Astrid und Thorne, wird das Tempo stark angezogen. Es kommt hier zu regelrechten Ausbrüchen von Schnittgewittern, mit Einstellungen, die nur etwa vier bis sieben Frames lang sind und sich rasend schnell abwechseln, so dass ein stroboskopartiger Effekt entsteht. H.D. hat in einem Artikel über den Film von 1930 dafür den Ausdruck clatter montage geprägt. Ein derart hochfrequenter Schnitt kam auch bei Eisenstein selten vor, wenn überhaupt, wohl aber bei den französischen Impressionisten um Abel Gance (die natürlich auch auf dem Radar von Close Up waren).

Großaufnahmen von Körperteilen
Ein gemeinsames Interesse des Pool-Trios habe ich noch nicht erwähnt, nämlich die "Rassenfrage" (und damit kommen wir langsam zu Robeson). Alle drei (und auch Herring und andere Close Up-Autoren) interessierten sich für afroamerikanische und schwarzafrikanische Kultur und waren strikt gegen Rassismus eingestellt, auch gegen einen "wohlwollenden", paternalistischen Rassismus, wie er auch in vielen Hollywood-Filmen zum tragen kam. Ein besonderer Motor dieses Interesses war die Harlem Renaissance der 20er Jahre, in der urbane schwarze Intellektuelle und Schriftsteller wie W.E.B. Du Bois, Langston Hughes und Walter Francis White ebenso wie Blues- und Jazzmusiker wie Bessie Smith und Duke Ellington über die USA hinaus Strahlkraft entfalteten. Auch vom "schwarzen Paris" waren Macpherson, Bryher und H.D. beeindruckt, in dem Künstler wie Josephine Baker und Johnny Hudgins (die auch beide Bestandteil der Harlem Renaissance waren) reüssierten, ja geradezu Triumphe feierten (auch Eisenstein war davon ungemein beeindruckt, als er Anfang 1930 einige Wochen in Paris verbrachte, bevor er nach Hollywood aufbrach).

Astrids letzte Stunden
Die Close Up-Ausgabe vom August 1929 war ausschließlich der schwarzen Kultur, und insbesondere den Möglichkeiten des schwarzen Films, gewidmet. Das Trio war keineswegs frei von zeitgebundenen Klischees und Vorurteilen. Eslanda Robeson schrieb in ihrem Tagebuch, dass sie und Paul manchmal Tränen lachten über die naiven Vorstellungen von Macpherson und H.D. über die "Negroes" und dabei ihr Make-up ruinierten und sich neu schminken mussten. Aber das Interesse und Engagement war aufrichtig, und damit standen sie damals in Europa nicht allein da. So veröffentlichte etwa Nancy Cunard 1934 in London als Herausgeberin die eindrucksvolle, fast 900 Seiten starke Anthologie Negro, zu der ca. 150 Mitarbeiter (zwei Drittel Schwarze) beitrugen. Nancy Cunard (1896-1965) war sozusagen eine Kollegin von Bryher: Auch sie war die Erbin eines reichen Vermögens, das aus einer Reederei (der berühmten Cunard Line) stammte. Auch sie floh vor ihrer Familie nach Paris, wo sie alle maßgeblichen Künstler und Schriftsteller kannte und einen nicht gewinnorientierten Verlag gründete, und auch sie war stark antirassistisch und antifaschistisch eingestellt. Der Kreis ihrer Freunde und ihrer literarischen Schützlinge als Verlegerin überschnitt sich stark mit dem von Bryher, und (die heterosexuelle) Cunard und Bryher waren auch miteinander befreundet. Macpherson steuerte zur Anthologie Negro einen Artikel mit dem Titel "A Negro Film Union - Why Not?" bei.

Cover sowie Impressum und Inhaltsangabe der Ausgabe vom August 1929
1930 konnte Paul Robeson schon sehr ansehnliche Honorare verlangen, doch in BORDERLINE hat er offenbar - genau wie alle anderen Darsteller - umsonst mitgespielt. Man weiß nicht genau, wie er dazu überredet wurde. Paul Robeson (1898-1976) war von eindrucksvoller körperlicher Statur, und schon während seines Studiums an der Rutgers University betrieb er erfolgreich mehrere Sportarten, und er war sogar kurzzeitig Profi-Footballer. Nach Abschluss seines juristischen Examens an der Columbia University trat er in eine Anwaltskanzlei ein, doch als man ihm bedeutete, dass ihn nie ein weißer Klient als Rechtsvertreter akzeptieren würde, ließ er die Juristerei sein und wandte sich als Sänger und Schauspieler dem Showbusiness zu. (Man ist sich nicht ganz einig, ob seine überaus kräftige Singstimme ein Bass oder Bariton war - die ehrwürdige New York Times hat dieser Frage sogar einen tiefschürfenden Artikel gewidmet.) Seit 1923 stand er in New York auf der Bühne und wurde nun auch ein Bestandteil der Harlem Renaissance. Sein Durchbruch kam mit den Hauptrollen in zwei Stücken von Eugene O'Neill, und seine erste Filmrolle spielte Robeson in BODY AND SOUL (1925) von Oscar Micheaux, dem wichtigsten Produzenten und Regisseur des frühen afroamerikanischen Films (race films nannte man diesen Sektor damals). BORDERLINE war sein zweiter Film (wenn man die zusammengestückelte Obskurität CAMILLE des Cartoonisten Ralph Barton nicht mitzählt). Seit 1927 lebte und arbeitete Robeson vorwiegend in London, und er hatte in Sprechstücken ebenso wie in Musicals und mit Konzerten Erfolg. Zu seinen Markenzeichen zählten etwa die Rolle des Othello und seine Interpretation von "Ol' Man River" aus dem Musical "Show Boat".

Die Chefin raucht Zigarre
Von 1921 bis zu ihrem Tod war Robeson mit Eslanda (1895-1965) verheiratet. Sie hatte Chemie studiert und arbeitete in diesem Metier in einem Krankenhaus, und nach der Hochzeit wurde sie auch Pauls Managerin, zunächst nebenbei, und ab 1925 hauptberuflich. Robeson war ein Womanizer, und um 1930 herum übertrieb er es offenbar mit seinen Affären (u.a. mit seiner Bühnenpartnerin Peggy Ashcroft, seiner Desdemona in "Othello"). 1931 hatte Eslanda genug. Sie trennte sich von Paul, studierte in London nun auch noch Anthropologie, spielte nebenbei in drei Filmen mit und machte eine Forschungsreise nach Afrika (zu der später noch zwei weitere kamen), worüber sie ein Buch aus feministischer Sicht schrieb. Die zunächst geplante Scheidung wurde zwar schnell wieder abgesagt, aber die Ehe war nur noch eine Zweckgemeinschaft zur Erziehung ihres Sohnes Paul jr., sowie eine berufliche Gemeinschaft, denn Eslanda war nach wie vor Pauls Managerin. Die beiden engagierten sich auch gemeinsam in der Bürgerrechts- und Friedensbewegung, wobei Eslanda auch ihren feministischen Standpunkt einbrachte, und unabhängig von Paul verfolgte Eslanda eigene Projekte, so schrieb sie weitere Bücher. Pauls Filmkarriere begann eigentlich erst 1933 so richtig, als er in englischen und amerikanischen "weißen" Filmen wie THE EMPEROR JONES, SANDERS OF THE RIVER, SHOW BOAT, SONG OF FREEDOM und der zweiten Verfilmung von KING SOLOMON'S MINES Hauptrollen spielte.


Robeson war schon früh an der Bürgerrechtsfrage interessiert, und in England wurde er auch für den Sozialismus gewonnen. Er las einerseits Marx, Engels, Lenin und Stalin, aber andererseits unterstützte er ganz praktisch walisische Bergarbeiter, die unter miserablen Arbeits- und Lebensbedingungen litten und zusätzlich gerade von einem schweren Grubenunglück heimgesucht wurden. Noch Jahrzehnte später hielt man im südwalisischen Bergbaugebiet Robeson ein ehrendes Andenken. 1934 besuchte er auf Einladung von Eisenstein, mit dem er sich befreundete, zum ersten Mal die Sowjetunion, wo er keinerlei Rassismus begegnete, was dazu führte, dass er lange - vielleicht allzu lange - dem Stalinismus völlig unkritisch gegenüberstand, als dessen Verbrechen längst bekannt waren. In den Zeiten des Roosevelt'schen New Deal und der kriegsbedingten Partnerschaft der USA und der UdSSR bescherte Robesons politische Einstellung ihm in der Heimat keine größeren Probleme, doch das änderte sich nach dem Krieg dramatisch. Er wurde nun als Kommunist scharf angegriffen, das FBI bespitzelte ihn nicht nur permanent, sondern behinderte auch aktiv seine Konzerte, und seine Schallplatten und Filme wurden mit einem Bann belegt. Als Höhepunkt der Hexenjagd wurde ihm 1950 vom Außenministerium der Reisepass entzogen, so dass er die USA nicht mehr verlassen durfte. Besonders perfide war, dass "patriotische" schwarze Sportler und Bürgerrechtler (die teilweise stark unter Druck gesetzt wurden) gegen den "Landesverräter" ausgespielt wurden. Internationale Proteste gegen den Entzug des Passes blieben ebenso erfolglos wie Robesons jahrelange Gerichtsprozesse dagegen. Erst nach einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs der USA, die nicht ihn persönlich betraf, aber allgemeine Geltung hatte, bekam er 1958 wieder einen Pass. Er nutzte das, um, wie schon rund 30 Jahre zuvor, wieder nach London zu ziehen, wo das Klima ihm gegenüber weit freundlicher war. In den Ostblockstaaten, wohin er jetzt wieder reisen konnte, wurde er mit Ehrungen überhäuft. Von den zermürbenden Auseinandersetzungen und von Krankheiten geschwächt, beendete er 1963 seine Karriere und zog wieder in die USA, wo er 1976 in Philadelphia starb. Ich könnte noch viele interessante Dinge über diesen in mehrerlei Hinsicht faszinierenden Künstler erzählen, z.B. wie Eisenstein mit ihm in der Hauptrolle einen Film über die erfolgreiche Sklavenrevolution in Haiti drehen wollte. Aber der Artikel ist schon ziemlich lang - vielleicht ein andermal ...


BORDERLINE ist in Deutschland bei arte (in Zusammenarbeit mit absolut Medien) auf DVD erschienen, mit einem gelungenen Soundtrack des englischen Saxophonisten Courtney Pine. In England gibt es BORDERLINE auf einem 2-DVD-Set vom BFI, mit demselben Soundtrack und einem Booklet mit drei Essays. Auf der zweiten Scheibe befindet sich der Dokumentarfilm KENWIN (1996) von Véronique Goël, den ich allerdings ziemlich frustrierend finde. In den USA gibt es von Criterion die 4-DVD-Box Paul Robeson: Portraits of the Artist, die sechs Spielfilme von BODY AND SOUL über BORDERLINE bis THE PROUD VALLEY (1940) ebenso enthält wie Leo Hurwitz' und Paul Strands klassisches Doku-Drama NATIVE LAND (1942), in dem Robeson als Erzähler fungiert, dazu noch die Doku PAUL ROBESON: TRIBUTE TO AN ARTIST und weiteres Bonusmaterial. Wenn man bezüglich Robeson nicht kleckern, sondern klotzen will, dann ist man hier richtig. Daneben gibt es in den USA und in England noch weitere Boxen und Einzel-DVDs mit Robeson-Filmen, sowie die empfehlenswerte zweistündige Doku PAUL ROBESON - HERE I STAND.


Irgendwann gelangten die Verwertungsrechte an Close Up an die amerikanische Kongressbibliothek, die sie als Public Domain freigegeben hat. Und erfreulicherweise hat man sich die Mühe gemacht und sämtliche Ausgaben gescannt und in digitaler Form zur Verfügung gestellt. Man findet jetzt alle zehn Bände (von 1927 bis 1930 jeweils ein halbes Jahr und von 1931 bis 1933 jeweils ein Jahrgang) beispielsweise bei archive.org (hier verlinkt), wo man sowohl online stöbern als auch die Bände in verschiedenen Formaten komplett herunterladen kann. Und als ob das noch nicht genug wäre, kann man das 340-seitige Buch CLOSE UP 1927-1933: Cinema and Modernism, das ausführliche Kommentare der Herausgeber und einen informativen Anhang mit ausgewählten, thematisch geordneten Artikeln aus Close Up vereint, komplett als PDF herunterladen. Da bleiben für den geneigten Hobby-Forscher kaum noch Wünsche offen!

Das Ende

Ein Tropfen Blut, um geliebt zu sterben

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UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO
Spanien / Frankreich 1973
Regie: Eloy de la Iglesia
Darsteller: Sue Lyon (Ana), Christopher Mitchum (David), Jean Sorel (Victor)




Eine liebevoll mordende Krankenschwester, skrupellose Ärzte und entfesselte Verbrecher

Die internationalen Titel dieses bemerkenswerten Films deuten alles mögliche an: SciFi-Thriller („Murder in a Blue World“), Horror („La clinique des horreurs“, „Le bal du vaudou“, „Satansbrut“), sleazige Soft-Erotik („I vizi morbosi di una giovane infermiera“), B-Movie-Kubrick-Ripoff („Clockwork Terror“), manisches Melodrama („To Love, Perhaps to Die“), Rennfahrer-/Biker-Exploitation („Dead Angel – Einbahnstraße in den Tod“). Und irgendwie ist das alles nicht komplett falsch. Dennoch vermag wohl nur der so sperrige wie poetische Originaltitel wirklich diesen Film intuitiv zu erfassen: UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO, in etwa „Ein Tropfen Blut, um geliebt zu sterben“ (vielleicht auch „Ein Tropfen Blut, um liebend zu sterben“ oder „Ein Tropfen Blut, um beim Liebemachen zu sterben“ – meine Spanisch-Kenntnisse reichen für diese möglicherweise eh nur schwer übersetzbaren Feinheiten nicht aus)...

Victor und Ana
Ein ungenannter Ort, der vielleicht Spanien sein könnte oder auch nicht, in einer ungenannten Zeit, bei der es sich (aus der Sicht von 1973) vielleicht um eine mehr oder weniger ferne Zukunft handeln könnte. Es ist auf jeden Fall ein Ort voller Unsicherheit: ein Serienkiller tötet junge Männer, und Gangs terrorisieren gesetzestreue Bürger...
In diesem Klima erhält die Krankenschwester Ana von einem medizinischen Institut als erste Person außerhalb der Ärzteschaft einen Preis für besondere Verdienste. Am Abend feiert sie das mit ihrem Arbeitskollegen, dem Arzt Victor, der möglicherweise ihr Verlobter ist, oder nur ein „normaler“ Freund oder vielleicht zumindest ein Verehrer, der sich um ihre Zuneigung bemüht (der Film klärt das nicht wirklich abschließend – sicher ist nur, dass Ana und Victor kein einziges Mal Zärtlichkeiten austauschen). Er will sie angesichts des Preises ermuntern, doch noch in die „richtige“ Medizin einzusteigen. Sie möchte lieber einen unmittelbaren Kontakt mit ihren Patienten beibehalten und nicht mit ihnen Experimente treiben. Stichwort Experimente: Victor erzählt Ana stolz, dass er an einem Projekt beteiligt ist, bei dem Verbrecher dazu therapiert werden sollen, wieder gesellschaftsfähig zu werden.

Ein brutaler Überfall
Um was für Verbrecher es sich in etwa handelt, wird später deutlich gemacht: ein Elternpaar mit einem kleinen Sohn macht es sich gerade im Wohnzimmer vor dem Fernseher gemütlich, als eine vierköpfige Bande einbricht. Nachdem der Mann gedemütigt und geschlagen wurde, schnappt sich der Anführer die Frau, um sie im Schlafzimmer zu vergewaltigen. Zwei der anderen zerren den Mann dorthin, um auch ihn zu vergewaltigen. Der vierte bleibt zurück und zertrümmert mit seiner Bullenpeitsche wütend die modernistische Einrichtung unter dem erschrockenen Blick des Sohnes. Die gleiche Bande wird etwas später auf offener Straße ein Paar anhalten. Derjenige, der beim vorherigen Coup nicht vergewaltigte, sondern die Einrichtung zertrümmerte, zieht sich zurück und verweigert die weitere Teilnahme. Er wird später von den anderen verprügelt, ausgepeitscht und ausgestoßen liegen gelassen.

Ana verführt einen Konkurrenten der Auktion und ermordet ihn. Beim
Beseitigen der Leiche wird sie von ausgestoßenen Schläger David beobachtet
Ana unterdessen geht mit Victor zu einer Kunstauktion, wo sie ein vergrößertes Panel irgendeines US-amerikanischen Comics aus den 1930er Jahren für teures Geld kauft. Das gilt in der Welt von UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO offenbar als Kunst, zumindest aber als teure Ware, und Ana kann sich das gut leisten: ihres Berufs ungeachtet ist sie eine schwerreiche Frau, weil sie von betuchten Eltern ein Vermögen und eine riesige Villa geerbt hat. Dorthin lädt sie auch einen unterlegenen Mitbieter der Auktion ein, auf den sie ein Auge geworfen hat. Der junge Mann mit verkrüppeltem Bein (Folge einer schweren Kinderkranheit) arbeitet in einem langweiligen Bürojob und hat monatelang für die Auktion gespart. Eigentlich ist er also auf Ana böse, lässt sich aber nur zu gerne von der attraktiven Krankenschwester verführen. Als der junge Mann nach dem Sex glücklich einschläft, entnimmt Ana einer kleinen Schachtel, die Beethovens „Für Elise“ spielt, wenn sie geöffnet wird, ein Skalpell und sticht es ihrem Liebhaber ins Herz. Die Leiche entsorgt sie dann in den frühen Morgenstunden in einem Kanal. Dabei wird sie von David, dem verprügeltem und ausgestoßenen Gang-Mitglied, beobachtet. Von nun an wird er die Krankenschwester, die der gesuchte Serienmörder ist, nur noch selten aus den Augen lassen.

Eine Spezialtherapie für Gewaltverbrecher – die in Ana sichtlich Abscheu
hervorruft
Auf Einladung Victors nimmt Ana am nächsten Morgen an einer der experimentellen Therapiesitzungen teil, mit denen Gewaltverbrecher kuriert werden sollen – wie sich herausstellt eine besonders brachiale Form der Elektroschock-Behandlung. Die Schmerzensschreie des Patienten lassen alle Anwesenden völlig kalt, bis auf die erschrockene Ana. Um sich davon zu erholen, geht sie am Abend mit Grauhaarperücke und starkem Effekt-Makeup in einen etwas speziellen Club, wo sich ältere Damen der feinen Gesellschaft mit jungen Männern treffen können – sprich: reiche Frauen sich einen männlichen Prostituierten angeln. Ana hat einen Mann erwischt, der hauptberuflich als TV-Werbung-Darsteller für erotische, leopardenfarbene Männer-Unterwäsche wirbt und sich ein Zubrot verdienen möchte. Als dieser vorsichtig andeutet, dass er eigentlich lieber eine jüngere, und am besten blonde Frau „bedienen“ möchte, wird ihm dieser Wunsch erfüllt: Ana legt Perücke und Makeup ab und ein verführerisches Négligé an – dieser Wunsch des Werbedarstellers ist übrigens sein letzter, denn als er nach dem Sex glücklich einschläft, sticht Ana auch ihn mit einem Skalpell ab.

Ein ähnliches Spielchen gibt es am nächsten Abend. Diesmal geht Ana, in einer Männer-Verkleidung, die Marlene Dietrich vor Neid erblassen lassen würde, in einen queeren Club, in dem sich schwule Männer und lesbische Frauen treffen. Dort lächelt sie sich einen jungen Mann an, der offensichtlich von Selbstzweifeln und Unsicherheiten gequält ist und möglicherweise nur aus schüchterner Höflichkeit Anas Einladung annimmt. In der Villa der Krankenschwester tanzen dann die beiden in trauter Zweisamkeit – nicht ganz: David hat sich mittlerweile in die Villa eingeschlichen und beobachtet alles, was vor sich geht. Ana und der junge Mann tanzen jedenfalls, trinken dann etwas. Ana bietet ihm dann durch die Blume an, mit ihr zu schlafen. Das nimmt der junge Mann an: die letzte Entscheidung seines jungen Lebens, denn als er nach dem Sex einschläft, sticht Ana mit ihrem Skalpell wieder zu – unwissentlich vor den Augen Davids, der alles (und zwar mit offensichtlichem voyeuristischem Vergnügen) mit angeschaut hat. Die Leiche des jungen Mannes wird am nächsten Tag irgendwo in der Pampa gefunden, und die Polizei ist weiterhin ratlos.

Der angeberische Schauspieler und der schüchterne junge Mann:
zwei weitere Opfer Anas

Nur David weiß bescheid, schleicht sich am nächsten Tag vor Anas Villa herum und wird von dieser dann (diesmal verkleidet als Dienstmädchen) eingeladen. Nach einigem Rumknutschen lässt David die Bombe platzen: er wisse über ihre Morde bescheid und ihm persönlich sei es egal, ob man sie erwische oder nicht – er wolle nur viel Geld und würde sie dann in Ruhe lassen. Gesagt, getan. Ihre nächste Freizeit verbringt Ana hauptsächlich damit, David zu treffen, um ihm Geld zu übergeben. Der kauft sich davon kurz nach Weihnachten ein schönes Motorrad. Am Ausgang einer Kirche, in der er von Ana einen weiteren Umschlag erhalten hat, trifft David auf seine alten Gang-Kumpanen, die ihn mit ihrem Buggy verfolgen, fangen und verprügeln. Nachdem der Gang-Chef höchstpersönlich David seinen dornengespickten Handgelenkband zwischen die Beine gerammt hat, wird dieser halbtot liegen gelassen.

Der gelähmte David: Anas letztes Opfer
Es ist Sylvesterabend. Ana hat eine Schicht im Krankenhaus, beginnt sie aber erst, nachdem Victor ihr gezeigt hat, wie seine „Therapie“ gewirkt hat: durch einen Einwegspiegel in Form eines Fernsehbildschirms beobachten die beiden, wie drei „therapierte“ Verbrecher Sylvester feiern. In schönen Smokings gekleidet und von Butlern bedient (vielleicht auch Ex-Verbrecher?) reden sie gediegen über künftige Käufe, die sie tätigen wollen. Danach beginnt Ana ihre Schicht, und trifft auf David, der bewegungs- und sprechunfähig in einem der Patientenbetten liegt. Der hilflose Erpresser und die Serienkillerin – das kann kein gutes Ende nehmen. Ana schiebt David samt Bett ins spezielle „Therapiezimmer“. Dabei redet sie ihm viele zärtliche und beruhigende Worte zu. In Davids Augen zeigt sich dennoch Furcht, und schließlich Panik und Terror, als Ana ihn zu küssen beginnt. Als Victor wenig später in den Therapieraum tritt, ist David bereits tot. Mit blutbespritztem Gesicht bekommt Ana offenbar einen Nervenzusammenbruch und fällt David weinend auf die Brust. Während Victor völlig fassungslos erstarrt und Ana zusammengebrochen ist, tut sich im Hintergrund etwas. Die offiziell als therapiert deklarierten Ex-Verbrecher streiten sich. Zunächst wird dem einen Butler das Gesicht mit einer Flasche zerschmettert, dann dem anderen mit einem Tranchiermesser die Kehle aufgeschlitzt. Die Herren im Smoking gehen dann aufeinander los. Einige Flaschen- und Messerhiebe später torkeln die letzten beiden Überlebenden bluttriefend und agonierend gegen den Fernsehbildschirm. Das Freezeframe wird in pop-art-mäßigen Farben eingetaucht, der Fernsehbildschirm reisst in zwei Teile – ein Effekt, der auch in der Werbung für die leopardenfarbene Unterhose zur Geltung kam – und es erscheint das Wort „Fin“...



Kubrick-Ripoff oder de-la-Iglesia-Original?

1973 war ein hochgradig produktives Jahr für den baskischen Regisseur Eloy de la Iglesia: neben UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO kamen auch der Thriller NADIE OYÓ GRITAR und LA SEMANA DEL ASESINO heraus. Über letzteren, der nicht nur ein Slasher-Film ist, sondern auch eine bissige Satire über franquistische Gewalt, Konsum und Gentrifizierung und zugleich die poetische Utopie einer klassenübergreifenden homosexuellen Liebschaft ist, schrieb ich bereits hier. Die Klasse von LA SEMANA DEL ASESINO erreicht UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO nie. Er ist gar teils recht holprig und unelegant inszeniert – dennoch ist er faszinierender als alles, wofür er teils bis heute gehalten wird, namentlich hauptsächlich für einen reinen Kubrick-Ripoff und einen bedeutungslosen Euro-Trashfilm.

Zum offensichtlichsten Punkt: UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO spielt wie A CLOCKWORK ORANGE in einer dystopischen Zukunftsgesellschaft mit leicht futuristischen Sets (die allerdings nicht in allen Szenen wirklich zum Tragen kommen), in der gewalttätige Jugendgangs brave Bürger verprügeln und vergewaltigen und in der ebenjene Gewaltverbrecher mit experimentellen und grausamen Gehirnwäschemethoden zu guten Bürgern „kuriert“ werden. Die Taten der gewalttätigen Banden werden in beiden Filmen in einer frühen Szene offenbart, die etwa ähnlich aufgebaut ist (Einbruch, verbale Demütigung, Schläge, sexuelle Gewalt). In UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO wird die gutbürgerliche Familie gar daran gehindert, bei einem gemütlichen Familienabend A CLOCKWORK ORANGE im Fernsehen zu schauen: der Film wird gerade angekündigt – mit einer Einblendung eines Fotos von Stanley Kubrick – als die Bande reinstürmt (und genau dies erscheint ganz schön dissonant: A CLOCKWORK ORANGE gehört ganz gewiss nicht zu den Filmen, mit denen man einen „gemütlichen“ Fernsehabend verbringen kann, und schon gar nicht in der Familie mit einem etwa sechsjährigen Kind). Beide Filme enden damit, dass ein Ex-Verbrecher bewegungsunfähig in einem Krankenhaus liegt. In beiden Filmen stellt sich die Ärzteschaft in den Dienst der Politik.
Außerhalb von A CLOCKWORK ORANGE im engeren Sinne, aber noch mit dem Kubrick-Kontext verbunden, ist die Besetzung von Sue Lyon, die 1962 in Kubricks LOLITA die Titelrolle gespielt hatte. Das wäre an sich ein reiner Zufall, aber als Ana sich als alte Dame verkleidet, um in dem Frauenclub einen männlichen Prostituierten zu angeln, liest sie überdeutlich sichtbar Nabokovs Roman – womit klar wird, dass hier nicht irgendeine Schauspielerin, sondern Kubricks „Lolita“ die Hauptrolle spielt. Die Gemeinsamkeiten mit LOLITA werden in einem der wenigen ernsthaften Texteüber UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO als sogar als wesentlich wichtiger für den Film als jene mit A CLOCKWORK ORANGE angesehen.
Mindestens zwei Mal erwähnt Ana, dass sie gerne Strauß-Walzer hört (was sie dann bei sich auflegt ist aber tatsächlich kein Strauß, sondern die Titelmusik des Films, die höchstens sehr assoziativ Strauß-ähnliche Züge hat) – eine kleine Anspielung auf 2001: A SPACE ODYSSEY, in dem Johann Strauss‘ Musik genutzt wird, oder auch auf die Komponisten-Besessenheit der Hauptfigur in A CLOCKWORK ORANGE?

Den vielen Verweisen und Ähnlichkeiten in meist eher kleinen Details zum Trotz unterscheidet sich UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO im Gesamt-Design wesentlich von A CLOCKWORK ORANGE und auch von Kubricks Filmen überhaupt.
Dies fängt mit dem eindeutig „weiblichen“ Fokus von de la Iglesias Film an. A CLOCKWORK ORANGE ist, wie tatsächlich alle Filme Kubricks, ein rein „männlicher“ Film über „männliche“ Obsessionen und mit rein „männlichen“ Perspektiven. UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO nimmt hingegen nicht direkt die Perspektive Anas ein, es gibt auch kein Figuren-Voice-Over, doch die Krankenschwester und Serienmörderin ist ganz klar der Ankerpunkt und die treibende Kraft des Films.
Alex in A CLOCKWORK ORANGE: nun eine leichte
Beute für skrupellose Oppositionelle und das Mitleid
des Zuschauers
Das hat wenig mit klassischer Figurenidentifikation zu tun: UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO bleibt größtenteils ein sehr distanzierter Film und hat oft eine unübersehbare Kälte. Die Distanz unterscheidet ihn wesentlich von A CLOCKWORK ORANGE, der Alex eindeutig als zentrale Identifikations- und Sympathiefigur positioniert und dabei den Zuschauer allzu gerne entweder durch seine bombastische Inszenierung oder durch Alex‘ kumpelhaft-drängendem Voice-Over geradezu eisern umarmt (teils fast erstickt). Dafür, dass Zuschauer Ana (oder eben David) sympathisch finden, tut UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO rein gar nichts. Einen erklärenden oder emotionalisierenden Voice-Over gibt es erst recht nicht – nur Bilder, die bisweilen sogar vielmehr rätselhaft anmuten. Trotzdem steckt gerade deshalb viel mehr Menschlichkeit in de la Iglesias Film: die Figuren agieren oft etwas absurd und unverständlich, andererseits auch erschreckend trivial, aber gerade dadurch sind sie erkennbare Figuren mit menschlichem Antlitz, die Fehlbarkeit demonstrieren und in wenigen Momenten sogar menschliche Wärme. A CLOCKWORK ORANGE macht seine Figuren (von wandelnden Konzepten auf zwei Beinen zu reden wäre aber wahrscheinlich adäquater) nur dann menschlich, wenn es ihm gerade passt: de la Iglesia akzepiert jegliche Figur als Mensch mit (meist sozial bedingten) Perspektiven und Perspektivbeschränkungen, während Kubrick (gewissermaßen extradiegetisch) seinen Alex genau so instrumentell behandelt wie (im Film selbst) der windige Innenminister oder die skrupellosen Oppositionellen, die er eben dafür verurteilt. Ein Film, der das Recht auf moralische Entscheidungsfreiheit verteidigt und sie dabei gleichzeitig dem Zuschauer abspricht?
Nicht zuletzt ist Kubricks A CLOCKWORK ORANGE eine dystopische Gedankenspielerei (jemand bezeichnete den Film im positiven Sinne als soziologisch-philosophische Vorlesung – man kann es auch negativ sehen), die nur über sich selbst etwas zu erzählen hat, dabei wenig Fragen offen lässt und dem Zuschauer recht unsanft seine Positionen aufdrückt. UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO hingegen ist ein Film, der im franquistischen Spanien Fragen über Klassengegensätze, sexuelle Identitäten und den alltäglichen Umgang mit (teils extremer) Gewalt stellt, darauf aber keine eindeutige Antworten weiß und dem Zuschauer daher auch keine Position aufdrücken kann: ein trotz seines Produktionslandes sehr demokratischer Film – wesentlich demokratischer und schlussendlich auch wesentlich interessanter, provokanter und mutiger als A CLOCKWORK ORANGE.
Was übrigens Kubrick über den Film seines spanischen Kollegen dachte (gemäß IMDb scheint UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO nicht in britischen Kinos gekommen zu sein, auch wenn paradoxerweise heute praktisch nur noch britische Fassungen des Films international verfügbar sind), darüber weiß ich nichts zu berichten. Wer natürlich die Geschichte weiterspinnen möchte: Jahre nach de la Iglesias LA SEMANA DEL ASESINO drehte Kubrick einen Film über einen nervlich schwer angespannten Mann, der in einem abgelegenen Haus den Plan hegt, seine gesamte Familie zu ermorden...

Der Serienmörder Marcos in LA SEMANA DEL ASESINO:
ein Wesens- und Seelenverwandter Anas?
Wesentlich größer als jegliche Kubrick-Bezüge sind die Gemeinsamkeiten mit de la Iglesias eigenem LA SEMANA DEL ASESINO. Hier wie dort inszeniert der Spanier latent und offen gewalttätige Gesellschaften, in denen Morde allzu leicht von der Hand gehen. Beide Filme sind auch intensive Portraits eines zwanghaften Mörders, die trotz der Unterschiede in Geschlecht, sozialer Klasse und Temperament doch Ähnlichkeiten haben (wobei Marcos' Portrait schlussendlich mehr als Anas Portrait überzeugt). Trotz des vagen Zukunftssettings herrschen auch in UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO markante Klassenunterschiede, die oft explizit (wenn auch weniger elegant und rein visuell) thematisiert werden: ältere Menschen mit kleinem Geldbeutel werden im Krankenhaus quasi zum Sterben ausgesetzt; unterprivilegierte Gewaltverbrecher werden in staatlich geförderten High-Tech-Laboren für medizinische Experimente ausgebeutet; gut betuchte Bürgerinnen und Bürger kaufen sich entweder offen oder versteckt die Körper jener, die sich für Geld hergeben müssen (so Ana mit ihren ersten beiden Opfern, die sie im weitesten Sinne mit Geld oder materiellen Gütern ködert). Die Lust der Privilegierten nach den Körpern der Unterprivilegierten: was in LA SEMANA DEL ASESINO noch unterschwellig war, wird hier schon manifester und beschäftigte de la Iglesia wohl noch in seinen urbanen Jugend-und Drogen-Dramen in den 1980er Jahren.


Eine queere Bar: utopischer Sehnsuchtsort im franquistischen Spanien

Ein netter Ort, um entspannt zu plaudern und zu feiern – und kostenlose
Cocktails gibt es auch!
Die Szenen um Anas drittes Opfer (zumindest das dritte im Film sichtbare) ist in vielerlei Hinsicht das Herzstück von UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO: die größte Provokation und zugleich das humanistische und politische Herzstück des Films. Eine queere Bar (sie ist für beide Geschlechter universell offen), zumal derartig nett und sympathisch dargestellt, ist so ziemlich das allerletzte, was man in einem spanischen Film aus der Franco-Ära erwarten würde – zumal dies auch im liberal-demokratischen Westen keine Selbstverständlichkeit war. Otto Premingers ADVISE & CONSENT hatte 1962 zum ersten Mal in einem Hollywood-Film eine (durchaus ambivalent gefilmte) Schwulenbar gezeigt. Sechs Jahre später filmte Robert Aldrich Szenen seines großartigen THE KILLING OF SISTER GEORGE on location im lesbischen „Gateways Club“ (für größere Kontroversen sorgte allerdings die Verführungsszene  gegen Ende des Films). Wenngleich die queere Bar in UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO viel stilisierter und bunter ist als der „Gateways Club“, so wird auch sie als lockerer, ausgelassener Treffpunkt zum Plaudern und Feiern gezeigt (und das auch mit offenbar kostenlosen Cocktails!) – wenn man etwas „einsam“ ist, wie der junge Mann, der Ana anspricht, weil er sich möglicherweise nicht traut, einen „richtigen“ Mann anzusprechen oder diese Frau in Cross-Dressing – nicht zu unrecht – wirklich verführerisch findet. Ohne jegliche Verruchtheit, ohne die entfernteste Andeutung, dass das ganze lächerlich sein könnte, inszeniert Eloy de la Iglesia in der queeren Bar ein Stück Normalität. Das fällt besonders in einem Film auf, in dem wirklich wenig „normal“ ist. Die queere Bar in UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO schafft einen Ort jenseits von Gewalt, von Ökonomisierung – und wahrscheinlich auch von Klassenunterschieden: vielleicht sind hier die Cocktails nicht umsonst umsonst. Ihr drittes Opfer (denn Ana wird den jungen Mann schließlich ja doch töten) verführt die Krankenschwester tatsächlich nur mit ihren Reizen und mit ihrer emotionalen Einfühlsamkeit, nicht mit Geld (wie den unglücklichen Werbedarsteller) oder materiellen Gütern (wie den kunstsammelnden Kleinangestellten).

Das passiert bei Ana in der Villa: sie und der junge Mann hören zusammen Musik, tanzen und trinken was. Als der junge Mann dann gehen will, schlägt sie ihm implizit vor, zu bleiben und mit ihr zu schlafen. Er hält das für ein Missverständnis: er dachte nämlich, dass sie lesbisch sei. Schließlich nimmt er das Angebot doch an: vielleicht könne sie ihm ja dabei helfen, sich zu ändern – implizit also: ihm seine homosexuellen Neigungen auszutreiben. Mit Bestimmtheit erwidert sie, dass sie keineswegs die Absicht habe, ihn zu ändern und dass überhaupt die Leute sich selbst sein sollten. Dieses implizite „Du bist schwul – und das ist auch gut so!“ ist ein kurzer Augenblick, der wesentlich ergreifender, menschlicher, direkter und auch wesentlich politischer ist als etwa die Zwischenrufe des Priesters über moralische Entscheidungsfreiheit in A CLOCKWORK ORANGE. Beim Sex behält Ana übrigens ihre Männerfrisur-Perücke auf – bleibt also doch in ihrer „Männerrolle“.

Einige Gesichter der Ana
Die Leute sollen so bleiben, wie sie selbst sind. Gerade allerdings bei Ana selbst fragt sich, wer „sie selbst“ denn eigentlich ist. Denn sie durchtrennt nicht nur die Hauptschlagadern ihrer Opfer, sondern auch klassische Vorstellungen von Identität. Das betrifft nicht nur ihre vielen Verkleidungen (als alte Dame, als homosexueller Mann, als Dienstmädchen). Ana übt einen klassischen „proletarischen“ und dazu auch „weiblichen“ Beruf aus, ist aber eine reiche Frau – möglicherweise sogar wesentlich betuchter als die meisten männlichen Ärztekollegen. In ihrem Beruf gilt Ana nicht nur als außergewöhnlich gut, sondern auch als besonders einfühlsam im Umgang mit den Patienten – wofür ihr Arbeitskollege Victor nur Verachtung übrig hat, weil für ihn Patienten nur Rohmaterial zum Experimentieren sind, die ihm von der Polizei zur zur Verfügung gestellt werden. Eine mitfühlende Humanistin also, wäre da nicht die Sache mit den Serienmorden! De la Iglesia macht auf ganzer Linie deutlich, dass Ana keine klassische Psychopathin ist, wenngleich sie ihre Morde minutiös plant und durchführt. Nach ihrem Verständnis „erlöst“ sie ihre Mordopfer in einem Moment höchster Glückseligkeit, nachdem sie in ihren Armen eingeschlafen sind – ein alter Patient bestätigt sie in ihrer Meinung, als er ihr mitteilt, in seinem ganzen Leben insgesamt nur wenige Stunden wirklich glücklich gewesen zu sein. Ein paar Stunden, das sei doch immerhin etwas, meint Ana. Nur spät merkt sie, dass ihre Morde keine Erlösung bedeuten, sondern eben Morde sind – und bricht dann auch zusammen. So ähnelt das Ende von UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO auch dem von LA SEMANA DEL ASESINO: ein mehrfacher Mörder findet doch sein Gewissen und „ergibt“ sich schlussendlich. In letzterem passiert – gar nichts. In ersterem bleibt nur der Tod der „therapierten“ Probanden als gesicherter Fakt.

UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO ist im Vergleich zu LA SEMANA DEL ASESINO sicherlich der schwächere Film. Er wirkt oft wie ein Stückwerk, in der Dramaturgie stark holperig, wenig organisch. Weder in den Details noch im Gesamt-Design erreicht er die konzise Präzision von de la Iglesias grandiosem Slasherfilm. Eine konzise Atmosphäre der existentiellen Verzweiflung fehlt diesem Film, weil Ana im Vergleich zum pessimistischen, meist deprimierten Marcos optimistisch und lebensfroh angelegt ist. Ein Gefühl des Grotesken und Absurden fehlt ihm ebenfalls, weil die Handlungsstränge zu disparat sind und der Film keine so konzisen Bilder findet wie etwa jene von Marcos, der die Leichen seiner Familienangehörigen in seinem Schlafzimmer anhäuft. Und die Verfolgungsjagd zwischen dem Buggy und dem Motorrad ist völlig frei von jeglicher Dynamik und so dermaßen uninteressant und in die Länge gezogen, dass es fast schon weh tut – de la Iglesia war definitiv kein Action-Regisseur! 
Doch das ist alles eher Jammern auf hohem Niveau. Einen derartig radikalen, provokanten, tabubrechenden Film im Spanien der ausgehenden Franco-Ära zu drehen (weder Francos Tod noch die Transición waren 1973 wirklich in greifbarer Nähe) brauchte eine Menge Mut. Zwischen den manchmal mühseligen Momenten tauchen außerdem immer wieder ganz große Filmaugenblicke auf. Die Szenen in der queeren Bar habe ich erwähnt. Der Tanz zwischen Ana in Cross-Dressing und dem jungen Mann im Wohnzimmer der Villa: die Kamera filmt sie zunächst – sehr merkwürdig distanziert – von oben und dreht sich dabei aber zunehmend schneller, und nach einem Schnitt fängt sie an, selbst um das Paar herum zu tanzen. Und schließlich dieser poetisch-morbide Moment: Ana hat gerade den Prostituierten ermordet, und in einem blutbesudelten weißen Nachthemd läuft sie wie in Trance durch den anliegenden Park, während Herbstblätter ihr entgegenwehen und die Titelmelodie ertönt. Schon nur für diese furchterregend poetischen Sekunden lohnt sich UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO.



Editionen und Versionen
UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO ist in Großbritannien auf DVD beim Label HB Films unter dem Titel „Murder in a Blue World“ erschienen. Die Qualität ist, sagen wir es einmal vorsichtig, als dürftig zu bezeichnen. Das Cover ist bis hin zu einem unscharfen Screenshot aus dem Film auf der Vorderseite in einem unansehnlichen Grau gehalten. Die DVD-Scheibe ist bis auf den Titel, die Zahl 18 (das ist dann wohl die bbfc-Freigabe) und die Angabe HB Films mit der Scheiben-Nummer ebenfalls nackt. Der Film selbst wird im Originalformat 2.35:1 präsentiert – na ja, also zumindest so ungefähr halbwegs: er ist nicht anamorph codiert und die Messung ergibt nur 2.30:1. Die Bildqualität ist eher mau: statt scharfer Bilder gibt es Gematschtes mit lästigen Nachzieheffekten. Und nicht zuletzt ist der Film nur in der englischen Synchro verfügbar (die bei den wichtigsten Figuren halbwegs erträglich ist, bei einigen Nebenfiguren zum Davonlaufen). Darauf, dass er wohl gekürzt ist, komme ich auch gleich noch zu sprechen.
Es gibt noch eine weitere britische Veröffentlichung von Hanzibar Films, die wohl möglicherweise die spanische Sprachversion enthalten soll, aber meine Hand würde ich dafür nicht ins Feuer legen. Und dann noch eine Edition von Pagan Films, die in der „Qualität“ der von HB Films ähnelt. Des weiteren gibt es eine amerikanische Veröffentlichung, die vielleicht, vielleicht aber auch nicht die spanische Sprachfassung enthält, mit 1.33:1 aber offenbar das komplett falsche Bildformat hat, oder zumindest ebenfalls nicht anamorph codiert ist (und möglicherweise noch stärker gekürzt wurde). Alles nicht so ideal. Der Ruf, ein Stück Kubrick-Ripoff-Euro-Trash zu sein, hat diesem Film wahrhaftig nicht gut getan.
Bezüglich der Laufzeit des Films gibt es auf IMDb widersprüchliche Angaben mit unterschiedlichen Zahlen für verschiedene Länder: so scheint es zwei verschiedene UK-Fassungen zu geben, einmal 98 Minuten, einmal 101 Minuten – letzteres mit dem Zusatz „cut“. In den USA dauert der Film 88 Minuten und in Spanien 100 Minuten. Die absolut längste Fassung ist also „cut“: wie und warum, weiß ich nicht. Gemäß dem obigen Link zur DVD-Edition von Pagan Films gab es in Großbritannien eine um 2 Minuten wegen Gewalt gekürzte Fassung, die zugleich einfache Dialogszenen enthält, die in der nicht-gewaltzensierten Fassung wiederum fehlen. Welche Fassung auf meiner HB-Films-DVD enthalten ist, könnte ich nicht mit Sicherheit sagen.
Diese Editionsprobleme gehen wohl also auf das Konto des BBFC, als der Film in Großbritannien auf VHS, später auf DVD veröffentlicht wurde. Ob der Film noch vorher mit spanischen Zensoren Probleme hatte und es möglicherweise einen verschollenen, originalen „de-la-Iglesia-Cut“ des Films gibt, wie wahrscheinlich bei LA SEMANA DEL ASESINO, kann ich nicht sagen. Da UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO nicht weniger explosiv und provokant ist, liegt das durchaus im Bereich des Möglichen.

Der Perser und die Schwedin

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JEUNESSE PERDUE (dt. Fassung DER PERSER UND DIE SCHWEDIN)
Großbritannien/Schweden 1961 (dt. Fassung 1966)
Regie: Akramzadeh
Darsteller: Akramzadeh (Mustafa), Anna Longlands (Monica), Bergitte Leonard (Bergitte), Saadoun Al-Ubaydi (Pierre)

Der geheimnisumwitterte Akramzadeh als Mustafa
Viel wurde schon geschrieben in den letzten drei Jahren über dieses Wunderding von einem Film, das der mysteriöse Iraner Akramzadeh 1961 in England (sowie zu einem kleinen Teil in Dänemark und Schweden) gedreht hat (einige Beispiele: Oliver Nöding, Silvia Szymanski, Lukas Foerster, Stubenhockerei). Doch nur wenige haben ihn gesehen, denn er wurde seit seinem kometenhaften Wiederauftauchen im Jahr 2013 auf einem Hofbauer-Kongress nur auf ausgewählten Veranstaltungen vor meist kleinem Publikum gezeigt. Schlimmer noch, die beiden einzigen bekannten Kopien des Films sind vom Essigsyndrom befallen, einer speziellen Form des chemischen Zerfalls, die Acetatfilm betrifft, und die sich, einmal in Gang gekommen, nicht mehr aufhalten lässt. So schien es, dass DER PERSER UND DIE SCHWEDIN in absehbarer Zeit nur noch als legendenumwobene Erinnerung derjenigen, die ihn noch gesehen haben, existieren würde. Um dem gegenzusteuern, wurde im letzten Dezember eine Crowdfunding-Kampagne ins Leben gerufen mit dem Ziel, den Film zu digitalisieren und auf DVD zu veröffentlichen, um ihn nicht nur der Nachwelt zu erhalten, sondern auch einem größeren Kreis zugänglich zu machen. Mit 25 Euro (oder als Premiumspender auch mit mehr) konnte man sich beteiligen, um bei Erfolg der Kampagne nach einigen Monaten die DVD zugesandt zu bekommen, und da gab es für mich kein Zögern und Zaudern. Doch als Ende Januar das Ende der selbstgesetzten Frist bevorstand und die benötigte Summe von knapp 9000 Euro noch bei weitem nicht zusammen war, ließ ich schon alle Hoffnung fahren, DER PERSER UND DIE SCHWEDIN jemals zu sehen. Aber im letzten Moment fanden sich Geldgeber, die mit einer Spende von 3000 Euro die Finanzlücke schlossen, und so konnte das Projekt seinen Fortgang nehmen.

Bergitte (links) und Monica
Nun ist vor ungefähr einer Woche das Päckchen bei mir angekommen, ein paar Monate später als erwartet, dafür unerwarteterweise nicht nur mit einer DVD, sondern als Blu-ray/DVD-Kombi, mit gleich zwei Versionen des Films - neben der bislang bekannten deutschen Version auch die weitgehend rekonstruierte Originalfassung - sowie nicht weniger als drei Audiokommentaren (an denen auch einige bekannte Blogger-Kollegen beteiligt sind) und weiterem Bonusmaterial. Hier auf der Projektseite der Kampagne kann man nachlesen, wie die unverhoffte Auffindung immer weiterer Materialien den Erscheinungstermin mehrfach verschob und gleichzeitig für ein immer vollständigeres Paket sorgte (wer nicht alles lesen will, findet im Eintrag vom 21.07.2016 das Wesentliche). Man bekommt nun also mehr für sein Geld, als ursprünglich versprochen wurde. Aber natürlich liegt es letztlich am Film selbst, ob sich das Geld und das Warten gelohnt hat.

Der Perser und die Schwedin - hier an der Themse beim Tower
Hat es sich also gelohnt? Ja, für mich auf jeden Fall. Das liegt zu einem beträchtlichen Teil an der Originalfassung JEUNESSE PERDUE, die sich nicht nur in einigen Punkten stark von DER PERSER UND DIE SCHWEDIN unterscheidet, sondern die für mich auch der klar bessere Film ist. Bevor ich darauf eingehe, noch ein paar Bemerkungen zur Entstehung und weiteren Geschichte des Films. Akramzadeh hat JEUNESSE PERDUE geschrieben, inszeniert und geschnitten, und da er die Hauptrolle spielt, wissen wir auch, wie er 1961 aussah und sprach - und das war es dann schon. Trotz einiger Bemühungen seit 2013 ist es nicht gelungen, noch irgendwelche Informationen über ihn zutage zu fördern. Er kam sozusagen aus dem Nichts, lieferte seinen Film ab und verschwand wieder im Nichts. Finanziert wurde JEUNESSE PERDUE von einem schwedischen Ableger der traditionsreichen dänischen Nordisk und einer wohl recht kleinen englischen Firma, denn Google und einige andere Suchmaschinen wissen nichts über sie. Ich halte es deshalb für möglich, dass Akramzadeh selbst diese Firma ad hoc gegründet hat, um den Film zu produzieren, und sie dann wieder aufgelöst hat. JEUNESSE PERDUE kam 1961 in Schweden in die Kinos, aber man weiß nicht einmal, ob er auch in England gezeigt wurde. (In diesem Zusammenhang würde mich interessieren, wie wohl die britischen Zensoren vom BBFC darauf reagiert haben oder reagiert hätten - ich kann mir kaum vorstellen, dass er unbeanstandet geblieben wäre.) 1964 lief er in Dänemark, 1966 in Deutschland, und 1968 fand er noch den Weg nach Mexiko. Über Auswertungen in weiteren Ländern ist nichts überliefert, und auf Heimmedien wurde er bis zur jetzt vorliegenden Edition nie veröffentlicht. Dass es in Deutschland ganze fünf Jahre gedauert hat, lag neben bürokratischen Hindernissen bei der Einfuhr und einigen Auflagen der FSK auch daran, dass der Mercator-Filmverleih, der die Rechte erworben hatte, den Film nicht nur deutsch synchronisieren, sondern auch noch stark verändern ließ. Einerseits wurden etliche Kürzungen vorgenommen, andererseits wurde neu gedrehtes Material eingefügt. Beides hat den Film nicht besser gemacht.

Studentenbude
Nach wie vor sind nur zwei Kopien von DER PERSER UND DIE SCHWEDIN bekannt. Es wurde also keine Kopie oder gar das Originalnegativ von JEUNESSE PERDUE aufgefunden. Vielmehr fanden sich bei Mercator (die Firma existiert noch und war sehr kooperativ) eine Vielzahl an Schnittresten, die zusammen mit DER PERSER UND DIE SCHWEDIN fast den ganzen Originalfilm abdeckten. Natürlich reichen diese Filmschnipsel allein nicht, sondern man muss sie auch in die richtige Reihenfolge bringen. Dazu diente zunächst ein ins Deutsche übersetztes Dialogbuch von JEUNESSE PERDUE (man findet es als PDF auf der Blu-ray), und als letzter und in dieser Hinsicht wichtigster Fund schließlich die komplette Originaltonspur des Films. Damit konnte nun JEUNESSE PERDUE im Ton komplett und in den Bildern fast komplett (an den wenigen fehlenden Stellen wird Schwarzbild eingeblendet) rekonstruiert werden. Und was zunächst Gegenstand von Mutmaßungen war, nämlich welche Teile von DER PERSER UND DIE SCHWEDIN von Akramzadeh und welche von Mercator stammten, lag nun offen.

Mustafa liebt Verkleidungen
Worum geht es nun in dem Film? Mustafa, der "Perser" des deutschen Titels, ist ein mit reichen Eltern gesegneter Medizinstudent in London. Doch er nimmt sein Studium nicht ernst, sondern er widmet seine ganze Energie dem Nachtleben und den Frauen, die er reihenweise erobert. Seine neuesten Bekanntschaften sind die Freundinnen Monica (die "Schwedin") und Bergitte (die wohl Dänin ist, aber das ist nicht so wichtig). Beide studieren an einer Akademie mit dem Ziel, Schauspielerin zu werden. Nicht nur mich erinnert Monica mit ihrer Kurzhaarfrisur etwas an Jean Seberg, während Bergitte mit ihrer wilden blonden Mähne an Brigitte Bardot denken lässt - auch Mustafa nennt sie bei ihrer ersten Begegnung scherzhaft "Miss Bardot". Mustafa erobert beide praktisch gleichzeitig und teilt seine Zeit geschickt zwischen ihnen auf, doch langsam kristallisiert sich heraus, dass Monica die Affäre ernster nimmt als Bergitte. Die Geschichte nimmt eine Wendung, als für Mustafa der Tag des Examens kommt und er es erwartungsgemäß versemmelt. Macht nichts, meint er zunächst, da müssen ihm seine Eltern eben ein weiteres Jahr in London spendieren. Doch der wahre Schock kommt erst noch: Mustafas Mutter hat genug und dreht ihm den Geldhahn zu. Jetzt muss er sich eine Arbeit suchen, und weil er das als Ausländer in England nicht kann, reist er zurück in die Heimat. Was er nicht weiß: Monica ist inzwischen von ihm schwanger. Weil ein uneheliches Kind einerseits ihre Schauspielkarriere zerstören würde, bevor sie überhaupt begonnen hat, und andererseits in der schwedischen Heimat Schande über sie und ihre Eltern bringen würde, will sie das Problem mit einer Hinterzimmer-Abtreibung lösen, die Mustafas Studienfreund Pierre durchführen soll, der sich sein Studium durch solche illegalen Abtreibungen verdient hat. Doch letztlich wird aus der geplanten Abtreibung eine Frühgeburt in der eigenen Wohnung, genau zu Weihnachten.

"Miss Bardot"
Mustafa hat inzwischen einen Job in einer Bank, wo er dicke Geldbündel zählt, und dort erreicht ihn ein Brief der verzweifelten Monica. Und nun packt ihn das Gewissen (und vielleicht auch der Vaterstolz), und er beschließt, dass er nach London muss, um Monica zu helfen. Doch mit welchem Geld? Hier nun kommt es zu einem eklatanten Unterschied zwischen den beiden Filmversionen. In DER PERSER UND DIE SCHWEDIN überlegt sich Mustafa in einem inneren Monolog, dass er ja gerade auf einem Haufen Geld sitzt und nur zugreifen müsste. Doch dann verwirft er den Gedanken: Nein, er kann sein neues Leben nicht als Dieb beginnen. In der nächsten Szene taucht er gehetzt und schweißgebadet in seiner Wohnung auf, wäscht sich notdürftig das Gesicht, packt seine Sachen zusammen und verschwindet wieder. Das alles macht keinen rechten Sinn. In JEUNESSE PERDUE hingegen gibt es auch den inneren Monolog, doch ohne das abschließende Dementi "nein, das mache ich nicht". Und plötzlich ergibt alles Sinn: Mustafa hat tatsächlich Geld unterschlagen und ist nun auf der Flucht nach London.

Zwei Seiten von London - Speakers' Corner im Hyde Park und Nachtleben in Soho
Dort erwartet ihn eine bittere Enttäuschung: Das frühgeborene Kind ist inzwischen gestorben. Es folgt nun noch ein Epilog: Mustafa und Monica fahren mit einer Fähre nach Schweden. In der nächsten Szene sind beide in feiner Abendkleidung bei Monicas Eltern zum Essen, dann brechen sie zu einer Party auf, die in DER PERSER UND DIE SCHWEDIN wohl ihre Hochzeitsfeier sein soll, in JEUNESSE PERDUE dagegen eine Silvesterfeier - hier sind sie bereits verheiratet (jedenfalls erwecken die Untertitel eines kurzen schwedischen Dialogs von Monicas Eltern diesen Eindruck). Das wirft ein gewisses Timing-Problem auf: Haben die beiden in den Tagen zwischen Weihnachten und Silvester geheiratet, obwohl Monica ja gerade eine schwere und gefährliche Geburt hinter sich hat, und obwohl ja auch ein totes Baby begraben werden musste? Oder ist zwischen dem Hauptteil und dem Epilog bereits ein Jahr vergangen? Wie dem auch sein mag - im Gegensatz zu DER PERSER UND DIE SCHWEDIN geht es bei JEUNESSE PERDUE nach der Party noch etwas weiter, und der Film nimmt noch eine letzte unerwartete Wendung (und hat mich in diesen allerletzten Szenen ganz überraschend etwas an WENN DIE KRANICHE ZIEHEN erinnert) ...


Die Dreiecksgeschichte mit Mustafa, Monica und Bergitte und die sonstigen Plot-Elemente sind nicht besonders komplex oder detailreich, und Akramzadeh verfolgt auch, im Gegensatz etwa zu den zeitgenössischen kitchen sink movies, keinerlei sozialkritische oder sonstwie ideologische Agenda. Das gibt dem Film trotz seiner Kürze reichlich Gelegenheit zum Innehalten und zum Abschweifen, und genau darin liegt seine eigentliche Stärke. Vor allem das Londoner Nachtleben wird ausgiebig gewürdigt. Ziemlich am Anfang besuchen etwa Mustafa, Pierre und ein Freund einen Nachtclub, der Macabre heißt und wie ein Gruselkabinett eingerichtet ist. Statt nun gleich mit dem Dialog zu beginnen, lässt Akramzadeh zunächst einmal die Kamera ausgiebig das morbid-makabre Interieur erkunden. Es ist eigentlich unfassbar, dass diese wunderbare Sequenz der Mercator'schen Schere zum Opfer gefallen ist. Der Film nimmt sich auch die Zeit, ein Flamenco-Ensemble und eine traditionelle indische Tänzerin bei jeweils einem Auftritt zu begleiten und ihnen dabei fast die ungeteilte Aufmerksamkeit zukommen zu lassen (anders als etwa, um ein Gegenbeispiel zu nennen, Antonioni in BLOW UP, wo sich die Yardbirds die Aufmerksamkeit mit David Hemmings teilen müssen). Und in zwei oder drei nächtlichen Montage-Sequenzen, in denen auch Doppel- und Dreifachbelichtung zum Einsatz kommen, werden die Varietés, Nachtclubs und Striplokale von Soho vorgestellt. Insgesamt kann man ein bisschen dem Swingin' London beim Entstehen zuschauen. Der Minirock ist noch nicht (wieder-)erfunden, und manche Szene in einem Kellerlokal oder einer Privatwohnung hat mich noch mehr an das Saint-Germain-des-Prés der 50er als an das Soho oder Chelsey der 60er Jahre erinnert, doch da ist schon etwas im Anflug, das es so noch nicht gab - jedenfalls erscheint es im Rückblick so.


Auch abseits des Nachtlebens widmet sich JEUNESSE PERDUE immer wieder scheinbar spontan irgendwelchen Details, die keinerlei Bedeutung für den Plot haben. Etwa, wenn Bergitte bei einer Unterhaltung mit Monica und anderen Studienkolleginnen in der Akademie einen Helm (der wohl ein römischer Legionärshelm sein soll) in die Hand nimmt und damit herumhantiert, weil er halt gerade so herumliegt (ich fühlte mich spontan an LA DOLCE VITA erinnert, wo Nico eine Weile mit einem Ritterhelm herumläuft). Mustafa fährt auch mit Bergitte nach Brighton, wo der Film die Handlung sozusagen vorübergehend suspendiert, um sich stattdessen dem Strandleben zu widmen. Als am Ende dieser Sequenz, die in JEUNESSE PERDUE noch ein Stück länger ist als in DER PERSER UND DIE SCHWEDIN, die beiden am Strand herumtollen, rennt ihnen plötzlich ein zum Spielen aufgelegter Hund hinterher, und man gewinnt den Eindruck, dass das ungeplant passiert ist und ganz selbstverständlich im Film belassen wurde. Akramzadeh gönnte sich auch einen verblüffenden experimentellen Schlenker: Mustafa fliegt als Gast eines mit ihm bekannten iranischen Geschäftsmannes in einer Privatmaschine Richtung Heimat, und es gibt Luftaufnahmen englischer Landschaften. Nun würde man erwarten, dass als nächstes entweder die Landung gezeigt wird, oder dass es in London mit Monica und/oder Bergitte weitergeht. Stattdessen gibt es einen harten Schnitt zu Aufnahmen in einer Achterbahn in rasender Fahrt. Nach kurzer Zeit erneut ein harter Schnitt zur Wohnung von Pierre, der dort gerade eine seiner illegalen Abtreibungen durchgeführt hat. Was war denn das? fragt man sich nach dieser (echten und sinnbildlichen) Achterbahnfahrt, und man braucht einige Momente, um sich wieder in der Handlung einzufinden.


In all diesen bisher erwähnten Einschüben und Abschweifungen kommt zwar der Plot zum Stillstand, nicht aber der filmische Fluss, so dass sie (zumindest auf mich) nicht als Durchhänger wirken. Bei den deutschen Ergänzungen ist das etwas anders. Mercator betraute damit Gunther Wolf, einen renommierten Produzenten von Industrie- und Kulturfilmen (mit letzteren konnten Kinobetreiber Steuern sparen, wenn sie sie ins Programm einbauten). Wolf filmte nun in einem Etablissement, das je nach Quelle in Dortmund oder Bielefeld stand, drei Stripperinnen und eine dunkelhäutige Tänzerin, die die Kleider anbehält, und die in ihrem flamboyanten Outfit und ihrem Tanzstil etwas an Josephine Baker erinnert. Nach einer kurzen Exposition, die alle vier Damen zusammen in der Garderobe zeigt, gibt es zwei Blöcke mit jeweils zwei Auftritten in DER PERSER UND DIE SCHWEDIN. Diese Einschübe sind nicht wirklich störend, aber doch etwas beliebig - man könnte sie auch im Soho irgendeines Edgar-Wallace-Films platzieren, ohne dass es auffallen würde. Was mir daran vor allem nicht gefallen hat, ist die Tatsache, dass alle vier Auftritte ziemlich frontal, statisch und letztlich einfallslos abgefilmt sind.

Diese Auftritte gibt es nur in DER PERSER UND DIE SCHWEDIN
Eine Sonderstellung nimmt ein weiterer Einschub mit einer Länge von gut sieben Minuten ein, der fast vollständig in DER PERSER UND DIE SCHWEDIN zu sehen ist. Er stammt nicht von Mercator/Wolf, aber auch nicht von Akramzadeh, denn er hat kein Gegenstück in der Originaltonspur. Anscheinend wurde er aber gleich nach den eigentlichen Dreharbeiten und noch vor der Kinoauswertung von den Produzenten zu JEUNESSE PERDUE hinzugefügt. Da sich die Version von JEUNESSE PERDUE auf der Blu-ray am Originalton orientiert, ist die vollständige Sequenz hier nicht im Film selbst, sondern separat im Bonusmaterial zu sehen. Darin spielt eine Combo von schwarzen Jazzmusikern in einem Nachtclub zunächst einen Twist (der dem Text nach vielleicht Twisty Twist oder so ähnlich heißt), und das Publikum absolviert den passenden Tanz dazu. Dann gibt es ein Intermezzo, in dem nur der Percussionist monoton die Bongo schlägt, und dazu sieht man, wie eine schwarzhaarige junge Frau in einem Pelzmantel an einem Tisch sitzt und an ihrem Getränk nippt. Ihr Dealer/Impresario/sonstwas, der gerade einer anderen Frau ein sicher nicht ganz legales weißes Pülverchen ins Glas gekippt hat, kommt hinzu und gibt eine Tablette in das Glas der Schwarzhaarigen. Es ist dies übrigens die einzige Stelle im Film, in der irgendwelche Drogen außer Alkohol vorkommen. Während nun die Band Tequila anstimmt, geht die Frau auf die Tanzfläche, und erst jetzt erkennt man, dass sie eine Tänzerin ist, die sich mit der Tablette für ihren Auftritt aufgeputscht hat. Sie absolviert ihren erotischen Tanz, doch ihr BH (oder Bikini-Oberteil - sie könnte sich so auch am Strand sehen lassen) bleibt dran, jedenfalls soweit die Sequenz in DER PERSER UND DIE SCHWEDIN zu sehen ist. Ganz am Ende der vollständigen Szene fällt das Oberteil doch noch, doch da werden neugierige Blicke durch den Pelzmantel abgewehrt. Dieser Einschub ist sowohl musikalisch als auch filmisch viel interessanter als die Mercator'schen Ergänzungen. Das gilt für mich gerade jetzt, wo ich den Film mit seinen Versionen und Audiokommentaren innerhalb weniger Tage fünfmal gesehen habe: Die deutschen Stripperinnen (und auch der nicht-strippende Josephine-Baker-Ersatz) langweilen mich mittlerweile, während ich der aufgeputschten Tänzerin und der Band mit dem Twist und Tequila immer noch guten Unterhaltungswert abgewinnen kann.

Twist
Die Kürzungen, die Mercator vorgenommen hat, haben dem Gefüge des Films auch nicht gutgetan. Oder andersherum ausgedrückt: Wenn man zuerst DER PERSER UND DIE SCHWEDIN und dann erst JEUNESSE PERDUE ansieht, wie es auf der Blu-ray empfohlen wird, und wie es bei denen, die den Film schon in einem Kino gesehen haben, zwangsläufig der Fall ist, dann hat man es beim Original plötzlich mit einem besseren Film zu tun. Die Handlung ist nachvollziehbarer, und die Personen haben mehr Kontur - insbesondere Bergitte und Pierre gewinnen an Substanz. Auch die "moralischen" Bewertungen verschieben sich etwas. Mustafa erscheint anfangs als ein fauler, aber liebenswerter Hallodri, vielleicht ein entfernter Verwandter von Werner Enke in ZUR SACHE, SCHÄTZCHEN, doch er erweist sich zunehmend als Egozentriker mit auch unsympathischen Zügen. Das ist in beiden Versionen so. Doch in JEUNESSE PERDUE kommt viel deutlicher als in DER PERSER UND DIE SCHWEDIN zum Ausdruck, dass auch Monica und Bergitte aktiv auf Männerfang gehen. In DER PERSER UND DIE SCHWEDIN ist Mustafa etwas überspitzt der Schuft, der die zarte Monica verführt und sie dann schwanger sitzen lässt, um im letzten Moment doch noch geläutert zu werden. In JEUNESSE PERDUE wird Monica ungewollt schwanger - sehr ärgerlich und durchaus dramatisch für sie, aber letztlich ist sie zum Teil selbst schuld. Das nimmt der Geschichte wenigstens zum Teil die Aura von Pathos und Melodrama, und das tut dem Film gut. Auch innerhalb des Verhältnisses Bergitte - Monica verschieben sich etwas die Akzente. In DER PERSER UND DIE SCHWEDIN erscheint Bergitte als die Lebenslustige, vielleicht auch etwas Ordinäre der beiden, während Monica die Bravere, die noch etwas Bürgerliche ist. Doch in JEUNESSE PERDUE kommt viel deutlicher zum Vorschein, dass Monica diejenige ist, die Männer schon nach dem ersten Date mit auf ihr Zimmer nimmt, um mit ihnen zu schlafen - was Bergitte nicht tut. So ist die gesamte Figurenkonstellation jetzt weniger eindimensional, sondern komplexer und interessanter.

Eine aufgeputsche Tänzerin
Ein letzter Unterschied, den ich erwähnen will, besteht im Off-Kommentar. Dieser ist in beiden Versionen vorhanden, und im Wortlaut gibt es wenig Unterschiede, sehr wohl aber im Tonfall. Dieser ist in JEUNESSE PERDUE weitgehend sachlich-neutral, und gelegentlich blitzt Ironie durch. In DER PERSER UND DIE SCHWEDIN hingegen ist der Ton mehr konservativ-moralisierend, wie man es auch aus anderen deutschen oder deutsch synchronisierten "Sittenfilmen" der 60er und 70er kennt. Zwar haben solche Kommentare oft einen gewissen Unterhaltungswert, und ernst genommen wurden sie sowieso nicht, da sie nur echte oder selbsternannte Zensoren beschwichtigen sollten, aber für mich sind sie letzlich dennoch ein Ärgernis. So kann JEUNESSE PERDUE also auch hier punkten. Gesprochen wurde der Originalkommentar laut dem oben erwähnten Dialogbuch von einem Anthony Baird (in den Credits im Film selbst wird der Name nicht erwähnt). Das dürfte ziemlich sicher der Schauspieler (1920-1995) dieses Namens sein, und damit ist Baird wohl der einzige der Beteiligten an JEUNESSE PERDUE, der größere sichtbare Spuren in der Filmgeschichte hinterlassen hat.

Weihnachtsparty
Vielleicht erscheint es jetzt so, als ob ich DER PERSER UND DIE SCHWEDIN nicht mögen würde, aber das ist keineswegs der Fall. Mit seinen Verschrobenheiten besitzt er seinen eigenen Charme und Unterhaltungswert, und das hat ja auch erst zur Wiederauferstehung des Films geführt. Doch JEUNESSE PERDUE "bewahrt" sozusagen die Stärken von DER PERSER UND DIE SCHWEDIN (obwohl er natürlich chronologisch vorher da war), fügt neue hinzu und vermeidet einige Schwächen der deutschen Fassung, und ist somit für mich der bessere und interessantere Film. - Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Das bedeutet in diesem Fall: Wer sich nicht an der Crowdfunding-Kampagne beteiligt hat, der kann den Film jetzt natürlich trotzdem kaufen, muss aber 10 Euro mehr bezahlen. Die komplette Ausstattung der Box kann man hier nachlesen.

Mustafa in Brighton

Vienna und die reitende Frau mit der Peitsche haben eine große Schwester

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CALIFORNIA
USA 1947
Regie: John Farrow
Darsteller: Barbara Stanwyck (Lily Bishop), Ray Milland (Jonathan Trumbo), Barry Fitzgerald (Michael Fabian), George Coulouris (Pharaoh Coffin), Anthony Quinn (Don Luis Rivera y Hernandez), Albert Dekker (Pike)



Ich liebe exzentrische Westerns! Und die Frage nach meinem liebsten Western würde ich wohl mit JOHNNY GUITAR beantworten, dicht gefolgt von FORTY GUNS. Beide stellen traditionelle Elemente des Genres auf den Kopf und bleiben durch ihre wuchtig expressionistische Inszenierung (ersterer in fast psychedelischen Trucolor-Farben, letzterer in brutal kontrastiertem Schwarzweiss) lange im Gedächtnis. Beide wurden von Jonathan Rosenbaum in seiner Liste „A Dozen Eccentric Westerns“ gewürdigt und beide haben, wenn man so möchte, eine große Schwester. Ihr Name ist CALIFORNIA.

Kalifornien, oder: Das gelobte Land

Die Vorstellung, dass CALIFORNIA so etwas wie ein „normaler“ Western sein könnte, gerät schon in den ersten Sekunden ins Schwanken. Das von einem Chor auf ausgesucht pathetische Weise gesungene Titellied hat gerade die opening credits begleitet – und der Film kann losgehen... Oder auch nicht.


Statt eines konventionellen Filmanfangs...
...eine pastorale Sinfonie mit sakral-hymnischer Note

Idyllische Naturbilder werden in einer „pastoralen Sinfonie“ (im Gegensatz etwa zu einer Stadtsinfonie) aneinandergereiht, während Voice-Overs, gesprochen von mehreren Figuren, das ganze kommentieren. Gott persönlich habe Kalifornien geschaffen und dann aufgehört, weil er sich danach ja nur wiederholen könnte, so die Stimme eines alten Mannes. Die Bäume, sagt ein kleiner Junge, seien riesig genug, um ganze Kirchen daraus zu schnitzen – nein, nicht nur Kirchen, sondern zusätzlich auch eine Synagoge und eine baptistische Mission könne man daraus bauen. Jemand habe eines Nachts mal eine Schaufel aus Versehen im Boden stecken lassen, sagt ein Mann mit eindeutig hispanischer Herkunft – am nächsten Morgen war ein blühender Baum voller Früchte daraus geworden. Kurz: Wer nach diesen zwei Minuten nicht vollends davon überzeugt ist, dass Kalifornien das dufteste Fleck Erden auf der Welt sei, dem ist nicht mehr zu helfen.
Der Gedanke, dass auf eine derartig bizarre Art und Weise ein Hollywood-Mainstream-Western aus den 1940er beginnt, ist schon recht abwegig. Solche pastoral-religiösen Sinfonien kennt man vielleicht aus den späten Filmen Terrence Malicks (dort lediglich noch pathetischer und weniger „demokratisch“ in der Religiosität). Bemerkenswert ist auch: Kalifornien ist nicht nur ein gelobtes Land, sondern auch eine multikulturell-tolerante Utopie, in dem nicht nur WASPs, sondern auch jüdische und spanisch-sprachige Amerikaner Platz haben sollen...


Ein Treck geht gen Westen

... und daher ist es auch logisch, dass ganz viele Leute in dieses gelobte Land gehen möchten. Zum Beispiel ein Siedler-Treck, der von dem strengen Jonathan Trumbo geleitet wird: offensichtlich ein Mann der Pistole und wenigen Worte, der als Bodyguard der Siedler fungiert und dafür von ihnen bezahlt wird. Bei einem Zwischenstopp in der Stadt nimmt der Treck einen komischen Vogel mit: Lily Bishop, eine Frau, die gerade von gutgläubigen respektablen Damen (heute würden sie sich wohl als „besorgte Bürgerinnen“ bezeichnen) aus einem Saloon rausgeworfen wird, weil sie „sündig“ und „böse“ sei. Gegen den ausdrücklichen Widerstand Trumbos wird Lily von dem alten Farmer Michael Fabian in den Treck aufgenommen.
Farmer ist allerdings wohl nicht der adäquate Begriff: Fabian ist Winzer. Er trägt ein paar ausgetrocknete Stöcke mit sich, aus denen später Reben wachsen sollen. Trumbo glaubt nicht so recht daran, doch Fabian erklärt ihm in poetischen Worten, was seine Reben machen werden: „They catch the sun and save it, and then they let loose the warmth in the heart of a man when he drinks the wine.“
Die Wärme in Trumbos Herzen ist allerdings noch nicht so ersichtlich geworden, auch, wenn er ein paar ordentliche Schlücke Wein gut gebrauchen könnte. Er schnauzt die Neue, Lily, zunächst an, weil sie sich mit dem rationierten Wasser die Haare wäscht. Dabei kann sich Trumbo durchaus auf Seite der Mehrheit fühlen: die meisten Trecker haben den Rat der bes... gutgläubigen Frauen beherzigt und meiden Lily wie die Pest, kehren ihr den Rücken zu, sobald sie etwa bei den abendlichen Gesängen und Tänzen auftaucht. Nur der gute alte Fabian spricht gerne mit ihr und redet ihr gut zu („California will have a room for you!“). Nichtsdestotrotz gönnt sich Lily ihre eigene kleine Rache. Abends zockt sie die Trecker beim Kartenspiel ab, und schlägt dann auch Trumbo – nicht, ohne ihn mit einem kleinen „Trinkgeld“ (O-Ton: „grave money“) und einigen sarkastischen Bemerkungen wie einen Deppen dastehen zu lassen. Später kommt Trumbo in ihr Zelt. Irgendwie liegt sexuelle Spannung in der Luft und sie küssen sich. „Mehr“ wird er jedoch nicht bekommen, sagt sie ihm sarkastisch, worauf er ihr eine schallende Ohrfeige gibt – und hier passiert etwas, was man in einem Hollywood-Film der 1940er Jahre kaum erwarten würde: sie bleibt davon völlig unbeeindruckt, und Trumbo, der plötzlich wie ein bemitleidenswertes und hilfloses Würstchen wirkt, zieht dann sprachlos ab, während sie sich dann leicht amüsiert die Wange reibt. Ein Mann, der in vielen anderen Filmen der harte Macker wäre, wird in wenigen Minuten lächerlich gemacht, während eine Frau die Hose anhat – und zwar wortwörtlich.


Zunächst verachtet, verbannt und im roten Technicolor-Kleid...
...zieht Lily Bishop später wörtlich und metaphorisch Hosen an.

Die Stanwyck, die in einem flammend roten Kleid in den Film eingeführt wird (ergo: aus dem Saloon geschmissen wird) – trägt während der Treck-Fahrt eine Hose und ein Männerhemd und nimmt damit Joan Crawfords Aufmachung in JOHNNY GUITAR (wenngleich in weniger flamboyanten Farben) sowie ihr eigenes Kostüm als „high-riding woman with a whip“ in FORTY GUNS vorweg. Worin CALIFORNIA ebenfalls JOHNNY GUITAR einiges vorweg nimmt, ist die merkwürdige, extrem künstliche Farbgebung, die den Film über weite Strecken eher gemalt als fotografiert aussehen lässt. Bereits einige der pastoralen Bilder im Prolog sehen wie gemalte Studioattrappen aus – doch als der Treck vorangeht, sieht CALIFORNIA aus wie die künstliche Plastikwelt eines Nebenstudios aus (was er wohl auch war). Es ist ein Look, der durchaus kritisiert wurde und wird, die dem Film aber, wie ich finde, eine ungewöhnliche, sehr expressionistische Note gibt.
Manch ein Gestein mag nicht nur so aussehen, sondern fast schon nur durch den Anblick riechen wie Plastik – das ändert nichts daran, dass CALIFORNIA ein unglaublich gutes Gespür für seine Räumlichkeiten und den Platz seiner Figuren darin hat. So sehr, dass er über weite Strecken vollkommen auf Schnitte verzichtet. Dies ist ein Punkt, der wiederum FORTY GUNS in Erinnerung ruft, ein Western mit zwei rekordverdächtig langen Plansequenzen: die eine, bei der mehrere Figuren die Hauptstraße des Orts herunter- und dann wieder zurücklaufen, und die andere mit einem Dialog in einem Raum, der in eine Schießerei mündet und schließlich in den Selbstmord einer Nebenfigur in einem Nebenraum. CALIFORNIA hingegen, und das zehn Jahre vor FORTY GUNS, besteht fast nur aus mehr oder weniger langen Plansequenzen.


Trumbos langer Gang durch das Nachtlager – eine
vierminütige Plansequenz
Bei der Erstsichtung fielen mir zwei Stück besonders auf, doch bei der Zweitsichtung merkte ich erst, dass fast ausnahmslos jede Szene schnittlos gefilmt ist. Ein Bravourstück ist sicherlich die erste und ich glaube auch längste Plansequenz des Films. Der Treck begibt sich zur Nachtruhe und Trumbo dreht eine kleine Kontrollrunde: gibt dem einen Siedler Tipps bei der Reparatur des Rads, unterhält sich mit einem Jugendlichen, der selbstsicher (etwas zu selbstsicher sogar) mit einem Gewehr hantiert, schimpft Lily aus, weil sie sich mit Wasser die Haare gewaschen hat, unterhält sich mit Fabian über den Weinbau und äußert darüber sein Unverständnis, verfolgt dann das Gespräch zwischen Fabian und dem Trecker Pennock, der kein Farmer ist, sondern ein (leicht schmierig wirkender) Geschäftsmann. Die schnittlos über einen ganzen Treck und viele Dutzend Meter gefilmte Szene endet schließlich erst viereinhalb Minuten später (die gleich darauf folgende Szene ist mit knapp zweieinhalb Minuten zwar kürzer, aber ebenso schnittlos und kunstvoll choreografiert gefilmt). Einer der großen Verluste der Filmgeschichte ist sicherlich, dass Max Ophüls in seinem amerikanischen Exil keinen Western drehte. Einige wenige Momente in CALIFORNIA (wenn Lily etwa durch eine überfrachtete Ball-Terrasse rennt und die Kamera ihr dabei mit tänzelnder Leichtigkeit folgt) geben einem ein Gefühl davon, wie das hätte aussehen können.
So – noch nicht einmal 20 Minuten des Films sind vorbei, und schon weist er viele exzentrische Elemente auf: eine weibliche Hosenrolle in einem eigentlich „ultramännlichen“ Genre, eine multikulturelle Utopie in einem eigentlich „ultraamerikanischen“ Genre, eine Bevorzugung von kunstvoller mise-en-scène gegenüber konventionellen Schuss-Gegenschuss-Montagen, ein Dekor, das seine extreme Künstlichkeit stark betont, eine ausgefeilte und eher malerische als fotografische Farbdramaturgie, ein Bruch konventioneller Erzähldramaturgie mit dem „gelobten Land“-Prolog.
Und was machen wir mit den Namen? Zum Beispiel mit Jonathan Trumbo? Trumbo? Ein außergewöhnlicher Name, den man nicht so leicht vergisst – so etwa ein vorbei reitender Kapitän der Kavallerie, der Fabian etwas von einem Trumbo erzählt, der vor Jahren einmal desertiert ist (wie sich später herausstellt, war es eben dieser Trumbo, und diese Geschichte holt ihn dann am Ende auch ein). Und der geneigte Cinephile? Denkt natürlich an die große Nummer 1 unter den Hollywood Ten, Dalton Trumbo: das berühmteste Opfer der antikommunistischen Hexenjagd in Hollywood während der McCarthy-Ära. Bloß, dass CALIFORNIA im Januar 1947 seine Kinopremiere hatte, während die HUAC-Hexenjagd im Herbst dieses Jahres erst richtig losging. Ein Zufall also, allerdings der sehr interessanten Art: auch Jonathan Trumbo sieht sich mit politischen Intrigen konfrontiert, geführt von skrupellosen Leuten mit einem ganz undemokratischen Verständnis von Gesellschaft und Politik.
Und Michael Fabian? Ist das etwa eine Anspielung auf die Fabian Society, diese Gruppierung britischer Intellektueller, die ohne Revolution, sondern mit einem evolutionären Sozialismus die Gesellschaft ändern wollte und an der Gründung der Labour Party Anteil hatte? Fabian ist zwar kein Intellektueller, sondern voll und ganz ein Bauer (mit einer gleichwohl ungewöhnlichen Spezialisierung), aber irgendwie passt das: Fabian hält nichts von Hektik und überstürzten Entscheidungen. Er denkt nicht nur in wirtschaftlichen, sondern auch in politischen und sozialen Fragen wie ein Winzer: langsam und mit viel Geduld die Pflanzen wachsen lassen, sodass von dieser nachhaltigen Methode später viele etwas davon haben. Später im Film (und das muss nicht unbedingt als Widerspruch aufgefasst werden) entpuppt er sich als Vertreter einer agrarisch-linken Politik in der „Tradition“ der (gemäß der Chronologie des Films) späteren People‘s Party bzw. Populisten. Aber dazu später mehr.
Wo waren wir stehen geblieben. Ach ja: „The Book calls it Kanaan, but we call it California!“ sagt Fabian zu Lily über den Zielort des Trecks. Wer einen Treck-Western à la THE BIG TRAIL erwartet, wird aber enttäuscht, denn dem kommt der Kalifornische Goldrausch in die Quere!


Gold Rush

Dieser wird nun doch über eine Montage erzählt. Merkwürdig anzusehen ist er dennoch. Die Nachricht vom Goldfund in Kalifornien verwandelt einige der Trecker plötzlich in goldgierige, zombie-ähnliche Wesen, die vor der Kamera wie in Trance paradieren, während ein Chor pathetisch „Gold, Gold, Gold, Gold“ deklamiert. Nun: zumindest der film noir wäre ein schlagendes Argument gegen die Vorstellung, dass Filme aus dem Hollywood der 1940er Jahre eine „unsichtbare Regie“ pflegten. CALIFORNIA aber durchaus auch: etwas, was aussah wie ein Treck-Western, bekommt plötzlich sich aus dem Nichts eine andere Richtung mit einer Montage-Sequenz, die sehr betont expressiv und artifiziell ist.


Die Siedler fallen nach der Verkündung des Goldfundes in zombieartige Trance...

... und hinterlassen ein Trümmerfeld!

Der ganze Treck lässt panisch alles liegen und reitet auf Pferden ohne Wagen oder zumindest ohne Gepäck Richtung Kalifornien. So auch Lily, die sich zusammen mit Pennock auf dem Weg macht – was Trumbo ganz und gar nicht passt und weshalb er sich schlussendlich nicht bei ihr für die Ohrfeige entschuldigt. In der großen Panik bekommt Trumbo dann aber eine Peitsche ins Gesicht geschlagen und fällt von seinem hohen Pferd auf den Boden – etwas, was ihm Lily wenige Minuten im Film zuvor gewünscht hatte.
In einem Trümmerfeld aus liegen gelassenen Sachen bleiben also Trumbo mit starken Schulterschmerzen zurück und Fabian, der es eh nicht eilig hat, nach Kalifornien zu gehen, weil er sich aus Gold nichts macht und die Erde und die Sonne auch unabhängig von dem Goldvorkommen für seine Reben da sein werden. Er übernimmt die „Leitung“ des Zwei-Mann-Trecks: sprich, er pflegt Trumbo gesund. Zusammen brechen sie dann auf und erreichen die nächste Stadt. Fabian hat Trumbo darauf hingewiesen, dass die Verletzung mehrere Wochen zur Heilung bräuchte und so können wir annehmen, dass seit der überstürzten Auflösung des Trecks und der Ankunft der beiden mehrere Wochen vergangen sind.


Pharoah City – oder: Bambule in der Gangster-Stadt

In der nächsten Stadt angekommen, die den merkwürdigen Namen Pharaoh City trägt, möchte Fabian mit einem alten Bekannten anstoßen (und zwar mit seinem selbstgebrannten Brandy, den sein jüngerer Begleiter viel zu stark findet), während Trumbo in den nächsten Saloon geht, der merkwürdigerweise Lilys Namen trägt. Im Saloon trifft er den schmierigen Geschäftsmann des Trecks, Pennock, wieder und setzt sich mit ihm zum Trinken hin. Pennock weist Trumbo darauf hin, schnell zu bestellen, denn „sie“ möge es nicht, bei ihrem Auftritt gestört zu werden. Auftritt Lily, die auf die Bühne erscheint, dann nonchalant durch den Saloon läuft und dabei ein Lied singt, in dem sie  preist, was für ein toller Saloon doch Lilys Saloon sei, dass es toll sei, wie Goldgräber nach Gold suchen und ihre Beute dann bei ihr ausgeben, und dass ein respektables Mädchen bald heiraten wird. Auch bei Trumbo kommt sie vorbei und taxiert ihn mit einem sarkastischen Blick. Dann trifft dieser einen alten Kollegen des Treck, der lamentiert, wie schwierig es in Pharoah City sei, weil man für alles überteuerte Gebühren an einen gewissen Coffin zahlen müsse. Auftritt Pike, ein offensichtlich brutaler Schlägertyp in einer Marineuniform (!), der Trumbos Freund bedrängt, ihn dazu auffordert, zu schweigen und schließlich angreift. Trumbo schlägt dann zurück.


"Lily-i-Lily-i-oh": eine wunderbare Musical-Einlage innerhalb einer
langen Plansequenz
Bis zu Trumbos Schlag ist die gesamte Saloon-Szene, von Trumbos Eintreten in das Lokal, gefilmt im Saloon-Spiegel, über Lilys Auftritt bis zum Beginn der Schlägerei wieder in einer einzigen Plansequenz gefilmt worden. Filme, die heute so etwas mit unsichtbaren digitalen Schnitten machen können, werden heutzutage über den Klee gelobt und bekommen dann Oscars, während CALIFORNIA, in dem alles noch analog gemacht wurde, nach wie vor den Ruf eines B-Westerns hat, der einen auf epischen A-Film macht.
K.O. liegt nun Trumbo in Lilys Zimmer und kommt so langsam wieder zu sich. Sie speist ihn wieder mit einigen sarkastischen Worten ab und es entspinnt sich der folgende Dialog: „You talk awful big, like maybe you own the place.
– I do.
– Maybe I shouldn‘t ask how you got it.
– How do you think I got it?
– What I‘m thinking you wouldn‘t like.“
Lily ist also die rechtmäßige Saloon-Besitzerin. Andeutungsweise hat sie durch Prostitution bzw. dadurch, dass sie mit dem richtigen Mann ins Bett gegangen ist, Besitz erlangt. Der Dialog verläuft nicht ganz so wie in JOHNNY GUITAR, wo Vienna ihrem Johnny dann ins Gesicht sagt, dass sich Frauen im Gegensatz zu Männern niemals wieder reinwaschen können, wenn sie nicht ganz astreine Dinge gemacht haben, egal, wie vermögend sie inzwischen geworden sind.
Jedenfalls scheint es so, dass Lily in ihren neuen Besitz dank der Gnade eines mächtigen Herren gekommen ist, und dieser taucht dann auch auf: ein Mann in einem marineblauen Anzug namens Pharaoh Coffin (sic!). Ein Name der für sich spricht: wie ein ägyptischer Pharao herrscht er autokratisch kraft seines Reichtums über seine persönliche Stadt, presst armen Siedlern das letzte Geld durch überteuerte Pachten und Wassergebühren ab, enteignet sie nach Gutdünken. Ein echter Gangster, der seinem Nachnamen alle Ehre macht, wenn es um die Methoden geht – wer nicht gefügig ist, wird von Pike und Coffins anderen Schlägern verprügelt oder reif für den Sarg gemacht.


Trumbo konfrontiert Coffin mit seiner Vergangenheit
als Sklavenhändler
Trumbo erinnert sich jedenfalls schnell an Coffin, nachdem er die Miniatur eines Schiffs namens „Congo Queen“ in dem Zimmer gesehen hat: Coffin war einst der berüchtigte Kapitän eines Sklavenschiffs. Seinen Reichtum verdankt er dem Sklavenhandel, und – Trumbo sagt es ihm explizit – für seine Taten kann er nicht zur Verantwortung gezogen werden, weil Sklaven nicht als Menschen gelten. Nun: in wenigen Minuten (wenn ich es richtig sehe: wieder komplett ohne Schnitt) eröffnet CALIFORNIA einen kleinen Diskurs darüber, wie es denn nun zu bewerten sei, dass Frauen, die durch Prostitution zu Reichtum gekommen sind, als anrüchig gelten und darüber, dass ein Teil des Reichtums der USA auf einem Massenverbrechen, der Sklaverei, beruht – und die entsprechenden Vermögenden größtenteils als anständige und respektable Bürger gelten. Wir sprechen hier übrigens immer noch von einem eher vergessenen Mainstream-Western aus den 1940er Jahren, und nicht von einem „revisionitischen“ Italo- oder New-Hollywood-Western der 1960er Jahre.
Nun: später im Film kommt heraus, dass Lily den Saloon tatsächlich mit ihren ganz persönlichen Ersparnissen hochgezogen hat. Vielleicht war ausser Prostitution auch ein bisschen professionelle Spielerei dabei. Jedenfalls verdankt sie ihren Saloon nur sich selbst. Als sie ihn verliert (sie verzockt ihn beim Kartenspiel an Trumbo!), geht sie zu Coffin und bereitet sich darauf vor, seine Frau zu werden. Nach einer ruhigen und gutbürgerlichen Ehe sehnte sie sich schon lange, aber so ganz wohl ist ihr dabei nicht. Mit Ottonormalverbrauchern für Geld ins Bett zu gehen erscheint rückblickend dann doch plötzlich moralischer als eine sexfreie Ehe mit einem skrupellosen Gangster  und Verbrecher einzugehen. Das spürt Lily irgendwann während des weiteren Verlaufs, und der Film steht da ganz auf ihrer Seite.
Ich habe hier schon ein wenig vorgegriffen. Nach der Szene zwischen Lily, Coffin und Trumbo kehrt dieser erst einmal zu den Goldsuchern seines Trecks zurück. Da gibt es einen Scharmützel mit Coffins Schlägern. Einer der Goldsucher wirft eine Bombe auf einen kleinen Flussdamm und wird erschossen. Danach kehrt Trumbo in den Saloon Lilys zurück, wo er ihn beim Kartenspiel gegen Lily gewinnt. Lily zieht in Coffins Hacienda ein und Trumbo wird als Saloon-Besitzer von Coffin „hofiert“, damit er ihn verkauft: zunächst mit Geld, dann mit Schlägen und Tritten. Provisorischer Abgang des halbtot geprügelten Trumbo.


So prunkvoll wie verrottet: die Hacienda des Pharao(-Sarges)

Der nächste Teil von CALIFORNIA spielt in der Hacienda des Pharaoh Coffin. Dort sind alle guter Stimmung. Offiziell liegt es daran, dass die Verlobung Pharaoh Coffins mit Lily gefeiert wird. Alles, was in Kalifornien Rang und Namen und vor allem einen gut gefüllten Geldbeutel hat, ist auf die Coffin-Hacienda eingeladen worden. Hinter den Kulissen jedoch spielt sich etwas anderes ab. Während auf der Terrasse getanzt, getrunken und gefeiert wird, zieht sich Coffin mit seinen Geldbeutel-Kumpels in ein Hinterzimmer zurück, um dort über die Zukunft Kaliforniens zu entscheiden. Der Entschluss steht fest: Kaliforniens soll auf keinen Fall ein Teil der Union werden, denn dann würden Recht und Ordnung einkehren und es erschweren, sich auf so schamlose und kriminelle Art zu bereichern. Falls die politischen Entwicklungen doch dazu führen, dass Kalifornien Teil der Union wird, müsse mit Waffengewalt dagegen vorgegangen werden. Da sind sich alle einig bis auf Don Luis Rivera y Hernandez, der den Beitritt Kaliforniens zu den USA zwar nicht befürwortet, allerdings sich weder gegen demokratische Entscheidungen stellen noch Blut vergießen möchte.
Trotzdem: damit, klar wird, dass das alles keine heiße Luft ist, lädt Coffin die feine Gesellschaft in die Kapelle der Hacienda ein, wo in einem kleinen Hinterzimmer ein Waffenbunker lagert. Die Besichtigung der Waffensammlung stürzt Don Luis in noch größere Zweifel – und wurde mit interessiertem Blick von Trumbo beobachtet, der sich als ungeladener Gast in die Feierlichkeit geschlichen hat, um Coffin aus Rache für die lebensbedrohliche Prügel zu töten.


Vordergründig mag auf Coffins Hacienda alles goldig glitzern...
...in den Hinterzimmern wird jedoch ein Putsch vorbereitet.
Es war zwar schon angedeutet in dem vorherigen Teil des Films: „robber barons“, die wie Gangster ganze Landstriche unter ihre Kontrolle bringen und dabei nicht nur die sozialen und wirtschaftlichen Rechte eines großen Teils der Bevölkerung, sondern jegliche republikanische, demokratische Gepflogenheiten mit Füßen treten – ein Schuss Kapitalismuskritik, der wohl den meisten Zeitgenossen nicht wirklich aufgefallen ist, weil CALIFORNIA schließlich nur ein „kleiner“ Western war. Doch in der Hacienda wird aus einem Nebenaspekt geradezu der Hauptplot – und so hat sich dieser Film, der wie eine Screwball-Komödien-artige Auseinandersetzung eines gegensätzlichen Paars auf einem Siedler-Treck angefangen hat, zu einer Art linken Polit-Thriller entwickelt. Das allerdings „nur“ 20 Jahre, bevor einige Italo-Westerns sich in den späten 1960er Jahren in linke, 68er-beeinflusste Proto-Polizieschi wandelten.

Der ehemalige Sklavenhändler wird von paranoiden
Halluzinationen ergriffen.
Skeptisch im Hintergrund: Lily und die heilige Mutter Gottes
Den Aspekt, dass so einige Reichtümer in den USA der Sklaverei zu verdanken sind, hat CALIFORNIA aber nicht aus den Augen verloren. In der ersten Szene, die in der Hacienda spielt, reagiert Coffin plötzlich vollkommen aufgeregt und überzogen auf das Geräusch einer Türklingel – ein merkwürdiges Verhalten, das nicht weiter erklärt wird. Später befindet er sich in der Kapelle (wo der Waffenbunker ist). Seine Verlobte Lily ist dazu gekommen. Sie unterhalten sich, bis sich Coffin plötzlich aus heiterem Himmel aus dem Gespräch ausklinkt. Er hat ein Geräusch gehört und fängt an, wie im Fieberwahn sich umherzusehen. Lily beruhigt ihn: das seien nur Äste im Wind gewesen. „You know for a moment it sounded just like... – naked feet... shuffling across the deck.“ Der ehemalige Kapitän eines Sklavenschiffs, der an posttraumatischen Beschwerden leidet und zwischendurch, offenbar von paranoiden Halluzinationen ergriffen, unverständliches Zeugs brabbelt und sich völlig erratisch benimmt... Nur falls jemand den Faden gerade verloren hat: wir reden hier immer noch von einem Hollywood-Western aus den späten 1940er Jahren, also einem Film, der wahrscheinlich nicht nur in New York und Los Angeles, sondern vielleicht auch in den amerikanischen Südstaaten gezeigt wurde. Wer weiß, vielleicht auch in den Kinos von Florence, Alabama, die von Jonathan Rosenbaums Großvater betrieben wurden. Wie wohl nichtsahnende Kinobesucher in den rassengetrennten Südstaaten CALIFORNIA sahen und wahrnahmen?
Wir waren stehen geblieben bei Trumbo, der sich auf die Hacienda eingeschlichen hat, um Coffin zu töten. Das überlegt er sich dann anders – ein heimliches Gespräch mit Lily trägt auch dazu bei – und reitet dann zu dem Regiment zurück, aus dem er einst desertierte. Dort wollen sie ihn eigentlich an die Wand stellen, oder zumindest einsperren, aber Trumbo möchte seine Freiheit gegen die Informationen über Coffin eintauschen. Ihm wird vorgeschlagen, Coffin politisch zu brechen, um dann zu schauen, ob er sich erhebt – dann würde die Kavallerie eingreifen. Zum politischen Kongress, der über die Zukunft Kaliforniens entscheiden wird, sollen Delegierte gewählt werden – natürlich hat sich Coffin als Kandidat aufgestellt und hält sich bereits für gewählt. Trumbo soll einen Gegenkandidaten organisieren – nach dem Kongress soll er sich bei der Kavallerie wieder melden und darf dann mit Strafminderung rechnen. Gesagt, getan.


Sozialist vs. Kaiser – ein dreckiger Wahlkampf auf dem staubigen Boden des gelobten Landes

Der geeignete Kandidat ist in den Augen Trumbos natürlich der weise, überlegte, ruhige und volksnahe Winzer Michael Fabian. Außer er selbst finden das ganz viele Leute eine tolle Idee – wer soll sich schließlich um seine Reben kümmern? – aber schließlich lässt sich der alte Mann doch überreden.
Hier folgt eine große Ellipse: die Vorbereitung und Durchführung der Wahl wird in einer raschen Montage abgehandelt (es gibt Wahlplakate, und wenn Fabian-Anhänger ihres aufhängen wollen, werden sie von Coffins Leuten verprügelt). Dann folgt eine Bildtafel „Colton Hall, Monterey“ und schon sind wird da. Hier nimmt CALIFORNIA wieder FORTY GUNS wieder vorweg: ein Western, dessen Erzählfluss zwischendurch immer wieder an unerwarteten Stellen durch Ellipsen unterbrochen, vor allem aber dynamisiert wird. In den USA sorgte FORTY GUNS mit diesem „brutal handling of the narrative“ (O-Ton IMDb) für Verwirrung und Unverständnis. In Frankreich wurde dies von den Redakteuren der cahiers du cinéma hingegen mit Bewunderung gesehen und später nachgeahmt. Nun: CALIFORNIA hat so etwas schon zehn Jahre zuvor in einem Western gemacht, wenngleich noch mit einer kleinen Übergangsmontage. 1950 kam CALIFORNIA in Japan in die Kinos, wo Ozu bereits komplette Handlungsstränge auf noch radikalere Weise ausließ, weil er sich mehr dafür interessierte, wie Menschen auf Ereignisse reagieren, nicht für das Äußere der Ereignisse selbst. Heute, in Zeiten des Siegeszugs sogenannter „Qualitätsserien“ (einer der Redakteure der cahiers wird sich wohl im Grab umdrehen), gilt so etwas wohl wieder als Schwäche. Oder (vielleicht nicht nur für mich) als Beweis dafür, dass der Ultra-Minimalist Ozu bis heute ungebrochen ein radikaler Avantgardist bleibt – und dass „abseitige“ und „kleine“ Hollywood-Filme aus den 1940er und 1950er Jahren immer wieder für verblüffende Überraschungen gut sind. Aber ich schweife wieder ab...


Fabian als pro-kalifornischer und pro-Unions-Delegierter: im schicken
Anzug erscheint eine gewisse (wohl nicht unintendierte?) Ähnlichkeit
zu Lincoln durch.
... und trotz Gewalt beim Wahlkampf hat tatsächlich Michael Fabian den eigentlich sicheren Delegiertenposten Pharaoh Coffins gewonnen. Ein gefährlicher Sieg: Fabian wird zunächst von Lily gewarnt, nicht auf dem Kongress zu sprechen, weil sein Leben in Gefahr sei. In der Bar der Kongress-Halle wird hingegen Trumbo von Don Luis angesprochen. Der ist schon etwas betrunken, weil er die politischen Intrigen seiner Großbesitzer-Kollegen nicht mit seinem Gewissen vereinbaren kann und teilt Trumbo mit, dass sich Fabian vorsehen sollte. Als Trumbo dann weggeht, wird Don Luis von Pennock, der ja mittlerweile zu Coffins Vertrauten gehört, angesprochen – später wird der spanisch-stämmige Adelige (von Anthony Quinn übrigens selbst betrunken wunderbar als außerordentlich würdiger Mann dargestellt – eine hispanische adelige Figur dürfte eine weitere exzentrische Note für diese Zeit sein) ermordet in seinem Zimmer aufgefunden. Vorher warnt nun auch Trumbo den frisch gewählten Delegierten Fabian, der sich trotz Drohungen nicht davon abhalten lassen möchte, für den Beitritt Kaliforniens zur Union zu plädieren – er sei schließlich seinen Wählern gegenüber verantwortlich.
Auf dem Kongress schließlich: ein anderer Delegierter, der Coffin nahe steht, warnt vor einem überstürztem Eintritt Kaliforniens in die Union. Kalifornien solle sich lieber erst einmal als freies Kaiserreich... ähm... als freie Republik entfalten. Danach hält Fabian seine Rede und entlarvt die Absichten seines Vorgänger mit dem Hinweis auf seinen kleinen sprachlichen Lapsus. Dann plädiert er dafür, dass Kalifornien Teil der Union und damit des großartigsten Landes der Welt werde. Unter Applaus will Fabian hinaustreten, doch am Eingang wartet Pennock mit gezogener Pistole auf ihn. Der Anschlag auf Fabian misslingt: Trumbo erschießt Pennock, allerdings erst, nachdem dieser einen von Fabians Helfern getötet hat, der sich als Schutzschild vor dem Delegierten geworfen hat.
Mit einem misslungenen Anschlag hat sich Coffin bei seinen Kollegen unbeliebt gemacht, die ihn nun gerne sich selbst überlassen. Ihm ist es einerlei, und er lässt dann Fabian trotzdem noch ermorden, nachdem dieser zu seinen Reben zurückgekehrt ist. Das ganze passiert vor den Augen Lilys, die dann schnurstracks zu Coffin zurückkehrt. Bevor sie ihn allerdings erschießen kann, wird sie vom wachsamen Pike K. O. geschlagen (was ihm wiederum Coffins Zorn einbringt).


Paranoia und Tod in der Hacienda

Auch Trumbo kennt nun kein Halten mehr. Zusammen mit anderen Siedlern macht er sich auf dem Weg zu Coffins Hacienda und stürmt sie. Um zu Coffin zu gelangen, muss Trumbo zunächst an Pike vorbei. Bei der Auseinandersetzung ergibt sich, dass sie beide nicht mit Pistolen duellieren können, sondern mit Messern aufeinander losgehen müssen. Ein Messer-Duell also – wie vieles in dem Film wird zumindest der zweite Teil der Auseinandersetzung in einer einzigen schnittlosen Sequenz gefilmt. Das fügt sich nicht nur in den Stil des Films ein, sondern gibt ihr auch eine große Authentizität: keine schnellen Schnitte, die Stunt-Doubles kaschieren, sondern Ray Milland und Albert Dekker, die die Szene zusammen in echt choreographieren (natürlich sicherlich mit Messer-Attrappen).


Ein Endkampf mit Messern
Mit seinen paranoiden Halluzinationen "verpasst" Coffin hingegen fast
den Showdown
Nachdem Trumbo Pike besiegt hat, geht er ohne Schusswaffe zur Konfrontation mit Coffin. Der hat allerdings gerade offensichtlich anderes zu tun. Er, der sich immer gefürchtet hat, dass die Sklaven auf seinem Schiff ihre Ketten brechen, um ihn zu ermorden, ist im Angesicht des Angriffs auf die Hacienda völlig umnachtet. Er sieht sich von freigelassenen Sklaven umzingelt und verdächtigt Pike, der seine geliebte Lily K. O. geschlagen hat, die Schwarzen befreit zu haben. Delierierend und vollkommen paranoid wandelt er brabbelnd durch sein Arbeitszimmer. Trumbo schleicht sich heran, wird aber von Coffin entdeckt – allerdings in dessen Wahn mit Pike verwechselt. Es kracht ein Schuss und Pharaoh sinkt nieder: Lily, von ihrer Ohnmacht erwacht, hat ihn aus dem Hintergrund erschossen.
Am Ende stehen nun Lily und Trumbo vor dem Grab Fabians, im Hintergrund dessen Reben. Nach dieser ereignisvollen Geschichte können sie sich ihre gegenseitige Liebe eingestehen, doch daraus wird unmittelbar erst einmal nichts. Trumbo wird nämlich zur Kavallerie zurückgehen und die (geminderte) Strafe für seine Desertion antreten: ein, vielleicht zwei Jahre. Sie wird jedenfalls Michael Fabians Reben pflegen und auf ihn warten. Trumbo reitet weg...


Eine aufgeschobene Liebe – oder: dramatisches Ende zwischen Rebstöcken
Das Ende von CALIFORNIA erinnerte mich spontan ein wenig an Paul Schraders LIGHT SLEEPER, ein Film, an dessen Ende ebenfalls ein Liebespaar zusammenfindet, das aber erst einmal warten muss, bis er seine Gefängnisstrafe abgesessen hat. Doch vor allem lädt das Ende dazu ein, es ein bisschen weiter zu spinnen.
Klassisch ginge das so: Lily wird erfolgreiche Winzerin und hat schon ein schönes Weinunternehmen aufgebaut, als Trumbo nach sechs Monaten (wegen guter Führung vorzeitig entlassen) zurückkehrt – und dann leben sie glücklich bis ans Ende ihrer Tage. Doch CALIFORNIA ist kein „klassischer“ Western, wie ich vielleicht ein wenig deutlich machen könnte. Vielleicht geht das ganze auch so weiter:


Nach dem Ende, no. 1: Lily benennt sich nach der Kaiserstadt
Da Lily keine professionelle Winzerin ist, gehen die Reben gnadenlos ein. Weil Trumbo auch nicht zurückkommt, kehrt sie zu ihrem alten Beruf unter einem neuen Namen (wie wäre es mit „Vienna“) zurück und spart sich da wieder so ein großes Vermögen an. In einem Wüstenkaff eröffnet sie dann ihr Saloon, hat eine Affäre mit einem lokalen Kleinkriminellen und fängt sich dann als Außenseiterin Probleme mit den „besorgten Bürgern“ ihrer Stadt ein. Ihrer Neigung, Hose und Hemd zu tragen, geht sie immer noch nach, hat allerdings mittlerweile Geschmack an flamboyanteren Farben gefunden.
Trumbo hingegen geht nach seiner Entlassung auf dem Weg zu Lily verloren, weil ihn vielleicht die restlichen Schergen von Coffin verfolgen. Er entkommt ihnen, und wandert fortan unter neuem Namen (vielleicht „Johnny Logan“) durch die Gegend, mutiert zum Gitarren-spielenden Pazifisten (und wird so „Johnny Guitar“) bis er dann in einem Wüstenkaff, das von „besorgten Bürgern“ terrorisiert wird, seine alte Flamme wieder findet.
Oder kurz: man kann sich CALIFORNIA sehr gut als Prequel zu JOHNNY GUITAR vorstellen. Da stimmen zwar die Darsteller nicht wirklich überein, aber expressive Farbgebung und fieberhafte Atmosphäre von CALIFORNIA geht schon in Richtung von Nicholas Rays meisterhaftem Western.

Wie Vienna und Jessica mag es auch Lily, in großen, barocken Räumen Klavier zu spielen.

Nach dem Ende, no. 2: Lily findet Geschmack an Peitschen
Da Lily keine professionelle Winzerin ist, gehen die Reben gnadenlos ein. Deshalb sattelt sie auf ein klassischeres Geschäft um: Land und Vieh. Durch Talent, Härte und Glück avanciert sie zu einer mächtigen Großgrundbesitzerin, heuert sich eine kleine vierzig-köpfige Privatarmee an und bestimmt mit ihr die Politik der Region. Jahre später kommen dann drei Brüder in die Stadt und fordern ihre Macht heraus. Trumbo hingegen ward nie wieder gesehen...
Oder kurz: man kann sich CALIFORNIA sehr gut als Prequel zu FORTY GUNS vorstellen. Zumindest eine wichtige Personalie bleibt erhalten, nämlich die unvergleichliche und göttliche Barbara Stanwyck. Sie hat die außergewöhnliche Lily Bishop als 40-Jährige bereits wunderbar gespielt – zehn Jahre später spielte sie mit 50 Jahren die wohl bizarrste Viehbaronin der Westerngeschichte und ihre vielleicht schönste Rolle.


And the auteurship goes to...

À propos Personalie: wem verdanken wir eigentlich CALIFORNIA? Als gemäßigter Anhänger der Autorenpolitik würde es für mich auf der Hand liegen, John Farrow die Blumen zu überreichen. Doch irgendwie will es mir nicht in den Kopf, dass der Regisseur des schrecklich konventionellen und eher langweiligen noir-angehauchten Thriller THE BIG CLOCK (1948) nur ein Jahr zuvor einen so ungewöhnlichen Film wie CALIFORNIA gedreht hatte. Auf eine eigene Weise war aber Farrow tatsächlich ungewöhnlicher Mensch. Der gebürtige Australier kam in den 1920er Jahren nach Hollywood und arbeitete dort zunächst als Drehbuchschreiber. Bereits vorher hatte er Gedichte sowie Kurzgeschichten veröffentlicht und sich als eigenständiger Autor einen Namen gemacht. 1936 heiratete er die Schauspielerin Maureen O‘Sullivan. Das Paar war bis zu Farrows Tod 1963 verheiratet und bekam sieben Kinder. Die vier Töchter wurden alle Schauspielerinnen und die 1945 geborene Mia übertraf später ihren Vater an Berühmtheit.
Bis er sich allerdings eigenständig in Hollywood etablierte, dauerte es einige Zeit, denn 1933 wurde er, als gebürtiger Australier, verhaftet, weil er bei seiner Immigration in die USA falsche Angaben gemacht hatte. Seine drohende Abschiebung wurde auf Bewährung ausgesetzt. Seinen ersten „abendfüllenden“ Film, MEN IN EXILE, drehte er 1937. Nach einigen Filmen für RKO meldete er sich freiwillig zum Kriegsdienst und zwar in Kanada, wo er der Marine zugeteilt wurde. Später verfasste er ein Sachbuch über die Geschichte der kanadischen Marine. Aus seinen Erfahrungen heraus galt er wohl als der ideale Mann für Kriegsfilme, und so inszenierte er in den 1940er (während seines Fronturlaubs?) mehrere Kriegs- und Armeefilme: WAKE ISLAND (für den er 1942 als bester Regisseur für den Oscar nominiert wurde), COMMANDOS STRIKE AT DAWN, CHINA und YOU CAME ALONG. 1944 drehte er mit Bobby Watson, dem Filmschauspieler, der am öftesten Hitler darstellte, THE HITLER GANG. Nach dem Krieg inszenierte Farrow nicht nur den wunderbaren CALIFORNIA, sondern auch andere Westerns: COPPER CANYON (wieder mit Ray Milland), RIDE VAQUERO! (wieder mit Anthony Quinn), den 3-D-Western HONDO mit John Wayne. Wie es um die Exzentrizität und Außergewöhnlichkeit dieser Filme bestellt ist, kann ich nicht beurteilen. Farrow drehte auch mehrere Thriller / films noirs: THE BIG CLOCK, den ich gesehen habe, ließ mich wie bereits erwähnt kalt. Farrow war außerdem der erste Regisseur von AROUND THE DAY IN EIGHTY DAYS, wurde aber kurz nach Drehbeginn vom Produzenten gefeuert und durch Michael Anderson ersetzt – bekam aber trotzdem als einer von drei Autoren den Oscar für das beste adaptierte Drehbuch.
Eine späte Ehrung für einen Mann, der viele Interessen hatte, die mit Kino nur bedingt etwas zu tun hatten. Er verfasste nicht nur vor seiner Hollywood-Karriere, sondern auch zwischen seinen Filmen mehrere Bücher (oder drehte er Filme zwischen seinen Büchern?). So war an der Edition eines englisch-französisch-tahitianischen Lexikons beteiligt, schrieb eine Biographie des Pater Damien (ein katholischer Priester, der sich um Lepra-Kranke auf Hawaii kümmerte), eine Geschichte des Papsttums, eine Geschichte der kanadischen Marine in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und eine Biographie des Renaissance-Philosophen Thomas More, dem Autor des Buches „Utopia“. Auf eine gewisse Weise war Farrow also durchaus ein Exzentriker – vielleicht doch der ideale Mann für einen Film wie CALIFORNIA? Sind die sakralen Bezüge (z. B. im Prolog) und die Nebenfiguren der Seefahrt also kleine persönliche Farrow-Akzente?

Nicht weniger erwähnenswert ist der director of photography Ray Rennahan: ein Mann, der aus dem Stummfilm kam und bereits in den 1920er Jahren mit Farbe experimentierte. So war er für Erich von Stroheims THE MERRY WIDOW und THE WEDDING MARCH sowie für Cecil B. DeMilles THE TEN COMMANDMENTS (also die Version von 1923!) für die Farbszenen zuständig. Besonders als Spezialist für Farbfotografie wurde er in den 1930er bis 1950er Jahren für namhafte Filme als director of photography, oder aber zumindest als technischer Berater für Farbfotografie und Spezialist für Technicolor engagiert: er war beteiligt an so unterschiedlichen Filmen wie GONE WITH THE WIND, DRUMS ALONG THE MOHAWK, FOR WHOM THE BELL TOLLS und DUEL IN THE SUN – letzterer aufgrund seines sexuellen Inhalts, seiner flamboyanten Farbdramaturgie und seines opernhaften Pathos möglicherweise ebenso ein Kandidat für eine Liste exzentrischer Westerns. DUEL IN THE SUN findet sich zwar nicht auf Rosenbaums Liste, aber ein anderer Film, den Rennahan (allerdings in Schwarzweiß) fotografierte, nämlich TERROR IN A TEXAS TOWN von Joseph H. Lewis, geschrieben von Dalton Trumbo – ein antikapitalistischer Western, in dem die Hauptfigur ein schwedischer Walfischer ist (gespielt von Sterling Hayden), der nicht mit einer Pistole, sondern mit einer Walharpune bewaffnet ist und damit auch Duelle bestreitet (kein schlechter Film, aber das liest sich besser, als es sich letztendlich sehen lässt).
Um es also kurz zu sagen: dass CALIFORNIA von einem der profiliertesten Kameramänner Hollywoods und größten Spezialisten für Farbfotografie in der Filmindustrie gefilmt wurde, sieht man ihm recht deutlich an.

CALIFORNIA ist oft weniger fotografiert als vielmehr gemalt
CALIFORNIA ist kürzlich in Deutschland auf DVD und Blu-ray in der Western-Legenden-Edition von Koch Media erschienen. Über die Qualität der Edition möchte ich mir kein definitives Urteil erlauben, denn ich habe ihn auf einem Presse-Screener gesehen (den ich zur Besprechung des Films in einem Printmagazin erhalten habe) – zwar ohne Wasserzeichen und in inhaltsgenauer Kopie des Endprodukts, aber vielleicht in einer etwas schlechteren Qualität auf diesem. Ob deshalb manchmal Farbe aus den Rändern der Figuren geradezu auszulaufen scheint oder dies so von den Machern bzw. Ray Rennahan vorgesehen war, kann ich deshalb nicht beurteilen. Der Film ist auch in einer spanischen und einer US-amerikanischen DVD-Edition erhältlich (letzteres allerdings nur mit drei anderen Westerns in einem „Viererpack“, der nicht besonders hochwertig aussieht).

Und sie dreht sich doch!

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Kurze und höchst unvollständige Geschichte der rotierenden Raumstation

Die Hauptdarstellerin betritt die große Bühne (Collier's, 22. März 1952,
Illustration Chesley Bonestell nach Vorlagen von Wernher von Braun)
Kürzlich lief wieder einmal Stanley Kubricks epochaler 2001: A SPACE ODYSSEY im Fernsehen. Darin gibt es bekanntlich eine riesige Raumstation in Form eines rotierenden Rades. Genau betrachtet sind es eigentlich zwei Räder, die durch ihre gemeinsame Achse miteinander verbunden sind, und von denen eines noch im Bau befindlich ist, aber auf diesen feinen Unterschied soll es hier nicht ankommen. Die Rotation dient natürlich dazu, durch die Zentrifugalkraft eine Art von künstlicher Schwerkraft im äußeren Bereich der Station zu erzeugen. Die heutige Raumstaion ISS sieht aber ganz anders aus, ist viel kleiner, und vor allem rotiert sie nicht (abgesehen von einem sehr kleinen Betrag, der dazu führt, dass die Station der Erde immer dieselbe Seite zuwendet), und das galt auch für alle ihre Vorgänger (Skylab, die Saljut-Stationen, Mir). Es gab also nie ein reales Gegenstück zum Design der rotierenden Station in 2001: A SPACE ODYSSEY. Haben somit Kubrick und sein Co-Autor Arthur C. Clarke dieses Konzept erfunden? Kenner der Materie wissen natürlich, dass das nicht der Fall ist.

2001: A SPACE ODYSSEY
In diesem Zusammenhang wird gern der Name Pawel Kluschanzew genannt. Im Film DER WEG ZU DEN STERNEN (DOROGA K ZVEZDAM) von 1957 zeigte dieser russische Regisseur ebenfalls eine ringförmige rotierende Raumstation. DER WEG ZU DEN STERNEN ist kein Spielfilm, sondern eine 50-minütige populärwissenschaftliche Dokumentation mit eingestreuten Spielszenen. Neben einer Rückschau, in der der russische Raumfahrtpionier Konstantin Ziolkowski im Mittelpunkt steht, geht es vor allem um die nähere Zukunft der bemannten Raumfahrt, wie sie sich 1957 (im Jahr des Sputnik) aus sowjetischer Sicht darstellte. Kluschanzew hatte dazu den führenden Raumfahrtkonstrukteur Michail Tichonrawow und weitere Experten als Berater. Es wurde gelegentlich auf die Ähnlichkeit gewisser Szenen in DER WEG ZU DEN STERNEN und 2001: A SPACE ODYSSEY hingewiesen, z.B. in diesem Artikel von Mark Wade, Autor der Encyclopedia Astronautica. Hat Kubrick womöglich bei Kluschanzew geklaut? Ich will hier nicht auf die Innenausstattung der jeweiligen Raumstation und auf Details einzelner Szenen eingehen - mir geht es hier nur um die äußere Form der Stationen und um die Rotation. Und hier bekommt Kubrick einen Freispruch erster Klasse, denn das Konzept war schon Jahre vor DER WEG ZU DEN STERNEN in der amerikanischen Populärkultur verankert, und in der theoretischen Raumfahrtliteratur existierte es noch viel länger.

DER WEG ZU DEN STERNEN - es rotiert nur der torusförmige Teil der Station; links unten ist ein Mondraumschiff angedockt
Schon Ziolkowski schrieb 1903, dass man im Weltraum durch Rotation künstliche Schwerkraft erzeugen kann. Das erste konkrete Konzept eines ringförmigen rotierenden Raumflugkörpers legte der österreichisch-slowenische Ingenieur Herman Potočnik vor, in seinem Buch Das Problem der Befahrung des Weltraums - Der Raketenmotor, das er 1928 unter dem Pseudonym Hermann Noordung veröffentlichte. In das allgemeine Bewusstsein ist dieses Werk nicht vorgedrungen - dafür war die Zeit noch nicht reif, und Potočnik selbst konnte durch seinen frühen Tod 1929 auch nicht viel zur Popularisierung seiner Ideen beitragen. Aufmerksam gelesen wurde sein Werk aber von den Mitgliedern des in Berlin ansässigen Vereins für Raumschiffahrt (VfR), in dem sich Wissenschaftler, Techniker und Enthusiasten wie Hermann Oberth, Walter Hohmann, Rudolf Nebel und Max Valier versammelt hatten. Mitglied im VfR war auch der damals noch recht junge Wernher von Braun, der somit um 1930 herum mit Potočniks Ideen in Berührung kam.

Skizze aus Das Problem der Befahrung des Weltraums - Der Raketenmotor von Herman Potočnik
(Quelle: Wikipedia)
Zeitsprung rund 20 Jahre in die Zukunft: Wernher von Braun hat jetzt schon eine Karriere als Chefentwickler der "Wunderwaffe" V2 (und in diesem Zusammenhang als Sturmbannführer der SS) hinter sich, und nun ist er als "Beutewissenschaftler" in den USA. Nach einem fünfjährigen Aufenthalt in Fort Bliss bei El Paso (Texas), der anfangs noch den Charakter einer Internierung trägt, übersiedelt er mit seinem Team (darunter viele alte Kollegen aus Peenemünde) nach Huntsville (Alabama), wo er ziviler Chefwissenschaftler in einer Raketenentwicklungsabteilung der US Army wird. Doch von Braun ist mit seiner Situation nicht zufrieden. Denn sein eigentliches Ziel ist von jeher die bemannte Raumfahrt, und davon will die damalige US-Regierung nichts wissen. Statt Flausen über Raumstationen und Flüge zum Mond und zum Mars will man von ihm atomar bestückbare Mittelstrecken- und Interkontinentalraketen, um den neuen Erzfeind Sowjetunion in Schach zu halten, und der Ausbruch des Koreakriegs 1950 hat diese Position noch zementiert. Doch von Braun ist nicht gewillt, das hinzunehmen, und er geht in die PR-Offensive.

2001: A SPACE ODYSSEY
Ebenso wie der mit ihm befreundete Publizist Willy Ley, der auch schon Mitglied im VfR gewesen war (der aber durch seine Emigration 1935 Nazi-Verstrickungen entging), schrieb von Braun allgemeinverständliche Bücher, mit denen er die Raumfahrt (und insbesondere die bemannte Raumfahrt) popularisieren wollte. Entscheidend wurde aber vor allem eine Artikelserie mit dem Titel Man Will Conquer Space Soon! (ja, das Soon war unterstrichen), die von März 1952 bis April 1954 in acht Ausgaben der Zeitschrift Collier's erschien, und die ungeahnte Breitenwirkung entfaltete. Wernher von Braun, Willy Ley und der Harvard-Astronom Fred Whipple waren die Hauptautoren, auch der in der Luft- und Raumfahrtmedizin tätige Physiker Heinz Haber (der später bei uns durch seine Wissenschaftssendungen in ARD und ZDF bekannt wurde) und andere trugen Artikel bei. Redaktionell betreut wurde die Serie von dem Schriftsteller und Journalisten Cornelius Ryan, damals Mitherausgeber von Collier's (Ryan schrieb auch die Buchvorlage zu THE LONGEST DAY über die Invasion in der Normandie). Ein beträchtlicher Teil des Erfolgs der Artikelserie war den instruktiven und teilweise spektakulären Illustrationen zu verdanken, die von drei damals führenden Grafikern im Grenzbereich von Wissenschaft und Science Fiction stammten, nämlich Fred Freeman, Rolf Klep, und vor allem vom genialen Chesley Bonestell.

Der Anfang des ersten und der komplette zweite Artikel in der Collier's-Serie
(Illustration oben Chesley Bonestell, unten Fred Freeman)
Im Editorial zur Artikelserie, das den Titel What Are We Waiting For? trägt, wird schon fünfeinhalb Jahre vor Sputnik das Wettrennen ins All mit der Sowjetunion ausgerufen, und interessanterweise wird eine öffentliche Äußerung von Kluschanzews Berater Tichonrawow als Beleg dafür zitiert, dass das Rennen auf sowjetischer Seite bereits im Gang ist. Im darauf folgenden ersten Artikel der Serie mit dem Titel Crossing the Last Frontier legt Wernher von Braun seine damaligen Pläne für ein amerikanisches Weltraumprogramm dar. Und in deren Zentrum steht eine ringförmige rotierende Raumstation mit einem Durchmesser von ca. 75 Metern, die in einer Höhe von 1700 km alle zwei Stunden die Erde umkreisen sollte. Die Neigung der Bahn zum Äquator würde ungefähr 65° betragen, so dass durch die Eigendrehung der Erde innerhalb kurzer Zeit große Teile der Erdoberfläche überflogen würden. Die Außenhülle der Station sollte nicht aus einem massiven Material bestehen, etwa einer Aluminium- oder Titanlegierung, sondern aus luftdichtem Nylongewebe, das kompakt verpackt in den Weltraum geschossen und erst dort zu seiner Form aufgeblasen werden sollte. Zur Energieversorgung der Station sollte ein solarthermisches Kraftwerk mit einer Leistung von 500 kW dienen, als Arbeitsmedium war Quecksilber vorgesehen. Bei der Rotationsgeschwindigkeit legt sich von Braun nicht genau fest, aber er gibt zwei Zahlenbeispiele: Wenn sich die Station alle 22 Sekunden um ihre Achse drehen würde, würde im äußeren Bereich eine künstliche Schwerkraft von ⅓ g herrschen, und bei einer Drehung alle 12,3 Sekunden wäre es 1 g. Im kurzen nächsten Artikel erläutert Willy Ley anhand einer sehr detaillierten Schemazeichnung von Fred Freeman weitere technische Einzelheiten der Raumstation.

Weitere Bilder aus den Collier's-Artikeln. Links oben die Macher der Serie (es fehlen Freeman und Ryan)
Der Zweck der Station war einerseits die Erdbeobachtung zu verschiedenen wissenschaftlichen und praktischen Zwecken. So sollte etwa eine ganze Schar von Meteorologen mit ihren Instrumenten permanent die Atmosphäre beobachten, um gleich im Orbit Wetterprognosen zu erstellen - dieser Aspekt findet sich eins zu eins auch in Kluschanzews Raumstation in DER WEG ZU DEN STERNEN. Andererseits sollte die Station als Abflugbasis für bemannte Missionen zum Mond (und später zum Mars) dienen. Von Braun diskutiert auch eine mögliche militärische Nutzung der Station, zur militärischen Aufklärung, aber auch als Träger von Atomraketen. Zum Projekt gehört auch ein astronomisches Observatorium in unmittelbarer Nähe zur Raumstation, aber räumlich abgekoppelt, um nicht durch die Rotation und die Erschütterungen gestört zu werden. Von Braun entwarf damit also einen Vorläufer des Hubble-Teleskops (Fred Whipple geht in einem anderen Artikel weiter auf diesen Aspekt ein). Diese ganzen Ideen hatte von Braun schon länger mit sich herumgetragen. Bereits 1946 hatte er der Army einen schriftlichen Vorschlag für eine solche Raumstation samt von ihm angefertigter Skizze vorgelegt, war aber auf taube Ohren gestoßen.

In der Schwerelosigkeit schwebende Schreibstifte in DISNEYLAND: MAN IN SPACE (oben) und
2001: A SPACE ODYSSEY - hat sich Kubrick hier vielleicht wirklich bedient?
Was an der damaligen Sichtweise auffällt (und das schließt Kluschanzew ein), ist die Tatsache, dass die zukünftigen Fähigkeiten und die Bedeutung unbemannter Satelliten dramatisch unterschätzt werden. Aber man sollte nicht vergessen, dass erst Jahre später die ersten integrierten Schaltkreise vorgestellt wurden - die spektakuläre Entwicklung der Halbleitertechnik war damals noch nicht im Entferntesten absehbar, und daran hing auch die Entwicklung der Satellitentechnik zu einem großen Teil. - Die Collier's-Serie wurde im April 1954 sozusagen mit der Königsdisziplin abgeschlossen: Wernher von Braun diskutiert den bemannten Flug zum Mars, den er vage für Mitte des 21. Jahrhunderts prognostiziert. Dabei erwähnt er auch eine Option, die Eingang in die Science Fiction (einschließlich 2001: A SPACE ODYSSEY) gefunden hat, nämlich die Möglichkeit, Crew-Mitglieder für die Dauer der Reise in einen Tiefschlaf zu versetzen.

Willy Ley (links) und Heinz Haber in DISNEYLAND: MAN IN SPACE
Die Artikelserie hat das Thema Raumfahrt ungemein populär gemacht und aus der Sphäre der Science Fiction in die einer realen Option in einer greifbar nahen Zukunft versetzt. Und sie machte aus einem weithin unbekannten deutschen Wissenschaftler mit etwas dubioser Vergangenheit einen strahlenden amerikanischen Helden des Fortschritts (von Braun und seine Frau wurden 1955 US-Bürger). Wernher von Brauns Popularität wurde nun durch Radio- und Fernsehinterviews quasi zum Selbstläufer, und auf diesen Zug sprang auch Disney auf. In der Serie DISNEYLAND, die von Disney in Zusammenarbeit mit dem Sender ABC produziert wurde, wurde das Thema der Artikelserie in aktualisierter Form ins Fernsehen getragen, wobei verbal vorgetragene Informationen mit Schaubildern und Modellen auf sehr unterhaltsame Weise mit witzigen und gelegentlich fast surrealen Zeichentricksequenzen, Animationen mit Modellen und einigen Realaufnahmen mit Schauspielern kombiniert wurden.

DISNEYLAND: MAN AND THE MOON - Wernher von Braun stellt das neue Modell seiner Raumstation vor
In der ersten der drei Folgen, MAN IN SPACE (1955), erläutern Willy Ley, Wernher von Braun und Heinz Haber Grundsätzliches zu den physikalischen Grundlagen, zum Ablauf eines Raumflugs und zur (begrenzten, aber doch gegebenen) Tauglichkeit des Menschen fürs All. In MAN AND THE MOON (1955) geht es um den bemannten Flug zum Mond - vorerst noch ohne Mondlandung, sondern nur mit einer einmaligen Umrundung des Trabanten, wobei erstmalig seine Rückseite betrachtet und fotografiert wird. Von Braun, diesmal der einzige Experte im Studio, erklärt den Ablauf der Mission, wobei auch diesmal eine rotierende Raumstation als Startpunkt dient. Im Vergleich zu der Version von 1952 ist diese nun etwas kleiner, hat drei statt zwei dicke Streben, und zusätzlich viele "Speichen" (in Wirklichkeit Kühlrohre), die an einen Fahrradreifen erinnern. Während die Station aus Collier's mit Sonnenenergie betrieben wurde, besitzt die neue Version einen Kernreaktor im nicht rotierenden Zentrum der Station (wo auch Raumschiffe andocken können). Der Grund für diesen Sinneswandel wird nicht erklärt, ich kann mir aber vorstellen, dass er von den seit 1954 existierenden Atom-U-Booten mit kompakten Kernreaktoren an Bord inspiriert wurde. Diese Folge hat auch eine ausgedehnte Spielsequenz mit den vier Astronauten in ihrem Mondraumschiff, die sich in Ausstattung und Tricktechnik nicht hinter zeitgenössischen Hollywoodfilmen über Raumflüge verstecken muss, dabei aber - allen damaligen Fehleinschätzungen zum Trotz - viel realistischer ist. In MARS AND BEYOND (1957) schließlich dient dieselbe Raumstation wie in der zweiten Folge auch als Startpunkt zum Roten Planeten. Von Braun und sein Kollege Ernst Stuhlinger warten aber mit einer neuen und extravaganten Idee auf: Die Flotte von sechs Raumschiffen, die gemeinsam die Reise absolvieren, wird nicht von konventionellen chemischen Treibstoffen angetrieben, sondern von Ionentriebwerken, wobei Kernreaktoren an Bord der Schiffe die Energie für einen kontinuierlichen Betrieb der Triebwerke liefern und Cäsium als Medium zur Erzeugung des Rückstoßes dient.

DISNEYLAND: MAN AND THE MOON - die Station wird im Orbit zusammengebaut
Diese drei Sendungen sind in mehrerlei Hinsicht auch heute noch sehenswert; inszeniert und moderiert wurden sie von Ward Kimball. Ein Modell der Raumstation aus den Folgen 2 und 3 wurde in der zweiten Hälfte der 50er Jahre von der Firma Strombecker als Plastikbausatz im Maßstab 1:300 (bezogen auf die Maße, die von Braun genannt hat) als Disney Space Station verkauft. Basierend auf den originalen Druckgussformen von damals, wurde der Bausatz in den 90er Jahren erneut herausgebracht - diesmal mit eher nostalgischem statt futuristischem Flair.

CONQUEST OF SPACE
Wir können also festhalten, dass die rotierende Raumstation 1952 in der amerikanischen Populärkultur angekommen ist, und auch so schnell nicht wieder verschwand. Und von der Populärkultur im Allgemeinen ist es nicht mehr weit bis Hollywood. 1955 brachte Paramount CONQUEST OF SPACE in die Kinos. Regisseur war Byron Haskin (der kurz zuvor den Klassiker THE WAR OF THE WORLDS inszeniert hatte), Produzent war George Pal - da waren namhafte Leute am Werk. Wie im Eröffnungsartikel der Collier's-Serie gibt es eine Raumstation, von der aus eigentlich demnächst der erste Testflug zum Mond starten sollte. Doch da wird der Testflug vom Hauptquartier auf der Erde kurzfristig abgesagt und stattdessen der sofortige Flug zum Mars befohlen. Der Kommandant der Station sträubt sich heftig gegen diese Entscheidung, beugt sich aber schließlich dem Befehl und übernimmt auch die Rolle als Kommandant des Marsraumschiffs. Doch dummerweise sind da die Gefahren der kosmischen Strahlung, die das Nervensystem angreift. Nachdem anfangs ein Besatzungsmitglied der Station (als warnendes Exempel) einen minder schweren Anfall erleidet, trifft es auf dem Flug zum Mars ausgerechnet den Kommandanten mit voller Härte. Er steigert sich in einen Wahn hinein und bringt mit erratischem Verhalten die Mission in höchste Gefahr ...

CONQUEST OF SPACE
CONQUEST OF SPACE wurde inspiriert von dem fast gleichnamigen Buch The Conquest of Space, das Willy Ley (Text) und Chesley Bonestell (Illustrationen) schon 1949 herausgebracht hatten, sowie von Wernher von Brauns Buch Das Marsprojekt bzw. The Mars Project, das er im Wesentlichen schon 1948 geschrieben hatte, das aber erst 1952 auf Deutsch und 1953 auf Englisch erschien. Der etwas schwachbrüstige Plot um den Kommandeur mit Weltraum-Rappel stammt allerdings nicht aus diesen Büchern, sondern wurde erst für den Film erfunden. Chesley Bonestell war auch direkt am Film beteiligt, als Verantwortlicher für Astronomical Art, wie es in den Credits heißt. Wenig überraschend ist das Design des Films sehr eng an die Collier's-Artikel angelehnt. Beispielsweise erkennt man in meinem ersten Bild oben deutlich eine Art Aufsatz auf dem eigentlichen ringförmigen Körper der Station. Es handelt sich dabei wohl um die gekrümmten Spiegel des Solarkraftwerks, die die Sonnenstrahlen auf eine Metallröhre fokussieren, in der das Quecksilber zirkuliert und dabei erhitzt wird. Und einen solchen Aufsatz besitzt auch die Station in CONQUEST OF SPACE - ebenso wie die in QUEEN OF OUTER SPACE.

CONQUEST OF SPACE
1958 erschien QUEEN OF OUTER SPACE, den ich leider nicht online auftreiben konnte - die Screenshots sind aus dem Trailer (ich habe für diesen Artikel keine DVDs gekauft, es gibt aber zu allen hier erwähnten Filmen welche). Auf der Venus gibt es nur Frauen, die von einer permanent maskierten männerhassenden Königin regiert werden. Die rotierende Raumstation im Film wird den Informationen nach, die ich finden konnte, schon am Anfang des Films zerstört, durch Todesstrahlen der Venusianerinnen. Eher versehentlich fliegt dann ein Raumschiff mit vier Astronauten zur Venus und rückt die Dinge (aus irdisch-männlicher Sicht) wieder zurecht. Eine der Venus-Damen wird von Zsa Zsa Gabor gespielt, und Eric Fleming hat sowohl in QUEEN OF OUTER SPACE als auch in CONQUEST OF SPACE eine Hauptrolle (etwas später war Fleming der Star der Westernserie RAWHIDE an der Seite des Nachwuchsdarstellers Clint Eastwood). Regisseur von QUEEN OF OUTER SPACE war ein Edward Berns. Dieser durchaus vielbeschäftigte Regisseur hatte 1956 für dasselbe Studio (Allied Artists, das frühere Monogram) WORLD WITHOUT END inszeniert, und aus diesem Film wurden einige Szenen in QUEEN OF OUTER SPACE wiederverwendet. Auch Kostüme und Utensilien aus FORBIDDEN PLANET sind hier offensichtlich einer Zweitverwertung zugeführt worden. Heute gilt dieser recyclingfreudige Film als ein Camp-Klassiker.

QUEEN OF OUTER SPACE - eine Raumstation und ihr Ende, Teil 1
Von 1963 bis 1968 (mit längeren Pausen zwischen den Staffeln) flimmerte die Puppentrickserie SPACE PATROL über die englischen Bildschirme. In den USA hieß die Serie PLANET PATROL, weil es in den 50er Jahren schon eine amerikanische Serie mit dem Titel SPACE PATROL gab. Das ringförmige Ding in der Serie fliegt aktiv durch das All, ist also eher ein Raumschiff als eine Raumstation, und es rotiert auch nicht selbst, sondern es wirbelt nur eine Art Kraftfeld darum herum. SPACE PATROL galt lange als verloren, aber vor ungefähr 20 Jahren fand Roberta Leigh, die Schöpferin der Serie, längst vergessene Kopien wieder.

SPACE PATROL
Bei MUTINY IN OUTER SPACE (1965) haben wir wieder das von Braun'sche Konzept in Reinkultur: Die rotierende Raumstation als Ausgangs- und Rückkehrpunkt für Flüge zum Mond. Auf dem Erdtrabanten gibt es bereits eine bemannte Station, und dort wurden kürzlich mysteriöse Eishöhlen gefunden. Als ein Raumschiff Proben aus den Höhlen zur Raumstation bringt, ist einer der beiden Astronauten mit einem tödlichen Pilz infiziert. Der Kommandant der Raumstation ist stark überarbeitet, und er wird zwar nicht verrückt wie sein Kollege aus CONQUEST OF SPACE, aber er trifft fatale Fehlentscheidungen, die es dem Pilz ermöglichen, den Körper des mittlerweile toten Astronauten zu verlassen und die ganze Station zu überwuchern. Da der Kommandant weiterhin uneinsichtig ist, bahnt sich unter seinen Offizieren eine Meuterei an, um zu retten, was noch zu retten ist. Unterdessen erwägt man im Hauptquartier, die Station mit Atomraketen zu vernichten, um eine Kontamination der Erde mit dem Pilz zu verhindern ...

MUTINY IN OUTER SPACE - die Station erst blitzblank und dann vom Pilz überwuchert
Der von einem Hugo Grimaldi (sowie ungenannt Arthur C.Pierce) inszenierte MUTINY IN OUTER SPACE ist ein ziemlicher Billigheimer. Die Handlung ist einfallslos, die Spezialeffekte sind dürftig. Unter den Namen der Beteiligten fallen nur zwei Söhne berühmter Väter ins Auge, Harold Lloyd jr. als Darsteller und Josef von Stroheim beim Tonschnitt. Die physikalisch-technischen Sitten sind ein bisschen verlottert, denn bei Innenaufnahmen in der Station ist der Korridor nach links gekrümmt und nicht nach oben, wie es sein müsste, wenn die äußere Begrenzung durch die Rotation zum Boden wird. Mit anderen Worten, die künstliche Schwerkraft wirkt hier nicht radial nach außen, sondern entlang der Drehachse, was natürlich kompletter Humbug ist. Immerhin gibt es auch einen Fortschritt zu vermelden: Während die Station in CONQUEST OF SPACE eine reine Männerdomäne ist, gibt es hier eine Wissenschaftlerin und einen weiblichen Lieutenant, und beide dürfen nicht nur gut aussehen, sondern auch technische Geräte bedienen und eigene Entscheidungen treffen. (Kluschanzews Raumstation hat übrigens einen sehr hohen Frauenanteil.) Die blonde Lt. Engstrom in MUTINY IN OUTER SPACE wirkt sogar noch etwas autonomer als Lt. Uhura, die im Folgejahr ihren Platz auf der Brücke der Enterprise einnahm. Es gibt in MUTINY IN OUTER SPACE übrigens auch einen Doktor, der sich freundschaftlich mit dem uneinsichtigen Kommandanten wegen dessen angegriffener Gesundheit kabbelt, und der in dieser Hinsicht an "Pille" erinnert.

MUTINY IN OUTER SPACE - hier geht es linksrum statt nach oben
Ebenfalls 1965 drehte Anthony M. Dawson alias Antonio Margheriti innerhalb von nur drei Monaten seine Gamma-Eins-Tetralogie. Die vier Filme, in denen jeweils die rotierende Raumstation Gamma 1 vorkommt, kamen aber erst 1966 ins Kino, als auch die Enterprise und die Orion in die unendlichen Weiten aufbrachen. Bekannter als die italienischen dürften die englischen Titel sein, die da lauten: WILD WILD PLANET, WAR OF THE PLANETS, WAR BETWEEN THE PLANETS und SNOW DEVILS. Ich kenne keinen davon, der Screenshot ist aus einem Trailer für WAR OF THE PLANETS. 1968 schließlich, im Jahr, als 2001: A SPACE ODYSSEY das Licht der Welt erblickte, inszenierte der durch seine brachialen Yakuza-Filme bekannte Kinji Fukasaku als Sequel zu Margheritis Tetralogie den Kracher THE GREEN SLIME mit der weiterentwickelten Raumstation Gamma 3, der in deutlich unterschiedlichen japanischen und amerikanischen Versionen veröffentlicht wurde.

WAR OF THE PLANETS
Wurde eigentlich auch Kluschanzew von den Collier's-Artikeln beeinflusst, zumindest indirekt? Davon gehe ich aus, denn sein Berater Tichonrawow wusste sicher darüber Bescheid. Die hochrangigen sowjetischen Raumfahrtforscher (und zu denen zählte Tichonrawow) wurden vom Geheimdienst mit allen verfügbaren Informationen über ihre amerikanischen Kollegen und deren Aktivitäten versorgt, und die Collier's-Artikel waren ohnehin für jedermann frei zugänglich. Jeder sowjetische Diplomat konnte sie mit seiner Post in die Heimat schicken, um sie den interessierten Kreisen zugänglich zu machen, und das ist sicher auch geschehen.

THE GREEN SLIME - eine Raumstation und ihr Ende, Teil 2
Übrigens fand auch Disney Anklang in der Sowjetunion. Im August 1955 fand in Kopenhagen der sechste International Astronautical Congress (IAC) statt, und dort wurde in einer Sondervorführung DISNEYLAND: MAN IN SPACE gezeigt. Bei diesem Kongress waren auch sowjetische Wissenschaftler zugegen. Einer von ihnen war der Physiker Leonid Sedow, der Vorsitzende einer Kommission der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften, die das Sputnik-Programm vorantrieb. Sedow bat um leihweise Überlassung einer Kopie des Films, um ihn in der Sowjetunion zu zeigen. Doch Walt Disney persönlich ließ ihn abblitzen. Und zwar, wie sich Ward Kimball erinnerte, weil die sowjetische Regierung Ende der 30er Jahre eine Kopie von SCHNEEWITTCHEN UND DIE SIEBEN ZWERGE "für zwei Wochen" entliehen hatte und erst zehn Jahre später in arg ramponiertem Zustand zurückgab. Doch Sedow gab nicht so schnell auf. Im September des Jahres schrieb er einen Brief an Frederick C. Durant, den damaligen Vorsitzenden der International Astronautical Federation IAF (die die jährlichen IACs veranstaltet). Eine Überlassung einer Kopie, zu welchen Bedingungen auch immer, würde die Ost-West-Zusammenarbeit beträchtlich voranbringen, meinte er in dem Brief. Ob sich Durant als Vermittler einspannen ließ, und ob Sedow doch noch eine Kopie von MAN IN SPACE bekam, ist mir allerdings nicht bekannt.

DISNEYLAND: MAN AND THE MOON - die Reise zum Mond kann beginnen
Und wie steht es nun mit Kubrick? Ich nehme an, dass auch er schon in den 50er Jahren von Wernher von Brauns Ideen gehört oder gelesen hat, weiß es aber nicht mit Bestimmtheit. Aber da ist ja auch noch Arthur C. Clarke, und bei dem ist die Beweislage eindeutig. Ausgangspunkt der gemeinsamen Arbeit an 2001: A SPACE ODYSSEY war Clarkes 1951 erschienene Kurzgeschichte The Sentinel, und ab 1964 schrieben Clarke und Kubrick parallel und in enger Abstimmung den Roman und das Drehbuch zum Film. Und Clarke war nicht nur Schriftsteller, sondern auch ein Wissenschaftler, der sich intensiv mit Fragen der Raumfahrt befasste. Schon 1945 hatte er als Erster in einem wissenschaftlichen Artikel vorgeschlagen, geostationäre Satelliten zum Aufbau eines weltumspannenden Kommunikationsnetzes zu verwenden. Die Eigenschaften der geostationären Bahn waren schon länger bekannt, aber erst Clarke erkannte, dass nur drei solche Satelliten, die ein gleichseitiges Dreieck aufspannen, genügen, um den größten Teil der Erdoberfläche (alles außer den Polgebieten) abzudecken. Clarke war auch seit 1934 langjähriges Mitglied und zeitweise Vorsitzender der British Interplanetary Society, so etwas wie das britische Gegenstück zum VfR (aber anders als der deutsche Verein wurde die Interplanetary Society nie von staatlichen Stellen vereinnahmt).

2001: A SPACE ODYSSEY
1951 fand der zweite IAC in London statt, und auf dem Kongress wurde ein ausführlicher Vortrag von Wernher von Braun (der nicht persönlich anwesend war) über die Möglichkeit einer Reise zum Mars verlesen (und darin wurde bestimmt auch die Raumstation erwähnt). Und Vorsitzender dieses Londoner Kongresses war kein anderer als Arthur C. Clarke. Als Schriftsteller schrieb Clarke nicht nur Science Fiction, sondern auch populärwissenschaftliche Bücher über Raumfahrt mit ähnlicher Ausrichtung wie die von Willy Ley und von Braun. Und in mindestens einem davon (nämlich The Exploration of Space von 1951) wird die Erzeugung künstlicher Schwerkraft in rotierenden Raumfahrzeugen diskutiert. Clarke steckte also tief drin in der Materie, und er war mit dem Konzept der rotierenden Raumstation mindestens seit 1951 vertraut. Es brauchte also nicht den Umweg über Kluschanzew, um ihm (und damit Kubrick) diese Idee einzugeben.

Nach oben gekrümmte Flure bei Kluschanzew (oben) und Kubrick - prinzipbedingt notwendig,
wenn man die Physik ernst nimmt, und deshalb kein Indiz für Ideenklau
Diese kleine Chronologie bis 1968 erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. 2001: A SPACE ODYSSEY war zweifellos für lange Zeit der tricktechnische und ästhetische Höhepunkt der Entwicklung, aber er war nicht einmal ein vorläufiger Endpunkt, denn schon im selben Jahr 1968 ging es ja mit THE GREEN SLIME weiter. Danach gab es noch viele Raumstationen, die ganz oder in Teilen rotierten, in letzter Zeit etwa in THE MARTIAN und ELYSIUM. Aber weil dieser Artikel höchst unvollständig ist, ist er hier auch schon (fast) zu Ende.

2001: A SPACE ODYSSEY
Mitglieder der Houston Section des American Institute of Aeronautics and Astronautics (AIAA) haben die Collier's-Artikel in hoher Qualität gescannt und in acht aufeinanderfolgenden Ausgaben ihrer Zeitschrift Horizons wiederveröffentlicht. Hier kann man die Hefte als PDF frei herunterladen, es handelt sich um die Ausgaben July/August 2012 bis September/October 2013. Dafür bedanke ich mich (unbekannterweise) bei den Leuten, denn es handelt sich um faszinierenden Lesestoff. Meine Collier's-Bilder hier habe ich aus diesen PDFs extrahiert.

Intergalaktischer Klassenkampf mit Schlangen, Lederfetischisten und Acid aus der Sprühdose

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Ein Produkt des VEB Halluzinogene für Weltraum-Trips Zünrow (made in GDR)



IM STAUB DER STERNE
Deutsche Demokratische Republik 1976
Regie: Gottfried Kolditz
Darsteller: Jana Brejchová (Akala), Alfred Struwe (Suko), Ekkehard Schall (der Chef), Milan Beli (Ronk), Leon Niemczyk (Thob), Violeta Andrei (Rall), Sylvia Popovici (Illic), Regine Heintze (My)


Ein Raumschiff vom Planeten Cynro ist auf dem Weg zum Planeten Tem, der einen Hilferuf versendet hat. Bei der Landung kommt es aufgrund von Störungen (oder sind es Angriffe?) fast zum Absturz. Die Kosmonauten unter der Leitung von Akala werden auf Tem vom Sicherheitsbeauftragten Ronk empfangen, der seinen Gästen sehr resolut, fast schon grob, versichert, dass es keinen Hilferuf gegeben habe und dass sie wieder nach Cynro zurückfliegen sollten. Vor ihrem Abflug werden sie aber auf eine Abendparty eingeladen, auf der auch alle außer Navigator Suko erscheinen, der gemäß Protokoll im Raumschiff bleibt und es überwacht. Nach der Feier leiden die Cynroer bis auf Suko allesamt an Kopfschmerzen, Bewusstseinsstörungen, Gedächtnislücken und Ausbrüchen erratischen Verhaltens. Suko will sich den Planeten jetzt genauer ansehen, geht auf Entdeckungstour mit einem Minihelikopter und findet heraus, dass in unterirdischen Bergwerken Hunderte Zwangsarbeiter Kohle schippen: es sind die Turi, die Einheimischen Tems, die von den Besatzern (also den Personen, die die Cynro-Expedition empfangen haben) versklavt wurden. Suko wird bei seiner Entdeckungstour von den Sicherheitskräften Tems erwischt, gefangen genommen, anschließend befragt und gefoltert. Akala wird derweilen zum exzentrischen Chef von Tem gebeten, der sie mit Nachdruck bittet, zusammen mit ihrer Mannschaft Tem zu verlassen und ihr anschließend den mittlerweile gehirngewaschenen Suko zurückgibt. Auf dem Raumschiff erinnert ein Zufall die bewusstseinsgestörten Kosmonauten daran, dass sie eigentlich wegen eines Hilferufs hergekommen sind und dass dieser offenbar von den gefangenen Ureinwohnern des Planeten, den Zwangsarbeitern unter Tage, gesendet worden ist. Die Besucher aus Cynro sind sich unsicher, ob sie schleunigst verschwinden oder ob sie bleiben und den Turi (also den Ureinwohnern Tems) helfen sollten. Die Besatzer Tems sind sich unschlüssig, ob sie die unerwünschten Gäste ausweisen oder gefangen halten sollten. Beim Hin-und-Her kommt es zum Showdown. Die Mannschaft aus Cynro fliegt mit dem Raumschiff schließlich weg. Zurück bleiben Suko und Akala. Ersterer stirbt beim Absturz des Erkundungshelikopters und wird von den Turi würdevoll zu Grabe getragen. Akala bleibt, nachdem sie einem gefangenen Turi-Mädchen Mut zugesprochen hat, ratlos und einsam in der Wüstenlandschaft Tems zurück...

Klingt nicht gerade sehr spannend? Wem das etwas alles etwas trocken erscheint, sehe sich die folgenden Screenshots aus dem Film an:








Ein Science-Fiction-Film aus der DDR, einem Land, das im Gegensatz zur Sowjetunion oder auch zu Polen keine besonders ausgeprägte Science-Fiction-Tradition hatte... Nun, das alleine macht IM STAUB DER STERNE noch sicherlich nicht zu einem besonderen Film. Was ihn besonders macht, ist sein auffallender Hang zum Bizarren, zum Exzentrischen, zum Psychedelischen, zum Surrealistischen, zum blanken Irrsinn, der zwar nicht den kompletten Film durchherrscht, aber immer wieder in mehr oder weniger ausgedehnten Szenen hervorblitzt. Es sind eben diese Momente, die IM STAUB DER STERNE letztlich wahrhaftig faszinierend machen – ihm aber bislang auch einen sehr schweren Stand beschert haben. Es gibt im Internet nur wenige Texte, die ihn ernst nehmen. Wahlweise wird der Film als mieser Billig-Trash oder als lustiger Party-Biertrink-Trash mit ulkigen DDR-Akzenten bezeichnet. IM STAUB DER STERNE jegliches Camp-Potential abzusprechen dürfte ein Ding der Unmöglichkeit sein, und dass Cynro von allen Beteiligten ausgesprochen wird, als handle es sich um ein Dorf in Sachsen („Zünrow“) lässt sich auch nicht leugnen. Dennoch: Jim Morton, Betreiber des „East German Cinema Blog“ mit Sitz in San Francisco, lobt IM STAUB DER STERNE als ultimatives Beispiel dafür, dass experimentelles Filmemachen in der DDR auch im Rahmen des Mainstream- und Genre-Kinos möglich war.

In den ersten paar Minuten sieht IM STAUB DER STERNE tatsächlich so aus, wie man sich einen Science-Fiction-Film aus der DDR im allgemeinen so vorstellt: trotz eines Fast-Absturzes sehr mäßig actionreich oder zumindest holperig in der Actioninszenierung, mit Kostümen, die ein bisschen wie leicht umgenähte Trainingsanzüge einer osteuropäisch-sozialistischen Armee aussehen, mit Dekoren, die das Beste aus Mangelwirtschaft machen und mit einem fremden Planeten, der wie eine stillgelegte Salzmine im Osten Rumäniens aussieht (wahrscheinlich deshalb, weil der Film tatsächlich teilweise auf einer solchen gedreht wurde). Dass hier aber dennoch nicht alles mit „rechten“ bzw. „ostdeutsch-bieder-sozialistischen“ Dingen zugeht, wird klar, als die Kosmonauten nach ihrer Landung von einer Temerin begrüßt werden, die in ihrem Kleid wie eine Indianerin aussieht. Wird aus dem Film jetzt doch ein Western?

Bei dem Empfang durch den Sicherheitschef wird dann als erstes ein Tablett mit, nun ja, Mundsprays herumgereicht. Jeder sprüht sich etwas in den Mund. Thob, der Witzbold unter den Cynroer Kosmonauten, läuft rot an, verdreht die Augen und hustet so stark, dass zu befürchten ist, er würde gleich an einem Erstickungsanfall sterben. Ronk, der Temer Sicherheitschef, beruhigt die Anwesenden: „Blau ist süß, rot ein wenig scharf.“ Thob hatte einen roten Mundspray. Trotzdem: haben die sich eben gerade alle Drogen reingepfiffen?

Eine... Indianerin (?) begrüßt die Gäste aus Cynro,
doch statt Friedenspfeife gibt es Drogen aus der Sprühdose.

So richtig verneinen lässt sich die Frage wenige Minuten später nicht mehr, denn dann fängt die Party an. Leicht bekleidete Damen tanzen ekstatisch zu einer elektronischen Prog-Rock-Jazz-Fusion-Musik. Die Besucher aus Cynro haben sich mit ihren allerschicksten Party-Overalls aus knallrotem Leder aufgebretzelt und mischen sich unter den Einheimischen. Die Szene wird von mehreren Extremnahaufnahmen geschminkter Augen unterbrochen (die wohl den Temer Tänzerinnen gehören). Das Büffet mit den lokalen Köstlichkeiten – zu „trinken“ gibt es außerdem große Spray-Dosen, von hübschen Temerinnen auf Tabletts herumgereicht – hat eine recht interessante Deko: lebende Riesenschlagen, die nonchalant zwischen den Speisen umherkriechen. Offensichtlich ist es nicht verboten, mit der Deko zu spielen, denn einige Einheimische und auch eine Cynro-Kosmonautin tanzen später im Duett mit einer der Schlangen. Die Gäste aus Cynro bekommen dann sogar (unfreiwillig) ein Spezialprogramm: eine kleine ferngesteuerte Gehirnwäsche, die sich als strahlender Punkt auf ihrer Stirn sichtbar macht...

...und dafür sorgt, dass sie auf der Party nicht nur sehr viel Spaß haben, sondern danach so ziemlich alles wieder vergessen haben (vor allem, dass sie wegen eines Hilferufs gekommen waren) und sich etwas merkwürdig benehmen. Alle kommen recht betrunken zurück zum Raumschiff, wo sie ein stocknüchterner Suko tadelnd erwartet. Einige schlafen ein, Akala bleibt erstmal mit Kopfschmerzen wach und eine Crew-Frau geht nach dem Duschen in den Aufenthaltsraum, legt das Badetuch ab und beginnt, zur Radiomusik (Radio Tem sendet offenbar in Dauerschleife Prog-Rock-Jazz-Fusion-Mäßiges) nackt und in Trance zu tanzen. Das ist vielleicht der bemerkenswerteste Moment im ganzen Film: ein drogeninduzierter Nackttanz, wunderschön als Silhouette vor einer gelb beleuchteten Wand mit geometrischem Relief gefilmt.

Die Temer feiern wilde Parties mit Speis, Trank, Tanz, Drogen, Fetisch-Kleidung,
extravaganter Deko und telepathischen Spielchen.

Ein Nackttanz nach Ende der Feierlichkeiten 

Danach wird es wieder ein Tick ruhiger. Zeit, um ein bisschen Plot abzuarbeiten: Suko entdeckt die Zwangsarbeiter, wird erwischt, gefoltert, Akala wird als Kommandantin der Cynroer zum Chef gebeten. Hier nur ein kleiner Einschub: dass eine Frau Kommandantin einer Raumschiff-Expedition ist, wird hier nicht im geringsten thematisiert oder gar problematisiert, und zwar weder von den Mitgliedern der Mannschaft selbst (in der jede/r jede/n duzt und die Hierarchien zugegeben sehr flach sind), noch von den Besatzern Tems. Vielleicht das „unsichtbarste“ oder zumindest „unscheinbarste“ typische DDR-Element des Films?
Zurück: Wer also denkt, dass IM STAUB DER STERNE nun schon alles verpulvert hat, hat den Chef von Tem noch nicht kennen gelernt (er bleibt namenlos: man sieht ihn zwar mit einer Brosche in B-Form, doch vielleicht könnte das auch für „Boss“ stehen). Die Eingangstür zu seinem Empfangsraum wird von starken Männern in Lederstiefeln, Lederröckchen und Hemden mit offenen Maschen bewacht – als kämen sie gerade aus Londons extravagantester S&M-Fetisch-Boutique (und nicht aus der Kostümabteilung eines ostdeutschen Filmstudios). Im Eingang des Chef-Raums wird Akala von einer merkwürdigen Form der Installationskunst empfangen: Köpfe in Schaufenstern, die sich bewegen und sie dann auch grimmig anschauen. Dann folgt ein Spiegelkabinett und Akala stößt sich mehrmals an Glas, bevor sie dann den Salon findet, wo sich wieder lebende Deko (sprich: eine Schlange) tummelt. Der Chef ist nun auch da und empfängt Akala mit frisch in Blau eingesprühten Haaren (wir sahen ihn kurz vorher beim, ähm... „Friseurtermin“). Er schnappt sich die Schlange und spielt mit ihr. „Haben Sie keine Angst: sie ist giftig, aber sie gehorcht auf‘s Wort.“ – versichert er Akala. Na, da kann die Chefin der Cynro-Expedition aber beruhigt sein! Dann zeigt er ihr etwas anderes: eine komische Spielzeugkonsole mit vielen bunten Knöpfen. Er bedient sie, und schon tauchen im ganzen Spiegelkabinett leicht bekleidete Tänzerinnen auf. Ist das ein Projektionssystem, oder handelt es sich einfach nur um Tänzerinnen, die auf Knopfdruck erscheinen? Man weiß es nicht wirklich (wenngleich IM STAUB DER STERNE in plotreichen Sequenzen durchaus Expositionsdialog auffährt, so lässt er besonders die etwas irrsinnigeren Elemente ohne jegliche Erklärung – gut so!). Beim Druck bestimmter Knöpfe können die Tänzerinnen und die Musik offenbar schneller „abgespielt“ werden. Akala scheint davon nicht sonderlich beeindruckt zu sein. Der Chef hat offensichtlich aber Vergnügen daran. Ja er scheint gar davon regelrecht sexuell erregt zu werden, und wie er schwer atmend die Knöpfe bedient sieht er auch ein bisschen so aus, als würde er zur Begrüßung mal eben vor seinem Gast masturbieren. Dann klinkt er sich wieder ein und erklärt Akala „Manchmal spiele ich damit viele Stunden lang“ – was die eben genannte Vermutung nicht gerade entkräftet. Da wir uns immer noch in einem Spiegelkabinett befinden, sind übrigens alle Bilder während der kompletten Szene permanent durch mehrfache Spiegelungen „zerbrochen“, so dass der Chef „normalen“ Dialog teilweise so bestreitet, als würde er nicht mit Akala, sondern mit seinem eigenen Spiegelbild sprechen – für eine so neurotische und offenbar auch schwer narzisstische Persönlichkeit wie ihn irgendwie passend. Später, im gleichen Spiegelkabinett, hat der Chef dann einen kleinen Anfall, dröhnt sich mit einem großen „Schluck“ aus einer Spraydose zu und vollführt dann eine Art Schamanentanz vor seinen eigenen Spiegelbildern und in Gesellschaft seiner lieben Giftschlangen. Am Schluss schließlich, als die Kosmonauten aus Cynro (bis auf zwei) fliehen, zerstört er in einem Wutanfall das Spiegelkabinett und starrt erschrocken in sein zerbrochenes Spiegelbild.

Merkwürdige Installationskunst, ein verwirrendes Spiegelkabinett,
wunderliche Haustiere und außergewöhnliche Hobbies: Akala lernt den exzentrischen Chef kennen

Wie gesagt: als rein narrativer Science-Fiction-Film ist IM STAUB DER STERNE kein überragender Wurf. Die Handlung ist nicht gerade besonders spannungs- oder überraschungsreich. Auf eine Geschichte von Imperialisten (Besatzer Tems), die Völker aus Entwicklungsländern (die versklavten Einwohner Tems) wirtschaftlich und kolonial unterdrücken und dann von einer revolutionären Avantgarde (die Kosmonauten aus Cynro) vertrieben werden, kann der Film aber auch nicht reduziert werden: dafür ist nicht nur die Inszenierung viel zu unkonventionell, sondern schlussendlich auch die Auflösung viel zu offen und zu pessimistisch. Am Ende ist der Status Quo auf Tem geblieben: nach der Beerdigung werden die Turi wahrscheinlich wieder Kohle schippen, der Chef der Besatzer wird sich weiterhin seiner Spielzeugkonsole erfreuen – nur Akala bleibt verwirrt und hilflos zurück.

Eine Kritik des Films beschrieb das so:
„Der Unterschied zwischen zwei historisch-sozialen Epochen müßte [...] für den Zuschauer in der Fabelführung, vor allem aber in den Haltungen der Figuren erlebbar gemacht werden; in der Begegnung von Persönlichkeiten unterschiedlicher historischer und sozialer Ordnungen, im Aufzeigen des Widerspruchs läge der Sinn der Geschichte, läge ihre besondere Spannung. Diese Spannung herzustellen, gelingt Gottfried Kolditz jedoch [...] kaum. Das Gleichnis [...] geht nicht auf.“

Was wie die völlig entgeisterte Reaktion eines provinziellen DDR-Filmkritikers klingt, der nachts mit seinem SED-Parteibuch unter dem Kopfkissen schläft (auf den ersten Blick las sich das so für mich auf der deutschen Wikipedia-Seite des Films), sind übrigens die Worte des Wuppertaler Science-Fiction-Schriftsteller Ronald M. Hahn. Das Gleichnis geht also nicht auf – aber wer braucht schon Gleichnisse, wenn es fetzige Nackttanzeinlagen auf LSD und Bösewichte mit blauen Haaren und Dracula-Capes gibt? Als „straighter“ Science-Fiction-Film wäre IM STAUB DER STERNE lediglich nur solide inszeniert, wahrscheinlich nach der Hälfte der Laufzeit schon etwas dröge – und würde wohl von mehr Zuschauern geschätzt und vor allem ernst genommen werden. Das selbe Schicksal ereilte später ja auch den wohl besten und vor allem bizarrsten und irrsinnigsten Teil von STAR WARS (RETURN OF THE JEDI). Mit 800.000 Zuschauern lief IM STAUB DER STERNE bei den ostdeutschen Zuschauern jedenfalls ganz gut (auf die heutige Bundesrepublik hochgerechnet wären das 3,75 Millionen Kinobesucher). Trotz seines Hangs zum Irrsinnigen blieb er trotz allem – ein Mainstream-Film für das breite Publikum.

Mit Gottfried Kolditz hatte IM STAUB DER STERNE tatsächlich einen der produktivsten Routiniers des Genre-Films in der DDR auf dem Regiestuhl sitzen. Kolditz begann in den 1950er Jahren als Schauspieler und Regisseur an verschiedenen Theatern, wechselte dann zur DEFA. Dort machte er sich rasch einen Namen als fähiger und dennoch durchaus experimentierfreudiger Regisseur von Märchen-Filmen und Musicals. Kolditz blieb Ende der 1960er Jahre weiterhin dem Genrefilm verpflichtet, nun als Spezialist für Science-Fiction und Westerns bzw. sogenannte „Indianerfilme“. Kurz vor dem Dreh eines neuen Indianerfilms starb der gebürtige Sachse 1982 mit nur 59 Jahren bei Drehvorbereitungen in Dubrovnik, IMDb meint alternativ Ljubljana – DER SCOUT wurde auf Grundlage von Kolditz' Drehbuch von Dshamjangijn Buntar und Konrad Petzold noch gedreht.
Jim Morton bezeichnet Kolditz als einen der besten Regisseure der DDR, als ein Filmemacher, der trotz der extremen Genre-Disparität zwischen seinen Filmen immer ein sehr gutes Gespür für Inszenierung, Farbdramaturgie und Musikuntermalung hatte. Bis auf die Westerns (bzw. „Indianerfilme“) enthalten gemäß Morton nicht nur die Musicals, sondern praktisch alle Kolditz-Filme eine Musical-Nummer oder zumindest ein musikalisches Intermezzo – so natürlich auch IM STAUB DER STERNE, wo es reichlich Musik bei der Party und beim Nackttanz gibt. Kolditz war in seiner Karriere mehrmals bei internationalen Filmprojekten beteiligt. Der Märchenfilm DIE GOLDENE JURTE von 1961, eine deutsch-mongolische Produktion, inszenierte Kolditz etwa in Co-Regie mit dem Mongolen Rawsha Dorshpalam, basierend auf einer Erzählung des mongolischen Autors Sengiin Erdene. Der Science-Fiction-Film SIGNALE – EIN WELTRAUMABENTEUER war eine deutsch-polnische Ko-Produktion, gefilmt auf 70mm in Polen mit einer deutsch-polnisch-sowjetisch-rumänischen Crew, ein Film, der wohl so etwas wie die osteuropäisch-sozialistische Antwort auf Kubricks 2001: A SPACE ODYSSEY sein sollte. Gemäß Morton ziehe SIGNALE gegenüber 2001 ganz klar den kürzeren im Bereich der Effekte und sei im direkten Vergleich zu IM STAUB DER STERNE weniger interessant, besteche aber mit einigen interessanten Szenen, so etwa ein verspieltes musikalisches Intermezzo in der Schwerelosigkeit. Seine Westerns drehte Kolditz hingegen größtenteils in Rumänien. Hier filmte Kolditz, nach seinem eigenen Drehbuch, auch IM STAUB DER STERNE, und zwar bei den Schlammvulkanen von Berca (beim englischen Wikipedia-Artikel finden sich einige Bilder, die nach der Sichtung des Films durchaus bekannt vorkommen) sowie in einer stillgelegten Salzmine in der Nähe. Die Innenszenen wurden in Babelsberg gedreht.

Ein anderer großer Routinier des ostdeutschen Films, der an IM STAUB DER STERNE mitwirkte, war der Komponist Karl-Ernst Sasse. Der gebürtige Bremer war von Haus aus klassisch ausgebildeter Komponist und Dirigent und arbeitete in der DDR parallel im „klassischen“ Musikmilieu – so als Chefdirigent des Sinfonieorchesters Halle (heute Staatskapelle Halle) – und in der ostdeutschen Filmindustrie. Als Leiter des DEFA-Sinfonieorchesters in Potsdam-Babelsberg war er mit der Einspielung von Filmkompositionen beauftragt, komponierte aber rasch auch eigene Filmmusik. Seine 40-jährige Karriere als Filmkomponist umfasst fast 200 Filme für Kino und Fernsehen, darunter den 1965 verbotenen KARLA, unzählige Indianerfilme, Literaturverfilmungen wie DIE WAHLVERWANDTSCHAFTEN und LOTTE IN WEIMAR, mehrere POLIZEIRUF-Episoden bis hin zu – nach der deutschen Einheit – Rosa von Praunheims Hirschfeld-Biopic DER EINSTEIN DES SEX sowie mehrere Neukompositionen für Stummfilme (DER GOLEM, DER MÜDE TOD, DER LETZTE MANN, ASPHALT). Jim Morton betont auf seinem Blog, wie unglaublich vielfältig Sasse (nicht nur bei Kolditz-Filmen) war, dass er sich mühelos zwischen Jazz, Rock, Klassischem und Elektronisch-Avantgardistischem bewegte. Für IM STAUB DER STERNE hat er neben dem gediegenen Titellied für Gitarre und Frauenchor eine Musik komponiert, die sich wie bereits erwähnt im Grenzbereich zwischen Prog-Rock und Jazz-Fusion bewegt, mit einigen abstrakten, elektronischen Elementen – eine fetzige, mitreissende und stimmige Musik. Sasse und Kolditz verband bis zum Tod des letzteren eine lange Zusammenarbeit. Sasse dirigierte die Musik zu Kolditz‘ Musicals DIE SCHÖNE LURETTE, REVUE UM MITTERNACHT sowie GELIEBTE WEISSE MAUS. Später komponierte er die Musik zu Kolditz‘ Westerns BRENNENDE ZELTE IN DEN SCHWARZEN BERGEN und ULZANA (und für den von Kolditz geschriebenen DER SCOUT) sowie zu all seinen drei Science-Fiction-Filmen, neben dem hier besprochenen auch den bereits erwähnten SIGNALE – ABENTEUER IM WELTRAUM sowie DAS DING IM SCHLOSS.

Weder für den Produktionsdesigner Gerhard Helwig, noch für den Kameramann Peter Süring, noch für die Kostümdesignerin Katrin Johnsen, die drei Personen, die hinter der Kamera nebst Kolditz und Sasse wohl den größten Beitrag zum Gelingen von IM STAUB DER STERNE geleistet haben, finde ich in den jeweiligen Werkslisten viel Bekanntes. Süring und Johnsen arbeiteten mit Kolditz noch bei seinem letzten Science-Fiction-Film DAS DING IM SCHLOSS zusammen. Gerhard Helwig hat beim Set-Design von DIE ABENTEUER DES WERNER HOLT mitgewirkt und ist der einzige der drei, dessen Karriere nicht sofort mit der Wende ein Ende fand.

Eine erstklassige internationale Besetzung:
Jana Brejchová, Leon Niemczyk,
Alfred Struwe, Milan Beli
Die fünf wichtigsten Figuren von IM STAUB DER STERNE werden von Darstellern aus vier verschiedenen Ländern gespielt. Jana Brejchová, die Hauptdarstellerin, war nicht nur die zeitweilig die Ehefrau des Neue-Welle-Regisseurs Miloš Forman und später des Schauspielers Vlastimil Brodský, sondern eines der berühmtesten Gesichter des tschechischen Kinos und Fernsehens. Sie war allerdings auch west- wie ostdeutschen Zuschauern bekannt, etwa in der Tucholsky-Verfilmung SCHLOSS GRIPSHOLM von 1963.
Der Pole Leon Niemczyk, ein Veteran des Warschauer Aufstands und zeitweilig Soldat der US-Armee im besetzten Deutschland, verbrachte in der stalinistischen Ära einige Zeit im Gefängnis für versuchte Republikflucht. Er begann als Schauspieler beim Arbeitertheater und wechselte dann zum Kino. Er spielte in vielen Filmen von Regisseuren, die im weitesten Sinne der „nouvelle vague polonaise“ zugerechnet werden können: CŁOWIEK NA TORZE und EROICA von Andrzej Munk, POCIĄG von Jerzy Kawalerowicz, international am berühmtesten dürfte aber seine Rolle als der Ehemann in Roman Polańskis NÓŻ W WODZIE sein. Auch ostdeutschen Zuschauern war er durch seine Beteiligung an Spielfilmen der DEFA ein bekanntes Gesicht – unter anderem als Nebenrolle in ostdeutschen Westerns, darunter Kolditz‘ APACHEN. Niemczyk starb im November 2006 – vier Tage nach der polnischen Premiere von David Lynchs INLAND EMPIRE, der teilweise in Polen gedreht worden war und in dem Niemczyk eine Nebenrolle spielte. Niemczyk, dessen Name übrigens so viel wie „Deutsch“/„Der Deutsche“ bedeutet, war auch im privaten Leben ein kosmopolitischer Mensch: er war sechs Mal verheiratet, doch keine einziges Mal mit einer polnischen Frau. 
Alfred Struwe, der den Navigator Suko spielt, war hingegen hauptsächlich in ostdeutschen TV-Filmen und TV-Serien zu sehen – die einzigen davon, die mir persönlich etwas sagen, ist der POLIZEIRUF 110. Kolditz und er kannten sich bereits von dem Indianerfilm ULZANA (1974 – ob der Film ein direkter Versuch ist, an Robert Aldrichs ULZANA‘S RAID von 1972 anzuknüpfen, kann ich nicht beurteilen). Milan Beli, der den Sicherheitschef Ronk spielt (er sieht aufgrund seines Kostüms nicht so furchterregend aus, wie er sollte – dafür knallt er zwischendurch mit einem Pistolenkugelschreiber zum Spaß Modellflugzeuge ab), war gebürtiger Serbe, arbeitete aber gar nicht in der jugoslawischen Filmindustrie. Abgesehen von einer Nebenrolle in Erwin Dietrichs Nazi-Sexploitation-Film EINE ARMEE GRETCHEN (der internationale Titel „She-Devils of the S.S.“ war markanter) spielte er nur in ostdeutschen Produktionen mit, unter anderem als Bösewicht in Indianerfilmen. Auch er war gewissermaßen ein Kolditz-„Regular“ und war in dessen ULZANA und DAS DING IM SCHLOSS zu sehen.
Üblicherweise weder im Fernsehen, noch im Kino, sondern im Theater war der größte Besetzungsstreich von IM STAUB DER STERNE zu sehen, nämlich Ekkehard Schall, der den exzentrischen, narzisstischen Chef der Tem-Besatzer mit seinen Neigungen zu merkwürdigen Haarfarben und Kostümen spielt. Schall war ein Urgestein des Berliner Ensembles, wo ihn Bertolt Brecht 1952 geholt hatte. Dort blieb er bis 1995 als Darsteller und Regisseur, lange Jahre auch als stellvertretender Intendant. Der vielfach in Ostdeutschland und auch international preisgekrönte Theaterschauspieler galt als einer der größten Brecht-Darsteller in der DDR (nicht nur auf den Bühnen, sondern auch bei Brecht-Verfilmungen für das Kino und das Fernsehen). Die Rolle des namenlosen Chefs der Tem-Besatzer war sicherlich eine schöne und interessante Abwechslung für Schall, und noch mehr als bei den anderen scheint man ihm anzumerken, dass er wohl beim Dreh Spaß gehabt haben muss. 

Vom Berliner Ensemble zum psychedelischen Planeten Tem:
der wunderbare Ekkehard Schall als exzentrischer Chef

IM STAUB DER STERNE gibt es in zwei, wahrscheinlich identischen Editionen auf DVD zu sehen, einmal als Einzelfilm, einmal als Teil der „Science-Fiction-Special-Edition“ zusammen mit EOLOMEA und DER SCHWEIGENDE STERN. Beide Editionen kommen vom Icestorm-Label, das exklusiv die Filme der DEFA-Stiftung auf DVD vertreibt.
In beiden Editionen gilt der Film gemäß OFDb als gekürzt, was folgenden Hintergrund haben könnte: offenbar wurde aus dem Vorspann und dem Nachspann das Logo gekürzt, das darauf hinweist, dass der Film von der Künstlerischen Arbeitsgruppe defa futurum produziert wurde. Allerdings fehlen mehr als nur ein paar Sekunden, die dieses Logo ausmachen würde. Es fehlt auch jegliche Spur von einem Nachspann: wie bei fast allen Filmen, die das Label Icestorm veröffentlicht, wird das Ende recht abrupt abgeschnitten und das unfassbar hässliche Banner „Bundesarchiv – Filmarchiv – DEFA-Stiftung“ zusammen mit einem Copyright-Vermerk eingeblendet. Und wie bei allen Editonen des Labels Icestorm wird auch IM STAUB DER STERNE nicht-anamorph präsentiert, wenngleich hoffentlich – aber vollkommen sicher bin ich mir da nicht – im richtigen Bildformat, zumindest aber mit halbwegs okayer Bildqualität.
Nun... über den Anlass der Deutschen Einheit in diesen Tagen wollte ich eigentlich keine großen Worte verlieren, aber vielleicht wäre es jetzt, immerhin 26 Jahre „danach“, mal an der Zeit, dass das Filmerbe der DDR nicht mehr einem vorgestrigen Ramsch-Label überlassen wird, das noch nie etwas von anamorpher Codierung gehört hat, oder von ästhetisch ansprechender Cover-Gestaltung, oder davon, dass man Abspänne vielleicht nicht durch hässliche Copyright-Vermerke ersetzen sollte oder, bei sowjetischen Filmen, davon, dass manche Leute heutzutage gerne auch die Originalsprachfassung sehen möchten, und wenn es geht vielleicht sogar auch noch im richtigen Bildformat. So ungnädig, unwürdig und schäbig wird wohl kaum irgendeine Gruppe von Filmen in Deutschland behandelt. Bis sich das allerdings geändert hat, bleibt die Icestorm-Edition von IM STAUB DER STERNE (und vieler anderer Filme) alternativlos – leider.

Frühling in einem kleinen Haus

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XIAO CHENG ZHI CHUN („Spring In A Small Town“)
China 1948
Regie. Fei Mu
Darsteller: Wei Wei (Yuwen, die Ehefrau), Li Wei (Zhang Zhichen, der Gast), Shi Yu (Liyan, der Ehemann), Zhang Hongmei (Xiu, die kleine Schwester), Cui Chaoming (Laohuang, der Diener)



Irgendwo in der chinesischen Provinz, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs (bzw. des Zweiten Japanisch-Chinesischen Kriegs). Der ehemals reiche Bürger Dai Liyan ist finanziell wie auch gesundheitlich ruiniert: sein einst schönes Haus ist größtenteils zerstört, so dass er mit seiner Familie in noch intakten Nebengebäuden wohnen muss, er selbst leidet an Tuberkulose sowie an „Neurose“ (man würde das wohl heute „Burn-Out“ oder schlicht Depressionen nennen). Mit ihm wohnt seine Ehefrau Yuwen, seine quirlig-fröhliche 15-jährige Schwester Xiu sowie der alte, bedächtig-ruhige Hausdiener Laohuang. Yuwens und Liyans Ehe kriselt. Die Ehefrau muss sich um alles im Haushalt kümmern, geht jeden Tag ins Dorf, um Essen für die Familie sowie Medikamente für ihren Ehemann einzukaufen, während Liyan stundenlang apathisch im Garten herumsitzt und oft abweisend und launig ist. So wirft er etwa das Päckchen mit den Medikamenten, das ihm Yuwen überreicht, gleich zu Beginn – eher resigniert als wütend – weg. Von häuslicher Gewalt (ob physisch oder psychologisch) kann zwar in keiner Weise die Rede sein, und der Umgang zwischen den Eheleuten ist stets respektvoll, aber eben auch ohne jegliche Wärme oder spürbare Zuneigung.

dramatis personae:






Eines Tages kommt ein Mann zu Besuch: der Arzt Zhang Zhichen ist ein ehemaliger Schulkamerad Liyans, und tatsächlich kommt in dem resignierten Hausherrn ein bisschen Freude über den Besuch auf. Was Liyan nicht weiß und der Zuschauer erst im weiteren Verlauf von XIAO CHENG ZHI CHUN nach und nach erfährt: Zhichen war auch Yuwens Geliebter, bevor diese Liyan heiratete. Und so liegt gleich zu Beginn von Zhichens mehrtägigem Aufenthalt eine gewisse Spannung in der Luft. Am ersten Abend gehen die beiden ehemaligen Liebhaber noch recht verstohlen miteinander um: sie kommt mehrmals in sein Gästeraum, um nach dem Rechten zu sehen und zusätzliche Decken zu bringen.

Am nächsten Tag gehen der Hausherr, die Ehefrau, die kleine Schwester und der Gast zusammen spazieren. Zunächst auf der Stadtmauer, wo Zhichen für kurze Zeit Yuwens Hand ergreift. Dann geht es mit dem Boot weiter, wo sich beide sehnsüchtige Blicke zuwerfen. Am nächsten Tag gehen beide, diesmal alleine, auf der Stadtmauer spazieren. Die Stadtmauer ist der Ort, wo Yuwen gerne alleine schlendern geht, wenn sie nach dem Einkauf vor der Rückkehr in ihr unglückliches Zuhause noch einmal Ruhe tanken möchte. Dort unterhalten sie sich, erwägen implizit, zusammen ein neues Leben zu beginnen und schlendern dann weiter. Später, wieder zuhause, sagt Yuwen, dass alles einfacher wäre, wenn Liyan sterben würde – was sie sofort bereut und sowohl ihr wie auch Zhichen ein sehr schlechtes Gefühl gibt.

Eine entfremdete Ehe...
...bildet die Grundlage für Annäherungen zwischen zwei ehemaligen Liebhabern.
Das linke untere Bild: vielleicht eine Inspiration für die ikonischste Einstellung in Wong Kar-wais IN THE MOOD FOR LOVE?

Bevor das alles zu trübsinnig wird, kommt Xiu dazwischen, die nun am nächsten Tag mit dem „Großen Bruder Zhichen“ zur Stadtmauer geht, dort zu seinem Gesang etwas tanzt und sich dann milde beschwert, dass ihr Bruder Liyan immer so unlustig und schwermütig sei. Nachdem Xiu ihrer Schwägerin gesagt hat, wie schön der Spaziergang mit Zhichen war, spielt Yuwen ihrem Ex-Geliebten eine kleine Eifersuchtsszene, weil er offensichtlich Xiu lieber möge als sie – sagt ihm aber kurz vor ihrem Abgang, dass das nicht ernst gemeint war. Den gleichen Gedanken spinnt jedoch Liyan völlig ernsthaft weiter: Zhichen sei möglicherweise für Xiu die richtige Partie, und da müsse man mit den beiden mal drüber sprechen. Yuwen redet ihm den Gedanken aber erst einmal aus. Xiu werde ja morgen erst 16 Jahre alt.

Auf der Geburtstagsfeier am nächsten Abend wird dann fröhlich gesungen, gespielt und getrunken. Aus Hände- und Fingerspielen à la Schere-Stein-Papier entwickeln sich bald Trinkspiele. Yuwen, offensichtlich in trüber Laune, trinkt mehr als alle anderen, und taut erst auf, als sie mit Zhichen ein Trinksspiel spielt – an dieser Stelle merkt Liyan auch zum ersten Mal, dass etwas nicht ganz in Ordnung ist. Später, als alle schon im Bett sind, schleicht sich Yuwen zu Zhichen ins Zimmer. Beide werden von ihrer Leidenschaft zueinander fast überwältigt, stoßen sich aber mehrmals im letzten Moment wieder voneinander. Zhichen eilt danach zu Liyan ins Zimmer, um sich eine Schlaftablette zu borgen. Wenig später wiederum sucht Yuwen ihren Ehemann auf. Dieser fragt sie offen, ob sie immer noch Zhichen liebe, gibt sich aber auch selbst die Schuld an der zerrütteten Ehe.

Bei den Trinkspielen zu Xius Geburtstag ereilt Liyan eine Erkenntnis
Am nächsten Tag will Zhichen weiterziehen. Liyan bittet ihn verzweifelt, zu bleiben, weil Yuwen in seiner Anwesenheit glücklicher sei. Später versucht er, sich mit einer Überdosis Schlaftabletten umzubringen – Zhichen hatte jedoch in der Nacht zuvor die Tabletten mit Vitaminpillen ausgetauscht. Trotzdem geht es dem Ehemann schlechter und er ringt kurzzeitig mit dem Tod. Sein Zustand bessert sich jedoch dank der raschen medizinischen Intervention Zhichens, und allen Mitgliedern des Haushalts fällt ein Stein vom Herzen. Der Arzt verlässt den Haushalt am nächsten Tag, verspricht, zum nächsten Frühling wieder vorbeizukommen. Später, wohl am selben Tag, geht Yuwen wieder wie so oft auf der Stadtmauer spazieren, mit dem Unterschied, dass ihr Ehemann sich zu ihr gesellt. Die Eheleute blicken Arm in Arm in den Horizont – und offenbar auch in eine etwas hoffnungsvollere und fröhlichere Zukunft.

XIAO CHENG ZHI CHUN / SPRING IN A SMALL TOWN gilt als lange Zeit verschollene Perle des chinesischen Kinos. Er ist, so Noah Cowan, ein Höhepunkt im „Goldenen Zeitalters“ des chinesischen Films der 1930er und 1940er Jahre und verbindet dieses zugleich mit dem chinesischen Autorenkino der 1990er und 2000er Jahre, als maßgeblicher und erklärter Einfluss für Filmemacher wie Zhang Yimou, Wong Kar-wai und Stanley Kwan. Über Jahrzehnte war XIAO CHENG ZHI CHUN in China verschmäht und vergessen. Der Film entstand ein Jahr vor der Ausrufung der Volksrepublik und Regisseur Fei Mu gehörte nicht zu den Gewinnern des politischen Umbruchs. Fei, geboren 1906 in Shanghai, aufgewachsen in Peking, war in den 1920er Jahren Filmkritiker und wurde später auch Herausgeber einer Filmzeitschrift. Seinen ersten eigenen Film (der heute verschollen ist), drehte er 1935. Der gebürtige Shanghaier, der seinen Schulabschluss in einer französischsprachigen Schule gemacht hatte, war ein echter Kosmopolit und sprach wohl nicht nur fließend Französisch, sondern auch Deutsch, Englisch, Italienisch und Russisch – offenbar der richtige Mann, um als Ko-Regiseur mit den Emigranten Jacob und Luise Fleck den Film SÖHNE UND TÖCHTER DER DER WELT (Originaltitel) zu drehen: die erste Koproduktion zwischen österreichischen und chinesischen Filmkünstlern. Mit der Opernverfilmung SHENG SI HEN („Remorse at Death“) drehte Fei 1948 den ersten chinesischen Farbfilm. XIAO CHENG ZHI CHUN aus dem selben Jahr blieb Feis letzter Film. Nach dem Sieg der Kommunisten floh er nach Hongkong. Der Regisseur, der lebenslang an chronischen Gesundheitsproblemen litt, starb dort 1951 mit nur 44 Jahren. Von den Kommunisten wurde XIAO CHENG ZHI CHUN jahrelang als bourgeois verurteilt und unter Verschluss gehalten. Erst in den 1980er Jahren änderte sich diese Haltung, und das Pekinger Filmarchiv brachte eine neue Kopie des Films im Umlauf. XIAO CHENG ZHI CHUN gewann rasch eine große Popularität in China, Hongkong sowie international und brachte auch seinen Regisseur wieder ins Gespräch. Tian Zhuangzhuang drehte 2001 ein Remake des Films mit dem gleichen Titel (und dies war paradoxerweise nach mehreren Jahren Exil sein „Rückkehrfilm“).

David Bordwell schreibt, dass XIAO CHENG ZHI CHUN mit seiner langsamen Entwicklung einer erotischen Geschichte in karger Umgebung Michelangelo Antonioni vorwegnimmt. Die flüssigen Kamerabewegungen und die gekonnte Nutzung der Raumtiefe, die bereits in Feis Filmen der 1930er Jahre sichtbar seien, erinnern Bordwell an Jean Renoir. Ganz anders inszenierte Fei sein Konfuzius-Biopic KONG FUZI von 1940, der größtenteils in statischen Tableaus mit stilisierten, dezidiert artifiziellen und gemalten Bühnenbildern gefilmt ist, was Bordwell als sehr modern wertet. Der Hongkonger Filmkritiker Wong Ain-ling vergleicht Feis Konfuzius-Biopic mit Carl Theodor DreyersLA PASSION DE JEANNE D‘ARC sowie mit Eric Rohmers über 35 Jahre später gedrehten PERCEVAL LE GALLOIS (der als der experimentellste Film des nouvelle-vague-Filmemachers gilt).

Antonioni, Renoir, Rohmer, Dreyer – ich selbst werde gleich noch Fritz Lang und sogar Jean-Pierre Melville dazu holen: dass so viele Vergleiche bei der Bewertung von Feis Filmen herangezogen werden (müssen), weist sicherlich darauf hin, dass er als eigener Name (noch) nicht etabliert ist und zugleich dass da offenbar sehr vieles Interessantes zu entdecken ist. Nun also zu „Frühling in einer kleinen Stadt“. Sicherlich würde „Frühling in einem kleinen Haus“ besser als Titel passen, weil es zwar in Feis Film einen Frühling gibt, allerdings keine „kleine Stadt“. Im gesamten Film sind tatsächlich nur 5 Figuren zu sehen, und „Stadt“ taucht als geografisches Konzept nur sehr peripher auf (wir erfahren, dass Yuwen in der kleinen Stadt einkaufen geht, sehen sie aber nicht), als soziales Konzept überhaupt nicht. Der zentrale Ort des Films ist das semi-zerstörte Haus, in dem die Familie mit ihrem Gast wohnt. Das trägt dazu bei, dass XIAO CHENG ZHI CHUN wie ein extrem konzentriertes und intimes Kammerspiel wirkt, eher von Charakteren als von Plot getrieben. Diese Abgeschiedenheit verleiht dem Film aber auch einen Hauch verzweifelter Weltabgewandtheit – was mich etwas an Jean-Pierre Melville erinnert hat, minus die Gangsterfiguren und die Gewalt.

In der Ausstattung wirkt XIAO CHENG ZHI CHUN recht karg und minimalistisch, dabei ist er sehr konzise inszeniert. In seinen ersten Bildern schwenkt eine Kamera mit verblüffend hoher Geschwindigkeit über provinzielle Landschaften, und der Rest des Films ist von flüssigen, eleganten Kamerabewegungen und tatsächlich einer meisterhaften Nutzung der Raumtiefe gekennzeichnet – der Film führt etwa den Hausherrn ein, indem die Kamera durch den Garten und eine löcherige Mauer nach ihn „sucht“. Die Bildkompositionen sind wie die Bewegungen der Kamera auf unaufdringliche Weise elegant. Es gibt nur wenige Nahaufnahmen, die dann umso auffälliger sind: etwa auf die Gesichter Zhichens und Yuwans, als sie sich wieder erkennen, oder – besonders hervorgehoben – eine Nahaufnahme einer Pflanze, die Yuwen Zhichen schenkt.

Sehr auffällig ist, dass Fei immer wieder Überblendungen einsetzt, und zwar nicht, um das Ende einer Szene mit dem Beginn der nächsten zu verbinden (das manchmal auch), und auch nicht in „Montage-Impressionen“ (wie am Anfang von CITIZEN KANE), sondern mitten in normalen Szenen – statt eines Schnitts. Das wirkt leicht desorientierend, weil nebenbei oft die 180-Grad-Regel gebrochen wird und einmal die Figuren zugleich ihre Position im Raum auf „falsche“ Weise ändern. Fast wie ein jump-cut, nur eben mit den Mitteln einer Überblendung. Wäre der Film bekannter, könnte man letzteres bestimmt schon beim IMDb-Eintrag in den Goofs zu lesen. Ich sehe darin keinen „Fehler“, sondern vielmehr ein faszinierendes Stilelement, das dem Film eine leicht träumerische, schwelgerische und fließende Note gibt und ihn zwischendurch ungemein modern aussehen lässt.

Experimentelle Überblendungen in einem eigentlich klassischen Melodrama
Vielleicht noch faszinierender ist die Nutzung des Tons, oder besser gesagt der Stille. Zwei Mal während des Films „fällt“ der Ton „aus“. Natürlich besteht die Möglichkeit, dass das tatsächlich mit der überlieferten Kopie des Films zu tun hat, also damit, dass an diesen Stellen die Tonspur verschollen oder teils verschollen ist, aber das glaube ich nicht. Der erste Tonausfall erfolgt, als die beiden Ex-Liebhaber zusammen alleine spazieren gehen. Auf der Stadtmauer sprechen die beiden darüber, wie sie sich über die Jahre geändert haben. Als sie zusammen waren, soll Yuwen wohl immer einer Meinung mit Zhichen gewesen sein. „Wenn ich dich bitte, mit mir wegzugehen, würdest du dann immer noch sagen ‚Was du auch immer sagst‘?“, fragt Zhichen seine ehemalige Geliebte. „Meinst du das ernsthaft?“, erwidert Yuwen. Hier fällt der Ton aus, beide gehen ein Stück weiter, Zhichen wirft einen Ziegelstein in den nahegelegenen Fluss (das Geräusch hört man folglich nicht), und dann gehen die beiden auf einem kleinen Waldweg spazieren: während Yuwen und Zhichen zusammen gehen, sich immer mehr von der fixen Kamera entfernen und schließlich übermütig zusammen ein Stückchen rennen, herrscht vollkommene Stille. Diese knapp 50 Sekunden lange, statische Einstellung ist ein entscheidender Moment, denn hier wird eine Art Harmonie zwischen den beiden gezeigt, die keiner Erklärung (und auch keines Tons) mehr bedarf.


Der zweite Tonausfall begleitet die leidenschaftlichste und emotionalste Szene von XIAO CHENG ZHI CHUN – also der Moment, als Yuwen zu Zhichen ins Zimmer geht mit der unsicheren Absicht, ihn zu verführen. Nachdem sie sich zu ihm geschlichen hat, tauschen sie wenige Worte aus, dann herrscht vollkommene Stille, während sie zunächst ein Licht anzündet, er es wieder ausmacht, beide sich umarmen, er sie in die Arme hebt, sie dann wieder hinstellt, schnell rausgeht und sie einsperrt, damit sie ihm nicht folgt. Mit wenigen Schlägen zerschlägt sie das Türglas – das Zerschmettern des Glases und ihr leiser Schmerzensschrei sind kurz zu hören. Er eilt zu ihr, verbindet ihre Verletzung und fängt dann an, leidenschaftlich ihre Hand zu küssen. Sie hat sich wieder gefangen, erhebt sich, und durchbricht wieder die Stille mit einem schroffen und kalten „Danke“.  Wie gesagt handelt es sich um die emotionalste Szene in XIAO CHENG ZHI CHUN. Wo sich in den meisten Filmen klassischerweise die schweren Orchesterklängen überstürzen würden, herrscht hier in dieser wundervoll „low key“ fotografierten Sequenz totale, nur punktuell durchbrochene Stille. Ihre emotionale Wirkung ist dadurch vielleicht noch stärker.
Diese Nutzung des Tons erinnert an eines der großen Pionierwerke in Sachen experimenteller Tonmontage, nämlich Fritz Langs M, in dem immer wieder totale Stille eingesetzt wird. In Feis Film belebt dieses Verfahren keine Polizeiprozeduren, keine Verbrechen und keine urbanen Milieus, sondern Momente intimer Leidenschaft. Großes „drama“ ohne „melos“.

Der emotionalste Moment des ganzen Films...
...fast komplett ohne Ton gefilmt.
Weitaus weniger experimentell und interessant, sondern manchmal etwas entnervend, wirkt der leicht penetrante Voice-Over Yuwens, die nicht nur knappe Expositionen gibt, sondern teils fast schon pedantisch übererklärt – und manchmal sogar triviale Handlungen „doppelt“, die der Zuschauer eigentlich in den Bildern sieht. „Wir fahren dann Boot auf dem Fluss. Xiu singt ein Lied.“ – während der Zuschauer sieht, dass die Gruppe Boot fährt und Xiu ein Lied anstimmt. Im weiteren Verlauf des Films könnte man vielleicht denken, dass Yuwen ständig über Selbstverständlichkeiten und Trivialitäten spricht, damit sie nicht über den Kern der Dinge reden muss, aber so richtig davon überzeugt bin ich nicht.

Das bleibt aber mein vielleicht einziger größerer Kritikpunkt an diesem schönen ländlichen Melodrama, das nicht nur in der Kameraführung ein wenig an Renoir erinnert. Fei ist wie sein berühmterer Kollege ein klassischer humanistischer Erzähler, der keine Guten oder Bösen präsentiert, sondern nur Figuren, die „ihre Gründe haben“. Des weiteren fühlt sich XIAO CHENG ZHI CHUN sehr universell an – nicht nur wegen der sehr „europäisch“ wirkenden Inszenierung, sondern weil die gleiche Geschichte sich ebenso gut in Italien, Deutschland, Frankreich oder den USA abspielen könnte.

Ein hoffnungsvolles Ende


XIAO CHENG ZHI CHUN ist als „Spring In A Small Town“ in einer schönen DVD-Edition des British Film Institute erschienen, und dies ist wohl die einzige Edition mit der restaurierten Filmfassung – bei anderen DVD-Editionen soll die Sichtung wohl aufgrund der scheusslichen Bild- und Tonqualität eine recht anstrengende Herausforderung sein. 1A ist die Qualität auch bei der BFI-Edition nicht, und besonders der Ton ist immer wieder etwas scheppernd: das Bild wurde anhand des 35mm-Original-Nitratnegativs restauriert, das offenbar aber keinen Ton hatte; der Ton wurde von einer 35mm-Kopie transferiert.
Die BFI-Edition enthält zwei Bonus-Filme. Nein, leider keine weiteren Filme von Fei Mu, sondern zwei britische Filme aus dem Archivfundus des British Film Institute. A SMALL TOWN IN CHINA von 1933 ist ein neunminütiger, stummer Kurzfilm eines namentlich nicht bekannten Amateur-Filmers der Methodist Missionary Society, der in einer ungenannten chinesischen Stadt Straßenszenen filmt und später Alltagsmomente in offenbar methodistischen Schulen und Krankenhäusern auf Film festhält. Der Film hat eigentlich keinen Titel: er bekam ihn lediglich bei der Katalogisierung in den 1990er Jahren, wie im Booklet der DVD zu erfahren ist. Dieser bezeichnet A SMALL TOWN IN CHINA als „home movie“, und tatsächlich wirkt er wie ein frühes Heimvideo, das damals wahrscheinlich die Schüler, Lehrer, Krankenschwestern, Ärzte und Patienten zu sehen bekamen, die darin gezeigt werden.
THIS IS CHINA von 1946 ist ein 8-minütiger Dokumentarfilm, der vom britischen Informationsministerium produziert wurde. Dafür wurde kein Originalmaterial gedreht, sondern bereits gefilmtes „stock footage“ montiert und mit einem narrativen Kommentar versehen. Einen nominellen Regisseur hat der Film nicht, das Booklet nennt den Schnittmeister John Krish als entscheidende kreative Kraft des Films – Krish drehte später als Regisseur vor allem Dokumentarfilme. THIS IS CHINA zeichnet China als rückständiges Land, das eine Tausende Jahre alte Geschichte nun mit westlicher Technologie in Richtung Moderne bringt. Der Unterton des Narrativs ist stellenweise latent eurozentrisch und orientalistisch, die Agenda des Films aber (dem Einführungstext des Booklets würde ich da zustimmen) durchaus nicht antihumanistisch: „westlicher“ Fortschritt soll nicht sich selbst, sondern schlussendlich dem Wohl der Chinesen selbst nützen. So ambivalent der Inhalt, so dynamisch ist die Form dieses schnell geschnittenen Kurzfilms, der aus nicht selbst gedrehtem Material durch die Montage viel rausholt.

CŒUR FIDÈLE: Jean Epstein, der Impressionismus und die entsittlichende Wirkung

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CŒUR FIDÈLE
Frankreich 1923
Regie: Jean Epstein
Darsteller: Gina Manès (Marie), Léon Mathot (Jean), Edmond van Daële (Petit Paul), Marie Epstein (Nachbarin), Claude Benedict (Hochon), Mme. Maufroy (Mme. Hochon), Madeleine Erickson (Hure)

Marie; rechts oben Jean; Petit Paul; rechts unten die Hochons mit Marie
Die Filmhistoriker sind gespalten über die Frage, ob es im französischen Film der 1920er Jahre die Bewegung des "Impressionismus" (die natürlich nicht mit der gleichnamigen Richtung in der Malerei verwechselt werden darf) gegeben hat. Während die einen, etwa David Bordwell und Kristin Thompson, mit meiner Meinung nach guten Gründen die Realität dieser Bewegung oder Stilrichtung bejahen und Regisseure wie Abel Gance, Marcel L'Herbier, Louis Delluc, Germaine Dulac und Dimitri Kirsanoff dazu zählen, streiten einige andere die Existenz einer geschlossenen Bewegung rundweg ab. Die Charakteristika, die die Befürworter des Impressionismus anführen, treffen geradezu exemplarisch auf CŒUR FIDÈLE zu, und so wird auch Jean Epstein zu den Hauptvertretern des Impressionismus gezählt - wenn es ihn denn gab (was ich im Folgenden aber voraussetze). Wie diese Charakteristika denn nun aussahen, darüber unten mehr. Zunächst zur Handlung.

Hafenkneipe mit Tiefenschärfe; Petit Paul betritt die Szene
Die junge Marie wurde als Findelkind von Monsieur und Madame Hochon in Marseille aufgezogen. Doch die beiden sind lieblose Rabeneltern. Marie muss als Bedienung in der schäbigen Hafenkneipe der Hochons schuften, eigene Bedürfnisse werden ihr nicht zugestanden. Und es kommt noch schlimmer: Sie soll mit dem Ganoven Petit Paul verkuppelt werden, mit dem die Hochons durch irgendwelche krummen Geschäfte verbunden sind. Doch Marie liebt den stillen Hafenarbeiter Jean. Als der in der Kneipe vorstellig wird, um seine Ansprüche auf Marie anzumelden, wird er aber von den Hochons und Petit Paul nur abgebügelt. Und Petit Paul verschwindet daraufhin mit Marie, der keine Wahl gelassen wird, in eine Kleinstadt im Hinterland von Marseille. (Gedreht wurde die Kleinstadt-Sequenz in Manosque, aber der Name der Stadt wird im Film nicht genannt und spielt keine Rolle.) Dort ist gerade ein Rummelplatz in Betrieb, den Petit Paul mit der jetzt völlig apathischen Marie besucht. Jean hat mittlerweile von Maries Verschwinden Wind bekommen und ist Petit Paul auf der Spur. Tatsächlich findet er ihn bald, und mitten auf der Straße der Kleinstadt kommt es zu einem wilden Kampf der beiden Kontrahenten. Petit Paul zückt ein Messer, doch statt Jean trifft er einen Polizisten, der die beiden trennen wollte. Während Petit Paul daraufhin des Weite sucht, wird Jean verhaftet und zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Marie, die wie gelähmt den Kampf verfolgt hat und für Jean aussagen will, wird von der Polizei nur abgewimmelt.

Am Hafen von Marseille
Jeans Verurteilung ungefähr in der Mitte des Films bildet eine Zäsur. Es geht dann ein Jahr später mit Jeans Freilassung weiter, und die zweite Hälfte des Films spielt wieder in Marseille. Jean arbeitet jetzt als Kohlenschaufler im Hafen, und nebenbei sucht er nach Marie. Zunächst ohne Erfolg, doch dann läuft er ihr zufällig über den Weg. Und zu seinem Schreck muss er erfahren, dass Marie mit Petit Paul zusammenlebt und ein Baby von ihm hat. Doch Petit Paul hat sich nicht zum Besseren gewendet - ganz im Gegenteil. Er trinkt regelmäßig, und wenn er betrunken ist, schikaniert und tyrannisiert er Marie, die obendrein kaum Geld für sich und das Baby hat, weil Petit Paul alles versäuft oder verzockt. Jean besucht jetzt regelmäßig Marie in ihrer Wohnung, wenn Petit Paul auf Sauftour ist. Unterstützt wird das Liebespaar von einer freundlichen jungen Nachbarin mit verkrüppeltem Fuß (gespielt von Epsteins Schwester Marie, die auch am Drehbuch mitschrieb). Doch eine geschwätzige Hafenhure, die bei Jean abgeblitzt ist, hinterträgt Petit Paul das Treiben in seiner Abwesenheit. So macht er sich zu ungewohnt früher Stunde auf zu seiner Wohnung, ertappt Jean und Marie, und es kommt zum Showdown - diesmal hat er kein Messer, sondern eine Pistole dabei. Aber anders als beim ersten Kampf bleibt Petit Paul auf der Strecke, und Jean und Marie sehen einer gemeinsamen Zukunft ohne Angst vor dem Strolch entgegen.

Jean macht schwere Zeiten durch
Es ist keine freundliche Welt, die Jean Epstein uns zeigt. So wie ungefähr das erste Viertel von CŒUR FIDÈLE, spielt auch Marcel Pagnols Marseille-Trilogie (verfilmt 1931-36 als MARIUS, FANNY und CÉSAR) in einer Hafenspelunke in Marseille und ihrer näheren Umgebung (in einer der deutschen Zensurentscheidungen, auf die ich unten eingehe, als "Apachenviertel einer französischen Hafenstadt" bezeichnet). Doch von der Atmosphäre gegenseitiger Sympathie und Respekts, die diesen Mikrokosmos der "kleinen Leute" bei Pagnol prägt, findet sich in CŒUR FIDÈLE fast nichts (einziger Lichtblick ist die empathische, selbst vom Leben gebeutelte Nachbarin von Marie). Eher fühlt man sich, um einen weiteren Vergleich mit dem Film der 30er Jahre zu bemühen, an das triste Le Havre von Carnés LE QUAI DES BRUMES erinnert. Überhaupt wirkt manches schon wie eine Vorwegnahme des Poetischen Realismus, der 15 Jahre später seinen Höhepunkt erreichen sollte. Was die Handlung betrifft, so hatte sich Epstein selbst Zurückhaltung und Schlichtheit auferlegt - er wollte ein auf seine Grundmuster reduziertes Melodram erzählen. Das ist - auch nach Auffassung seiner Zeitgenossen - gelungen. "Seine Handlung ist banal", schrieb René Clair im Februar 1924 (seinen ersten Film hatte er da schon abgedreht, aber noch nicht veröffentlicht), "eine Art von BROKEN BLOSSOMS, durch französische Augen gesehen." Doch das sei nicht wichtig, beeilt er sich hinzuzufügen: "Das Thema eines Films ist nicht wichtiger als das Thema einer Symphonie. [...] Monsieur Jean Epstein, der Regisseur von CŒUR FIDÈLE, ist offensichtlich mit der Frage des Rhythmus befasst. [...] Ich fordere diese Leser nochmals auf, sich CŒUR FIDÈLE und seinen Karneval [gemeint ist der Rummelplatz] anzusehen, eine schöne Szene von visueller Berauschung, ein emotionaler Tanz in der Dimension des Raums, in der das Antlitz der Dionysischen Poesie wiedergeboren wird."

Rummelplatz
In der Tat bildet die Sequenz auf dem Rummelplatz den Höhepunkt des Films, gerade weil der Plot hier mehr oder weniger pausiert (denn Jean ist noch auf der Suche nach Marie und Petit Paul). Karussell, Kettenkarussell und Schiffschaukeln werden mit Hilfe von ungewöhnlichen Kamerapositionen, mehrfacher Bildüberlagerung, rasantem Schnitt und gezielter Bewegungsunschärfe zu einem sehr dynamischen und modern wirkenden Gebilde aus Bewegung und Geschwindigkeit verwoben. Aber auch sonst bildet die Kameraarbeit den zentralen Bestandteil von CŒUR FIDÈLE, ebenso wie im Impressionismus insgesamt. Fast alle Szenen des Films sind mit sehr großer Tiefenschärfe gefilmt (was damals nichts Besonderes war - als deep focus cinematography mit Filmen wie DIE SPIELREGEL und CITIZEN KANE wieder in Mode kam, war das eigentlich schon ein alter Hut). Die hohe Tiefenschärfe ermöglicht es Epstein und seinen drei Kameramännern, gezielt partielle Unschärfe (nicht nur Bewegungsunschärfe) als Stilmittel einzusetzen. Es gibt auch ausgiebig Doppel- und Dreifachbelichtungen. Viele Szenenübergänge sind nicht als normale Schnitte, sondern als Überblendungen realisiert, auch andere weiche Übergänge wie Iris- und Wischblenden kommen zum Einsatz. Fast alle diese kameratechnischen Mittel dienen dazu, innere Zustände der Protagonisten zu visualisieren - Gedanken, Träume, Visionen, Hoffnungen, Ängste, Erinnerungen. Auch das ein allgemeines Charakteristikum der impressionistischen Filme. Verzerrende Spiegel oder Linsen dienen dazu, Petit Pauls subjektiven Blick im betrunkenen Zustand zu vermitteln (und in Epsteins FINIS TERRAE von 1929 den Blick eines an Blutvergiftung mit hohem Fieber Erkrankten). In anderen impressionistischen Filmen kommt auch Zeitlupe zum Einsatz. Die Betonung des Innenlebens korrespondiert mit einer hohen Zahl von Großaufnahmen in CŒUR FIDÈLE.

Kettenkarussell: Die Kamera fixiert Petit Paul und Marie, während der Hintergrund verschwimmt
Was den rasanten Schnitt betrifft, so hatte Abel Gance in seinem viereinhalbstündigen Eisenbahnepos LA ROUE neue Maßstäbe gesetzt. Zwar war das durchschnitliche Schnitttempo nicht übermaßig hoch, doch gab es wahre Ausbrüche, in denen das Tempo rasant anzog. Beispielsweise eine Sequenz, in der die Einstellungen nacheinander 11, 14, 7, 6, 5 und 6 Frames lang sind (die Zahlen entstammen dem profunden Film History. An Introduction von Bordwell & Thompson). Bei einer Vorführgeschwindigkeit von 18 oder 20 Bildern pro Sekunde, wie damals meist üblich, dauern die kürzesten dieser Einstellungen nur ungefähr eine Viertelsekunde. In einer Szene, in der ein Protagonist über einem Abgrund hängt und gleich in den Tod stürzen wird, zieht sein Leben noch einmal an ihm vorbei - und jeder dieser Erinnerungsfetzen besteht aus nur einem einzigen Frame! Das war unerhört und ging über alles hinaus, was frühere Meister der Montage wie D.W. Griffith veranstaltet hatten. LA ROUE wurde denn auch neben Griffith zum wichtigsten Einfluss der sowjetischen Montage-Schule (und auch BORDERLINE mit seiner clatter montage wurde davon beeinflusst). Doch während die sowjetischen Meister um Eisenstein mit ihrer "intellektuellen Montage" Erkenntnisse über die äußere Welt vermitteln wollten, ging es Gance und seinen französischen Kollegen wiederum um das Innenleben der Protagonisten. CŒUR FIDÈLE war nun nach LA ROUE der zweite Film des Impressionismus, der sich der ultraschnellen Montage befleißigte. Zwar treibt es Epstein nicht ganz so wild wie Gance, aber in der Rummelplatzsequenz sind etliche Einstellungen auch gerade mal zwei Frames lang, und früher im Film gibt es in der Hafenkneipe auch schon einen wenn auch etwas gemäßigteren Ausbruch so eines Schnittgewitters. Nach diesen beiden Wegbereitern beinhalteten zwar nicht alle, aber doch recht viele weitere impressionistische Filme sehr dynamisch geschnittene Sequenzen, siehe etwa den ganz erstaunlichen Anfang von Kirsanoffs MÉNILMONTANT.

Der erste Kampf um Marie
Die Impressionisten bevorzugten einen zurückgenommenen, naturalistischen Schauspielstil, und der findet sich auch in CŒUR FIDÈLE. Nur Léon Mathot, der Darsteller von Jean, zeigt gelegentlich leichte Anflüge von Overacting, es hält sich aber immer in Grenzen. Dennoch scheint mir Mathot im Trio der Hauptdarsteller der Schwächste zu sein. Er wird allerdings auch ein bisschen vom Drehbuch benachteiligt. Petit Paul ist ein Widerling, aber auch ein dynamischer Charakter, und solange er nicht betrunken ist, strahlt er sogar ein gewisses Charisma aus. Im Vergleich zu ihm ist Jean fast ein Phlegmatiker, auch wenn er zweimal (in der Mitte und am Ende des Films) aus sich herausgeht. Trotzdem - 15 Jahre später hätte vielleicht Jean Gabin diese Rolle gespielt, und der hätte wesentlich mehr daraus machen können. Mathot (1885 [verschiedene Quellen nennen fälschlich 1886]-1968) war aber zu seiner Zeit ein populärer Darsteller, z.B. spielte er den Grafen von Monte Cristo in einem Serial von 1917/18. Später wechselte er ins Regiefach. - Edmond van Daële (1884-1960) alias Petit Paul war trotz seines holländisch klingenden Namens Franzose - eigentlich hieß er Edmond Jean Adolphe Minckwitz. Er spielte noch in zwei weiteren Filmen von Epstein, und in Gances NAPOLÉON gab er den Robespierre. Auch mit weiteren namhaften Regisseuren wie Maurice Tourneur und mehrfach Julien Duvivier und Marcel L'Herbier hat van Daële zusammengearbeitet. In der deutsch-französischen Coproduktion CAGLIOSTRO von Richard Oswald spielte er Ludwig XVI. - Gina Manès (1893-1989) schließlich kam in ihrer 50-jährigen Filmkarriere von 1916 bis 1966 auf rund 90 Filme. In NAPOLÉON spielte sie Kaiserin Joséphine de Beauharnais. In den späten 20er Jahren machte sie einige Abstecher in den deutschen Stummfilm, u.a. THÉRÈSE RAQUIN aka DU SOLLST NICHT EHEBRECHEN! von Jacques Feyder, DIE TODESSCHLEIFE von Arthur Robison und DIE HEILIGE UND IHR NARR von und mit William Dieterle. Im Tonfilm wurden ihre Rollen kleiner, aber sie blieb im Geschäft. Unter ihren Auftritten waren etliche Filme von namhaften Exilanten wie DIVINE (Max Ophüls), MAYERLING (Anatole Litvak) und MOLLENARD (Robert Siodmak). 1955 hatte sie einen Auftritt im letzten Film von Preston Sturges, dessen Karriere da eigentlich schon längst vorbei war.

Jean schippt Kohlen und denkt dabei an Marie
Der 1897 in Warschau als Sohn eines französisch-jüdischen Vaters und einer polnischen Mutter geborene Jean Epstein war nicht nur Regisseur, sondern neben dem jung verstorbenen Louis Delluc auch der wichtigste Theoretiker der Impressionisten. Etliche Schriften der beiden drehten sich um den etwas schwammigen Begriff photogénie. Mit seiner wilden Künstlertolle, die auch Grafiker und Bildhauer inspiriert hat, war Epstein in den 20er Jahren eine markante Erscheinung. In seinen Filmen ging er mehrfach neue Wege. Im Gegensatz zu den Verfechtern des cinéma pur hielten die Vertreter des Impressionismus am narrativen Kino fest, aber mit seinem Kurzfilm LA GLACE À TROIS FACES entfernte er sich weiter von klassischen Erzählmustern als die meisten seiner Kollegen. Epsteins heute bekanntester Film (zumindest bei uns) ist wohl LA CHUTE DE LA MAISON USHER, entstanden im selben Jahr wie die Version von Watson & Webber dieses Werks von E.A. Poe. Mit USHER hat sich Epstein dem Surrealismus angenähert, und manche Szenen erinnern an den vier Jahre später entstandenen VAMPYR von C.T. Dreyer. Regieassistent und Mitautor des Drehbuchs war Luis Buñuel, doch Buñuel und Epstein zerstritten sich, und ihre Wege trennten sich schnell. Aber Buñuel hatte dabei soviel über das Filmhandwerk gelernt, dass er daraufhin mit Salvador Dalí zu seiner ersten Großtat UN CHIEN ANDALOU schreiten konnte.

Klatschweiber in Marseille
Epstein dagegen trieb das Konzept von USHER nicht weiter auf die Spitze, sondern machte eine radikale Kehrtwende. In seinem nächsten Film FINIS TERRAE verzichtet er bis auf die schon erwähnte Szene mit dem verzerrten Blick eines Fieberkranken komplett auf die gewohnten Kameratricks. Vielmehr handelt es sich bei dem Film um ein proto-neorealistisches Drama, in der hintersten Bretagne (finis terrae = "Ende der Welt") mit einheimischen Laiendarstellern gedreht. Danach drehte Epstein noch mehrfach in der Bretagne. Seit den 30er Jahren konnte er nur mehr wenige Spielfilme realisieren, aber er drehte noch eine Reihe von Kurzfilmen, viele davon dokumentarisch. - Heute ist von den Impressionisten wahrscheinlich Abel Gance am bekanntesten, der nach den Großwerken J'ACCUSE! (keine Zola-Verfilmung, sondern eine Anklage des Ersten Weltkriegs) und LA ROUE mit dem Übergroßwerk NAPOLÉON noch eins draufsetzte. Aber die anderen Impressionisten, auch Epstein, sind außerhalb Frankreichs weniger bekannt, weil ihre Filme im Ausland wenig Erfolg hatten, und weil sie in den 30er Jahren von den Vertretern des Poetischen Realismus an Popularität weit übertroffen wurden. Aber CŒUR FIDÈLE kann man durchaus zu den Klassikern des französischen Kinos zählen.

Eine gesprächige Dame aus dem Hafenviertel
Weniger glorios verlief die Karriere von CŒUR FIDÈLE in Deutschland: Da wurde der Film nämlich verboten.

Entsittlichende Wirkung


Im November 1918 wurde mit dem Ende des Kaiserreichs auch die Zensur in Deutschland abgeschafft - jedenfalls auf dem Papier. Untergeordnete Behörden wie Polizeidirektionen konnten nach wie vor Filme verbieten (und taten es auch), aber einheitliche landesweite Verbote gab es nun nicht mehr, und das eröffnete einladende Schlupflöcher für "Sittenfilme" und "Aufklärungsfilme". Tatsächlich war die Zeit von Ende 1918 bis Mitte 1920 und nicht etwa die 60er und 70er Jahre die erste Blütezeit dieses Genres in Deutschland. Manche dieser Filme wollten tatsächlich aufklären oder eine progressive Sexualmoral (und eine entsprechende Gesetzgebung) propagieren (am bekanntesten wohl Richard Oswalds Homosexuellendrama ANDERS ALS DIE ANDERN), während die meisten eher spekulativ waren. So oder so - diese Filme waren natürlich den Konservativen in Gesellschaft und Politik (und auch dem einen oder anderen linken Kulturpessimisten) ein Dorn im Auge, und der Ruf nach einer speziellen Filmzensur wurde laut. So wurde auf Betreiben der Mitte-Rechts-Parteien von der Verfassunggebenden Nationalversammlung die Möglichkeit eines Zensurgesetzes in der Weimarer Verfassung verankert, und dieses Gesetz wurde dann als Reichslichtspielgesetz im Mai 1920 verabschiedet. Neben der Verbannung der "Schund- und Schmutzfilme" wurde damit auch eine politische Filmzensur etabliert, die im Verlauf der 20er Jahre immer rechtslastiger wurde.

Während Petit Paul keinen klaren Blick mehr hat, kümmert sich Marie um ihr Baby
Artikel 118 der Weimarer Verfassung (Fassung vom August 1919):
Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Druck, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern. An diesem Rechte darf ihn kein Arbeits- oder Anstellungsverhältnis hindern, und niemand darf ihn benachteiligen, wenn er von diesem Rechte Gebrauch macht.
Eine Zensur findet nicht statt, doch können für Lichtspiele durch Gesetz abweichende Bestimmungen getroffen werden. Auch sind zur Bekämpfung der Schund- und Schmutzliteratur sowie zum Schutze der Jugend bei öffentlichen Schaustellungen und Darbietungen gesetzliche Maßnahmen zulässig.

§ 1 Abs. 2 Reichslichtspielgesetz (Fassung vom Mai 1920):
Die Zulassung eines Bildstreifens erfolgt auf Antrag. Sie ist zu versagen, wenn die Prüfung ergibt, daß die Vorführung eines Bildstreifens geeignet ist, die öffentliche Ordnung und Sicherheit zu gefährden, das religiöse Empfinden zu verletzen, verrohend oder entsittlichend zu wirken, das deutsche Ansehen oder die Beziehungen Deutschlands zu auswärtigen Staaten zu gefährden. Die Zulassung darf wegen einer politischen, sozialen, religiösen, ethischen oder Weltanschauungstendenz als solcher nicht versagt werden. Die Zulassung darf nicht versagt werden aus Gründen, die außerhalb des Inhalts der Bildstreifen liegen.

§ 3 Abs. 2 Reichslichtspielgesetz:
Von der Vorführung vor Jugendlichen sind außer den im § 1 Abs. 2 verbotenen alle Bildstreifen auszuschließen, von welchen eine schädliche Einwirkung auf die sittliche, geistige oder gesundheitliche Entwicklung oder eine Überreizung der Phantasie der Jugendlichen zu besorgen ist.

Die Nachbarin von Marie und Petit Paul
Nun musste also jeder Film (deutsche ebenso wie importierte ausländische) vor der Veröffentlichung einer der beiden in München und Berlin ansässigen Filmprüfstellen zur Genehmigung vorgelegt werden, als Revisionsinstanz gab es die Oberprüfstelle in Berlin. Diese Prüfstellen waren dem Reichsinnenministerium zugeordnet, und das Ministerium bestimmte auch über die personelle Besetzung. Die Entscheidungen der Film-Oberprüfstelle waren endgültig, der Gerichtsweg war nicht vorgesehen. Ein nicht zugelassener Film konnte jedoch gekürzt oder sonstwie verändert erneut zur Prüfung vorgelegt werden.

Der Schurke und seine Spießgesellen
Wenn die verschiedentlich zu findende Angabe stimmt, dass die Originallänge von CŒUR FIDÈLE 1990 Meter beträgt, dann war die für Deutschland bestimmte Fassung bereits stark gekürzt, denn deren Länge betrug zunächst 1577 Meter. Die fehlenden 413 Meter entsprechen bei der für den Film laut Booklet der Blu-ray vermutlich vorgesehenen Abspielgeschwindigkeit von 18 Bildern pro Sekunde einer Dauer von etwas mehr als 20 Minuten. Diese Fassung von CŒUR FIDÈLE wurde nun unter dem vorgesehenen Titel HERZENSTREUE von einem Berliner Verleih am 7. März 1925 der Filmprüfstelle Berlin vorgelegt und daraufhin auf Antrag eines der Beisitzer mit der Begründung "Exemplarischer Schundfilm, und daher seelisch verrohend" verboten. Gegen diese Entscheidung der Kammer legte der Vorsitzende Beschwerde ein (wie es wörtlich im Protokoll heißt), sowohl aus formalen wie auch aus inhaltlichen Gründen. Formal, weil der Begriff "Schundfilm" im Reichslichtspielgesetz nicht erwähnt war und deshalb kein gültiger Ablehnungsgrund sein konnte. Inhaltlich, weil die seelisch verrohende Wirkung nicht gegeben sei, u.a. weil "... das gute Prinzip am Ende siegt und das elende Leben Petit Pauls endet". Allerdings hielt der Vorsitzende, ein Regierungsrat Goetz, Schnitte für angebracht, "... besonders im letzten Akt jene Scenen, die das blutüberströmte Gesicht Petit Pauls zeigen".

Das hat dem Regierungsrat Goetz nicht gefallen
Am 12. März beriet die Film-Oberprüfstelle über die Beschwerde, wies diese jedoch ab. Zwar wurde dem formalen Teil stattgegeben: "Nach geltendem Recht bildet die Schundfilmeigenschaft eines Bildstreifens keinen Verbotsgrund im Sinne von § 1 Abs. 1 des Gesetzes vom 12. Mai 1920. Zu diesem Teil ist die Beschwerde begründet." Inhaltlich schloss man sich der Vorinstanz aber an, was folgendermaßen zusammengefasst (und jetzt formal korrekt formuliert) wurde: "Der Bildstreifen ist in hohem Masse [sic] geeignet, entsittlichend zu wirken. Das hat wohl auch die Prüfstelle zum Ausdruck bringen wollen, als sie ihn für geeignet erklärte, "seelisch verrohend" zu wirken." Und das wird dann noch ausführlich begründet. Folgende Formulierung ließ dem Verleih wenig Hoffnung: "Diese Wirkung geht von dem g e s a m t e n Bildstreifen [Hervorhebung im Protokoll der Sitzung], nicht nur von einzelnen Bildfolgen aus, von denen Teile der Kampfscenen, insbesondere das Ende Petit Pauls geeignet sind, verrohend zu wirken, sodass ein Teilverbot nach § 1 Abs. 3 [also eine Freigabe mit Schnittauflagen] nicht in Frage kommt."

Unschärfe - kein handwerklicher Fehler, sondern ein Stilmittel

Die im Beschauer schlummernden rohen Instinkte


Trotzdem machte der Verleih tapfer einen zweiten Versuch, kürzte CŒUR FIDÈLE um weitere 23 Meter (was bei einer Abspielgeschwindigkeit von 18 fps einer Dauer von 1:07 min entspricht) und legte ihn am 15. April erneut der Filmprüfstelle Berlin vor. Zwei der vier Beisitzer waren schon beim ersten Durchgang dabei gewesen (was anscheinend ungewöhnlich war, denn sie wurden vom Vorsitzenden ausdrücklich befragt, ob sie nicht befangen seien), die anderen beiden und der Vorsitzende der Kammer waren neu. Doch auch die gekürzte Fassung fiel durch und wurde verboten: "Der Gesamteindruck ist so verrohend, dass durch die Beseitigung einzelner roher Handlungen in der Wirkung nichts wesentliches geändert wird. Aus diesem Grunde sind die inzwischen vorgenommenen Kürzungen belanglos, wie auch weitere Ausschnitte die verrohende Wirkung nicht aufheben können, weil diese hervorgerufen wird durch den Gesamtinhalt der Handlung, durch die sich, wie ein roter Faden, die nackte brutale Gewalt hindurchzieht. [...] Es besteht die Gefahr, dass im Beschauer schlummernde rohe Instinkte ausgelöst werden, die andererseits durch die Geschehnisse keinerlei Dämpfung finden. [...] so kann kein Zweifel darüber bestehen, dass das allgemeine sittliche Niveau durch das Zeigen des Martyriums, das eine wehrlose Frau durch das brutale Verhalten eines gewissenlosen Mannes erleidet, herabgemindert und gesenkt wird."


Der bei der Sitzung anwesende Vertreter des Verleihs legte wiederum Beschwerde ein, so dass es am 22. April 1925 vor der Oberprüfstelle zur vierten und letzten Verhandlung über CŒUR FIDÈLE kam. Die Besetzung war identisch mit der vom 12. März (ob das üblich war, ist mir nicht bekannt). Und neuerlich wurde die Beschwerde abgeschmettert: "Das Verbot des Bildstreifens durch die Entscheidung der Oberprüfstelle vom 12. März 1925 tat [sic] auf den Verbotsgrund der entsittlichenden Wirkung gegründet, die die Oberprüfstelle darin gesehen hat, dass der Gesamtinhalt des Bildstreifens derart herabziehend und auf das Gefühl des Beschauers abstumpfend wirke, dass von seiner Vorführung eine Verschlechterung des sittlichen Fühlens und Denkens zu besorgen sei. An dieser Feststellung wird durch die von dem Beschwerdeführer vor der Widervorlage [sic] des Bildstreifens gemachten wenigen Ausschnitte nicht [sic] geändert."

Überblendung
Während gemäß der zum Reichslichtspielgesetz erlassenen Gebührenordnung die erste Verbotsentscheidung samt Berufung gebührenfrei erfolgte, trug nach der zweiten Runde der Antragsteller (also der Verleih) die Kosten. Und damit war dann die Karriere von CŒUR FIDÈLE bzw. HERZENSTREUE in Deutschland beendet, bevor sie begonnen hatte. Das Lexikon des internationalen Films kennt CŒUR FIDÈLE nicht, er lief also anscheinend auch nie in der Bundesrepublik und der DDR. Auf der Website des Österreichischen Filmmuseums in Wien wird CŒUR FIDÈLE als TREUES HERZ erwähnt. Ich weiß aber nicht, wann er diesen Titel verpasst bekam, und ob er zeitnah zu seiner Entstehung in Österreich lief.

Noch eine Überblendung
Die so ausgiebig bemühte "verrohende" und "entsittlichende" Wirkung eines Films war eine Universalkeule des Reichslichtspielgesetzes. Das Schöne daran (aus Sicht der Zensoren) war, dass man diese Wirkung gar nicht schlüssig nachweisen, sondern nur vermuten bzw. behaupten musste (darin der "sozialethischen Desorientierung" nicht unähnlich, vor der die heutige Bundesprüfstelle und weitere Gremien seit den 50er Jahren die gefährdungsgeneigte Jugend schützen zu müssen glauben). Das war auch so gewollt. Leiter der Oberprüfstelle war seit 1924 ein Oberregierungsrat Dr. Ernst Seeger, der auch die beiden Berufungsverhandlungen HERZENSTREUE betreffend als Vorsitzender leitete. Dr. Seeger war auch an der Abfassung des Reichslichtspielgesetzes beteiligt, und in einem 1923 von ihm verfassten Kommentar zum Gesetz kann man lesen: "Der Inhalt des Bildstreifens ist nur insoweit Gegenstand der Prüfung, als von ihm aus Schlüsse auf die mutmaßliche Wirkung bei der Vorführung auf den Beschauer zu ziehen sind" (Hervorhebung von mir). 1933 konnte Dr. Seeger, inzwischen zum Ministerialrat befördert, seine Laufbahn nahtlos im Propagandaministerium fortsetzen - "Die Lücke, die sein Tod im Reichspropagandaministerium gerissen hat, wird schwer auszufüllen sein", hieß es in einem Nachruf im Film-Kurier vom 18. August 1937. - Aus heutiger Sicht ist das Verbot von CŒUR FIDÈLE natürlich ein schlechter Witz, aber damals war das ein ganz normaler Vorgang, und meist ging sowas sang- und klanglos über die Bühne. Öffentlich ausgetragene Zensurskandale wie bei DIE FREUDLOSE GASSE, PANZERKREUZER POTEMKIN oder KUHLE WAMPE blieben die Ausnahme. - Wer sich die erbauliche Lektüre der famosen Filmprüfer gönnen will, findet hier die Sitzungsprotokolle verlinkt.

Links Dreifachbelichtung, rechts ein natürlicher Schleier im Bild
CŒUR FIDÈLE ist in England bei Masters of Cinema als Blu-ray/DVD-Combo mit ausgezeichneter Bildqualität erschienen. Eine französische DVD gibt es auch. Und für die, die mehr von Epstein sehen wollen, gibt es ebenfalls in Frankreich drei DVD-Boxen: "Jean Epstein - Première Vague" mit vier Filmen auf zwei DVDs, "Jean Epstein - Poème Bretons" mit seinen sieben bretonischen Filmen auf drei DVDs sowie (zu einem sehr gehobenen Preis) den "Coffret Jean Epstein" mit 14 Filmen auf acht Scheiben sowie einem beigelegten Buch.

Großaufnahmen ...
... und noch mehr Großaufnahmen

Ölmultis, ein Auto und ein Haufen Glas

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Einige Werbe- und Industriefilme aus vergangenen Jahrzehnten

Eigentlich wollte ich ja noch im Dezember einen Artikel über Alexandre Alexeïeff und Claire Parker veröffentlichen, der aber über Weihnachten steckengeblieben ist (aber hoffentlich in diesem Monat noch kommt). Deshalb zur Überbrückung bis Davids Jahresrückblick hier nur ein kleiner Pausenfüller. Und Alexeïeff (ohne Parker) ist hier auch mit dabei.



THE BIRTH OF THE ROBOT
Großbritannien 1936
Regie: Len Lye


In Großbritannien haben eigene Filmabteilungen großer Konzerne, privatwirtschaftlicher ebenso wie (halb-)staatlicher, eine lange Tradition. Produziert wurden Werbe-, Industrie- und Dokumentarfilme, über die eigenen Tätigkeitsfelder, aber auch über andere Themen. Neben der vom General Post Office gestellten GPO Film Unit und British Transport Films, das von der Eisenbahn und weiteren öffentlichen Transportunternehmen betrieben wurde, ist hier vor allem die 1934 ins Leben gerufene Shell Film Unit zu nennen (noch detailliertere Informationen darüber hier). Alle diese Organisationen gehörten zum Dunstkreis der britischen Dokumentarfilmbewegung um John Grierson. Von Grierson, dem Chef der GPO Film Unit, beeinflusste Produzenten wie Edgar Anstey (später langjähriger Chef von British Transport Films) und vor allem Sir Arthur Elton prägten das filmische Geschehen bei Shell. Zu den Regisseuren, die sowohl für GPO Films als auch für die Shell Film Unit arbeiteten, zählte auch der geniale Neuseeländer Len Lye (1901-1980), der in den frühen 30er Jahren nach England gegangen war. Seine Domäne war der abstrakte Film, und hier ist er in einem Atemzug mit Oskar Fischinger und Norman McLaren zu nennen. THE BIRTH OF THE ROBOT, der eher nebenbei Werbung für Schmieröl von Shell macht, ist also ein für ihn ungewöhnlicher Film. Das verwendete Farbverfahren ist Gasparcolor, das ein ungarischer Chemiker erfunden hatte, und das auch von Fischinger und Alexeïeff mehrfach benutzt wurde. Lyes Auftraggeber von Shell waren mit dem Ergebnis sehr zufrieden, und der Film wurde in den britischen Kinos von geschätzten drei Millionen Leuten gesehen.




Wir bleiben noch bei Shell. Am Anfang seiner Laufbahn arbeitete auch Geoffrey Jones (1931-2005), den ich hier schon vorgestellt habe, bei der Shell Film Unit, wo er einige Filme drehte, bis er sich 1961 selbständig machte und seine eigene Firma gründete. Die beiden hier vorgestellten Filme realisierte er also nicht als Angesteller des Ölkonzerns, sondern als unabhängiger Auftragnehmer.

SHELL SPIRIT
Großbritannien 1963
Regie: Geoffrey Jones



1962/63 drehte Jones drei kurze Werbefilme für Shell, und das ist einer davon. Der Soundtrack bei allen drei Filmen besteht aus südafrikanischer Kwela-Musik. Tragendes Instrument dabei ist die Blechflöte (Pennywhistle). SHELL SPIRIT gewann einen Ersten Preis einer Vereinigung von Designern und Art Directors, und er machte Edgar Anstey auf Jones aufmerksam, wodurch es dann zu seinen drei Filmen für British Transport Films kam.


THIS IS SHELL
Großbritannien 1970
Regie: Geoffrey Jones



Man glaubt es kaum, aber dieser wunderbare Film wurde gar nicht für die Öffentlichkeit gedreht, sondern nur für die Aktionäre von Shell UK. Nachdem zuvor bei der Jahreshauptversammlung von Dutch Shell ein eigens gedrehter Kurzfilm gezeigt worden war, wollte man im britischen Zweig des Konzerns auch sowas haben, und da griff man auf Jones zurück, mit dem Shell ja schon gute Erfahrungen gemacht hatte. Jones realisierte THIS IS SHELL unter großem Zeitdruck - er hatte genau zwei Monate, dann fand die Aktionärsversammlung statt. Die Musik für THIS IS SHELL schrieb Donald Fraser, der auch LOCOMOTION vertonte, und ebenso wie bei Jones' drei Eisenbahnfilmen war auch hier die geniale Daphne Oram für die elektronische Bearbeitung des Soundtracks zuständig.



LA SÈVE DE LA TERRE
Frankreich 1955
Regie: Alexandre Alexeïeff



Hier nun also der oben schon angesprochene Alexandre Alexeïeff, und statt Shell jetzt die Konkurrenz von Esso. Da ja hoffentlich bald der Artikel über Alexeïeff kommt, will ich hier nicht viele Worte über ihn verlieren. - Ölmultis brauchen natürlich Autos, also bauen wir uns eines:


AUTOMATION
Frankreich ca. 1960
Regie: J.P. Rhein, Alexandre Alexeïeff (Beratung)



Ein wunderbar modernistischer Werbeclip für Renault. Damit da keine Missverständnisse aufkommen: Bei der Musik hat sich nicht etwa ein heutiger Möchtegern-Künstler aufgespielt, wie man das so häufig auf YouTube findet, sondern das ist der Originalsoundtrack, und er stammt von einem Maurice Van Thienen. Alexeïeff fungiert hier in den Credits als Berater, über den nominellen Regisseur J.P. Rhein weiß ich nichts. Schade, dass bei diesem Video die Bildqualität so schlecht ist - auf DVD sieht das noch deutlich eindrucksvoller aus.



Die letzten beiden Filme verfolgen ein gemeinsames Thema - sie sind der Herstellung von Glasprodukten gewidmet.

GLAS
Niederlande 1958
Regie: Bert Haanstra

GLAS darf man getrost zu den Klassikern des Industriefilms zählen, und er zählt auch zu den Filmen, die Geoffrey Jones (seiner eigenen Aussage nach) inspiriert haben. Der Film ist deutlich zweigeteilt - während es in der ersten Hälfte mehr um traditionelle Glasbläserei geht, wechselt es ziemlich genau in der Mitte zur industriellen Glasherstellung, was sich auch im Soundtrack widerspiegelt.



Bert Haanstra (1916-1997) ist neben Joris Ivens wohl der bekannteste holländische Dokumentarist (mit nur seltenen Ausflügen zum Spielfilm). Und siehe da - auch Haanstra hat für die Shell Film Unit gearbeitet. Auf Einladung von Sir Arthur Elton drehte er ab 1952 eine Reihe von Dokus für Shell, neben Filmen über den Themenkomplex Erdöl beispielsweise auch DIJKBOUW über traditionelle und moderne Methoden des Deichbaus in Holland. Schon zuvor hatte Haanstra mit dem 1950 gedrehten SPIEGEL VAN HOLLAND Aufsehen erregt. In diesem schönen neunminütigen Film werden Szenen des Alltags aus Holland als Spiegelung im Wasser der Grachten gezeigt, so wie das später Kurt Steinwendner in VENEDIG gemacht hat.

Leerdam ist seit dem 18. Jh. ein Zentrum der Glasproduktion in Holland, und auf Einladung der dortigen Königlichen Glasfabrik drehte Haanstra 1957/58 seinen bekanntesten Film. Genauer gesagt, er drehte und schnitt parallel zwei Filme. Der knapp halbstündige OVER GLAS GESPROKEN ist sozusagen der offizielle Film, also der Film, den die Glasfabrik von ihm wollte (und laut dem von John Wakeman herausgegebenen World Film Directors ist es "an excellent instructional documentary"). GLAS dagegen ist Haanstras persönliche Variation des Themas - und er geriet ihm zum Triumph. GLAS gewann als erster holländischer Film überhaupt einen Oscar, und auf einem Dutzend Festivals gab es Preise, darunter einen Silbernen Bären in Berlin.



100 WATTS 120 VOLTS
USA 1977
Regie: Carson Davidson



Den im letzten September verstorbenen Carson "Kit" Davidson (1924-2016) habe ich hier schon anhand seines 3rd AVE. EL von 1955 vorgestellt. Wer Davidson noch nicht kennt oder wieder vergessen hat, sei erneut auf diese Seite verwiesen. Mit GLAS kann es der knapp 20 Jahre später entstandene 100 WATTS 120 VOLTS an filmgeschichtlicher Relevanz nicht aufnehmen, aber schön ist er auch, und das Dritte Brandenburgische Konzert von Bach trägt seinen Teil dazu bei. Gedreht wurde in einer Glühlampenfabrik der Firma Duro-Test. Die "120 Volt" im Titel beziehen sich natürlich auf das nordamerikanische Stromnetz mit seiner im Vergleich zu unseren 230 Volt deutlich niedrigeren Spannung.



Von Len Lye, Geoffrey Jones und Alexandre Alexeïeff & Claire Parker gibt es jeweils eine DVD mit einer Auswahl ihrer Filme, die auch die hier behandelten beinhalten, von Bert Haanstra gar eine Box mit 10 DVDs unter dem Titel "Bert Haanstra Compleet" (der Name sagt schon alles Nötige), und das zu einem sehr gemäßigten Preis und mit engl. Untertiteln. Von Carson Davidson gibt es dagegen nichts.

Tote Liebe, neue Liebe, entspanntes Angeln: 2016 im persönlichen Jahresrückblick

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Das Kino ist tot...

Ich habe dieses Jahr einen großen Teil meines Glaubens an das Kino als (Sehnsuchts)ort der Filmrezeption verloren. Ich werde zwar älter und dadurch vielleicht auch griesgrämiger und intoleranter gegenüber vermeidbaren Kinopannen und oft unvermeidlichen Mit-Kinogängern, aber so viele Probleme mit Technik, Projektionen, Vorführern und Co-Zuschauern hatte ich bislang noch nie so gehäuft...

... ein Kinotagebuch der Schande – oder: The Pitiful Eight

30. Januar: THE HATEFUL EIGHT (Quentin Tarantino: USA 2015)
Tatort: Schillerhof Jena
Die deutsche Unsitte, den Kinosaal fluchtartig zu verlassen, wenn der Filmabspann beginnt (als wäre dieser krebserregend-ekliges Glibberzeugs, das es partout zu vermeiden gilt), hat möglicherweise dazu geführt, dass Säle gleich nach Beginn der end credits wieder in gleißendes Licht getaucht werden und die Putzkolonnen durch die Gänge wuseln. Wenn die Eine-Frau-Putzkolonne sich aber während des kompletten Abspanns im vollen Licht direkt neben die Leinwand stellt und die Zuschauer in der ersten Reihe ungeduldig anglotzt, weil diese noch nicht die Freundlichkeit hatten, zu verduften, dann ist das schon ein dickes Ding.

7. Februar: VON MORGENS BIS MITTERNACHTS (Karlheinz Martin: Deutschland 1920)
Tatort: Lichthaus Weimar
Die digitale Projektion des expressionistischen Films wies gleich von Anfang an eine hohe Anzahl an Pixel-Artefakten auf. Mit der Zeit fror das Bild immer wieder komplett ein – diese Passagen überbrückte der begleitende Pianist Richard Siedhoff gnädigerweise, indem er jeweils aus dem Stand ein Pausen-Intermezzo improvisierte. Beim x-ten Freezeframe ging es dann gar nicht mehr weiter. Grund war, dass die gebrannte Blu-ray [sic!] und der Blu-ray-Player [sic!] nicht mehr zusammen wollten. So huschte der Geschäftsführer des Kinos nach Hause, um seinen privaten Player zu holen, damit die Vorstellung (nach etwa 15-20-minütiger Unterbrechung) weitergehen konnte – ohne Freezeframes, dafür aber immer noch mit reichlich Pixel-Gematsche. Hintergrund: statt einer analogen Kopie hatte das angefragte Filmarchiv eine gebrannte Blu-ray geschickt. Vielleicht wäre es besser gewesen, die Vorführung abzusagen.

6. März: L‘ECLISSE (Michelangelo Antonioni: Italien/Frankreich 1962)
Tatort: Schillerhof Jena
Zwischen zwei Pärchen zu sitzen, die sich jeweils langweilen und deshalb beginnen, sich zu befummeln und lautstark abzuknutschen, ist nicht gerade das Gelbe vom Ei. Dass mir der Film auch nicht gefiel, ist keine Entlastung. Dass beide Pärchen keine Teenies waren, sondern gut gesetzte Anfang-Dreissiger, macht die Sache noch peinlicher. Dass eines der Pärchen Freunde von mir waren, mit denen ich den Film anschaute, macht... ach... lassen wir‘s...

22. April: RITAM ZLOČINA (Zoran Tadić: Jugoslawien 1981)
Tatort: FilmBühne Caligari Wiesbaden
Etwa ein halber Film vergeht, bis der Vorführer merkt, dass die Projektion die ganze Zeit „open matte“ war. Fliegender Wechsel von 1.33:1 zu 1.66:1.

23. April: DOM ZŁY (Wojciech Smarzowski: Polen 2009)
Tatort: Murnau-Filmtheater Wiesbaden
Ein beunruhigender Film – warum also nicht eine komplette Filmrolle mit zittrigem Bildstand abspielen?

24. April: ZIEMA OBIECANA (Andrzej Wajda: Polen 1975)
Tatort: Murnau-Filmtheater Wiesbaden
Ein komplettes Zusatzprogramm mit Filmstörungen: Zuerst wird wegen eines Raubkopier-Terroristen die Pausentaste – die Wunder des digitalen Kinos! – gedrückt und eine melodramatische Belehrung gegeben, später ein Kabel für über 10 Minuten mitten in das Bild rein gehalten. (Ausführlicheres zu den beschämenden Pannen beim diesjährigen goEast-Festival gibt es hier.)

13. Juli: THE NEON DEMON (Nicolas Winding Refn: Frankreich / Dänemark / USA 2016)
Tatort: Kino am Markt Jena
Das neueröffnete Kino am Markt in Jena war von Anfang an eine Mogelpackung: im Grunde nichts anderes als ein externer Zusatz-Saal des Schillerhofs, den dieses eben geografisch weiter entfernt aufmachte. Ein Ort, um das übliche Schillerhof-Programm abzuspielen, wenn das Hauptkino vier Monate lang TONI ERDMANN zeigen muss oder aber genau die Filme, die eh schon im örtlichen Multiplex laufen. Kurz: eine echte Bereicherung für die Filmvielfalt in Jena. Das „neue“ Kino tut nebenbei alles, um wie eine klinische Location auszusehen, die nur den Zweck hat, möglichst viel Zuschauer-Vieh durch das Programm zu schleusen – daher auch die extrem engen, sardinenbüchsenartigen Sitzreihen und das räudige Ambiente einer Bahnhofswartehalle. Und dann meinte ein Zuschauer fünf Sitze weiter noch, möglichst lautstark und aufsehenerregend – am liebsten in den leisen Momenten – ungefähr fünf Bier, drei Chipstüten und mehrere Packungen Erdnüsse vertilgen zu müssen, während direkt neben mir ein Zuschauer sich genötigt fühlte, seinen Abscheu vor den grotesken, sleazigen Szenen mit demonstrativ lautem ironischem Lachen auszudrücken, nur, um dann bei den schockierenden Gewaltmomenten doch kleinlaut zu winseln (das aber auch mit ordentlicher Lautstärke). Dass beide Zuschauer auch noch zur 8- oder 9-köpfigen Freundesgruppe angehörten, die sich aus einem ursprünglich von mir als zweiköpfig geplanten Kinobesuch gebildet hatte, macht das ganze... ach... lassen wir‘s...

18. November: PATERSON (Jim Jarmusch: USA / Frankreich / Deutschland 2016)
Tatort: Schillerhof Jena
Gegen Flüsterteppiche während der Trailerphase zu meckern – das wäre ein Luxus in einer besseren Filmkultur. Dass dieser Flüsterteppich auch nicht leiser wurde, als der eigentliche Film begann, ist schon bedenklicher. Das wenige, das ich unfreiwillig aufschnappte, zeigte aber, dass es um wirklich wichtige und relevante Dinge ging – etwa darum, spöttische Bemerkungen über die Namen der Hauptdarstellerin und des Cutters zu reissen.


...lang lebe das Kino!

Wenn das Kino tot ist, bleibt nichts anderes übrig, als es in Alternativen zu beleben. Das nenne ich gerne „ruhige DVD-Sichtung bei mir zuhause“. Aber es geht auch anders. Meine beste Filmvorführung des Jahres fand nicht in einem „richtigen“ Kino statt, sondern in einem Kellergewölbe: eine (Überraschungs-)Privatvorstellung von Stummfilmen zu Ehren meines 30. Geburtstages, mit dem Stummfilmpianisten Richard Siedhoff und einem knapp zweistündigen Programm, das ich selbst zusammenstellte – ausgewählt aus einer Sammlung von 16mm-Filmrollen, die Richard in einem großen Koffer mitgebracht hatte.

Zu sehen gab es:
IT‘S A GIFT (Hugh Fray: USA 1923) – oder: ein Magnetauto fliegt davon
WRONG AGAIN (Leo McCarey: USA 1929) – oder: ein schwieriger Umzug mit Pferd
PASS THE GRAVY (Fred Guiol: USA 1928) – oder: Peinlichkeiten an der Festtafel
NEIGHBORS (Buster Keaton / Eddie Cline: USA 1920) – oder: Romeo & Julia akrobatisch
ONE WEEK (Buster Keaton / Eddie Cline: USA 1920) – oder: DIY postexpressionistisch
IT‘S A GIFT (Hugh Fray: USA 1923) – oder: ein Magnetauto fliegt davon (Zugabe)


Jacques Rivette ist tot...

2016 war das Jahr der vielen Toten im (pop)kulturellen und auch im Filmbereich – zumindest, wenn man dem Boulevard glauben mag. Ich frage mich, ob wirklich mehr berühmte Persönlichkeiten gestorben sind als sonst, oder ob deren Tod neuerdings einfach nur wesentlich sensationsgieriger und pietätsloser ausgeschlachtet wird. Beides muss sich nicht ausschließen.
Der Tod Jacques Rivettes am 29. Januar 2016 war für viele deutschsprachige Medien kaum eine Fußnote wert. Der Grundton meist: komisch-exzentrischer nouvelle-vague-Kauz, der extrem lange Filme über komische Theatertruppen drehte. Kein Ereignis, der noch vier Tage später 90 % der facebook-Timeline ausmachte. Der metteur en scène (Rivette lehnte den „autoritäreren“ Begriff Regisseur für sich selbst ab) tauchte – übrigens ebenso wie der knapp drei Wochen später verstorbene Andrzej Żuławski – in denmeistenEndjahres-(Bilder)galeriender 2016er-Toten folglich auch gar nicht erst auf. Keine der Personen, die „wir vermissen“, wie es so „schön“ hieß. Wenn ich ab und zu Rivette bei persönlichen Unterhaltungen erwähnte, wussten meine Gesprächspartner nicht, von wem ich sprach – Gesprächspartner wohlgemerkt, die teils Medienwissenschaft mit Schwerpunkt Film studiert hatten und Jean-Luc Godards LE MEPRIS zu ihren großen Lieblingsfilmen zählen.


...lang lebe sein unsterbliches Kino!

Für mich war sein Tod der Auslöser dafür, meine herumliegende DVD von LA RELIGIEUSE zwei Tage später zu sichten. Ich kannte von Rivette bislang nur PARIS NOUS APPARTIENT – ein damals eher im negativen Sinne anstrengendes Erlebnis. Die Sichtung von LA RELIGIEUSE mündete (mit ein wenig Verzögerung) in mein größtes Filmabenteuer des Jahres – neber meiner Werkschau zu John Carpenter, ein ebenso glühender Verehrer Howard Hawks‘ wie sein französischer Kollege. Wenn Rivette kein „Regisseur“ war, sondern ein metteur en scène, so war er vor allem ein furchtloser Abenteurer, ein leidenschaftlicher Entdecker in diesem großen Land namens Film... Sein Redaktions- und Filmemacherkollege Godard sagte einmal über Nicholas Ray, dass dieser vielleicht der einzige Regisseur der Welt sei, der nicht nur fähig, sondern auch willens sei, das Kino neu zu erfinden, wenn dieses verschollen ginge. Ray in allen Ehren – aber auf Rivette trifft diese Aussage vielleicht noch mehr zu. Und jetzt wird auch er nicht mehr da sein, um es neu zu erfinden. Seine Filme zu sehen, ist nicht nur ein großes Abenteuer, es kann auch eine recht mühselige, teils recht teure Herausforderung sein, wenn man sie in ordentlichen Editionen sehen möchte. Und französischsprachige Filme ohne Untertitel zu verstehen, kann auch von Vorteil sein.

Bisheriger Sichtungsstand (nach Präferenz):

LA BELLE NOISEUSE (1991)
CÉLINE ET JULIE VONT EN BATEAU: PHANTOM LADIES OVER PARIS (1974)
OUT 1, NOLI MI TANGERE (1971)

LE PONT DU NORD (1981)
SCÈNES DE LA VIE PARALLÈLE: 2 – DUELLE (UNE QUARANTAINE) (1976)
SUZANNE SIMONIN, LA RELIGIEUSE DE DENIS DIDEROT (1966)
L‘AMOUR FOU (1969)

PARIS NOUS APPARTIENT (1961) [Zweitsichtung]
NE TOUCHEZ PAS LA HACHE (2007)

VA SAVOIR – Kinoversion (2001)
HISTOIRE DE MARIE ET JULIEN (2003)
36 VUES DU PIC SAINT-LOUP (2009)

MERRY GO-ROUND (1981)
SCÈNES DE LA VIE PARALLÈLE: 3 – NOROÎT (UNE VENGEANCE) (1976)
LE COUP DU BERGER (1956)

LA BELLE NOISEUSE – DIVERTIMENTO (1992)
PARIS S‘EN VA (1981)
OUT 1, SPECTRE (1972)

2017 werde ich mit Sicherheit den einen oder anderen Rivette-Film hier besprechen. Ich lehne mich jetzt mal aus dem Fenster und verspreche zumindest einen Text zu L'AMOUR FOU, dem zentralen Übergangsfilm zwischen der frühen und der mittleren Werksphase – und trotz seiner zentralen Bedeutung in Rivettes Filmographie bis heute nirgendwo auf DVD (noch nicht einmal auf VHS) erhältlich. Auf ihn und weitere sieben der 18 gesichteten Rivette-Filme komme ich zunächst schon mal weiter unten noch mal kurz zu sprechen. Vorher aber gibt es noch einen kurzen Blick auf aktuelle Filme.


Meine besten Filme des Jahres 2016

Trotzdem ich Kinobesuche zunehmend anstrengend finde, habe ich mich vom aktuellen Kino- und Filmgeschehen nicht vollkommen abgekehrt. Es ist dennoch bezeichnend, dass von meiner Liste fast die Hälfte (de-facto-)direct-to-video-Veröffentlichungen, TV-Filme oder „obskure“ Filmfestival-Geheimtipps sind.
Eine Flop-Liste erspare ich mir dieses Jahr: Gordian Mauggs schreckliches Biopic FRITZ LANG und „NWR“s (wie er sich jetzt gerne nennt) THE NEON DEMON seien hiermit als besonders unerfreuliche Sichtungen lediglich erwähnt.

1 ELLE (Paul Verhoeven: Frankreich 2016)
Die erfolgreiche Chefin eines Computerspielunternehmens wird zuhause überfallen und vergewaltigt. Die Tat wird zum Auslöser für eine Rundumabrechnung mit ihrem Umfeld und ihrer Vergangenheit – und später für den Beginn eines Katz-und-Maus-Spiels mit dem Täter.
Der einzigartige und unverwüstliche Paul Verhoeven ist zurück, nach 10 Jahren Kinopause (allerdings nur 4 Jahren Filmpause – dazu weiter unten mehr). Ein Freund von mir nannte den Film „altersmild“, weil die extreme Gewalt etwas zurückgefahren und der Sleaze sublimiert ist, doch Verhoeven selbst bezeichnete ELLE als den bisher provokantesten Film seiner Karriere. Es ist sicherlich sein provokantester und schockierendster Film seit SPETTERS (1980): wie das pessimistische Panorama der niederländischen Provinzjugend greift ELLE nicht auf das Sicherheitsnetz des Genres zurück. Die Niederträchtigkeit, die Gewalt, die Grausamkeit, die Peinlichkeit, das Abstoßende (aber ebenso die schiere Lebensfreude und die unverhofften Momente der Menschlichkeit) kommen wie in SPETTERS aus dem richtigen Leben, und nicht aus Genre-Mustern. Als Thriller, wie ELLE oft bezeichnet wird, funktioniert der Film nicht und ist auch nicht so gefilmt. Das, was man wohl eher als loses Drama bezeichnen könnte, ist wie seine Hauptfigur: knochentrocken, spröde, im richtigen Moment dennoch sehr schlagkräftig, undurchdringlich, mysteriös. ELLE ist nicht nur Verhoeven pur, sondern auch Isabelle Huppert in einer unsterblichen Glanzrolle.
Der beste Film des Jahres kommt in Deutschland Anfang Februar 2017 ins Kino. Ich war zu ungeduldig und habe mir deshalb schon die französische DVD besorgt. Verhoeven ist mit ELLE definitiv in seiner Altmeister-Werksphase angekommen, ohne jedoch Ermüdungserscheinungen zu zeigen. Er plant mit LYON 1943 seinen nunmehr dritten Weltkriegsfilm, über sein Jesus-Projekt spricht er mittlerweile auch wieder. Ich bin gespannt.

2 PATERSON (Jim Jarmusch: USA / Frankreich / Deutschland 2016)
Eine Woche im ruhigen Leben des Busfahrers und Freizeit-Lyrikers Paterson in Paterson, New Jersey.
À propos Altmeister-Werksphase... Jim Jarmusch war nie ein klassischer Erzähler im engeren Sinne. Mit THE LIMITS OF CONTROL hat er sich definitiv von jeglichem Plot-Ballast befreit. ONLY LOVERS LEFT ALIVE transzendierte völlig das Genre des Vampirfilms mit seinem meditativen, langsamen Rhythmus (was ihm bei manch einem den Ruf des „Gitarrenstreichler-Films“ brachte). In PATERSON hat Jarmusch außergewöhnliche Figuren (Profikiller, Vampire) nun ganz aufgegeben. Gegliedert in sieben Kapiteln (je ein Tag der Woche) folgt er dem ruhigen Alltag eines Menschen, der fünf Tage die Woche in einem verhältnismäßig monotonen Job arbeitet und der auch in seiner Freizeit eher ein Mann des understatement ist – im Gegensatz zu seiner tatenlustigen Ehefrau oder den anderen Gästen seiner Stammkneipe. Wie Verhoeven entfernt sich auch Jarmusch vom Genre, um etwas freieres zu erschaffen. Etwas, das aus dem meditativen Charme der Wiederholung (mit kleinen Variationen) nach und nach seine volle Schönheit gewinnt.
Mir fällt gerade auf, dass Jarmusch vielleicht einer der interkulturellsten Filmemacher der USA ist. Immer wieder begibt er sich entweder in die Fremde – und das konsequenterweise auch sprachlich – (NIGHT ON EARTH, THE LIMITS OF CONTROL), oder lässt zumindest Fremde auf die USA blicken (in gut der Hälfte der Spielfilme). Am Ende von PATERSON unterhält sich Paterson mit einem japanischen Touristen, der mit dem Blick eines Gedichteliebhabers durch die US-Provinz geht. Noch konsequenter ist wohl, dass die Herkunft von Patersons Frau Laura, die mit ihrem Akzent ganz offenbar keine gebürtige US-Amerikanerin ist (gespielt von der iranisch-französischen Schauspielerin Golshifteh Farahani), gar nicht thematisiert wird und ich glaube auch noch nicht mal erwähnt – sie lebt eben in Paterson mit Paterson und will Country-Sängerin werden. 

3 SULLY (Clint Eastwood: USA 2016)
Pilot Chesley Sullenberger landet kurz nach dem Abflug ein beschädigtes Flugzeug auf dem Hudson River, wird dann als Held gefeiert, von einem Untersuchungsausschuss befragt und gerät in schwere Selbstzweifel.
Mit seiner üblichen klassischen, ruhigen und unaufgeregten Inszenierung (allerdings wesentlich pointierter als in den letzten Filmen) erzählt Eastwood von einem unfreiwilligen Helden, der eigentlich nur seinen Job gemacht hat. Statt eines reißerischen Katastrophenfilms gibt es das intime Portrait eines ruhigen, überlegten Profis, gefilmt aus Perspektive seiner Erinnerungen, seiner Erinnerungsbruchstücke und seines unbeirrbaren Arbeitsethos. Nach einer großen Enttäuschung (JERSEY BOYS) und zwei  mittelmäßigen Streifen (J. EDGAR, AMERICAN SNIPER) liefert Eastwood hier nicht nur seinen besten Film der 2010er Jahre, sondern auch sein persönlichstes Werk seit langem (seit UNFORGIVEN?).

4 DER BUNKER (Nikias Chryssos: Deutschland 2015)
Der Student mietet sich für seine Forschungen im Zimmer einer exzentrischen Familie in einem Waldbunker ein: während der Vater eine erschreckend freundliche passive Aggressivität an den Tag legt, unterhält sich die Mutter gerne mit einem Außerirdischen namens Heinrich, der sich in einer übel aussehenden Beinwunde versteckt hält – und Klaus, den geistig zurückgebliebenen Sohn, soll der Student dazu unterrichten, US-Präsident zu werden.
Nach drei Altmeistern Platz für die Jugend. Nikias Chryssos‘ erster abendfüllender Film ist derartig singulär, dass sich viele Kritiker in halbgare Vergleiche flüchteten à la „David Lynch und Helge Schneider drehen zusammen auf Koks eine Folge der Lindenstraße“. Das ist nicht völlig abwegig, zumal Chryssos wie Schneider prominent einen ganz offensichtlich älteren Schauspieler als kleines Kind besetzt, trifft es aber nur unzureichend. DER BUNKER mag ein klaustrophobisches Kammerspiel sein, das vier Figuren in fensterlose Räume pfercht, aber vor allem ist es ein großes Stück entfesseltes Kino: zugleich grotesk, anrührend, urkomisch, gruselig, erschreckend, zärtlich, schockierend, hysterisch, besinnlich, melancholisch. Alle Register werden ineinander überfließend gezogen. Eine Erklärung für das ganze ist nicht simpel. Selbst die Frage, ob Klaus nun eigentlich ein zurückgebliebener Achtjähriger mit dem Körper eines 30-Jährigen ist, oder ein 30-Jähriger, der eine geistige Regression durchgemacht hat, wird jeder für sich selbst beantworten müssen – ich neige zu ersterem, aber der vieldeutige Schluss verunsichert mich auch. Da passt es wie der Rohrstock auf die ausgesteckte Hand, dass der Film von einem nur vierköpfigen, aber perfekten Cast getragen wird, von wunderbar komponierten Cinemascope-Bildern veredelt wird, kunstvoll ausgeleuchtet ist (die Wände, die wie bei Suzuki Seijun – tut mir leid, noch so ein Vergleich – zwischendurch die Farbe wechseln!), und von einem grandiosen elektronischen Score Leonard Petersens begleitet wird. Den Soundtrack gibt es in der erweiterten DVD-Edition als Bonus, und ich warne eindringlich vor seinem extremen Suchtpotential.
In einer besseren Welt würden die Leute nicht sagen „Wir sind Toni Erdmann“, sondern „Klaus for President“. In einer besseren Welt wäre Klaus tatsächlich der neue Präsident der USA: die Frisur und die profunden Kenntnisse der Weltgeografie ähneln sich zwar, aber Klaus ist doch etwas freundlicher. In einer besseren Welt würde DER BUNKER auch außerhalb von Millionenstädten in Kinos laufen und keine de-facto-direct-to-video-Veröffentlichung sein. Mehr von mir zu diesem wunderbaren Film zu lesen gibt es hier.

5 ZOOTOPIA (Byron Howard, Rich Moore, Jared Bush: USA 2016)
In der Metropole Zootopia suchen die idealistische Hasen-Polizistin Judy und der kleinkriminelle Fuchs Nick nach einer entführten Otter – und stoßen dabei auf ein politisches Komplott, das mithilfe von Hass, Vorurteilen, Rassismus und Attacken auf eine Minderheit die multikulturelle Gesellschaft Zootopias zerrütten möchte.
ZOOTOPIA ist der große politische Film des Jahres 2016. Das mag bei einem 150-Millionen-Dollar-Disney-Film, der eigentlich Kinder und Familien als Hauptzielgruppe hat, befremdlich klingen. Nun... Zufällig kam ZOOTOPIA in die deutschen Kinos genau 10 Tage vor einer dreifachen Landtagswahl, bei der durchschnittlich 15 % der Wähler (insgesamt weit über eine Million Menschen) für Hass, Vorurteile und Rassismus stimmten. Diese unheilvolle Trias wird in Deutschland tagtäglich unter solch netten Begriffen wie „Sorgen“ und „berechtigte Ängste“ legitimiert – leider gerade auch von Leuten, die sich gerne eifrig als liberale Vorzeigedemokraten präsentieren möchten. ZOOTOPIA hingegen will das nicht akzeptieren, und die Hauptfigur Judy Hopps, eine naive Vorzeigedemokratin, wird schlussendlich gezwungen, ihren eigenen, tief verwurzelten Rassismus zu überwinden. Die „Botschaft“ mag vordergründig sein. Vor allem über seine Figuren und Nebenplots fordert ZOOTOPIA völlig beiläufig eine Gesellschaft, in der ethnische, sexuelle, lebensweltliche und subkulturelle Minderheiten selbstverständlich akzeptiert werden sollen (also namentlich Raubtiere, Homosexuelle mit Dienstmarke, naive Land-Stadt-Migranten und nudistische Hippies).
Auch ganz unabhängig dieser Implikationen ist ZOOTOPIA ein wunderbarer Film für Erwachsene – kleine Kinder dürften von der Laufzeit und vor allem von den sehr effektiven Thriller-Momenten (teils am Rande des Horrorfilms) überfordert sein. Mit links verbindet ZOOTOPIA Motive des police procedurals, des Buddy-Movies, des film noir, des Politthrillers, des Actionfilms und der Großstadtkomödie und funktioniert in der Hauptsache auch über die Chemie zwischen den beiden Hauptfiguren. Die einzelnen Vignetten sind alle stimmig: die erste große Verfolgungsjagd Judys nach einem Dieb ist so schweißtreibend, wie die langsame Suche nach einem Autokennzeichen bei der Kfz-Behörde (in der Faultiere arbeiten) absurd-komisch ist. Zwischendurch mokiert sich der Film milde über die Production-Code-Ära, wenn Nick einen Witz mit dem Wort „pregnant“ erzählt oder die schamhafte Judy eine Befragung in einem Nudisten-Club durchführt, in dem sich zahlreiche Tiere so schamlos wie lustvoll nackt räkeln.

6 FINDING DORY (Andrew Stanton, Angus MacLane: USA 2016)
Dory, die unter starken Amnesie-Problemen leidet, begibt sich auf die Suche nach ihren Eltern.
FINDING NEMO war schon ein netter Film. Und doch dachte ich mir: wie würde bloß ein Film aussehen, der sich der faszinierendsten Figur widmet? Die Antwort war also FINDING DORY! Ein Disney-Film, der eine Figur in den Mittelpunkt stellt, deren psychische Probleme nicht nur schwere Identitätsprobleme mit sich bringt. Sie vergisst alle paar Sekunden, was zuvor geschehen ist, und ist, wenn Zwischenfälle sie nicht weiterbringen, gewissermaßen dazu verurteilt, sich permanent im Kreis zu drehen und ist dadurch noch nicht einmal dafür gewappnet ist, die allereinfachsten Aufgaben zu bewältigen, weil sie keine konzentrierte Einordnung ihres eigenen Ichs und ihrer kürzlichen Handlung in ihre Umwelt vornehmen kann. FINDING DORY ist dann entsprechend ein Film darüber, wie das Unüberwindliche überwunden wird. Nicht erzählt mit den Mitteln des film noir (gleichwohl der Film mit einer vergesslichen Protagonistin auf der Suche nach der Vergangenheit sich dazu eignen würde und überhaupt auch der bessere MEMENTO ist), sondern mit den Mitteln des Buddy-Actionfilms. Zumindest größtenteils. Zwischendurch wartet FINDING DORY mit POV-Einstellungen auf (als die vergessliche Dory von Panik ergriffen etwas sucht), die aus einem Thriller entstammen könnten. Mehrere Momente bringen diesen Disney-Film an den Rand dessen, was ein eigentlich für Kinder produziertes Konsumprodukt tun kann – wenn sich Dory etwa in einem Eimer voller toter Fische (Futter für die Haie in einem großen Aquarium-Erlebnispark) wiederfindet, sich nonchalant mit ihnen unterhält und erst langsam merkt, dass etwas hier nicht stimmt.
Angesichts der ganzen Superhelden-Postquel-Reboot-Aufgüsse wird bisweilen von einer Infantilisierung des Publikums gesprochen. Das Paradox, dass ausgerechnet die Disney-Animations- und Kinderabteilung letztendlich intelligente Filme für erwachsene Zuschauer produziert (eben ZOOTOPIA und FINDING DORY), scheint geradezu logisch.

7 BASKIN (Can Evrenol: Türkei / USA 2015)
Eine Handvoll Polizisten begibt sich zu einem abgelegenen Tatort und betritt damit unfreiwillig das Vorzimmer der Hölle.
Can Evrenol schickt fünf türkische Polizisten zusammen mit ihrem bornierten, sexistischen Weltbild in die Hölle, wo der Männerbund ordentlich in Stücke gerissen wird (nicht nur metaphorisch). Der Weg dazu ist aber nicht geradlinig und direkt, sondern führt über diverse Alpträume und Zeitschleifen. Trotz der eindeutigen Beeinflussung durch Dario Argento und Clive Barker ist Evrenol mit seinem ersten Langfilm (ein „Remake“ seines gleichnamigen letzten Kurzfilms) ein ganz eigener, überaus sinnlicher, fleischlicher und alptraumhafter Film gelungen.

8 ZIELFAHNDER: FLUCHT IN DIE KARPATEN (Dominik Graf: Deutschland 2016)
Zwei deutsche Polizisten suchen in der rumänischen Hauptstadt, später in den Dörfern, nach einem entflohenen Kriminellen.
Auch ohne die irrsinnige Dichte von TATORT: AUS DER TIEFE DER ZEIT treibt Graf dem Tatort-Spießer die Wuttränen in die Augen mit seinem Krimi, der zuerst mit Autoverfolgungsjagden und wüsten Prügeleien in abgeranzten Bruchbuden aufwartet, um sich später völlig hemmungslos in ausgedehnten Nebenplots zu suhlen. Der Höhepunkt des Films ist entsprechend auch die feucht-fröhliche Hochzeitsfeier, getragen von einer Scheiss-drauf-lass-uns-Spaß-haben-Stimmung – gefolgt von der wundervollsten verkaterten Suche nach einer gestohlenen Kirchturmglocke, die je auf Film gebannt wurde. Auch ein „kleiner“ Graf kann ein großer Filmmoment des Jahres sein!

9 THE KEEPING ROOM (Daniel Barber: USA 2014)
Während des Amerikanischen Bürgerkriegs, irgendwo in den Südstaaten: Die Hausherrin einer kleinen Farm, ihre kleine Schwester und ihre schwarze Sklavin leben alleine auf dem Hof, während die Männer im Krieg sind. Zwei marodierende Soldaten belagern und bedrohen sie...
Der Western ist immer noch nicht tot zu kriegen, und das ist auch gut so! THE KEEPING ROOM verbindet dabei das Setting eines Frauen-Südstaaten-Westerns äußerst effektiv mit Elementen des Home-Invasion-Thrillers und des Rape-and-Revenge-Exploiters. Nebenbei thematisiert der Film auch, wie Krieg Geschlechter- und ethnische Beziehungen wandelt. Die ältere Schwester muss nun funktional „zum Mann“ werden: also den Hof betreiben und beschützen, notfalls mit Gewalt. Doch zugleich erodiert die eindeutige Beziehung zwischen ihr, der Sklavenherrin, und ihrer Sklavin, weil letztere aufgrund des kriegsbedingten sozialen Zusammenbruchs nicht mehr bereit ist, einfach nur Sklavin zu sein. In einem denkwürdigen Moment gibt die Herrin der Sklavin eine Ohrfeige. Diese antwortet mit einer ebenso schallenden Ohrfeige. Für mehrere Sekunden sind beide (und der Zuschauer) erstaunt darüber, was eben passiert ist. Nur wenige Sekunden, die vielschichtiger sind als alles, was Quentin Tarantino in den gesammelten 6 Stunden von DJANGO UNCHAINED und THE HATEFUL EIGHT zu diesem Thema zu sagen (um nicht zu sagen: zu labern) hat.

10 SIMPLY THE WORST (Günther & Hindrich: Deutschland 2016)
Zwei sächsische Slacker fahren zusammen auf Spritztour ins tschechische Erzgebirge. Alkoholkonsum und Tollpatschigkeit bringen bald Trubel.
In Sachsen gibt es nicht nur Naz... besorgte Bürger, sondern auch kreative Filmemacher. Was auf den ersten Blick wie kleine statische Sketches aussieht, verwandelt sich nach dem Start des Trips Richtung Osten in ein Feuerwerk aus irrsinnigen Gags und absurden Ideen. Auf ein Ausschmücken der Handlung wird komplett verzichtet: brutale Schnitte und gnadenlose Ellipsen peitschen die Bilder nur so voran, dass es kracht. Das Resultat ist nicht ein kurzes Roadmovie von 20 Minuten, sondern ein extrem kompaktes Konzentrat mit genug Stoff für 3 Stunden Film. Zeit offline hat mit seinem Statement („Most epic roadmovie ever“) den rostigen Nagel der Marke VEB Kleinmetallwaren Karl-Marx-Stadt direkt auf den Kopf getroffen. SIMPLY THE WORST läuft auf Sächsisch mit hochdeutschen und englischen Untertiteln. Diese differieren in Bedeutung, Länge und Witzform teils sehr erheblich sowohl untereinander wie auch zum gesprochenen Sächsischen und fügen dem Film, der nicht melodisch verläuft, sondern wie ein Schichtkuchen aufeinander geschichteter Akkorde aufgebaut ist, somit eine zusätzliche Note hinzu.
SIMPLY THE WORST sah ich Ende Februar bei den Vorauswahl-Sichtungen zum diesjährigen Jenaer cellu l‘art Kurzfilmfestival (und der Film schaffte es auch in das fertige Festivalprogramm). Er lief auch auf diversen anderen Kurzfilmfestivals und ist auf Video-on-demand bzw. auf Anfrage bei den Machern auf DVD erhältlich.


Film und Kontext: Das Filmbuch des Jahres 2016

SAUFT BENZIN, IHR HIMMELHUNDE! GESPRÄCHE ÜBER MÄNNLICHE ALLMACHTSPHANTASIEN, MASCHINENGEWEHRE, ZERSTÖRUNGSWUT & UNGEHEMMTE MORDLUST (Oliver Nöding, Marcos Ewert)
Wer den Blog kennt (siehe unsere Blogroll) weiß, worum es in diesem Buch geht: um die Rehabilitation eines verfemten Genres – des US-amerikanischen Actionfilms der 1980er Jahre – mit den Mitteln des Filmdialogs. Eine echte Goldgrube nicht nur für Fans von Sylvester Stallone, Chuck Norris, Arnold Schwarzenegger, Charles Bronson, Menahem Golan und Co., sondern für alle Filminteressierte, weil es wohl wenige Filmtexte gibt, die auf einem solch hohen Niveau Liebhaber-Herzblut mit analytischem Scharfsinn verbinden.
Hier noch mal ein paar Infos von einem der beiden Autoren selbst, inklusive eines Links für Käufer.


2016: mein persönlicher Kanon der Erstsichtungen

Ich habe dieses Jahr 439 Filme gesehen (bzw. ein bisschen weniger, weil ich einige auch zwei- oder mehrmals gesehen habe – oder doch eher ein Tick mehr, wenn man noch unzählige Kurzfilme hinzurechnet). Die crème de la crème meiner diesjährigen Erstsichtungen habe ich in der folgenden Liste mit einigen mehr oder minder kurzen Kommentaren versammelt.

1 MAN‘S FAVORITE SPORT? (Howard Hawks: USA 1964)
(4 Sichtungen) Pure Entspannung auf Zelluloid. Mehr von mir zum „ultimativen Hollywood-Autorenfilm“ gibt es hier zu lesen.

Jacques Rivette – Liebe für Kunst, (Lebens)künstler und Schauspieler
LA BELLE NOISEUSE, CÉLINE ET JULIE VONT EN BATEAU
OUT 1
2 LA BELLE NOISEUSE (Jacques Rivette: Frankreich / Schweiz 1991)
Dieser Film war der Beginn einer neuen großen Liebe – zu Jacques Rivettes Filmen. Dass er in meiner Liste direkt nach MAN‘S FAVORITE SPORT? kommt, ist wohl kein Zufall: es ist der späthawksianische Film eines großen, erfahrenen Meisters, der nur noch ein bisschen südfranzösische Sonne, Emmanuelle Béarts entschlossene Blicke und Michel Piccolis zögerliche Artikulation braucht (und vier Stunden Zeit), um eine Filmperle zu zaubern.

3 CÉLINE ET JULIE VONT EN BATEAU: PHANTOM LADIES OVER PARIS (Jacques Rivette: Frankreich 1974)
Der Film beginnt mit einer 10-minütigen Verfolgungsjagd durch das sommerliche Paris und endet mit dem Bruch der vierten Wand, als eine Katze in die Kamera schaut. Dazwischen gibt es drei Stunden Kinomagie, bei der alles möglich ist. Rivettes Semi-Remake von Hawks‘ GENTLEMEN PREFER BLONDES, mit 16mm aus der Hüfte während eines Sommers gedreht, steht und fällt mit seinen fantastischen Hauptdarstellerinnen, die zwischendurch nonchalant jeweils die andere spielen. Juliet Berto hat als Céline ihre schönste von dreieinhalb Rollen für Rivette und es ist eine Schande, dass Dominique Labourier keine weiteren Filme mit ihm gedreht hat.

4 OUT 1, NOLI MI TANGERE (Jacques Rivette: Frankreich 1971)
Das zwölfeinhalbstündige Mammutwerk, das trotz der epischen Länge auch ein unglaublich intimer Film ist. Das Komplott löst sich wie meist bei Rivette am Schluss in Beliebigkeit auf, es bleiben viele unvergessliche Momente. Was anderswo als zermürbende und strapaziöse Theaterprobeszenen beschrieben wird, gehört zu den intensivsten performativen Kinomomenten, die ich bisher gesehen habe, besonders jene mit Thomas‘ (Lonsdale) Truppe. OUT 1, NOLI MI TANGERE enthält auch eine große herzzerbrechende, unerfüllte Liebesgeschichte zwischen Colin (Léaud) und Pauline (Ogier), die voller Hoffnung anfängt und schließlich in Nicht-Kommunikation und totaler Entfremdung endet. Und eine wunderbare Auferstehung aus Verrücktheit in das Leben zurück, wenn Quentin (Baillot) nach etwa einer Stunde (oder zwei?) scheinbar verrückten Herumirrens wie ein Vollprofi in die andere Theatertruppe einsteigt – ein echter Hawksianischer Professional eben!
Die Laufzeit von 12 Stunden ist zwar logistisch ein bisschen herausfordernd, vergeht aber wie im Flug.

5 WALKABOUT (Nicolas Roeg: UK / Australien 1971)
Roegs 1 1/2. Film über das Erwachen der Sexualität in der Wüste ist ein unglaubliches Kinogedicht von fast unerträglicher Schönheit und Traurigkeit und großem Verstörungspotential. Die pièce de résistance ist die vierminütige Jagd-Schwimm-Montage in der Mitte des Films. John Barry großartiger Score bringt den Bildern das letzte I-Tüpferchen.

Fantastische Bilderwelten mit
unterschiedlichen Mitteln: CALIFORNIA
LE PONT DU NORD
6 CALIFORNIA (John Farrow: USA 1947)
(2 Sichtungen) Ein exzentrischer Western in psychedelischem Technicolor und extralangen Plansequenzen. Zu diesem bizarren Wunderwerk gibt es von mir hier mehr zu lesen.

7 SALON KITTY (Tinto Brass: Italien / Bundesrepublik Deutschland / Frankreich 1976)
Die Idee, dass Prostituierte (die für das stehen, was viele als „unanständig“ sehen) einen kleinen, utopischen, symbolischen Sieg über Nazis (die für das stehen, was viele als „ordentlich“ in einem hoffnungslos ausgehöhlten Sekundärtugend-Sinne sehen) feiern, ist schon wunderschön, aber SALON KITTY war zumindest bei der Erstsichtung vor allem ein unermüdlicher, musikalischer Bilderfluss, der in einer großartigen Katharsis der Zerstörung endet.

8 BRAT (Aleksej Balabanov: Russland 1997)
No Future in Piter! Ein genialer Beitrag zum Genre des Hitman-Films mit entfremdeten, nur scheinbar coolen und kontrollierten Killern.

9 WAKE IN FRIGHT (Ted Kotcheff: Australien / USA 1971)
Weihnachten mit neuen Bekanntschaften und mehreren Bierchen – garantiert unbesinnlich, dafür am Ende besinnungslos betrunken... Auch wenn die Biere so unglaublich schnell getrunken werden, so ist vor allem die bedrückende, qualvolle Langsamkeit dieses Films faszinierend. Ein Abstieg in die Hölle vom Feinsten.

10 LE PONT DU NORD (Jacques Rivette: Frankreich 1981)
Die Hauptfigur des Films ist schwer klaustrophobisch, deshalb wurde LE PONT DU NORD passenderweise auf 16mm im Guerilla-Stil komplett auf den Straßen von Paris gedreht. So wird neben Bulle Ogier und Pascale Ogier dieses dreckige, graue Paris fern der Touristenorte, das langsam gentrifiziert und abgerissen wird, zur dritten Hauptfigur – und zum Spielbrett für Protagonisten, metteur en scène und Zuschauer.

11 SCÈNES DE LA VIE PARALLÈLE: 2 – DUELLE (UNE QUARANTAINE) (Jacques Rivette: Frankreich 1976)
DUELLE ist möglicherweise Rivettes „purster“ Film (vielleicht neben NOROÎT, mit dem er eine Art Duo bildet) – definitiv auch einer seiner „schwierigeren“. Weitere Sichtungen werden zeigen, was mich am Duell der Nachtgöttin (Juliet Berto) und der Sonnengöttin (Bulle Ogier), die in einen irdischen Komplott um einen verschwundenen Edelstein geraten, so fasziniert hat.

12 UN COMISAR ACUZĂ (Sergiu Nicolaescu: Rumänien 1974)
Dirty Tudor räumt auf. Oder wie in Rumänien ein poliziesco gedreht wird, dass den Italienern und Amerikanern Sehen und Hören vergeht. Mehr von mir zum rumänischen Dirty Harry gibt es hier zu lesen.

Bittere Frauenschicksale und Einsamkeit in
THE KILLING OF SISTER GEORGE
LA RELIGIEUSE
13 THE KILLING OF SISTER GEORGE (Robert Aldrich: USA 1968)
Das Schöne und das Grausame, das Vulgäre und das Edle, das Witzige und das Schreckliche, das Nihilistische und das Hoffnungvolle, das Brutale und das Zärtliche nahtlos miteinander verbinden: das gehört sicherlich zu den hervorragendsten Eigenschaften der späten Aldrich-Filme (ich denke an THE GRISSOM GANG, EMPEROR OF THE NORTH POLE, THE LONGEST YARD, HUSTLE). Hier, in seinem persönlichsten Film, kommt das wohl zum ersten Mal in Aldrichs Werk wirklich so gut und meisterhaft zum Tragen.

14 JE T‘AIME MOI NON PLUS (Serge Gainsbourg: Frankreich 1976)
Ein Musikkünstler und Filmamateur dreht aus dem Stand gleich einen solch unfassbaren Film: ein Proto-New-Queer-Cinema-Melodrama, der zunächst nach einer nouvelle-vague-Interpretation von „The Postman Always Rings Twice“ wirkt, dann aber doch unerwartete Wege einschlägt.

15 SOY CUBA (Michail Kalatozov: Kuba / UdSSR 1964)
40 Jahre nach DER LETZTE MANN erfinden Michail Kalatozov und Sergej Urusevskij in diesem Filmessay die entfesselte Kamera neu. Schwerkraft, Natur, Architektur, Menschenmengen, Wasser oder die gängigen Regeln räumlicher Orientierung – nichts kann sie stoppen. Mehr zu Kalatozov und Urusevskij gibt es von Manfred hier zu lesen.

16 HARDWARE (Richard Stanley: UK / USA 1990)
Als „art-house sci-fi gorefest“ wurde der erste abendfüllende Film des exzentrischen Südafrikaners Richard Stanley genannt, in dem der wiedererwachte Schädel eines Cyborgs in einem isolierten Apartment Amok läuft. In diesem klaustrophobischen Kammerspielsetting entfesselt Stanley seine recht banale Geschichte zu einem singulären Bildgedicht – inklusive einer extrem denkwürdigen und bizarren Sterbeszene.

17 SUZANNE SIMONIN, LA RELIGIEUSE DE DENIS DIDEROT (Jacques Rivette: Frankreich 1965)
Rivette leiht sich die Muse seines Freundes Godard aus und erreicht nur mit ihrem Blick, dem kargen und trostlosen Setting und einigen Jumpcuts eine erschreckende emotionale Intensität. Eine Passionsgeschichte, die wirklich weh tut (und nicht nur Genre-Ingredienzen für Tränen zusammenwirft). Der späte NE TOUCHEZ PAS LA HACHE ist der ideale Ergänzungsfilm, weil er Ähnliches mit den gleichen Mitteln erreicht.

18 VAMPYROS LESBOS (Jess Franco: Bundesrepublik Deutschland / Spanien 1971)
Fans von Jess Franco schreiben oft über die Faszination des Disparaten in seinem Werk oder greifen gerne auf die von ihm selbst genutzte Metapher zurück, dass seine Filme wie Jazz-Nummern mit langen Improvisationen seien. Für letzteres scheint mir VAMPYROS LESBOS der ultimative Beleg zu sein. Zusammengefügt wie die Schattierungen eines Musikstücks, nicht wie eine Erzählung, entwickeln die surrealen, grotesken, schaurig schönen Bilder (dieser Skorpion im Wasser!) eine große Faszination.

(Nicht(?)-/mehr-)Paar-Spiele:
COPIE CONFORME
L'AMOUR FOU
19 COPIE CONFORME (Abbas Kiarostami: Frankreich / Italien / Belgien / Iran 2010)
Kiarostami fügt mit einem kleinen Twist den Annäherungsliebesfilm mit den „Szenen einer Ehe“ zusammen – im Rahmen dessen, was man wohl als eine Art Remake von Orson Welles‘ Essay über Kunstfälscher und Autorenschaft F FOR FAKE sehen kann. 

20 BORDERLINE (Kenneth Macpherson: UK 1930)
Schneller montiert als es die Sowjets kurz zuvor taten, und mindestens so assoziativ und energiegeladen wie Orson Welles 20 Jahre später. Mehr zu diesem verblüffenden Stummfilm und seinen faszinierenden Machern schrieb Manfred hier.

21 ¿QUIÉN PUEDE MATAR A UN NIÑO? (Narciso Ibáñez Serrador: Spanien 1976)
Das spät- und postfranquistische transgressive Kino Spaniens ist immer wieder eine Quelle von Freude, Überraschung und Verwunderung. Der Auslandsspanier Ibáñez Serrador reibt den Zuschauern die Schrecken des Bürgerkriegs unter die Nase, indem er einen eigenen Bürgerkrieg – am Ende gar einen Weltkrieg – der Kinder gegen die Erwachsenen inszeniert.

22 VILLAGE OF THE DAMNED (John Carpenter: USA 1995)
À propos fiese Kinder... Carpenters humanistischster Film und sein vielleicht vollendetster Cinemascope-Film. Einige Sätze mehr von mir dazu in meinem Artikel zu meiner diesjährigen Carpenter-Retrospektive.

23 NO BLADE OF GRASS (Cornel Wilde: UK / USA 1970)
Der große auteur maudit des provokativen politischen Films, Cornel Wilde, beendet seine Trilogie über den zivilisatorischen Zusammenbruch mit der ökologischen Postapokalypse – er gibt sich als wütender Prediger in einem schwierigen Film, der es schafft, agitatorisch zu sein, ohne pädagogisch zu werden. Hans Schmid hat über NO BLADE OF GRASS hier einiges Interessantes geschrieben.

24 A COTTAGE ON DARTMOOR (Anthony Asquith: UK / Schweden 1929)
Es soll ja immer noch Leute geben, die denken, dass vor der Erfindung des Tonfilms dem Kino etwas wesentliches fehlte. Der konzentrierte, intime Thriller A COTTAGE ON DARTMOOR, wie auch THE GENERAL, SUNRISE, SPIONE, LA PASSION DE JEANNE D‘ARC, GENERAL‘NAJA LINIJA, beweist, dass dem nicht so ist: schon vor den „talkies“ war fast alles möglich. Weitere Sichtungen werden vielleicht ergeben, dass Asquiths A COTTAGE ON DARTMOOR (im Grunde ein früher film noir) tatsächlich auf der Höhe der eben genannten ist.

25 ONE PLUS ONE (Jean-Luc Godard: UK 1968)
Godard schwurbelt vergnügt mit Politik herum, während die Stones „Sympathy for the Devil“ in x-verschiedenen Varianten ausprobieren. Von wegen „ein Mädchen und eine Knarre“: ein Sänger und eine Gitarre tun‘s auch.

26 ONE, TWO, THREE (Billy Wilder: USA 1961)
Die schnellste Komödie, die ich dieses Jahr gesehen habe (schneller als Hawks‘ BRINGING UP BABY). Und auf eine gewisse Weise auch ein ambivalentes Portrait der frühen Bundesrepublik und ihrer (Nicht-)Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich: der Sekretär ist ein liebenswürdiger Sidekick, aber wenn er davon erzählt, er habe in der SS nur in der Konditorei-Abteilung gearbeitet, läuft es einem auch kalt den Rücken herunter.

27 L‘AMOUR FOU (Jacques Rivette: Frankreich 1969)
Rivettes zweiter „erster Film“, seine Befreiung vom „konventionellen“ Filmemachen, gedreht ohne Drehbuch und entwickelt in improvisierter Zusammenarbeit mit den Darstellern. In langen, langen, langen Szenen schält sich langsam ein Theaterstück heraus, während parallel eine Liebesbeziehung langsam durch Wahnsinn, Paranoia und Betrug zusammenbricht. Vielleicht hätte auch eine Laufzeit von nur drei Stunden statt vier gereicht, aber was soll‘s: selten fühlte sich ein „Neubeginn“ so sehr befreiend an.

28 BIS ANS ENDE DER WELT (Wim Wenders: Deutschland / Frankreich / Australien / USA 1991)
Mein Jahr 2016 war ganz gut, wenn es um sehr lange Filme ging. Wenders‘ Viereinhalbstünder über einen Diebstahl, Übertragungen von Bildern und Träume in die Gehirne, nukleare Apokalypse und eine große Liebe hat – rückblickend gesehen – tatsächlich etwas leicht Rivette‘ianisches in seiner schieren Verspieltheit.

29 THE WARD (John Carpenter: USA 2010)
Der wohl vorerst leider letzte Film eines großen Meisters. Mehr zu Carpenters „chick flick“ gibt es von mir hier zu lesen.

30 RITAM ZLOČINA (Zoran Tadić: Jugoslawien 1981)
Der audiovisuelle Link zwischen Alfred Hitchcock und Eric Rohmer wird ausgerechnet in einem Thriller aus Jugoslawien hergestellt. Mehr zu diesem erstaunlichen Film gibt es von mir hier zu lesen.

31 TWIXT (Francis Ford Coppola: USA 2011)
Coppola zeigt allen Zuschauern, die gerne THE GODFATHER 4 oder APOCALYPSE NOW 3 sehen möchten, den Mittelfinger und amüsiert sich zusammen mit Val Kilmer und Bruce Dern einfach prächtig in dieser Räuberpistole um traurige Vampire, Untote und einen abgehalfterten Schriftsteller... 

32 YOUTH WITHOUT YOUTH (Francis Ford Coppola: USA / Rumänien / Frankreich / Italien / Deutschland 2007)
... seine altersradikale Phase begann aber mit YOUTH WITHOUT YOUTH, der schamlos Mindfuck-Thriller, Melodrama, meditativer Grüblerfilm, Mystery, Liebesfilm, schwarze Komödie, Surrealismus und Esoterik zusammenfügt.

33 THE DIARY OF A CHAMBERMAID (Jean Renoir: USA 1946)
Uff... was für ein merkwürdiger Film. Ihm wurde vorgeworfen, dass die Charaktere „not in tune“ mit dem Drehbuch seien – ich glaube eher, dass genau das seine Stärke ist. Alle Bilder, ihrer oberflächlichen Fröhlichkeit zum Trotz, werden von etwas überlagert, was nicht passt, was irritiert, stört, ja gar verstört. Eine leichte Komödie mit verrückten Leuten, die Leichen im Keller haben, und am Ende werden sogar Leute getötet. Im Grunde ein bisschen wie in LA RÈGLE DU JEU, bloß noch pessimistischer.

34 DRAK SA VRACIA (Eduard Grečner: ČSSR 1968)
Ein slowakischer Heimatfilm aus der Blütezeit der Neuen Tschechoslowakischen Welle. Mehr dazu von mir gibt es hier zu lesen.

35 STEEKSPEL (Paul Verhoeven: Niederlande 2012)
Zwischen ZWARTBOEK und ELLE war Verhoeven nicht ganz untätig. Der TV-Film STEEKSPEL war eine Art misslungenes Experiment, das Drehbuch mit der „Schwarmintelligenz“ des Publikums zu entwickeln. Entstanden ist eine Art Screwball-Komödie mit viel screw um die eskalierende Geburtstagsfeier eines Schürzenjägers, der eine Affäre mit der besten Freundin seiner alkoholischen Tochter hat und dessen Geschäftspartner ihn mithilfe einer Ex-Geliebten aufs Kreuz legen wollen. Der Film dauert nur 50 Minuten, und vermittelt einen Eindruck davon, wie eine Telenovella-Schmonzette von Paul Verhoeven inszeniert aussehen würde: extrem witzig, hintergründig, mit einem ordentlichen Schuss Sleaze abgeschmeckt, hochenergetisch und schonungslos.
(Die Vorstellung, dass Verhoeven mal nach Deutschland kommen könnte, um eine TATORT-Folge zu inszenieren, ist im Lichte dessen sehr anregend. Ein Meuffels-POLIZEIRUF wäre natürlich sehr naheliegend.)

36 KEETJE TIPPEL (Paul Verhoeven: Niederlande 1975)
Verhoevens Version des gediegenen, respektablen period-Melodrama – natürlich ohne „gediegen“ und ohne dem, was viele Leute unter „respektabel“ verstehen. Die Geschichte des mühseligen und aufopferungsvollen Aufstiegs eines Arbeitermädchens in höhere soziale Gefilde würde mit SHOWGIRLS wahrscheinlich ein perfektes Double-Feature bilden.

37 AIRPORT (George Seaton: USA 1970)
Ich hatte ehrlich gesagt einen fürchterlich pompösen und behäbigen Film erwartet, eine Verbildlichung der Gründe, warum so etwas wie „New Hollywood“ dringend notwendig war. Bekommen habe ich einen Thriller mit einem perfektem Timing, einer grandiosen Darstellerriege, viel Platz für den menschlichen Faktor und für Gewitzheit und – auch wenn er bereits in der Darstellerriege inkludiert ist – mit einem überlebensgroßen Burt Lancaster. Ein perfektes Samstagabend-Programm!

38 L‘INCONNU DU LAC (Alain Guiraudie: Frankreich 2013)
Ein ultraminimalistischer Thriller: ein Badesee im Sommer, mehrere aufeinanderfolgende Tage, ein Mörder, sein Liebhaber, eine moralische Zwickmühle.

"How d'you get your kicks for living?"
 Geschwindigkeit (SPEEDY)
Filmemachen (AMATOR)
39 SPEEDY (Ted Wilde: USA 1928)
Harold Lloyds letzter Stummfilm ist vielleicht auch sein entspanntester – zumindest plotmäßig: er ist schon verlobt, muss also nicht sein Mädchen erobern. Deshalb verbringt SPEEDY auch fast die Hälfte der Laufzeit bei Nebenplots, die für den roten Faden irrelevant sind und hat umso mehr Zeit für Gags und halsbrecherische Verfolgungsjagden.

40 AMATOR (Krzysztof Kieślowski: Polen 1979)
Achtung: Filmemachen macht süchtig und gefährdet Sie und Ihre Umgebung. Mögliche Wirkungen: Probleme am Arbeitsplatz, Entfremdung in der Ehe, Zerstörung der Karrieren anderer Leute.

41 FAT CITY (John Huston: USA 1972)
In einer besseren Welt würde FAT CITY als der große Boxerfilm der New-Hollywood-Ära gelten, und nicht der total überschätzte RAGING BULL.

42 THE HUNTED (William Friedkin: USA 2003)
Friedkin war ja eigentlich schon immer ein Radikaler, insofern sind seine wüsten Spätwerke BUG und KILLER JOE weniger verwunderlich als Coppolas YOUTH WITHOUT YOUTH oder TWIXT. THE HUNTED ist Friedkins letzter groß- bzw. (für Hollywood-Verhältnisse) mittelbudgetierter Film, zeigt aber schon in Richtung der extremen Reduzierung von BUG: zwei Männer, zwei Messer, ein Wald.

43 QIANG JIAN ZHONG JI PIAN: ZUI HOU GAO YANG (Wong Jing: Hong Kong 1999)
(„Raped by an Angel 4: The Raper‘s Union“)
Ein Glücksgriff eines Weihnachtswichtelns von 2015... Zwei Serienvergewaltiger brechen aus, ein Polizist streitet sich mit seiner Freundin, Anthony Wong als Vergewaltigungsguru trinkt gerne Milch – das ganze gefilmt mit einer Verve, als würde hier der letzte Film auf Erden gedreht werden. Eine wunderbare Sleaze-Delikatesse für fortgeschrittene Filmgourmets.

44 A WALK AMONG TOMBSTONES (Scott Frank: USA 2014)
Zu den faszinierendsten Trends der 2000er Jahre gehört, dass Liam Neeson seine Karriere als „ernsthafter“ Schauspieler in den Pausenmodus gestellt hat, um bei mehreren explosiven Actionfilmen mitzuwirken. A WALK AMONG TOMBSTONES ist der Höhepunkt dieses Trends, wenngleich kein Actionfilm im engeren Sinne, sondern eher ein grimmiger Serienmörder-Thriller. Mehr als in seinen „ernsthaften“ Rollen zeigt Neeson, was in ihm steckt und der Film selbst übertrumpft mit links solch weitaus gefeiertere Beiträge zum Genre wie PRISONERS.

Einsamkeit und die Tristesse der nächtlichen Arbeit
CROUPIER
TOPAZU
45 CROUPIER (Mike Hodges: UK / Frankreich / Deutschland / Irland 1998)
An einer Stelle fragt die Freundin der Titelfigur aufgebracht, woher denn das Wort überhaupt herkomme: „Croupier“. Er gibt darauf keine richtige Antwort – weiß er vielleicht, dass das etymologisch etwas mit dem Hintern eines Pferdes zu tun hat? Damit will sich der Croupier, der sich selbst gleich noch ein Roman-alter-ego zur Seite stellt (der für ihn auf die schiefe Bahn gerät) natürlich nicht identifizieren.

46 FIVE CORNERS (Tony Bill: UK / USA 1987)
Ein Liebespaar, das sich zerstritten hat, findet unter widrigen Umständen wieder zusammen. Kurz, bevor sich ihre Wege trennen, bittet er sie, ihn noch einmal fünf (oder sechs?) Mal zu küssen. Ein emotionaler Schlüsselmoment, unscheinbarer als das Fahrstuhl-Ballett, aber trotzdem kennzeichnend für diesen großen „kleinen“ Film. Mehr von Manfred, der hoffentlich nicht nur mich auf diesen Geheimtipp aufmerksam gemacht hat, gibt es hier zu lesen.

47 Z (Costa-Gavras: Frankreich / Algerien 1969)
Ein toller Politthriller, über den Hans Schmid einen seiner monumental langen, kenntnisreichen, teils pointierten und teils lustvoll ausschweifenden, jedoch unbedingt lesenswerten Artikel (in drei Teilen) geschrieben hat.

48 ÚSMEV DIABLA (Ján Zeman: ČSSR 1987)
Außen Kriminalfilm, aber innen tobt das Abstruse und der Wahnsinn. Mehr zu diesem bizarren Anti-Krimi gibt es von mir hier zu lesen.

49 L‘IBIS ROUGE (Jean-Pierre Mocky: Frankreich 1975)
Michel Serraults verträumter Jérémie, ergriffen von einer Besessenheit mit dem weiblichen Busen, die auf ein Kindheitstrauma zurückzuführen ist, ist der biedere Serienmörder von nebenan. Sein Umfeld ist allerdings moralisch wesentlich niederträchtiger als er. Vielleicht bekommt Jérémie deshalb eines der absurdesten Film-Happyends aller Zeiten gegönnt. Im wahren Leben war dies Michel Simons letzter Film.

50 TOPAZU (Murakami Ryu: Japan 1992)
Im Juni 2008 wurde TOPAZU auf arte gezeigt: ich sah mir den Film nicht wirklich an, sondern schaltete ab und zu kursorisch beim Zappen rein. Im Gedächtnis haften blieben mir die geisterhaften Autofahrten durch unwirtliche Straßen in Tokyos Business-Viertel und durch eine von Baumkronen bedeckte Straße, leicht aus der Untersicht gefilmt, ein bisschen wie die Autoverfolgungsjagd am Ende von DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE, unterlegt von „Llegue Llegue“ der kubanischen Band Los Van Van mit dieser extrem markanten Basslinie. Ich glaube nach der kompletten Sichtung immer noch, dass diese das Herzstück dieses Films bilden: trostlose Stadtlandschaften mit verzweifelten und kaputten Menschen (wenn die Kamera dann wieder nach unten blickt).
Gefunden habe ich die DVD übrigens bei einer Videotheken-Auflösung, und zwar im hinteren Bereich des abgetrennten Ab-18-Raumes, sprich: in der Porno-Abteilung. Dort habe ich – wohl wissend, dass wir in Deutschland sind und solche transgressiven Kunstfilme in Zweifelsfall dort eingeordnet werden – genau nach solchen Filmen gesucht.

51 LA PREMIÈRE NUIT (Georges Franju: Frankreich 1958)
Eine geisterhafte Fahrt durch die Nacht prägt auch Franjus LA PREMIÈRE NUIT, wenn ein kleiner Junge ausbüxt und mit der Pariser Metro die Welt erkundet – und dabei Unheimliches und möglicherweise Geister sieht. Ein wundervoller 20-minütiger Film, in wundervollem Schwarzweiß und komplett ohne Dialoge.

52 LES LÈVRES ROUGES (Harry Kümel: Belgien / Frankreich / Bundesrepublik Deutschland 1971)
Geisterhaft geht es weiter mit diesem Horror-/Vampirfilm, in dem es keinen klassischen Horror und keine klassischen Vampire gibt – was es da denn eigentlich gibt, ist unsicher oder zumindest ambivalent, und das macht LES LÈVRES ROUGES so beunruhigend und irritierend. Nur diese statischen Aufnahmen des monströsen Hotels, die immer wieder auftauchen – die sind wirklich der pure Horror! Ein bisschen mehr von Manfred zu diesem Film (in einem seiner wohl kürzesten Texte auf diesem Blog) gibt es hier zu lesen.


Wiedersehen macht Freude

Neue Blicke auf neun bereits bekannte Filme...

DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE (Fritz Lang: Deutschland 1933)
3. Sichtung
Mit den MABUSE-Filmen von Lang hatte ich bislang so meine Probleme. Die ersten zwei Minuten von SPIONE sind actionreicher und spannender als die gesamte viereinhalbstündige Stummfilm-Dilogie. DAS TESTAMENT und DIE 1000 AUGEN schienen mir ein Rückschritt zu ihren direkten Vorgängern (M bzw. die Indien-Dilogie) zu sein. Nun hat es zumindest beim TESTAMENT bei mir Klick gemacht. Eine wunderschöne, kristallklare 35mm-Kopie brachte mir Langs letzten deutschen Film der Frühphase endlich nahe: die wunderbaren Bilder, die Ton-Montage, den trockenen Humor des Kommissar Lohmann. Ja wirklich: ein großer Lang!

DEATH PROOF (Quentin Tarantino: USA 2007)
2 1/2. Sichtung (zum zweiten Mal vollständig, das andere Mal in der kürzeren GRINDHOUSE-Fassung)
Außerhalb Frankreichs gehört es zu den großen unerhörten Provokationen, DEATH PROOF zum besten Tarantino-Film zu erklären. Gut fand ich ihn schon vorher, aber im relativ zeitnahen Vergleich zu PULP FICTION gewinnt doch der Autorennfahrerinnen-Exploiter: nicht nur sein schönster Film, sein großer Frauenfilm, sondern auch sein musikalischster, zugleich formalistischster und intellektuellster – ein Muster-Exploitationfilm, gefolgt von einem neuen Film, der als Kritik und Kommentar des ersten fungiert. Ein Kaleidoskop an Spiegelungen.

Hitchcocko-Hawskianisch entspannt...
THE TROUBLE WITH HARRY
RIO LOBO
THE TROUBLE WITH HARRY (Alfred Hitchcock: USA 1955)
6./7. und 7./8. Sichtung (letzte Sichtung Sommer 2015)
Hitchcock zu schauen, als würde man einen Hawks-Film schauen, ist sehr erkenntnisreich – gelten doch beide, der eine grob zusammengefasst ein ausgesprochener Expressionist mit minutiös geplanten Filmen, der andere ein nüchterner Realist mit locker strukturierten Filmen, als Gegenpole in Sachen Filmemachen. Ich fand THE TROUBLE WITH HARRY schon immer sehr gut. Jetzt halte ich ihn für Hitchcocks wahrscheinlich entspanntestes Werk. Wenn RIO BRAVO ein Film über einige Kumpels sind, die in Ruhe miteinander abhängen (na ja, da ist noch diese blöde Belagerungssituation), dann ist THE TROUBLE WITH HARRY ein Film über einige Nachbarn, die sich an einem schönen Herbsttag endlich mal näher kennen lernen, Freundschaften schließen, sich ineinander verlieben (na ja, da ist noch diese blöde Leiche). „What seems to be the trouble, captain?“ dürfte der schönste Hitchcock-Oneliner überhaupt sein.

CRANK (Mark Neveldine / Brian Taylor: USA 2006)
2. Sichtung (erste Sichtung noch zu Schulzeiten, in einer wahrscheinlich schwer verstümmelten TV-Fassung)
Als Trost-DVD in einem stark verspätet verschickten Paket erhalten. Geschaut am Abend nach einem sehr unangenehmen Arztbesuch, bei dem es im allerweitesten Sinne auch um mein Herz ging. Die kathartische Wirkung, Jason Statham dabei zuzusehen, wie er gegen den Stillstand seines Herzens rennt, Sachen kaputtmacht, vögelt und Leute totschießt, war erleichternd. Doch auch unabhängig davon: CRANK, wie in jüngerer Zeit vielleicht nur noch MAD MAX: FURY ROAD, ist ein Actionfilm, der das Versprechen der Non-Stop-Action nicht nur hält, sondern in irrsinnige Höhen treibt – ohne dabei sich selbst mit auch nur einer Spur Selbstironie ein Bein zu stellen. Wirklich explosiv.

Y TU MAMÁ TAMBIÉN (Alfonso Cuarón: Mexiko 2001)
2. Sichtung (erste Sichtung wohl 2008 oder 2009)
Ein wunderbarer, einfacher Roadmovie um eine sehr komplizierte Liebe, bei dem mich die schiere Wärme auf neue Weise überrascht hat – trotz der teils sehr formalistischen Inszenierungsmittel (der Ton, der zwischendurch für den nüchtern-distanzierten Voice-Over ausgeblendet wird). Am wunderschönsten ist Emmanuel Lubezkis Kamera, die den Körpern der drei Hauptfiguren in dieser melancholischen Sommerlandschaft nonchalant  und unaufdringlich folgt. Die Fotografie mag nicht so spektakulär sein wie bei seinen jüngeren Zusammenarbeiten mit Malick, Iñárritu oder auch Cuarón, aber sie ist eben auch nicht so technizistisch, so emotional leer – sondern eben durch ihre „Ungeschliffenheit“ und „Rohheit“ Bestandteil des humanistischen Herzens von Y TU MAMÁ TAMBIÉN. Schönheit, die glücklich und wehmütig macht.

THE FUTURE (Miranda July: USA / Deutschland / Frankreich 2011)
3. Sichtung (2 Sichtungen im Kino 2011)
THE FUTURE wirkte 2011 für mich wie ein lockerer, fluffiger, fantasievoller Film über eine Beziehungskrise, die am Ende in einen Neuanfang mündet (das offene Ende lässt sich ohne Zweifel in diese Richtung interpretieren). Die Neusichtung war wie ein brutaler Fausthieb in den Magen. Nun sah ich einen unter der Oberfläche unglaublich pessimistischen Film über eine Beziehungskrise, die sich ganz leise, aber mit einer erschreckenden und tragischen Eskalationslogik entfaltet und nicht in eine melodramatische Katastrophe, sondern in etwas schlimmeres mündet: in totale Gleichgültigkeit. Jasons magische Fähigkeit, die Zeit zu stoppen, wirkte nicht mehr wie eine Lösung des Problems als eher wie eine Metapher für seine Unfähigkeit, mit der Realität seiner kaputten Beziehung umzugehen. Der Tod der Heimkatze, deren geplante Betreuung eigentlich eine neue Phase der Beziehung einleiten sollte, wirkte nicht mehr wie ein trauriger Plotpoint, sondern wie die Bestätigung eines schlechten Omens: bei einer Geschichte, die aus der Perspektive einer toten Katze aus dem Jenseits erzählt wird, muss irgendetwas ganz fürchterlich im Argen sein. Als Film über eine Beziehungs-Apokalypse wohl auf einer Stufe mit dem ähnlich deprimierenden IN A LONELY PLACE von Nicholas Ray.

NEMESIS (Albert Pyun: USA / Dänemark 1992)
2. Sichtung (nach einer Sichtung im Halbschlaf 2014)
Ein Cyborg-SciFi-Actioner, gefilmt auf industriellen Müllhalden und in abgeranzten Bruchbuden, der sich als kleine neo-noir-Perle entpuppt. Der Film ist voller Grenzgänge: zwischen Cyborgs und Menschen, zwischen Männer und Frauen (fast alle Figuren tragen androgyne Namen), zwischen Körperlichkeit und Virtualität, zwischen Polizist und Verbrecher, zwischen Realität und Traum (viele Szenen wirken wie Träume, manche scheinen dem Nichts, also vielleicht dem Schlaf, zu entspringen). Auch bei einer aufmerksamen Sichtung ist der Plot völlig wirr und undurchschaubar: wie Alex wird man als Zuschauer durch ein undurchsichtiges Labyrinth absurder und gefährlicher Situationen geführt. Kein Wunder, dass Alex sich in einem denkwürdigen Moment sogar den Boden unter den eigenen Füßen wegschießt. NEMESIS ist tatsächlich der bessere BLADE RUNNER (wie es Oliver Nöding einmal schrieb) und der bessere TERMINATOR für fortgeschrittene Filmgourmets.

PARIS NOUS APPARTIENT (Jacques Rivette: Frankreich 1961)
2. Sichtung (nach der eher unerfreulichen Erstsichtung 2010 oder 2011)
Jacques Rivette drehte von allen nouvelle-vague-Regisseuren das wahrscheinlich schwierigste und sperrigste Debüt (wobei ich für Rohmers LE SIGNE DU LION nichts garantieren kann). Nachdem ich einige von seinen Filmen nun gesehen habe, scheint mir PARIS NOUS APPARTIENT tatsächlich eines seiner schwierigeren Werke zu sein. Ein Paranoia-Thriller, bei dem niemand richtig konkret weiß, woher die Paranoia nun wirklich kommt – was die Grundatmosphäre der Unbequemlichkeit, der Angst, der latenten Bedrohung nur steigert. Ein Film voller Mysterien ohne richtige Lösungen, sondern nur mit viel Herumirren.

RIO LOBO (Howard Hawks: USA 1970)
Irgendwo zwischen achter und zwölfter Sichtung – erste Sichtung nach wahrscheinlich über zehn Jahren.
Hawks‘ letzter Film mag die Brillanz des Vorbilds RIO BRAVO nicht erreichen (wie viele Filme können das schon?), zeugt aber dennoch von der sicheren und altersentspannten Hand des Meisters. Mehr als durch die überraschungsarme Geschichte glänzt der Film mit seinen tollen Charakteren und auch den kleinen Momenten. Der Nordstaaten-Oberst, der zwei Südstaaten-Soldaten nach dem Krieg nonchalant zu einem Drink einlädt – das hat natürlich etwas Männerbündisches, aber es ist vor allem eine Art Utopie der Versöhnung in einer gespaltenen Nation. À propos Trinken: John Waynes Colonel McNally spricht beim Nachtlager das Motto der späten Hawks-Filme aus: „Well, I‘ve had about the right numbers of drinks, and I‘m warm, and I‘m relaxed.“

Die richtige Anzahl an Drinks, genügend Wärme und viel Entspannung wünsche ich unseren Lesern für das Jahr 2017...



und natürlich viele spannende Filme!

Was macht man mit einem Nagelbrett, wenn man kein Fakir ist?

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Man macht damit Filme - was sonst? So sahen das jedenfalls Claire Parker und Alexandre Alexeïeff. Sehen wir uns zunächst den ersten und vielleicht bekanntesten Film der beiden an:

UNE NUIT SUR LE MONT CHAUVE (EINE NACHT AUF DEM KAHLEN BERGE)
Frankreich 1933
Regie: Alexandre Alexeïeff und Claire Parker



Die Musik, die dem Film seinen Titel und sein Thema gab, ist die sinfonische Dichtung "Eine Nacht auf dem kahlen Berge" von Modest Mussorgski, hier in einer Orchesterbearbeitung von Nikolai Rimski-Korsakow. Es geht in der Musik (und somit auch im Film) um eine Art Hexensabbat auf dem slowenischen Berg Triglav. Es passieren die wildesten Dinge in dieser Nacht, und man sollte als gewöhnlicher Sterblicher besser nicht in der Nähe sein, aber am nächsten Morgen ist der Spuk vorbei. Damit ist das Stück thematisch mit "Danse macabre" von Camille Saint-Saëns verwandt, das auch mehrere filmische Interpretationen erfuhr. Zu Mussorgski sollten Parker und Alexeïeff noch zweimal zurückkehren.

Alexandre Alexeïeff und Claire Parker 1960 (À PROPOS DE JIVAGO)
Alexandre Alexeïeff (1901-1982), ursprünglich Alexander Alexandrowitsch Alexejew, war ein Russe im französischen Exil. Einige Jahre seiner Kindheit verbrachte er in Istanbul, wo sein Vater Militärattaché war. Nach dem Besuch einer Kadettenanstalt in Sankt Petersburg emigrierte er 1921 und landete schließlich in Paris - Französisch hatte er auf Betreiben seiner Mutter schon als Kind gelernt. 1923 heiratete Alexeïeff die Schauspielerin und Zeichnerin Alexandra Grinevsky (oder, nach russischer Konvention, Grinevskaya), die uneheliche Tochter eines russischen Würdenträgers, der sie schon als Kind nach Paris abgeschoben hatte. Mit Alexandra hatte Alexeïeff eine Tochter, die Malerin Svetlana Alexeieff-Rockwell (1923-2015) - sie ist die Mutter des Regisseurs Alexandre Rockwell. Während der 20er Jahre betätigte sich Alexeïeff als Bühnenbildner und Kostümdesigner für Theatergrößen wie Louis Jouvet und Georges Pitoëff sowie als Buchillustrator - sein zeichnerisches Talent wurde schon in der Kadettenanstalt gefördert, und er hatte sich zum Graveur weitergebildet. Das Spektrum der von Alexeïeff illustrierten Autoren reichte von Gogol, Puschkin und Dostojewskij über Poe und Cervantes bis Apollinaire, Baudelaire und Malraux. 1931 lernte er die wohlhabende amerikanische Kunststudentin Claire Parker (1906-1981) kennen, die schon ein technisches Studium am Massachusetts Institute of Technology absolviert hatte und nun nach Paris gezogen war. Nach Alexeïeffs Scheidung 1940 oder 1941 (die Quellen sind sich nicht ganz einig) wurde Parker seine zweite Frau. Parker und Alexeïeff waren aber schon bald nach ihrer Bekanntschaft ein Liebespaar, und Alexandra Grinevsky arrangierte sich irgendwie mit der Situation.

Alexeïeff und Parker bei der Arbeit an Illustrationen zu "Doktor Schiwago" (À PROPOS DE JIVAGO)
Irgendwann Ende der 20er oder Anfang der 30er Jahre verspürte Alexeïeff den Wunsch, die Bilder im Stil seiner Buchillustrationen in Filmen zum Leben zu erwecken. Die feinen Graustufen, Schattierungen und plastischen Wirkungen, die man mit Lithografie, Aquatinta und ähnlichen Techniken hervorrufen konnte, und die Alexeïeff schätzte, waren aber mit der klassischen Zeichentricktechnik der cel animation kaum zu erreichen, und was er keinesfalls machen wollte, waren Filme im Cartoon-Stil. Deshalb ließ er sich etwas anderes einfallen - etwas ganz anderes. Und damit kommen wir zum Nagelbrett (auf Englisch meist pinscreen, gelegentlich auch pinboard genannt, auf Französisch écran d'épingles). Zunächst mit Unterstützung von Alexandra Grinevsky, dann mit Parker, entwickelte Alexeïeff das Verfahren, zeitweise arbeiteten auch alle drei zusammen daran. Die technisch begabte Claire Parker hatte möglicherweise den größten Anteil, jedenfalls lief das 1935 erteilte französische Patent auf ihren Namen. Künstlerisch scheint Alexeïeff der Kopf der Gruppe gewesen zu sein. Bei den fünf eigenständigen Filmen sowie dem Prolog zu Orson Welles' LE PROCÈS, die mit dem Nagelbrett realisiert wurden, arbeiteten Parker und Alexeïeff als Animateure und Regisseure eng zusammen, so dass man sie alle als gemeinsame Werke der beiden bezeichnen muss. Grinevsky war daran nicht mehr beteiligt, aber bei etlichen der Werbefilme, die die Gruppe zum Broterwerb drehte (ohne Nagelbrett, was viel schneller ging), wirkte sie aktiv mit.

Die Hauptrichtungen des Dreiecksmusters werden sichtbar, wenn man das Nagelbrett frontal anstrahlt
(dieses und die nächsten vier Bilder: PIN SCREEN von Norman McLaren)
Wie funktioniert das Ding nun also? Das haben Parker und Alexeïeff selbst am besten erklärt. 1972 hielten sie auf Einladung von Norman McLaren am National Film Board of Canada (NFB) ein Seminar vor den dort tätigen Animationsfilmern, die auch selbst an einem mitgebrachten Nagelbrett unter Aufsicht der beiden Altmeister experimentieren durften (Ryan Larkin war auch mit dabei). McLaren machte daraus einen 40-minütigen Film, der laut Anfangscredits vollständig THE ALEXEIEFF-PARKER PIN SCREEN bzw. L'ÉCRAN D'ÉPINGLES ALEXEIEFF-PARKER heißt, aber meist nur kurz PIN SCREEN genannt wird. Der Film war wohl hauptsächlich als Lehrmaterial für zukünftige Studenten am NFB gedacht, aber heute bildet er auch (neben ihren Filmen natürlich) ein Vermächtnis von Parker und Alexeïeff. Daneben gab es weitere Dokus, z.B. den kurzen und ohne Worte auskommenden À PROPOS DE JIVAGO von 1960 (die beiden hatten damals mit dem Nagelbrett Illustrationen für eine Ausgabe von Boris Pasternaks "Doktor Schiwago" erstellt), und einen noch kürzeren mit dem Titel TROIS THÈMES, der sie an der Arbeit zu ihrem gleich betitelten letzten Film zeigt. Die Bilder hier sind alle aus diesen Filmen.

Seminar vor kleinem, aber exquisitem Publikum; rechts das "kleine" Modell
mit 240.000 Nägeln und seine beiden Schöpfer
Das Nagelbrett ist eine vertikal stehende Tafel mit einem regelmäßigen Dreiecksmuster von Löchern. Und zwar sehr vielen Löchern - das erste einsatzfähige Exemplar hatte ungefähr eine Million davon. In den Löchern stecken spitze Metallstifte, die länger sind als die Dicke der Tafel. Die Stifte sind beweglich, können also so verschoben werden, dass sie entweder auf der Vorder- oder der Hinterseite der Tafel herausragen, oder eine beliebige Zwischenstellung einnehmen. Eine bestimmte Schmierflüssigkeit sorgt dafür, dass die Nägel weder zu leicht noch zu streng gleiten, so dass man sie nur mit einem gewissen Krafteinsatz verschieben kann. Der Clou ist nun, dass die Vorderseite der Tafel weiß ist, während die Nägel mehr oder weniger schwarz sind. Die Vorderseite der Tafel wird nun von einer starken Lichtquelle von der Seite her beleuchtet. Je nachdem, wie weit die Stifte hervorstehen, werfen sie einen mehr oder weniger langen Schatten. Während ein einzelner Nagel praktisch keinen wahrnehmbaren Effekt hat (er ist quasi ein einzelnes Pixel in einem hoch aufgelösten Bild), ergibt die Summe der Nägel in einem Gebiet der Tafel je nach ihrer Stellung eine beliebig einstellbare Mischung von beleuchteten und beschatteten Stellen auf der Tafel, und damit aus der Entfernung betrachtet (oder mit einer Filmkamera in Einzelbildschaltung aufgenommen) beliebige Grauabstufungen.

Das Prinzip wird am vergrößerten Modell erklärt
Damit das funktioniert, ist es wichtig, dass der Lichteinfall aus der richtigen Richtung erfolgt. Die jeweils benachbarten Löcher bzw. Stifte bilden gleichseitige Dreiecke. Wenn das Licht parallel zu einer der drei, um 60° gegeneinader gedrehten, Dreiecksseiten einfallen würde, dann würden sich "Korridore" ergeben, die nie beschattet werden, egal wie weit die Stifte herausstehen. Die Richtung des Lichteinfalls muss also um einen gewissen Winkel zu den drei "Hauptrichtungen" gedreht sein. Wenn dann die Stifte nur leicht herausstehen, wirft jeder einen isolierten Schatten. Wenn die Stifte weiter herausstehen, vereinigen sich diese einzelnen Schatten zunehmend zu einem zusammenhängenden Gebilde, das bei maximal hervorstehenden Stiften schließlich die ganze Fläche in diesem Bereich der Tafel bedeckt und so für Schwarz sorgt.


Um die Stifte für eine Aufnahme zu positionieren, wurden sie mit Gegenständen aller Art in die richtige Stellung gedrückt, und zwar von beiden Seiten der Tafel, je nach gewünschter Wirkung. Wenn man beispielsweise eine weiße Linie in eine dunkle Fläche "zeichnen" wollte, oder aber umgekehrt, so musste man im einen Fall zuerst alle Nägel dieser Fläche von hinten nach vorne drücken und dann die Nägel an der vorgesehenen Linie wieder von vorne nach hinten drücken - oder im anderen Fall genau spiegelbildlich vorgehen. "Gedrückt" wurde mit allen möglichen Gegenständen, etwa Linealen, Messern und Löffeln, und vielen weiteren Utensilien, die man in einem Haushalt findet, aber auch mit speziellen Anfertigungen von Alexeïeff und Parker. Vor allem kamen Rollen unterschiedlicher Breite und Form zm Einsatz, mit denen man Linien und Streifen beliebiger Breite in die "Matte" aus Nägeln walzen konnte. Wenn diese Rollen keine glatte Rollfläche hatten, sondern ein bestimmtes Muster darin aufwiesen, so konnte man dieses Muster in der Art eines antiken Rollsiegels auf die Nägel übertragen.


Im praktischen Einsatz war es so, dass Alexeïef als künstlerischer Kopf die Bilder auf dem Nagelbrett schuf (und zwar frei, also ohne Storyboard oder dergleichen), während Parker dabei assistierte und die Kamera bediente, so dass sich nach dem Stop-Motion-Prinzip nach und nach der Film zusammensetzte. War schon die Entwicklung des Nagelbretts eine komplizierte und nicht ganz billige Angelegenheit, so galt das auch für das Drehen von Filmen damit. Es war hohe künstlerische und technische Fertigkeit von Nöten, hohe Konzentration und vor allem viel Geduld. Die Arbeit an UNE NUIT SUR LE MONT CHAUVE begann 1931 und dauerte eineinhalb Jahre. Nach der Premiere in Paris gab es viel Lob von Künstlern und von der Kritik, doch dann stellten Parker und Alexeïeff das Nagelbrett erst mal in die Ecke und drehten Werbefilme (im Gegensatz zu den Nagelbrettfilmen in Farbe), zusammen mit Alexandra Grinevsky (wie oben schon erwähnt) sowie ein oder zwei angestellten Animateuren. Aber auch hier gaben sich Alexeïeff und seine Mitstreiter künstlerisch und technisch einige Mühe. Ab 1936 gab es auch eine Reihe von Auftragen aus Deutschland, so dass das Studio vorübergehend nach Berlin verlegt wurde. Das Spektrum der beworbenen Produkte reichte vom Loewe Opta Radioempfänger bis zu Klopapier. Anfang 1938 gingen Alexeïeff und seine Mitstreiter zurück nach Paris, und 1940 setzte sich die Ménage-à-trois Parker, Alexeïeff und Grinevsky (samt Tochter Svetlana) in die USA ab. Dort ließ sich Alexeïeff, wie schon erwähnt, von Grinevsky scheiden, die daraufhin eigene Wege ging, während Parker und Alexeïeff nicht nur als künstlerisches Team zusammenblieben, sondern dann auch heirateten.

Die Lichtquelle wird justiert (À PROPOS DE JIVAGO)
Im amerikanischen Exil drehten Parker und Alexeïeff keine Werbeclips, aber dafür den zweiten Nagelbrettfilm, und zwar beim NFB. Norman McLaren, der beim NFB die Animationsfilmabteilung aufgebaut hatte und für Jahrzehnte leitete, hatte UNE NUIT SUR LE MONT CHAUVE irgendwann in den 30er Jahren gesehen und war schwer beeindruckt, und er hatte wohl Wind davon bekommen, dass sich Parker und Alexeïeff in den USA aufhielten. 1944 produzierte McLaren am NFB eine Reihe von kurzen Animationsfilmen unter dem Sammeltitel CHANTS POPULAIRES, in denen jeweils ein franko-kanadisches Volkslied mit Bildern versehen wird, und er lud Parker und Alexeïeff ein, auch einen Beitrag dazu abzuliefern. Das Ergebnis war der (ohne den Serienvorspann) nicht mal eineinhalbminütige EN PASSANT. Da er als fünfter Film der Serie erschien, findet man ihn auch unter dem Titel CHANTS POPULAIRES N° 5.

Auf den Einfallswinkel des Lichts kommt es an: links oben ganz schlecht, dann zunehmend
besser, aber noch nicht perfekt (PIN SCREEN)
Nach dem Krieg kehrte das Paar nach Paris zurück und nahm Anfang der 50er Jahre zunächst seine Tätigkeit als Werbefilmer wieder auf. Alexeïeff erdachte in dieser Phase ein Verfahren, das er "Totalisation" nannte. Dabei wird eine Lichtquelle, die pendelt, rotiert oder sich sonstwie annähernd regelmäßig bewegt, mit sehr langer Belichtungszeit aufgenommen, so dass die Lichtspur festgehalten wird. Das kombinierte er mit konventioneller Stop-Motion-Technik und weiteren Verfahren und erzielte damit interessante Wirkungen, so dass sein Studio, wie schon in den 30er Jahren, großen Anklang bei den Werbekunden fand. Zwei Werbeclips aus dieser Phase, die bis Mitte der 60er Jahre dauerte, habe ich hier vorgestellt (allerdings beide ohne Totalisation). Bei den Werbefilmen wurde meist Alexeïeff als alleiniger Regisseur benannt, aber Parker beteiligte sich auch daran.

Dieselbe Konfiguration des Nagelbretts bei zwei verschiedenen Lichteinfallswinkeln (À PROPOS DE JIVAGO)
1962 gab es eine weitere Auftragsarbeit für das Nagelbrett: Den Prolog zu Orson Welles' Kafka-Verfilmung LE PROCÈS. Da es sich um eine Abfolge von Standbildern handelt, ist die Sequenz kein Nagelbrettfilm im engeren Sinn. Die Stimme gehört natürlich Meister Welles persönlich, der Kafkas Parabel "Vor dem Gesetz" rezitiert, die einen abgeschlossenen Text innerhalb von "Der Prozess" bildet. 1963 folgte dann der dritte "richtige" Nagelbrettfilm, LE NEZ (DIE NASE), zugleich der längste seiner Art von den beiden. Im Gegensatz zum frei-assoziativen UNE NUIT SUR LE MONT CHAUVE folgt diese Verfilmung der gleichnamigen absurden Parabel von Nikolai Gogol einer klareren Handlungslinie, wenn auch einer ziemlich surrealen: Einem Beamten kommt seine Nase abhanden, die daraufhin ein Eigenleben führt.

Werkzeuge: Verschiedene Rollen, aber auch Matrjoschka-Puppen; unten: eine sehr breite Rolle dient
als "Schwamm" zum Löschen der gesamten "Tafel" (PIN SCREEN)
Die letzten beiden Nagelbrettfilme von Alexeïeff und Parker markieren die Rückkehr zu Mussorgski. TABLEAUX D'UNE EXPOSITION (1972) ist natürlich eine Interpratation von "Bilder einer Ausstellung", ein Jahr nachdem sich Emerson, Lake and Palmer auf ihre Art dieser Musik angenommen hatten. Es spielt der österreichische Pianist Alfred Brendel. Bei diesem Film kommt eine Neuerung zum Tragen: Es werden nicht nur eines, sondern zwei Nagelbretter verwendet. Während das etwas größere im Hintergrund fixiert ist, ist das kleinere im Vordergrund um eine vertikale Achse drehbar gelagert. TROIS THÈMES von 1980 schließlich, wieder mit Brendel am Klavier, ist der Schwanengesang des Paars. Claire Parker starb 1981, Alexandre Alexeïeff 1982.

Werkzeugkasten (À PROPOS DE JIVAGO)
Das Nagelbrett, das Parker und Alexeïeff 1972 nach Kanada mitbrachten, ist kleiner als das Original aus den 30er Jahren (das sich heute im Centre national du cinéma et de l'image animée in Paris befindet) und hat "nur" ca. 240.000 Nägel. Dieses Exemplar wurde nach dem Seminar sogleich vom NFB erworben, und es ist (als einziges weltweit) noch immer im Einsatz. Für lange Jahre war Jacques Drouin vom NFB der einzige, der die Nachfolge von Alexeïeff und Parker antrat und die nötige Mühe und Geduld für Filme mit dem Nagelbrett aufbrachte. Besonders schön ist etwa LE PAYSAGISTE / MINDSCAPE . Das Motiv der Leinwand, auf der sich der "reale" Hintergrund nahtlos fortsetzt, ist sicher von René Magritte inspiriert. Nagelbrettfilme sind naturgemäß zunächst einmal schwarzweiß, aber natürlich ist es nicht weiter schwer, ihnen eine monochrome Einfärbung zu verpassen, wie in Drouins EX-ENFANT / EX-CHILD. Auch nachdem sich Drouin mittlerweile im Ruhestand befindet, ist die Technik noch nicht tot - Michèle Lemieux hat 2012 mit LE GRAND AILLEURS ET LE PETIT ICI den bislang letzten Vertreter hervorgebracht. Hier erzählt sie etwas über die Entstehung des Films, und man bekommt noch einmal die Technik erklärt und demonstriert. Es kann also weitergehen!

Ein Ring mit einem Profil ähnlich einem Fahrzeugreifen erzeugt beim Abrollen
ein Muster, aus dem Getreide wird (À PROPOS DE JIVAGO)
In den 70er Jahren entwickelte ein Ward Fleming eine Vorrichtung, die dem Nagelbrett von Parker und Alexeïeff sehr ähnlich ist. Die Stifte sind hier nicht aus Metall, sondern Kunststoff, sie sind leichter verschiebbar, und sie sind wohl noch dichter gepackt als beim klassischen Nagelbrett - jedenfalls entstehen hier die Bilder nicht durch den Schattenwurf, sondern durch das dreidimensionale Relief der Stifte selbst. Dennoch ist die Verwandtschaft mit dem ursprünglichen Konzept unübersehbar. Das hielt Fleming nicht davon ab, sich als Erfinder seiner Entwicklung zu betrachten und diese zum Patent anzumelden. Eine kleine Spielzeugversion davon hat sich zig-millionenfach verkauft, Fleming dürfte also ziemlich reich damit geworden sein. Es gibt aber auch sehr große Exemplare, die sich auch für Live-Performances wie diese hier eignen.

Derselbe Ring wie oben erzeugte auch den Stamm und die Zweige
des Weihnachtsbaums (À PROPOS DE JIVAGO)
Alle Nagelbrettfilme von Parker & Alexeïeff (außer dem Prolog zu LE PROCÈS) und eine Auswahl von 20 Werbefilmen sowie À PROPOS DE JIVAGO, McLarens PIN SCREEN, Drouins LE PAYSAGISTE / MINDSCAPE und einige weitere Bonusfilme sind zusammen in Frankreich auf der DVD Alexeïeff - Le cinéma épinglé erschienen. DVD und Booklet sind zweisprachig Französisch/Englisch. Eine amerikanische Lizenzausgabe davon gibt es auch. Wer beim Nagelbrett nicht kleckern, sondern klotzen will, kommt an einer dieser beiden Scheiben nicht vorbei. Die Bildqualität ist selbstredend besser als bei den YouTube-Videos. UNE NUIT SUR LE MONT CHAUVE ist auch im 7-DVD-SetUnseen Cinema. Early American Avant-Garde Film 1894-1941 enthalten, PIN SCREEN auch im 7-DVD-Set Norman McLaren. The Master's Edition. LE PROCÈS ist auf diversen DVDs und Blu-rays erhältlich.

TROIS THÈMES (Kurzdoku): Alexeïeff und Parker bei der Arbeit an ihrem gleichnamigen letzten Film

Mit Höchstgeschwindigkeit durch New York

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SPEEDY („Los – Harold – los“ / „Straßenjagd mit Speedy“)
USA 1928
Regie: Ted Wilde
Darsteller: Harold Lloyd (Harold „Speedy“ Swift), Ann Christy (Jane Dillon), Bert Woodruff (Pop Dillon), Babe Ruth (Babe Ruth)


New York in den 1920er Jahren – eine schnelllebige Stadt für schnelllebige Leute. Abseits der großen Boulevards gibt es aber auch Oasen der Ruhe, wo es etwas gemächlicher zugeht. So etwa im der Tram des alten Pop Dillon, die von Pferden gezogen wird. Doch diese Idylle ist in Gefahr. Ein Magnat will für kleines Geld das altmodische Unternehmen aufkaufen, um für einen großen Schienen-Trust Platz zu machen. Als Dillon sich weigert, wird er mehr oder weniger offen von dem Magnaten bedroht. Dieser will sich eine Klausel in den Vereinbarungen zwischen der Stadt New York und Dillon zunutze machen: die Pferde-Tram muss mindestens einmal alle 24 Stunden fahren, sonst verliert Dillon seine Genehmigung. Der Magnat plant also, ein paar schwere Jungs vorbei zu schicken, die Dillon für 24 Stunden kidnappen und seine Bahn wegräumen sollen. Die bösen Buben haben allerdings nicht mit den Händlern des Viertels gerechnet, die jeden Abend die ruhende Tram als Treffpunkt nutzen und bereit sind, sie mit ihrem militärischen Knowhow aus Bürgerkriegszeiten zu verteidigen; und auch nicht mit Harold, dem Verlobten von Dillons Enkelin, ein unverbesserlicher Baseball-Fanatiker und leidenschaftlicher Liebhaber des puren Geschwindigkeitsrauschs auf den Straßen New Yorks: ein Mann mit dem Spitznamen „Speedy“, der bereit ist, die langsame Gemächlichkeit Pop Dillons engagiert und in Höchstgeschwindigkeit zu verteidigen.

SPEEDY ist Harold Lloyds letzter Stummfilm und sein wahrscheinlich puristischster Film: ein Werk, das die Freude am Geschwindigkeitsrausch und die Glückseligkeit kleiner Momente zelebriert und zum eigentlichen Inhalt macht. Wer Filme nur auf das Erzählen von Geschichten reduziert, wird mit SPEEDY sicherlich nicht glücklich werden. Nicht weniger als sieben Autoren (Harold Lloyd, der wahrscheinlich entscheidenden Input geleistet hat, nicht eingerechnet) haben das Drehbuch geschrieben, so dass seine dramaturgische Zerfahrenheit (oder positiver ausgedrückt: Lockerheit) kein Zufall ist. In der ersten Viertelstunde werden der Grundkonflikt etabliert (Pferdetram-Opa bedroht von bösem Magnat) und die Hauptfiguren eingeführt. Dann „bricht“ SPEEDY einfach den Lauf der Geschichte „ab“ und gönnt sich eine dramaturgisch völlig unnütze, wunderbar ausgelassene, urkomische und anrührende 20-Minuten-Sequenz im Vergnügungspark Luna Park auf Coney Island. Quasi ein eigener Film im Film, nach dessen Ende nicht etwa der rote Faden wieder aufgegriffen wird: nein, vielmehr erleben wir dann den Tag danach, in dem Harold, der seine Jobs immer wieder verliert, um dann neue zu versuchen, sich als Taxifahrer verdingt, durch die Umstände wieder einmal versagt und zwischendurch Baseball-Star Babe Ruth in einem halsbrecherischen Tempo zum nächsten Spiel kutschiert. Wieder ein etwa 20-minütiger Film-im-Film – an dessen Ende dann „endlich“ der rote Faden der Exposition wieder aufgegriffen wird.

Rauschhaftes Vergnügen in Coney Island.
Unten rechts hat sich eine lebende Krabbe in Harolds rechter Jackentasche versteckt und
die Handtaschen fremder Damen geplündert – was Harold später Ärger einbringt.

Gut die Hälfte verbringt der Film also damit, Sachen zu zeigen, die dramaturgisch „irrelevant“ sind. Produktionstechnisch kann man mutmaßen, dass hier möglicherweise mehrere Kurzfilmideen zu einem abendfüllenden Film zusammen „gekittet“ wurden. Da hätten wir also einen Film, in dem Harold die Pferdetram seines Schwiegeropas gegen böse Magnaten verteidigt (die Rahmenhandlung sozusagen), einen Film, in dem Harold mit seiner Verlobten Coney Island besucht und dort Lustiges (mehr für den Zuschauer als für ihn selbst) erlebt und einen Film, in dem Harold als Taxifahrer jobbt und dabei nicht davor scheut, halsbrecherische Geschwindigkeitsrekorde aufzustellen.
Dennoch wirkt SPEEDY wie aus einem Guss. Filmische „Verkittungen“ sieht man etwa Chaplins Filmen (auch wenn ich mit dieser Meinung auf einsamer Flur stehe) wesentlich mehr an. SPEEDY ist auch der Harold-Lloyd-Film mit der wahrscheinlich höchsten Gag-Dichte: ein Feuerwerk an brillanten Ideen, die sich gegenseitig die Klinke in die Hand geben und zur nächsten tollen Idee führen – hier zahlten sich die sieben bzw. acht Autoren aus. SPEEDY schafft den Spagat zwischen einer extremen dramaturgischen Entspanntheit und dieser Mischung aus Gag-Feuerwerken und Geschwindigkeitsrausch. Er ist gleichzeitig beruhigend und anregend.
Zumindest ersteres liegt nicht zuletzt daran, dass Harold „sein Mädchen“ hier schon gleich von Anfang an „hat“ und es nicht darum geht, wie er trotz widriger Umstände den Tag rettet und nebenbei noch ihr Herz erobert (in HOT WATER von 1924 spielt Harold Lloyd zwar einen glücklich verheirateten Mann, der allerdings sich selbst, seinen Besitz und seinen Verstand vor dem Treiben einer extrem anstrengenden Schwiegerfamilie retten muss). Nein, Harold und Jane haben gar die romantische Anfangsphase ihrer Beziehung schon längst hinter sich: da wird zwischendurch lustig gerauft, Ellbogen werden munter in die Rippen gerammt, kleine Streiche in der U-Bahn gemeinsam gefeiert und Fastfood wird hemmungslos zusammen in rauen Mengen vernichtet. Harold muss sich nicht mehr beweisen. Am Ende der Coney-Island-Sequenz wollen beide heiraten, nur Jane möchte warten, bis Pop seine Probleme mit der Tram in den Griff bekommt – natürlich ein zusätzlicher Anreiz für Harold, seinen künftigen Schwiegeropa beim Kampf gegen den Magnaten zu unterstützen. So, wie er mit Pop allerdings auch vorher umgeht, wird allerdings klar, dass er dies auch ohne diesen Anreiz tun würde.

Fastfood-Genüsse für ein Paar, das sich voreinander nicht mehr geniert, doch viele Gefahren lauern auf Harolds brandneuen Anzug.
Unten rechts: die "obscene gesture", mit der Harold seinem Spiegelbild das Missfallen über die Verschmutzung des Anzugs signalisiert,
war eigentlich auch in pre-code-Zeiten undenkbar in einem Film. Zensoren haben diesen kurzen Moment allerdings einfach übersehen.

Die Coney-Island-Sequenz, in dem sich ein Liebespaar vergnügt (er sich aber auch zwischendurch zünftig ärgert), erinnert entfernt ein wenig an die Vergnügungen des zuerst entfremdeten, dann doch versöhnten Paares in Friedrich Wilhelm Murnaus bahnbrechendem SUNRISE. Wo dort jedoch alle städtischen Szenen im Studio entstanden, wurde SPEEDY mehrheitlich in New York on location gedreht. Die Szenen im Vergnügungspark wurden offenbar teils mit versteckter Kamera gefilmt, damit nicht allzu viele Leute mitbekommen, dass hier Harold Lloyd gerade dreht – ein Star im Höhepunkt seines Ruhms. Die gefühlte Modernität von SPEEDY ergibt sich nicht nur im Vergleich zu SUNRISE. Ein luftig-leichter Film, figurenzentriert, mehr an kleinen Momenten als an der großen Geschichte interessiert, gefilmt auf den Straßen statt im Studio – das gibt dem SPEEDY zwischendurch beinahe so etwas wie ein verfrühtes nouvelle-vague-Feeling. Aber vielleicht ist das auch nur mein Gefühl, weil LES 400 COUPS (den ich knapp zwei Wochen nach der Erstsichtung von SPEEDY wieder sah) auch einen Moment enthält, in dem die Hauptfigur ein sehr denkwürdiges Karussell benutzt.

Ich glaube, in einem Video-Blog die These gehört zu haben, dass Lloyd, mehr als Keaton und Chaplin, auch ein Dokumentarist seiner Zeit und seiner Orte war. SPEEDY ist in diesem Sinne auch ein historisches Dokument von New York in den 1920er Jahren. Die Slums, die im letzten Drittel des Films gezeigt werden, wurden in einem Studio in Hollywood nachgebaut, der größte Teil des Rests zeigt die Weltmetropole jedoch in echt. Zu sehen sind nicht nur sind nur der Luna Park in Coney Island (der nicht mehr existiert), die Brooklyn Bridge, das Yankee Stadium und der Washington Square Arch beim Washington Square Park, sondern auch viele „anonyme“ Ansichten New Yorker Straßen. Die Macher von SPEEDY hatten offensichtlich großen Spaß daran, in New York zu drehen. Immer wieder werden Straßenzüge länger gezeigt als dramaturgisch „notwendig“, und der Gagfluss wird dann für kurze Zeit für New Yorker Straßenimpressionen unterbrochen, oft gefilmt aus einem fahrenden Auto.

Prominente New Yorker Wahrzeichen: Luna Park in Coney Island, das Yankee Stadium
Washington Square Arch, Brooklyn Bridge...

...und weniger offensichtlich bekannte Straßen und Orte in Filmimpressionen.

Durchaus auch im Geiste der Zeit, nämlich der USA in der „progressive era“ der 1890er bis 1920er Jahre, ist die (gleichwohl eher milde) Kapitalismuskritik von SPEEDY. Auch wenn viele Europäer das nicht so auf dem Schirm haben oder wahrhaben möchten, so hat Kapitalismuskritik durchaus eine eigenständige Tradition in der US-amerikanischen politischen Kultur. Die „progressive era“ war eine Zeit der industriellen Entwicklung, in der viele Wirtschaftszweige (am prominentesten Eisenbahn und Öl) begannen, sich in großen „Trusts“ zu konzentrieren – große Kombinate, die die Manufakturen und Familienunternehmen des „kleinen Mannes“ zu zerstören drohten. Das Feindbild des großen Trusts und ihrer „robber barons“ war durchaus mehrheitsfähig, die Vorschläge politischer Gegenmaßnahmen waren allerdings uneinheitlich: sie reichten von „trust busting“ (Zerschlagung großer Kombinate und forcierte Anti-Kartell-Gesetzgebung) bis hin zur Verstaatlichung von Trusts über zumindest eine gesetzliche Regulierung der Unternehmen (beispielsweise in Form des Pure Food & Drug Act von 1906, einem frühen Verbraucherschutzgesetz, das in Reaktion auf Upton Sinclairs Roman „The Jungle“ über die horrenden Arbeitsweisen der Fleischindustrie erlassen wurde). Jedenfalls stellt SPEEDY sehr deutlich diesen Gegensatz her zwischen der auf überschaubare Zusammenhänge ausgerichteten Wirtschaft von Kleinunternehmern, personifiziert durch den sympathischen Pop und seinen Kumpels, die kleine Geschäfte betreiben, und dem skrupellosen Gebaren der Trusts, personifiziert durch den groben, selbstgefälligen Boss, der kleinkriminelle Schlägertypen als Handlanger beschäftigt. Beim Konflikt, um den es hier geht, steht nicht weniger als eine der Säulen der amerikanischen Republik auf dem Spiel: nach dem Besuch des Magnaten reibt Harold seinem Schwiegeropa den versteiften Nacken aus Versehen nicht mit medizinischem Öl, sondern mit einem Catsup der Marke „Liberty“ ein.
Ich habe mir mal einen kleinen Exkurs in die politische Kultur der USA des frühen 20. Jahrhunderts erlaubt. Die Kapitalismuskritik von SPEEDY, die im Ideal des autark wirtschaftenden Kleinunternehmers durchaus anschlussfähig an antimodernem Konservatismus war, läuft aber schlussendlich ins Leere, als Pop am Ende dann doch den Scheck des Magnaten entgegen nimmt – es sich aber auch nicht nehmen lässt, ihn vorher noch öffentlich zu demütigen.

Ein Großunternehmer und seine finsteren Gesellen bedrohen Pops Kleinunternehmen,
doch der Pferdebahn-Fahrer und seine Kleinhändler-Freunde erweisen sich als wahrhaft.

Zurück also zum eigentlich Hauptthema des Films: dem puren Rausch der Geschwindigkeit. Es ist sicherlich kein Zufall, dass einige der Screenshots, die ich für den Film gemacht habe, durch Bewegungsunschärfe etwas verschwommen wirken, denn der „rote Faden“ der Geschichte ist in SPEEDY tatsächlich das einzige, was an Ort und Stelle stehen bleibt.
Die wunderbare Coney-Island-Sequenz ist sicherlich von großer Dynamik, flott und rasant inszeniert. Doch richtig Gas geben SPEEDY und „Speedy“ dann am Tag nach Coney Island, als Harold Taxi fährt. Hartnäckige „out of order“-Schilder, blockierende Türen, unfreiwillige Abschleppaktionen und potentielle Kunden, die erst einsteigen können, wenn sie eine Prügelei überstanden haben, sorgen zunächst für mangelnde Kundschaft. Polizisten auf Verfolgungsjagd geben Harold dann grünes Licht: mit ihnen als Passagiere gäbe es keine Geschwindigkeitsbegrenzung. Das lässt sich Harold nicht zweimal sagen und rast durch die Straßen New Yorks, dass einem ganz schwindlig wird (sehr zum späteren Missfallen eines Verkehrspolizisten merkt Harold leider den Austausch seiner Kundschaft zwischendurch nicht). Ohne Fahrtgeld, aber mit Strafzettel, gewinnt Harold durch Zufall den Star-Baseballspieler Babe Ruth als Gast. Der ermuntert seinen Taxifahrer, zügig zum Yankee Stadium zu fahren – eine Entscheidung, die der Sportler rasch bereut, als Harold mit selbstmörderischem Tempo rast und es sich dabei nicht nehmen lässt, mit seinem berühmten Gast zu locker zu plaudern, ohne groß darauf Acht zu geben, welche Autos gerade frontal auf ihn zufahren. „If I ever want to commit suicide I‘ll call you.“ verspricht Ruth dem Taxifahrer eine Handvoll Nah-Toderfahrungen und einigen Dutzenden Fast-Unfällen später.

Harold freut sich riesig, Babe Ruth kutschieren zu dürfen. Für diesen wird allerdings die Fahrt mit dem Raser,
der nicht auf den Verkehr achtet, eher unentspannt.

Im letzten Teil des Films kommt es schließlich zu einer langen Verfolgungsjagd, bei der Harold die Tram seines Schwiegeropas von dem Hangar, zu dem sie die Bösewichte gebracht haben, wieder zu Pop fährt, bevor die 24-Stunden-Deadline verfällt – ohne dabei irgendwelche Schienen zu nutzen.
Hier kommt es zu einem interessanten Effekt. Einzelne Momente der Verfolgungsjagd sind eindeutig als rumpelige Rückprojektionen identifizierbar – meist jene, in denen man Harold frontal von vorne oder direkt von hinten den Wagen manövrieren sieht. Diese Rückprojektionen – das CGI der expressionistischen Ära – lassen den Rest allerdings noch wesentlich realer aussehen: hier wurde tatsächlich ein Tramwagen durch die Straßen New Yorks gefahren. Klar, meistens läuft der Film leicht beschleunigt ab, so dass das ganze etwas dramatischer aussieht, als es wohl war. Nichtsdestotrotz: die Illusion klappt. Schier unfassbar ist der völlig unerwartete Crash: mitten in der Verfolgungsjagd knallt die Tram hart gegen einen Stützpfeiler der Hochbahn. Hier erreicht SPEEDY fast die Dramatik des großen Zug-Brücken-Crashs in THE GENERAL, doch im Gegensatz zu Keatons Crew hatten Lloyd und Co. den Unfall nicht geplant. Niemand wurde verletzt, die „verpatzte“ Szene blieb dennoch im Film. Der Einfall, das zerbrochene Rad durch einen Gullydeckel zu ersetzen, war improvisiert.

Finale Verfolungsjagd. Oben links vor Rückprojektion – alle anderen auf den New Yorker Straßen.
Unten rechts der ungeplante Crash.

Nicht unerwähnt bleiben soll natürlich die große Massenschlägerei, bei der eine Gruppe von Senioren zusammen mit Harold einigen harten Straßenschlägern ordentlich den Hintern versohlt. Doch wie gesagt ist SPEEDY ein Film, bei dem Momente der Ruhe ebenso wirkungsvoll sind wie die vielen Kicks des Geschwindigkeitsrausches. Die Coney-Island-Sequenz endet damit, dass Harold und Jane bei einem Kumpel Harolds, einem Umzugsfahrer, im Wagen hinten mitfahren. Dort steht allerlei Gerümpel, den es eben so bei einem Umzug so gibt. Nicht besonders gemütlich; tatsächlich nur eine unbequeme Mitfahrgelegenheit. Doch Harold und Jane lassen sich nicht unterkriegen. Mit nur wenigen Handgriffen verwandelt Harold den unbequemen Umzugswagen in ein gemütliches Wohnzimmer – so gemütlich, dass man da sogar die zukünftigen Kinder in der Wiege sehen kann. Aus nichts mit wenigen Handgriffen eine Illusion basteln – die pure Freude des Filmemachens in einem Bild zusammengefasst...

Vom vollbeladenen Umzugswagen zum gemütlichen Wohnzimmer

Im Gegensatz zu Chaplin und Keaton (letzterer teilte sich meist die Regie-Credits) ließ sich Harold Lloyd nie als Regisseur und Autor seiner Filme nennen, auch wenn davon ausgegangen werden kann, dass er die kreative treibende Kraft seiner eigenen Star-Vehikel war. Er hatte auf jeden Fall einen harten Kern an festen Mitarbeitern und Gagschreibern, denen er die Regie-Credits trotz, wie man manchmal lesen kann „streibarer Regiebeiträge“, überließ. Ted Wilde jedenfalls war kein einfacher „ghost director“, sondern ein integraler Bestandteil von Harold Lloyds Crew. Er war Autor und Gagschreiber von WHY WORRY?, GIRL SHY, THE FRESHMAN, FOR HEAVEN‘S SAKE und THE KID BROTHER – für letzteren, Lloyds schönster Film neben SPEEDY, war er auch der nominelle unter ganzen fünf inoffiziellen Regisseuren. Der gebürtige New Yorker hatte wie Lloyd selbst auch für Hal-Roach-Produktionen debütiert und inszenierte nach SPEEDY noch zwei weitere Filme unabhängig von Harold Lloyd. Mit nur 40 Jahren starb Wilde Ende 1929 an den Folgen eines Herzinfarkts. An der Kamera gab es keine personellen Überraschungen: Walter Lundin saß schon 1915 bei den ersten Filmen „Speedys“ hinter der Kamera, fotografierte alle Lloyd-Klassiker der 1920er Jahre und machte mit dem großen Slapstick-Komiker auch den Übergang zum Tonfilm in die 1930er Jahre mit.
Bert Woodruff war beim Dreh von SPEEDY 71 Jahre alt und damit im richtigen Alter, um einen überzeugenden Pop Dillon zu spielen. Der Vaudeville-Darsteller versuchte sich ab den 1910er Jahren (als er bereits um die 60 Jahre alt war) im Film und spielte für namhafte Filmemacher wie Tod Browning, Frank Borzage und John Ford. Ann Christy ist keine Mildred Davis und schon erst recht keine Jobyna Ralston, spielt aber dennoch eine überzeugende Jane. Sie drehte ihre ersten Filme (darunter ironischerweise einer mit dem Titel THE KID SISTER) 1927, bevor der Slapstickstar sie für SPEEDY engagierte. Doch wie bei ihren beiden Vorgängerinnen als Lloyd-Partnerin endete auch ihre Karriere recht früh: nach SPEEDY bekam sie keine namhaften Rollen mehr und hing 1932 das Schauspielen an den Nagel.

SPEEDY findet sich auf der siebenten Scheibe der „10-Disc-Harold-Lloyd-Collection“, die selbstverständlich in jeden gut sortierten Haushalt gehört. Die Box war auf gängigen Plattformen 2010 für nur 16 Euro verfügbar. Heute kostet sie mindestens das Vierfache – aber die Investition lohnt sich. Die einzelnen Discs der Collection (bei THE FRESHMAN, Disc 5, und SAFETY LAST, Disc 3, weiß ich es bestimmt) sind wohl auch einzeln erhältlich. SPEEDY ist auch als DVD und als blu-ray bei der Criterion Collection in den USA erschienen. Eine blu-ray-Lizenz-Ausgabe davon gibt es in Großbritannien.
Auf allen genannten Edition findet sich der schlichtweg fantastische Score von Carl Davis. Die Scores der Komponisten und Arrangeure Carl Davis und Robert Israel begleiten praktisch alle Filme der Lloyd-Collection und sind fast allesamt gut bis sehr gut. Doch bei SPEEDY hat sich Carl Davis selbst übertroffen. Sein jazziger Score gehört zu dem Besten, was ich bislang im Bereich der Stummfilmmusik erlebt habe. Er wirkt nicht wie eine Begleitung, wie etwas von außerhalb, sondern wie ein unzertrennlicher Bestandteil des Films.

Marginalien zu Frits Fronz

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Fangen wir mal von hinten an. Im Herbst 2016 wurde auf eBay für 199 Euro die Ordenskette eines vor mehr als einem Vierteljahrhundert verstorbenen Großmeisters des internationalen Ritterordens Ordines Internationales Pro Concordatia Populorum zum Kauf angeboten - ein "einzigartiges Stück von historischer Bedeutung", wie es im eBay-Angebot hieß. Die Brustplakette dieser Ordenskette ziert ein rot emailliertes Kreuz, und auf der Rückseite der Plakette ist Folgendes eingraviert:
SEINER EXZELLENZ
HANDELSRAT PROFESSOR
FRIEDRICH FRONZ-FRUNDSBERG
GROSSMEISTER
INT. PRO CONCORDATIA-ORDEN
War dieser Handelsrat Professor Friedrich Fronz-Frundsberg, Großmeister eines Ritterordens, etwa ein Verwandter von Frits Fronz, dem Regisseur schlüpfriger Filme wie MÄNNER IN DEN BESTEN JAHREN ERZÄHLEN SEXGESCHICHTEN und SEXREPORT BLUTJUNGER MÄDCHEN? Weit gefehlt - er war es selbst.

Frits Fronz in VIA EROTICA 6 (1967)
Der österreichische "Schundfilm" der 60er und frühen 70er Jahre, dessen bekannteste Vertreter wohl Eddy Saller und Frits Fronz waren, führte ein durchaus interessantes Dasein, doch außerhalb der Alpenrepublik sind seine Vertreter nach der Blütezeit des Genres weitgehend in Vergessenheit geraten. Eddy Saller wurde schon 1991/92 teilweise "wiederentdeckt", doch als 2012 in Deutschland die beiden DVDs Frits Fronz Collection 1 und Collection 2 erschienen, die zusammen vier Filme präsentieren, bekannten selbst Genre-Connaisseure, bislang nichts von Fronz gehört zu haben. Von 1967 bis 1972 inszenierte Fronz fünf Sexfilme, weil sie aber fast alle in Österreich und Deutschland unterschiedliche Titel hatten, ist die "gefühlte" Zahl höher. Fronz spielte in dreien davon unter dem Pseudonym Frank Roberts selbst mit, und ein gewisser Marcel Troussant, der ebenfalls in drei der Filme als Drehbuchautor genannt wird, war auch Fronz selbst. "Primitiv ersonnenes Filmchen", "unsägliche Primitiv-Produktion der sechziger Jahre, haarsträubend dilettantisch", "indiskutabler Sex- und Sittenplunder", "wüste Kolportage", "veralteter Sexfilm" - so schmäht das sittenstrenge Lexikon des internationalen Films der Reihe nach die aus heutiger Sicht recht harmlosen, aber nicht uninteressanten Werke. Doch im Weiteren soll es hier gar nicht mehr um die Filme gehen, sondern darum, was Fronz sonst noch so gemacht hat. Frits Fronz, der Regisseur fehlt also bei den folgenden Überschriften.

Friedrich Fronz, der Widerstandskämpfer?


Fronz wurde 1919 geboren - soviel ist allgemein anerkannt. Doch dann geht es schon los: Ein Teil der Quellen nennt als seinen Geburtsnamen Friedrich Oskar Fronz, der andere Teil plädiert für Friedrich Otto Fronz. "Oskar" erscheint mir glaubwürdiger (sein Vater war der Theaterdirektor Oskar Fronz jr.), aber ganz sicher bin ich mir nicht. Eine mögliche Interpretation der verwirrenden Lage wäre, dass tatsächlich "Friedrich Oskar Fronz" stimmt, und dass er selbst das später in seinem öffentlichen Auftreten in den "Otto" umgebogen hat, weil ihm das besser gefiel - aber das ist erst mal nur eine Spekulation von mir. Wie dem auch sein mag - Otto oder Oskar, Hauptsache Italien! Einigen wir uns also auf Friedrich O. Fronz.

Im Web findet man einige vage Hinweise darauf, dass Fronz im Widerstand gegen die Nazis gewesen sein soll. Im oben erwähnten eBay-Angebot findet sich auch eine (mit Vorsicht zu genießende) Kurzbiografie von Fronz (im Folgenden "eBay-Biografie" genannt). Diese enthält die einzige etwas konkretere Schilderung, die ich finden konnte: "Zum Jahreswechsel 1944/45 befand er sich bei seiner, wegen der Bombenangriffe nach Oberösterreich verschickten Familie auf Heimaturlaub. Er beschloss nicht mehr einzurücken sondern sich der oberösterreichischen Widerstandsbewegung, die sich dann beim Erhalt der Brücke in Linz-Urfahr so auszeichnete, anzuschließen." Eine unabhängige Bestätigung dafür konnte ich nicht auftreiben. Beim Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, der zentralen Anlaufstelle für solche Fragen, liegen anscheinend keine Erkenntnisse über Fronz vor (jedenfalls taucht er in diesem Register nicht auf), doch das muss nichts heißen. Ich war schon geneigt, die Widerstandsgeschichte zu glauben, aber dann bin ich auf das gestoßen:
Der Sohn von Oskar Fronz junior, Friedrich Fronz, hat übrigens 1947 um eine Varietekonzession bei der Gemeinde [Wien] angesucht, die negativ beschieden wurde, da er "Mitglied der ehem. NSDAP., Ortsgruppenpropagandaleiter der Ortsgruppe Viadukt und Mitglied der SA" gewesen ist. Friedrich Fronz hat dagegen Berufung eingelegt, da er "weder Mitglied noch Anwärter der NSDAP., noch Mitglied der SA", sondern vielmehr "seit 1944 Mitglied der Widerstandsbewegung [war], wo er mit den Herren Hörbiger, Lehmann, Eysler und Wachsler zusammengearbeitet hat." Die Einvernahmen Hörbigers und Eyslers lesen sich anders: Nach ihren Aussagen wäre Fronz gar nicht in der Widerstandsbewegung gewesen. Ermittlungen der Polizeidirektion ergaben, dass Fronz während der NS-Zeit seine Parteizugehörigkeit bei verschiedenen Gelegenheiten durchaus ins Treffen geführt hatte um seine Angelegenheiten für ihn günstig zu regeln. Gegen Fronz wurde ein Verfahren wegen Verdachts auf Nichtregistrierung als Nationalsozialist eingeleitet. Eine Konzession hat Fronz nicht mehr erhalten. Vgl. WStLA, M.Abt. 350 A6/8.

Mirjam Langer: Wiener Theater nach dem "Anschluss" 1938 im Fokus nationalsozialistischer Arisierungsmaßnahmen dargestellt am Beispiel des Bürgertheaters (Diplomarbeit, Universität Wien 2009), Fußnote 155. (WStLA ist das Wiener Stadt- und Landesarchiv, die Zeugen waren Paul Hörbiger und der jüdischstämmige Operettenkomponist Edmund Eysler.)
Oha. Anscheinend doch kein Widerstandskämpfer, sondern ein Nazi - denn es handelt sich hier tatsächlich um "unseren" Friedrich Fronz. Dass er der Sohn von Oskar Fronz jr. war, hat er freundlicherweise selbst bestätigt (denn sonst fand ich diese biografische Information nirgends): In einem kurzen autobiografischen Text (der stark mit Übertreibungen und Flunkereien angereichert ist), den eine Klosterneuburger Zeitung anlässlich seines Todes abdruckte, geht er auch auf seine Verwandtschaftsverhältnisse ein. Kurios: Fronzens Hang zum "Ausschmücken" (um das mal freundlich zu formulieren) machte auch vor seinem Vater nicht halt. Oskar Fronz jr. war, wie zuvor schon dessen Vater Oskar Fronz sen., Direktor des Wiener Bürgertheaters. Doch Friedrich Fronz "beförderte" den Herrn Papa kurzerhand zum Direktor und Erbauer (!) des weit bedeutenderen Burgtheaters. Seine Nonchalance in diesen Dingen ist schon verblüffend. Höhepunkt dieser "Mini-Memoiren" ist aber zweifellos, dass sich Fronz darin selbst zum Mitglied der Académie française erklärt. Man reibt sich verwundert die Augen, doch es steht wirklich da: "ich wurde zum Mitglied der Academie Francaise ernannt". Angesichts solcher Aufschneiderei sollte man Fronzens Behauptung (die sich in der eBay-Biografie wiederfindet), er habe in seinen jungen Jahren das Reinhardt-Seminar besucht und sei Burgschauspieler gewesen, mit einer gehörigen Portion Skepsis entgegentreten, solange nicht jemand an diesen Institutionen Nachforschungen anstellt und das bestätigen kann (ich habe in diese Richtung keine Recherchen unternommen).

Frank Roberts, der Sänger


Als "Frank Roberts" trat Fronz nicht nur in seinen Filmen auf, sondern unter diesem Pseudonym verfolgte er in den Jahren von 1955 bis 1965 auch eine (nur mäßig erfolgreiche) Karriere als Schlagersänger. Nun ja, vielleicht sollte man besser "Schlagersprecher" sagen, denn die Mehrzahl der Aufnahmen (oder vielleicht alle?) zeichnet sich durch einen eigenwilligen Sprechgesang aus. "Maloja", die B-Seite der Single "Jonny" (1957), fand Eingang in Vol. 1 der vor einigen Jahren auf CD und Vinyl erschienenen Anthologie Schnitzelbeat (es gibt auch ein Begleitbuch) und ist derzeit auch auf YouTube zu finden - unbedingt mal anhören! Im Bonusmaterial der Fronz-DVDs (es ist auf beiden Scheiben identisch) finden sich gar sieben Titel mit einer Gesamtlänge von 21 Minuten. - Für den Soundtrack der Rahmenhandlung von ROULETTE D'AMOUR aka BARON PORNOS NÄCHTLICHE FREUDEN ist Fronz noch einmal zum Sprechgesang zurückgekehrt, ebenso wie für VIA EROTICA, wo auch ein bisschen echter Gesang von Fronz (zusammen mit einer Eva Bardos) zu hören ist (und das klingt - mit Verlaub - ziemlich bescheiden).

Parallel zur Schlagerkarriere betätigte sich Fronz in dieser Schaffensphase (oder vielleicht auch schon vorher) auch als Autor von Groschenheftromanen, oder, wie es auf einer Seite des Filmarchiv Austria heißt, als "Schundheftlautor". Welche Namensvariante er dafür benutzte, ist mir nicht bekannt.

Friedrich Fronz und die Wiener Gartenschauen


1964 und 1974 fanden nach dem Vorbild der deutschen Bundes- und Landesgartenschauen die beiden Wiener Internationalen Gartenschauen (WIG 64 und WIG 74) statt, und Fronz war an beiden organisatorisch beteiligt. Was genau er 1964 gemacht hat, weiß ich nicht, er war aber sicher nicht der Chef oder der Hauptorganisator der Veranstaltung (wie es die eBay-Biografie suggeriert), denn das war der Stadtgartendirektor Alfred Auer. Seinen eigenen Bekundungen nach hat er wohl als Angestellter der Wiener Stadthallen-Betriebsgesellschaft diverse Sonderausstellungen, Modenschauen und dergleichen im Rahmen der Gartenschau organisiert.

Die WIG 74 fand am Südosthang des Laaer Bergs statt. Dort hatte einst in den frühen 20er Jahren der Großproduzent Sascha Kolowrat einige Kolossalfilme drehen lassen, darunter SODOM UND GOMORRHA von Michael Curtiz (damals noch Mihály Kertész), und in den 50er Jahren drehte hier Kurt Steinwendner die Episode ANNI seiner WIENERINNEN. Auf diesem filmgeschichtsträchtigen Areal also wurde die zweite (und bis jetzt letzte) der Wiener Gartenschauen ausgerichtet, und Friedrich Fronz (den "Frits" benutzte er nur als Regisseur und vielleicht als Heftautor) wurde damit betraut, mit der von ihm dafür gegründeten Erholungs-Veranstaltungs-Ausstellungsgesellschaft (EVA GmbH, etwas später hieß sie dann wohl Ausstellungs- und Veranstaltungsgesellschaft, AVG) den in die Gartenschau integrierten Vergnügungspark zu betreiben. Fronz hatte Großes vor. In der österreichischen Zeitschrift Profil konnte man 1973 in einem Vorbericht Folgendes lesen:
Fronz führt in Eigenregie den 70.000 Quadratmeter großen Vergnügungspark. "Unser größter Stolz ist Arabien", freut sich Fronz, "wir bieten einen ägyptischen Nachtklub mit Bauchtanz und auch einen Bazar mit lauter Negern im Nachthemd." [...] Neben einem Vergnügungspark mit Riesenrad bietet Fronz ein "kulinarisches Festival der Nationen", bei dem Nationalspeisen in Bauten, die ein Filmarchitekt entworfen hat, angeboten werden.
1974 hieß es in einem weiteren Artikel im Profil:
Professor Fritz Fronz (Freunde sagen, er habe sich eines Tages selbst dazu ernannt) war endlich auch Direktor. Fast ein kleiner Messe-Direktor, als er - wie er überall kundtat - vom mächtigen Wiener Stadtgartenamtsdirektor Alfred Auer "ersucht wurde, die Leitung des Vergnügungsparks zu übernehmen". Fronz: "Ich war ja auch der einzige, der auf der WIG 64, die eine finanzielle Katastrophe war, für die Gemeinde 8,5 Millionen Schilling Gewinn erwirtschaftet hat." Sein WIG-74-Auftrag, den er "auf Grund guter Beziehungen" (Fronz) auch als Gemeindebediensteter mit Sondervertrag und gutem Gehalt hätte durchführen können, lautete: Organisation eines Vergnügungsparks mit angeschlossenem Campingplatz. Fronz zog - blühende Geschäfte vor Augen - Eigenverantwortlichkeit mit der AVG vor.
Doch der Vergnügungspark wurde von technischen Pannen geplagt, was erheblichen Unmut unter den Schaustellern auslöste, der sich gegen Fronz richtete. Und trotz der "Neger im Nachthemd" kamen weit weniger zahlende Gäste als erhofft, und der Vergnügungspark schlitterte in ein finanzielles Debakel. Fronz wurde denn auch später des Öfteren als "WIG-Pleitier" bezeichnet. In der Zeitschrift Wochenpresse war 1982 zu lesen: "In einer ellenlangen Epistel an die WOCHENPRESSE beteuert er, "niemals ein Pornofilmer" und ebensowenig "WIG-Pleitier" gewesen zu sein. Seine gewundene Interpretation: Der wahre WIG-Pleitier wäre die Gemeinde Wien [...]". Die österreichische Justiz mochte sich dieser Sichtweise aber nicht anschließen. Denn 1979 (also mit einiger Verspätung) stand Fronz wegen dieser Angelegenheit vor Gericht. Im selben Artikel in der Wochenpresse konnte man lesen:
Vor den Kadi kam er jedenfalls 1979 als Spätfolge der verunglückten Wiener Internationalen Gartenschau (WIG) 1974. Dort hatte Fronz den Maitre de plaisier gegeben. Und war durchgefallen, "weil das Wetter so schlecht war, so daß nur ein paar Rotznaserln zum Ringelspiel [Karussell] gekommen sind" (Fronz). Der Vergnügungspark ging pleite. Wegen fahrlässiger Krida setzte es zehn Monate bedingt [also auf Bewährung] für den verhinderten Spaß-Macher.
Was übrigens den "Pornofilmer" betrifft, so ist Fronz mit Gegendarstellungen und mindestens einmal mit einer Klage wegen übler Nachrede gegen die Wochenpresse dagegen vorgegangen, so bezeichnet zu werden. Wie das Verfahren ausging, ist mir nicht bekannt. - Eine weitere Begründung für das Scheitern des Vergnügungsparks konnte man schon 1976 in der Wochenpresse lesen:
"Zuletzt", so Fronz, der stets vom Unglück zu Unrecht Betroffene, "ist noch der Bundespräsident Franz Jonas gestorben, da ist dann überhaupt keiner mehr gekommen, und wir mußten aus Pietätsgründen auch alle Veranstaltungen absagen."
Aus Ausgaben der Kronen Zeitung und der Klosterneuburger Zeitung vom September 1979 erfährt man weitere interessante Details über den WIG-Prozess. Nicht nur Fronz stand vor Gericht, sondern auch seine Frau und seine Geschäftspartner Alfred Josef und Viktor Marischka, und es gab weitere Anklagepunkte, darunter den skurrilen Tatbestand "Baumdiebstahl". In den meisten dieser weiteren Punkte erfolgten keine Verurteilungen, teilweise allerdings nur, weil die Delikte inzwischen verjährt waren. Bei der WIG-Pleite wurde Fronz konkret zur Last gelegt, dass er viel zu wenig Eigenkapital eingebracht habe: Nur 100.000 Schilling bei nötigen Investitionen von rund 20 Mio. Schilling. Der Wechselkurs von Schilling zu Mark war ungefähr 7:1, das Eigenkapital betrug also umgerechnet ca. 14.000 DM - auch inflationsbereinigt ein mickriger Betrag für ein Projekt dieser Größenordnung.

Für uns interessant ist bei diesem Prozess noch die ebenfalls verhandelte Pleite der Marischka Film Ges.m.b.H. Die Fronz-Filme wurden von einem Firmengeflecht aus Marischka Film, Süd-Ost Film und Belvedere Film produziert und vertrieben. Viktor Marischka, ein Mitglied des verzweigten Marischka-Clans (Ernst, Hubert, Georg, Franz etc.) war "offizieller" Produzent der Filme, aber Fronz war finanziell auch an den Firmen beteiligt und somit "stiller" Co-Produzent (in den Credits taucht er in dieser Funktion nicht auf). Weil die Süd-Ost Film und die Marischka Film irgendwann um 1970 herum pleite gingen, warf man Fronz und Marischka ebenfalls fahrlässige Krida wegen zu geringen Eigenkapitals vor. Darüber hinaus wurde ihnen zur Last gelegt, die Gläubiger geprellt zu haben, indem sie Vermögenswerte an die neu gegründete Europa Film Ges.m.b.H. transferierten, die Alfred Josef, dem Produktionsleiter der Fronz-Filme, und Fronz' Frau gehörte. Frau Fronz, Alfred Josef und Ernst Marischka wurden mangels haltbarer Anklagepunkte freigesprochen, aber Fronz wurde möglicherweise nur durch die inzwischen eingetretene Verjährung vor einer noch schwereren Strafe gerettet, und wenn er sich korrekt verhalten hätte, dann hätte es seine letzten beiden Filme vielleicht gar nicht gegeben. - Seine Filme haben "ganz schön viel Geld eingespielt", sagte Fronz einmal in einem Interview mit der Zeitung Kurier, aber die Firmenpleiten wecken gewisse Zweifel an dieser Darstellung.

Als kleine vorgezogene Wiedergutmachung für die Schmach der Krida-Verurteilung gab es einen Orden von unerwarteter Seite:
Die Brust von Professor Friedrich O. Fronz, Direktor des Vergnügungszentrums der WIG 74, blieb nicht lange ungeschmückt. Am vergangenen Wochenende überreichte der Botschafter Panamas, Irwin Gill, dem verdienten Lustbarkeitsgestalter den panamesischen Verdienstorden "Eloy Alfaro". Laut einhelliger Meinung der bei dem Festakt anwesenden Prominenz seien die Beziehungen Panamas zur WIG 74 ausgezeichnet.
(Profil, 1974)

Fronz in einer der Rückblenden in ROULETTE D'AMOUR (1969)

Friedrich Fronz, der Ordensritter


"Seine Exzellenz, Handelsrat Professor Friedrich Fronz-Frundsberg" - klingt eindrucksvoll, oder? Doch wir erinnern uns: "Freunde sagen, er habe sich eines Tages selbst dazu ernannt". Und wiederum 1982 in der Wochenpresse liest man:
Dieser, der Klosterneuburger Gemeinderat Fritz Fronz, hat eine bunte Vergangenheit: als Regisseur pikanter Streifen und WIG-Pleitier. [...] [Er] garniert sich gern mit dem Titel "Professor", den ihm, völlig unakademisch, eine "Akademie für europäische Politik" mit Sitz in Brüssel geliehen hat [...]
Das Professorenproblem wurde sogar amtlicherseits behandelt. Wie man im oben schon zitierten Wochenpresse-Artikel von 1976 lesen konnte, ging bei einem zuständigen Ministerialrat im Bundesministerium für Unterricht und Kunst eine Anfrage zum auf Fronzens Visitenkarte prangenden Professorentitel ein, und der Beamte antwortete wie folgt:
Ich bestätige den Erhalt Ihrer obbezogenen Schreiben in der Angelegenheit des Titels 'Professor' des Herrn Direktors Friedrich O. Fronz, wohnhaft ..., und muß Ihnen mitteilen, daß im hierortigen Ressortbereich keine Anhaltspunkte zu finden waren, die Herrn Direktor Fronz berechtigen, den Amtstitel oder Berufstitel 'Professor' zu führen.
Über den "Handelsrat" habe ich nichts Konkretes gefunden, aber es würde mich nicht im Geringsten wundern, wenn sich Fronz auch diesen Titel selbst verliehen hätte. Und der "Frundsberg"? Ich habe nirgendwo einen Hinweis darauf entdeckt, dass Fronz diesen Namenszusatz auf legalem Weg (also etwa durch Heirat oder durch eine gekaufte Adoption) erworben hat. Außerdem trat Fronz außerhalb des Ordenskontexts auch in seinen späten Jahren als "Fronz" und nicht als "Fronz-Frundsberg" auf den Plan, und selbst innerhalb des Ordens tritt der "Frundsberg" nicht immer in Erscheinung - er fehlt z.B. in der im übernächsten Absatz erwähnten Urkunde. Man kann wohl getrost davon ausgehen, dass der "Frundsberg" frei erfunden ist.

Und was ist nun mit diesem Orden selbst? Der Ritterorden "Ordines Internationales Pro Concordatia Populorum", wie er zeitweise hieß (der Orden wurde ein- oder zweimal umbenannt und umstrukturiert), hat sich der Völkerverständigung und karitativen Aktivitäten verschrieben. Laut offizieller Timeline auf seiner englischsprachigen Website wurde der Orden 1961 in den USA (!) von Antoni G. Zyngale gegründet - das ist ein sehr mysteriöser Herr, an dem sich Google die Zähne ausbeißt. Wir werden den Grund dafür gleich kennenlernen. Ebenfalls laut Timeline trat Fronz 1973 in den Orden ein und gründete die österreichische Generalpräfektur. Und schon 1976 wurde er Großmeister (also Chef) des gesamten Ordens. Im selben Jahr gab es (wiederum laut Selbstauskunft des Ordens) eine Art Anerkennung durch den damaligen UNO-Generalsekretär Kurt Waldheim (der später als österreichischer Bundespräsident wegen seiner NS-Vergangenheit eine schwere Belastung für das Land wurde), sowie einen apostolischen Segen durch den Papst - allerdings durch Papst Paul II., und der amtierte im 15. Jahrhundert. Nun ja, gemeint ist natürlich Paul VI.

"Das Generalkapitel der Generalpräfekten Europas hat bei seiner Sitzung am 21. Oktober 1989 in Schwyz einstimmig beschlossen der Stadtgemeinde Klosterneuburg als erster Stadt Europas den Titel Stadt der Völkerverständigung zu verleihen. Gegeben zu Schwyz, den 21. Oktober 1989". So heißt es in einer pompös gestalteten Erhebungsurkunde, und als Zeugen werden darin der Großmeister (also Fronz), der Großkanzler und die neun weiteren Generalpräfekten des Ordens aus verschiedenen Ländern aufgeführt. Die niederösterreichische Kleinstadt Klosterneuburg, nicht weit von Wien entfernt und Fronzens Wirkungsstätte in seinen späten Jahren, ist nicht nur die erste, sondern die bislang einzige Stadt, der diese Ehre zuteil wurde.

Wolfgang Bäck, der stellvertretende Leiter des Klosterneuburger Stadtarchivs, veröffentlichte in der Ausgabe 7/2014 des Klosterneuburger Amtsblatts auf S. 29 einen kurzen, aber aufschlussreichen Artikel zum 25-jährigen Jubiläum dieses "erhebenden" Ereignisses. Und in diesem Artikel steht Erstaunliches:
Nach dem plötzlichen Ableben von Großmeister Prof. Fronz im August 1990 durchlebte der IPC Orden eine innere Umstrukturierung. Recherchen der neuen Ordensleitung ergaben, dass die europäischen Präfekturen und auch der amerikanische Gründer des elitären Ordens nur Fantasiegebilde waren.

25 Jahre später scheint es fast, als sei dieses noble Ansinnen der Verleihung des Titels "Stadt der Völkerverständigung" ein wenig erfolgreicher Werbefeldzug für den lokalen Fremdenverkehr gewesen zu sein. Der lokale Vertreter der Internationalen Esperanto Bewegung pflegt als Einziger seit 1990 die Verbreitung dieses Titels unserer Babenbergerstadt.
Hoppla! Da wäre also schon mal die Identität des mysteriösen amerikanischen Ordensgründers geklärt - es gab ihn gar nicht. Die sich daraufhin aufdrängende Vermutung, dass in Wirklichkeit Fronz selbst den Orden gegründet und sich selbst zum Großmeister ernannt hat, hat Wolfgang Bäck auf meine Anfrage hin zwar nicht explizit bestätigt, weil die Ordensgründung für ihn nebulös ist, aber aus Presseartikeln, die mir Herr Bäck freundlicherweise gemailt hat, geht schon recht deutlich hervor, dass Fronz selbst den Orden gegründet hat. Das scheint damals auch allgemein bekannt gewesen zu sein, geriet aber anscheinend im Lauf der Zeit etwas in Vergessenheit. Laut dem oben zitierten Wochenpresse-Artikel von 1976 erfolgte die Gründung 1975. Es kann auch nicht später gewesen sein, denn im WIG-Prozess wurde nebenbei auch über nicht oder nur verspätet bezahlte Rechnungen für kulinarische Festivitäten des Ordens verhandelt, und die datieren auf November und Dezember 1975. Die Ernennung zur "Stadt der Völkerverständigung" hat Fronz wohl mehr oder weniger im Alleingang beschlossen. Und wie steht es eigentlich mit Waldheim und dem Papst? Ich weiß es nicht sicher, denn auf Recherchen bei der UNO und im Vatikanischen Geheimarchiv habe ich verzichtet, aber wahrscheinlich ist das auch nur Humbug. Auf jeden Fall beschlich mich irgendwann der Verdacht, dass der Orden zumindest in seiner Anfangszeit nur so etwas wie eine ganzjährige Faschingsveranstaltung von einigen Leuten mit einem Faible für Pomp und Brimborium war.

Nach der Ordensgründung gab es ein bisschen Gegenwind von zweierlei Seiten. Einerseits von den "echten", also schon länger bestehenden Orden, die da einen Möchtegern-Orden am Werk wähnten. "Das ist eine Täuschung von gutgläubigen Leuten, die annehmen, daß sie einem Orden beitreten und tatsächlich einem Geselligkeitsverein angehören", giftete ein Vertreter des "Ordens des Heiligen Lazarus von Jerusalem". Nun ja, man könnte sich auf den Standpunkt stellen, dass Ritterorden im 20. und 21. Jahrhundert generell bizarre Anachronismen sind, aber das soll hier nicht weiter erörtert werden. Ein kleines Gegenlüftchen kam auch von behördlicher Seite. Fronz wurde in die Wiener Polizeidirektion zitiert, wo man ihn belehrte, dass weltliche Ritterorden in Österreich per Gesetz seit 1919 aufgehoben sind. Fronz sah sich genötigt darauf zu verweisen, dass sein Verein ja eigentlich nur eine "Gesellschaft für Völkerverständigung" sei. Das hielt ihn in der Folge aber nicht davon ab, eben doch den Charakter als Orden mit Großmeister, Zeremonien etc. zu zelebrieren. Es scheint aber bei dem einmaligen Rüffel geblieben zu sein, jedenfalls ist mir von ernsthaften Schwierigkeiten des Ordens mit den Behörden nichts bekannt.

Angestoßen wurde Fronzens Großmeisterkarriere möglicherweise durch seine Bekanntschaft mit dem österreichischen Tierarzt Friedrich Perko, dem Gründer und "Ordensgeneral und Souverän" des Abendland-Ordens. Allerdings habe ich zwei recht unterschiedliche Versionen dieser Geschichte gelesen. Laut Wochenpresse war Fronz kurzzeitig Mitglied im französischen Zweig der "Lazarit(t)er" in Österreich, wurde aber aus einem im Artikel nicht genannten Grund bald wieder hinauskomplimentiert. "Da haben sie mir die 10.000 Schilling Aufnahme-'Opfer' wieder zurückzahlen müssen", meinte Fronz in der Wochenpresse-Version der Geschichte. In dieser Version war Perko zunächst ein Freund von Fronz und hat ihm bei der Gründung des Vereins geholfen und war sogar selbst Mitglied und "Ehrenpräsident", ist dann aber gekränkt wieder ausgeschieden, weil Fronz der Polizei gegenüber wohl Perko dafür verantwortlich machte, dass der Orden wie ein Orden auftrat.

Die andere Version der Geschichte steht in einem recht sarkastischen Artikel über Perkos Abendland-Orden in einer Ausgabe des Profil von 1977. Darin wird dieser Orden als eine Versammlung von gut betuchten eitlen Herren in Operettenuniformen, die sich gegenseitig die Ämter und Würden zuschanzen oder sich die Titel praktischerweise gleich selbst verleihen, geschildert. Laut Profil war auch Fronz kurzzeitig Mitglied im Abendland-Orden. Es wird in dem Artikel nicht explizit gesagt, aber der Eindruck erweckt, dass Fronz nach ein paar Monaten im Orden wieder rausflog, weil man erst dann seine Vergangenheit als Sexfilmer entdeckte. Falls das wirklich so war, könnte er frei nach Bert Brecht gedacht haben, was ist schon die Mitgliedschaft in einem Orden gegen die Gründung eines Ordens? Aus seinem eigenen Orden konnte ihn jedenfalls keiner rauswerfen.

Vielleicht gab es aber auch einen anderen Grund für die Ordensgründung als Lust an Prunk und Bombast oder gekränkte Eitelkeit nach einem Rauswurf. Die Arbeiter-Zeitung kolportierte im Februar 1990, wenige Monate vor dem Tod des Großmeisters, das Folgende:
In einer Hinterhofwohnung auf der Landstraße 33a im dritten Wiener Gemeindebezirk etablierte er [Fronz] seinen Orden. An einer überdimensional langen Tafel versammelt Großmeister Fronz seine Getreuen zur Sitzung der Ordensregierung. Auf goldlackierten Modeschau-Stühlchen sitzend, umgeben von Hunderten Farbaufnahmen diverser Ritterschläge, lauschen die Auserwählten den Ausführungen des Meisters. Dabei geht es um mystische Visionen und natürlich um den Sinn des Lebens. Obwohl sie es immer wieder heftigst dementieren, wollen Gerüchte nicht verstummen, derlei Firlefanz würde den Rittern eine Stange Geld kosten. Man spricht von 60.000 bis 100.000 Schilling Aufnahmegebühr und einem jährlichen Mitgliedsbeitrag von mindestens 5000 Schilling.
Nach dem Tod von Fronz zerfiel der Orden in zwei konkurrierende Nachfolge-Orden, jeweils mit eigenem Großmeister. "Wir sind historisch betrachtet der einzig legitime Nachfolger der Vereinigung", meinte ein Vertreter der einen Seite im Februar 2009 in einem Bezirksblatt, und auf der Gegenseite (die mit der englischsprachigen Website) sieht man das sicher genau andersrum. Es sei hier ausdrücklich darauf hingewiesen, dass diese beiden Konkurrenzorden nicht mehr unbedingt viel mit den Verhältnissen zu Fronzens Zeiten zu tun haben müssen. Irgendwann haben anscheinend beide mit echten karitativen Aktivitäten begonnen, ich bin dem aber nicht weiter nachgegangen.

Friedrich Fronz, der grüne Politiker


"1975-1990 Politiker, Gründervater der Partei 'Die Grünen Österreichs - Partei der Unzufriedenen'" - so steht es in Fronz' Kurzbiografie im Bonusmaterial der beiden DVDs. Das interpretierte der eine oder andere Blogger oder Journalist dahingehend, Fronz sei der Gründer der Grünen in Österreich gewesen. Dazu muss man allerdings wissen, dass die österreichischen Grünen nicht mit einem Knall auf die Welt kamen und dann in der heutigen Form existierten, sondern über Jahre hinweg aus vielen kleinen und sehr kleinen Parteien, Bürgerinitiativen und sonstigen Gruppierungen entstanden sind. Und das ging nicht ohne politischen Richtungsstreit und Verdrängungswettbewerb. Den Gründer der österreichischen Grünen konnte es unter diesen Umständen gar nicht geben. Und das Spektrum der damals aktiven Parteien, die "grün" im Namen hatten, reichte von links-alternativ über bürgerlich-konservative Umweltschützer bis zum rechten Rand - einige der Gruppen waren mehr braun als grün. (Das war in Deutschland auch nicht anders, man erinnere sich an so völkische Gestalten wie Baldur Springmann.) Somit stellten sich mir die Fragen, wo in diesem Spektrum von links bis rechts Fronz angesiedelt war, und wie groß sein Beitrag zur Formierung der heutigen Grünen tatsächlich war.

In einem Artikel im Spiegel vom Januar 1983 kommt das Blatt auf aktuell 36 "grüne" Parteien. Die von Fronz wird immerhin unter den wichtigsten fünf aufgeführt, und sie heißt hier ebenfalls "Die Grünen Österreichs - Partei der Unzufriedenen", was die Angaben auf den DVDs zu bestätigen scheint. Das Problem dabei ist allerdings, dass dieser Name in einer offiziellen Liste des österreichischen Innenministeriums über alle Parteienregistrierungen seit Mitte der 70er Jahre gar nicht auftaucht (und auch keine andere Partei mit irgendwelchen "Unzufriedenen"). Die schon existierenden Altparteien wie SPÖ, ÖVP, FPÖ und KPÖ wurden damals aus irgendeinem Grund auch alle nochmal registriert, das bietet also kein Schlupfloch. Auch in der österreichischen Presse jener Jahre scheinen die "Unzufriedenen" nicht aufzutauchen, jedenfalls findet Google nichts. In der offizellen Liste gibt es aber vier andere Parteien, die "Die Grünen Österreichs" (jeweils mit einem anderen Namenszusatz) hießen, und drei davon wurden 1982 registriert - vielleicht war eine davon die von Fronz (mehr darüber gleich weiter unten).

Klarheit herrscht dagegen darüber, dass Fronz von 1980 bis 1990 im Gemeinderat von Klosterneuburg saß, und zwar zunächst für eine von ihm geführte Liste. Doch bei deren genauer Bezeichnung beginnt schon wieder die Unklarheit - mal ist von "Grüne Liste" die Rede, mal von "Grüne Mitte" und mal von einer "Liga für Umweltschutz". Damit war Fronz einer der ersten im weiten Sinne grünen Mandatsträger in Österreich, aber nicht der erste (wie gelegentlich zu lesen ist). Die Bürgerliste, die Schauspieler Herbert Fux mit zwei Mitstreitern gegründet hatte, gewann schon 1977 zwei Gemeinderatssitze in Salzburg (deren einen Fux selbst wahrnahm), und Josef Buchner, später Vorsitzender der bürgerlichen Vereinte Grüne Österreichs (VGÖ), wurde 1979 für eine Umweltschutz-Bürgerinitiative Vizebürgermeister in Steyregg. Trotzdem, man kann Fronz durchaus noch als einen Pionier grüner Lokalpolitik in Österreich bezeichnen.

Und wo stand er nun im Spektrum von Links bis Rechts? Werfen wir kurz einen Blick in die eBay-Biografie:
Parallel dazu begann er sich mir der aufkeimenden Ökologiebewegung zu beschäftigen. In kurzer Zeit gehörte er zu den prominenten Vertretern der sogenannten "Bürgerlichen Grünen" - jenem vernünftigen Teil der Grünbewegung, der in den Achtzigerjahren endgültig von den linkslinken Chaoten in dieser Partei ausgemerzt wurde. Friedrich Fronz war Präsident der von ihm mitbegründeten Österreichischen Liga für Umweltschutz und ab 1980 Gemeinderat der Grünen in Klosterneuburg. Von den andauernden Grabenkämpfen zwischen Vernunft und bolschewistischer Indoktrination innerhalb der frühen Grünbewegung angewidert zog er sich immer weiter zurück und beschränkte seine umweltbewegte Tätigkeit auf die journalistische Ebene.
Das legt erstens nahe, dass Fronz nicht zu den Gründern der heutigen Grünen in Österreich gehört, und zweitens verortet es ihn im konservativen Teil des grünen Lagers (und ins konservative Lager - ob nun grün oder nicht - gehört offensichtlich auch der Schreiber dieser Biografie). Alle erreichbaren Hinweise bestätigen das, und Fronz selbst sagte mal "ich war mein ganzes Leben ein Bürgerlicher" von sich, wie man 1982 in der Wochenpresse lesen konnte.

In diesem Jahr 1982 strebte Fronz nach Höherem als der Lokalpolitik (und das ist der Grund für die verstärkte Berichterstattung über ihn). Im schon mehrfach zitierten Wochenpresse-Artikel aus diesem Jahr liest man:
Fritz Fronz ist wieder wer.
Am vergangenen Wochenende wurde der Exschauspieler, Exregisseur und Exausstellungsmanager zum Bundesobmann des Dachverbandes der "Grünen" gewählt.
Der eloquente Zweiundsechzigjährige - Fronz: "Gegen Kreisky und Reagan bin ich ja a Lausbua!" - schaffte es, seine Klosterneuburger "Liga für Umweltschutz", für die er seit 1980 im Gemeinderat der Babenbergerstadt auftritt, mit der "Grün"-Riege des Wiener Juristen und ehemaligen Entwicklungshelfers Johann Wallner und dem "Grünen Forum" der ehemaligen ÖVP-Katastrophenfrau Elisabeth Schmitz unter einen Hut zu bringen.
Das ist offensichtlich die im Spiegel erwähnte Partei, die offiziell vielleicht "Die Grünen Österreichs" (mit irgendeinem Namenszusatz) hieß. Es fällt auf, dass das "Grüne Forum" von Elisabeth Schmitz vom Spiegel im Januar 1983 noch als eigenständige Partei aufgeführt wird. Entweder war der Spiegel da nicht ganz auf dem aktuellen Stand, oder die Vereinigung von 1982 war so kurzlebig, dass sich Frau Schmitz mit ihrer Gruppierung schon wieder selbständig gemacht hatte. Wie auch immer - irgendein politischer Erfolg war der von Fronz geführten Partei nicht beschieden, und bei der Nationalratswahl 1983 trat sie gar nicht erst an. Dagegen kandidierten hier die VGÖ und die links-alternative Alternative Liste Österreichs (ALÖ). ALÖ-Mitglied Fritz Zaun begründete schon 1982 die Kandidatur u.a. damit, dass man "das Feld nicht Papiertigern wie Schmitz, Fronz, Wallner und Co. überlassen" dürfe, und Alexander Tollmann, VGÖ-Chef vor Buchner, distanzierte sich ebenfalls schon 1982 "ausdrücklich" vom "Fronz-Verein". Elisabeth Schmitz wiederum bezeichnete Tollmann als einen "völlig apolitischen Wissenschaftler [er war Geologe] mit Platzhirschgebaren", und Herbert Fux, zunächst noch in der VGÖ, war laut Schmitz "für anständige Frauen nicht wählbar", denn er sei "ein präpotenter Bumser", der "mit seinem Spitzeneinkommen und seiner ausschweifenden Lebensweise genau das Gegenteil eines grünen Alternativen" sei. Dazu muss man wissen, dass es damals in einer Zeitschrift eine Schmutzkübelkampagne gegen Fux mit erfundenen Geschichten über sein Sexleben gab. Fux wurde daraufhin aus der VGÖ ausgeschlossen und wollte entnervt die Politik aufgeben, machte dann aber doch weiter. Es herrschte also ein ziemliches Hauen und Stechen damals, nicht nur zwischen Links und Rechts in der Grün-Bewegung, sondern auch zwischen verschiedenen bürgerlichen Fraktionen. "Linkslinke Chaoten" und "bolschewistische Indoktrination", wie es in der eBay-Biografie heißt, brauchte es dafür gar nicht.

VGÖ und ALÖ verfehlten 1983 beide den Einzug in den Nationalrat deutlich, machten jedoch weiter, und nach etlichen Querelen und Misserfolgen bei Landtagswahlen bildete man bei der nächsten Nationalratswahl 1986 eine gemeinsame Liste, die mit acht Abgeordneten (darunter Herbert Fux) in das Parlament einzog. Daraus wurden dann nach weiteren Geburtswehen die heutigen Grünen.

Fronz hatte sich bis dahin schon längst neu orientiert. 1984 vermeldete Profil süffisant:
Fritz Fronz, Hansdampf in allen Polit-Gassen, notorischer Ordensgründer und derzeit grüner Gemeinderat von Klosterneuburg, startet zu einer neuen Karriere: Er wird Umweltkonsulent von Niederösterreichs Landeshäuptling Siegfried Ludwig. Im Klosterneuburger Gemeinderat kolportiert man dazu Schlüssiges: Ludwig sei auch schon an Fronzens Orden interessiert.
Honi soit qui mal y pense ... Klosterneuburgs langjähriger Bürgermeister Gottfried Schuh (ÖVP) wurde 1989 tatsächlich zum Ordensritter unter Großmeister Fronz geschlagen. Man beachte übrigens, dass auch Landeshauptmann Ludwig der ÖVP angehörte. Überregionale politische Ambitionen mit einer Grünpartei, die mit diesem Posten bei Siegfried Ludwig wohl kaum vereinbar gewesen wären, hat Fronz also offenbar spätestens 1984 aufgegeben. Fronz' neue Tätigkeit hat wohl auch eine generelle Annäherung an die ÖVP widergespiegelt. Seine zweite Amtszeit im Gemeinderat, also 1985 bis 1990, errang er gar nicht mehr als Kandidat irgendeiner Grünpartei, sondern für eine parteiunabhängige "Klosterneuburger Wahlgemeinschaft". Und in einem Nachruf konnte man lesen: "Für Dr. Paul Weber [den Vorsitzenden der Klosterneuburger Wahlgemeinschaft] war er ein stets loyaler Partner, für die ÖVP nach dem Verlust der absoluten Mehrheit im Gemeinderat praktisch der 21. Mann (Geheimwort "Jolly Joker")[...]". Fronz hatte auch enge Beziehungen zum prominenten ÖVP-Politiker Josef Höchtl, der gemeinsam mit ihm im Gemeinderat von Klosterneuburg saß.

Um noch mehr über Fronz' grüne Phase zu erfahren, habe ich die gefragt, die es wissen sollten, nämlich die Grünen. Die haben auch freundlich geantwortet, wussten aber doch nicht so viel, wie ich gehofft hatte. "Spontan sagte mir der Name [Fronz] nichts, aber das will nichts heißen", schrieb mir Monika Bargmann vom Grünen Archiv. Immerhin fand sich im Archiv noch die Information, dass Fronz 1982/83 eine Zeitschrift herausgab, die zuerst Grüne Mitte Österreichs für Wien, Niederösterreich und Burgenland und dann Grünes Österreich hieß, und ich bekam die Links zur Parteienliste des Innenministeriums und zum Stadtarchiv Klosterneuburg.

Als Fazit von Fronzens Polit-Karriere lässt sich festhalten:
- Fronz war ein früher Vertreter der Umweltbewegung in Österreich, stand damit aber nicht allein auf weiter Flur
- innerhalb des grünen Spektrums stand er im bürgerlich-konservativen Lager
- er war 1980-90 Gemeinderat in Klosterneuburg und damit ein früher (aber nicht der erste) grüne Mandatar in der österreichischen Lokalpolitik
- 1982 vereinigte er seine Liste mit zwei anderen zu einer größeren Partei unter seiner Führung, die jedoch erfolglos blieb
- Fronz gehörte nicht zu den Gründern der heutigen Grünen Partei in Österreich

Fronz in der Rahmenhandlung von ROULETTE D'AMOUR
Friedrich Fronz starb 1990 mit 71 Jahren in Klosterneuburg an einer Blutung der Aorta, wohl Folge eines Aneurysmas. Er wusste um diese Gefahr, scheint aber sonst bei guter Gesundheit gewesen zu sein, denn sein Tod wurde als "plötzlich" und "überraschend" bezeichnet. - Wenn man über Fronz recherchiert, dann stößt man auf ein Gewirr von unklaren, widersprüchlichen und falschen Informationen, und die meisten Nebelkerzen hat Fronz selbst gezündet. Und man stößt auf Fakten, die man sich mühsam aus alten Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln zusammenklauben muss. Ein Artikel wie dieser, der nur auf Recherche per Google und Email beruht, muss da Stückwerk bleiben. Für einen Fronz-Biografen (falls sich mal einer findet) gäbe es da viel zu tun, es würde sich aber auch lohnen, denn Seine Exzellenz Handelsrat Professor Dr. h.c. (vermutlich auch erfunden) Friedrich Oskar (oder Otto) Fronz-Frundsberg alias Frits Fronz, der für einen seiner Filme den "Goldenen Büstenhalter" zugesprochen bekam, war schon eine schillernde Figur.

Ein Franzose in New York

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DEUX HOMMES DANS MANHATTAN
Frankreich 1959
Regie: Jean-Pierre Melville
Darsteller: Jean-Pierre Melville (Moreau), Pierre Grasset (Delmas)


Zwei Preisfragen:
1. Wer macht die besten US-amerikanischen Genrefilme?
2. Wo ist die nouvelle vague geboren?



Die Antworten:
1. Natürlich die Franzosen!
2. In New York!


Zu der ersten Preisfrage: Nicht erst seit Luc Bessons Action-Krachern, den TRANSPORTER- und TAKEN-Franchises (wo Besson auch involviert war) ist klar, dass Franzosen ein Faible für amerikanisch gefärbte Genrefilme haben, die US-amerikanischen Vorbildern an Dynamik in Nichts nachstehen müssen. Jean-Paul Belmondo und Alain Delon (mit Regisseuren wie Jacques Deray, Georges Lautner und Henri Verneuil) sorgten in den 1970er und 1980er Jahren für volle Kinosäle mit Cop-, Gangster- und Hitmen-Actionern, die durchaus „amerikanisch“ wirkten (dabei aber genuin französisch blieben). Die nouvelle vague entstand vorher in direkter Auseinandersetzung mit dem amerikanischen Kino, wie ihn sich die jungen Wilden als Filmkritiker einst vorgestellt haben (wobei Truffaut und Godard die wohl amerikanophilsten der Gruppe waren). Der französische Gangsterfilm der 1950er Jahre war dem US-amerikanischen (noir‘ischen) Gangsterfilm nicht unähnlich. Kein französischer Filmemacher lebte seine Amerikanophilie mit einer dermaßen obsessiven Inbrunst aus wie Jean-Pierre Melville, den seine Biografin Ginette Vincendeau als „Amerikaner in Paris“ bezeichnete.
Seine späten Filme spielen in einem Fantasie-Land, das äußerlich ein bisschen wie Frankreich aussieht, jedoch von Figuren bevölkert wird, die sich wie amerikanische Gangster benehmen, wie diese Trenchcoats und Fedoras tragen, amerikanische Limousinen fahren, meist anglo- oder italoamerikanische Namen haben, amerikanischen Jazz hören. Diese französisch-amerikanische Mischung ist keine wirklich greifbare Figuren-Ort-Konstellation als eher ein Limbo-Zustand zwischen Leben und Tod (letzterem allerdings näher). Vor LE DEUXIÈME SOUFFLE, LE SAMOURAÏ, LE CERCLE ROUGE, UN FLIC (L‘ARMÉE DES OMBRES nimmt eine Sonderstellung ein, weil er – mit Abstrichen – eher in eine gesellschaftlich-historische Realität eingebunden ist), die allesamt extrem bedrückende, hermetische Filme sind, drehte Melville einen verhältnismäßig leichtfüßigen Film mit „echten“ französischen Figuren in einem „echten“ New York, DEUX HOMMES DANS MANHATTAN. Seine Amerikaobsession hat bereits hier schon fast fetischistische Züge, wird allerdings in quicklebendigen location-shots in der US-Metropole ausgelebt...

(ein Hinweis: das Columbia-Logo am Anfang dieses Textes ist das erste Bild von DEUX HOMMES DANS MANHATTAN. Offenbar war tatsächlich die französische Niederlassung von Columbia der Kinoverleiher des unabhängig und rein französisch produzierten Films in Frankreich. Das klingt leider fast schon zu prosaisch: auf den ersten Moment dachte ich, dass Melville das Columbia-Logo geklaut hatte, um seinen Film als echten Amerikaner zu „branden“. Wie großartig wäre das gewesen! In den USA selbst kam der Film übrigens nicht in den regulären Kinoverleih. Die äußerst groben Verstöße gegen den noch geltenden production code – es gibt unter anderem ein offen lesbisches Liebespaar, eine barbusige Frau, die auch noch heimlich fotografiert wird, eine Andeutung von Prostitution zwischen asiatischen Frauen und weißen Freiern – wären, abgesehen von den möglicherweise ausschlaggebenden kommerziellen Erwägungen, sicherlich ein großes Hindernis gewesen).

...was uns zu der zweiten Preisfrage bringt: nach DEUX HOMMES DANS MANHATTAN kann sich das Gefühl einschleichen, die nouvelle vague wäre in New York entstanden. Nicht unbedingt im „echten“ New York, sondern in Melvilles New York.
Melville in New York / Melvilles New York – das geht so: in der Stadt in den späten 1950er Jahren... Auf der UN-Versammlung fehlt der französische Delegierte Fèvre-Berthier und niemand weiß, wo er sich aufhält. Der französische afp-Korrespondent Moreau wird von seinem Chef beauftragt, den Verschwundenen zu finden und daraus vielleicht eine Story zu machen. Moreau zieht mit dem Alkoholiker und sensationsgeilen Fotojournalisten Delmas los und sucht in ganz New York die Liebhaberinnen des vermissten Delegierten auf, um sie nach seinem Verbleib zu befragen. Die beiden finden heraus, dass Fèvre-Berthier eines natürlichen Todes (vermutlich Herzversagen) in der Wohnung einer seiner Liebhaberinnen verstorben ist. Delmas fotografiert den Toten und will für viel Geld die pietätslosen Aufnahmen verkaufen. Daran versucht ihn Moreau zu hindern. Bei einem finalen Streit prügelt Moreau Delmas nieder, ohne an die Aufnahmen kommen zu können. Alleine zurückgelassen versenkt Delmas dann die Filmrollen in den nächsten Abfluss.

Klingt nicht nach viel, selbst für einen Film von 85 Minuten? Das ist es auch nicht, denn die Suche nach dem verschwundenen französischen Diplomaten ist vor allem eins: eine gute Gelegenheit, um durch das nächtliche New York on location zu fahren und dabei ganz tief in ein mythologisiertes Bild der Stadt (und der USA) zu tauchen. So wird DEUX HOMMES DANS MANHATTAN zu einem kleinen Road-Movie durch das New York der späten 1950er Jahre – dem wohl ultimativen Sehnsuchtsort eines jeden Amerikanophilen.

Im Vorspann: nachts mit dem Auto durch die Stadt / UN-Hauptquartier
Straßenimpressionen in der Weihnachtszeit / Ein Panorama in der Dämmerung
Auch später im Film: immer wieder "autonome" New Yorker Impressionen

Es gibt in DEUX HOMMES DANS MANHATTAN drei verschiedene New Yorks, die zusammen eine Einheit bilden. Es gibt das „echte“ New York, das aus einer rein „dokumentarischen“ Perspektive gefilmt ist, oder vielleicht besser gesagt: in dem weder dramaturgisch Relevantes noch die Hauptfiguren zu sehen sind. Es gibt das „echte“ New York aus der Perspektive der Hauptfiguren: Moreau und Delmas laufen durch die Straßen der Stadt. Und es gibt das „falsche“ bzw. eher das „imaginierte“ New York – das sind die Innenaufnahmen, gefilmt in einem französischen Filmstudio, in denen die Fantasien eines New Yorks der Nachtclubs, der Jazz-Aufnahmestudios, der Edelbordelle, der Manhattaner Hochhauswohnungen, der Eck-Bistros und der Afterhours-Jazzclubs inszeniert wurden.
Drei Wochen Ende des Jahres 1958 (Weihnachtsdekorationen sind prominent zu sehen) drehte Melville mit einer winzigen Crew und seinem Schauspielpartner Pierre Grasset in den Straßen der Stadt. Das ganze verlief eher turbulent, da es keine Drehgenehmigung gab, und es wurde viel improvisiert. Beim Dreh der „dokumentarischen“ Szenen wirkte der Regisseur und Hauptdarsteller an vordester Front dabei. Für DEUX HOMMES DANS MANHATTAN reiste Melville zum ersten Mal in die USA, hatte sich zuvor aber gründlich vorbereitet, indem er detaillierte Straßenpläne der Stadt auswendig gelernt und ausführlich Literatur zu den einzelnen Bezirken studiert hatte. So konnte er sich relativ sicher und schnell durch die Metropole bewegen. Alle Innenszenen wurden danach im Februar 1959 in den studios de Billancourt bei Paris gedreht.
Die Übergänge zwischen den „realen“ und den „nachgedrehten“ New Yorks sind fließend, aber es gibt doch eine gewisse Entwicklung. Das „rein“ dokumentarische New York, das in den ersten 15-20 Minuten dominiert, macht nach und nach Platz für das New York aus der Perspektive der Hauptfiguren und das Fantasie-New-York nimmt in der zweiten Hälfte zunehmend mehr Raum ein.
Dies ist sicherlich auch dem Umstand geschuldet, dass sich DEUX HOMMES DANS MANHATTAN letztlich doch den Zwängen des klassischen narrativen Kinos beugt. Melville konnte eben keinen Film machen, in dem in abendfüllender Laufzeit einfach nur die Stadt gezeigt wird – und wollte das wohl auch nicht. Ohne Zweifel war Melville von der Stadt völlig fasziniert: wie Bilder, die normalerweise nur kurz gezeigt werden, um die Geschichte in einem kurzen Augenblick geografisch zu verorten, in die Länge gedehnt werden, das offenbart einen fast fetischistischen Blick auf die Stadt. Doch ebenso sehr interessierte sich Melville für die Mythologie der Stadt – gewissermaßen für persönliche Bilder, die mit dem Realen nicht zwangsläufig zusammenhängen müssen. Das mythologische Amerika, mehr als das reale Amerika, ist schließlich das, was ihn in seinen letzten Filmen angezogen hat.

(Hier eine interessante kontrafaktische Gedankenspielerei: was, wenn Melville tatsächlich in die USA gegangen wäre, um in oder um Hollywood als semi- oder komplett unabhängiger Autor-Produzent-Regisseur seine Filme zu drehen? Das wären bestimmt tolle Filme geworden! Michael Winners THE MECHANIC und DEATH WISH geben meiner Meinung nach eine Vorstellung davon, wie das ungefähr wohl ausgesehen hätte).

Die „rein dokumentarischen“ Szenen ergeben zusammen etwas, was man wohl als New Yorker Stadtsinfonie à la Melville bezeichnen kann. Die opening credits sind aus der Rückscheibe eines fahrenden Autos in den nächtlichen New Yorker Straßen gefilmt: eine Fahrt durch eine glitzenrnde Welt voller Neonleuchten und mit einem tiefschwarzen Himmel. Danach folgen, zusammen mit dem einleitenden Voice-Over (gesprochen von Melville selbst), einige Außenaufnahmen bei Dämmerung des UN-Hauptquartiers (der im selben Jahr in Hitchcocks NORTH BY NORTHWEST ebenfalls prominent zu sehen war). Nach einigen Bildern mit Stock-Footage zur UN-Versammlung kehrt der Film dann wieder auf die Straßen in der Dämmerung zurück, und zeigt Schlittschuhläufer auf einer open-air-Bahn und Soldaten der Heilsarmee bei einer Weihnachtsaktion.

Melvilles "lange Wege"
Erst dann kommen wir ins Büro der AFP und zur Figur Moreaus. Bis dieser zu Delmas gelangt, der ein Auto hat, folgen wir ihm, wie er zu Fuß oder mit der U-Bahn seine Wege geht. Das nimmt einige Zeit in Anspruch und bietet nicht nur mehr New York, sondern auch ein Wiedererkennungszeichen Melvilles: sein großes Interesse daran, Leute bei der Fortbewegung von A nach B zu zeigen, über weite Strecken in Echtzeit, auf jeden Fall immer viel länger als dramaturgisch bzw. expositorisch notwendig. Figuren, die durch die Straßen laufen, oder aber in ihren schicken amerikanischen Limousinen durch die Gegend fahren: Melvilles letzte Filme sind gewissermaßen immer auch Reisen vom letzten Coup (bzw. dem letzten Widerstandsakt) in den Tod, und Figuren auf dem Weg zu zeigen, ist da nur konsequent. In DEUX HOMMES DANS MANHATTAN hat dieses Herumlaufen und Herumfahren allerdings noch eine gewisse Leichtigkeit, eine nouvelle-vague-artige Nonchalance. Improvisiert und manchmal (absichtlich?) etwas unsauber geschnitten wirkt das ganze: an mindestens zwei Stellen sieht man eindeutig, dass Melville (der Schauspieler) steht und erst anfängt loszulaufen, als die Kamera startet.
Es gibt von den „langen Wegen“ auch eine kleine Variation, als Moreau und Delmas zusammen in einen Fahrstuhl steigen und bis zum achten Stock fahren. Von der Erzählökonomie her wäre es sinnvoll zu zeigen, wie beide in den Fahrstuhl steigen, dann ein Schnitt, dann steigen sie in einem anderen Dekor aus dem Fahrstuhl aus. Hier wird die ganze Fahrt gezeigt: beide stehen starren etwas gelangweilt vor sich hin, zwischendurch nimmt Delmas einen Schluck aus seinem Flachmann, Zeit verstreicht, die beiden stehen weiter herum.

(Dass die Vorliebe für ereignislose „lange Fahrten“ und endlose Fortbewegungen noch wesentlich radikaler sein kann, demonstriert seit über zwei Jahrzehnten der große Melville-Fan Jim Jarmusch – in keinem Film so drastisch wie in THE LIMITS OF CONTROL, der fast nur einer endlosen Fortbewegung gewidmet ist, die nur unterbrochen wird, wenn die Figur stehen bleibt und auf etwas wartet.)

Die Übergänge zwischen den „reinen“ New-York-Bildern, den New-York-Bildern aus der Perspektive der Protagonisten, und dem „imaginierten“ New York sind fließend. Zwei Momente stechen dabei besonders hervor, weil sie in nur einem Bild Moreau, Delmas und die Stadt in einem ikonischen, extrem stilisierten Bild zusammen vereinen. Kurz, bevor die beiden zusammen ein Edelbordell aufsuchen, um dort nach dem verschwundenen Diplomaten nachzufragen, gehen sie durch eine belebte Straße, die offenbar eine kleine Kinomeile ist. Vor dem Eingang eines Kinos bleiben sie stehen und tauschen noch ein paar Bonmots über Prostitution aus – im Hintergrund der belebte Gehweg, Neon-Reklamen und ein Kino-Marquee, der anzeigt, dass hier gerade SEPARATE TABLES gespielt wird.
Später, in der Wohnung der Freundin Fèvre-Berthiers, wo sie den Leichnam des Diplomaten finden, steigen Moreau und Delmas auf das Dach und haben da ein Streitgespräch über Delmas‘ pietätslose Aufnahmen. Dieser Moment dampft noch mal den ganzen Film auf ein ikonisches Bild zusammen: zwei Männer und die Skyline von Manhattan. Letztere ist wahrscheinlich eine Rückprojektion, das Bild ist also nicht im engeren Sinne „authentisch“. Aber das macht nichts: nicht nur, weil es verdammt gut aussieht, sondern weil in DEUX HOMMES DANS MANHATTAN das „imaginierte“ New York gleichwertig ist mit dem „echten“.

Die zwei Protagonisten und die Stadt

Die erste, lange „imaginierte“ New-York-Sequenz im Film spielt auch intradiegetisch in einem Studio, nämlich in einer Tonkabine des Jazz-Labels Capitol Records. Eine der Liebhaberinnen von Fèvre-Berthier ist Jazz-Sängerin; Moreau und Delmas besuchen sie während einer Aufnahmesession. Sie haben es zwar eilig, können aber schlecht die Aufnahme unterbrechen, also schauen sie durch eines der Fenster und hören zu – mit sichtlich viel Genuss. Die ganze Szene mit der ununterbrochenen Musikummer ist in einer eleganten Plansequenz so gefilmt, dass sie auch für den Zuschauer ein wahrer Genuss ist. Mit nur einem Kameraschwenk weckt hier DEUX HOMMES DANS MANHATTAN ein Universum an Assoziationen an New York als die ultimative Stadt des Jazz (New Orleans hin und her: die Ostküsten-Metropole ist das Wahrzeichen des Jazz seit den 1920er Jahren).
Am Ende des Films, kurz vor der Dämmerung, finden Moreau und Fèvre-Berthiers Tochter den geflüchteten Delmas in einer Kneipe, in der einige Jazzmusiker noch eine Afterhours-Jamsession halten. Delmas sieht sie nur verschwommen und in schräger Perspektive. Die Combo darf wesentlich länger spielen, als es die Erzählökonomie verlangt. Warum nicht? Es ist schließlich ein Film über die Mythologie einer Stadt – und am frühen Morgen halbbetrunken in einer Jazzkneipe zu sitzen gehört bestimmt dazu. Ganz dramaturgisch irrelevant sind die drei Musiker dann doch nicht: sie sind Beobachter der letzten Auseinandersetzung zwischen Moreau und Delmas. Nachdem Delmas niedergeschlagen wird und zunächst einmal benebelt auf dem Boden sitzt, kommt der Trompeter auf ihn zu und spielt dann in seine Richtung. Ist es Spott für den Verlierer des Faustkampfes? Ich halte es eher für den Versuch eines Trostes. Wem es in New York schlecht geht, dem wird eine Jazz-Ballade zumindest ein wenig den Schmerz lindern. Das ist hoffnungsvoller als in Melvilles letzten Filmen, wo die melancholischen Jazz-Klänge den bedrückenden Fatalismus eher noch unterstreichen.

New York, die große Jazz-Metropole (1): zu Besuch bei Capitol Records

New York, die große Jazz-Metropole (2): besoffen – und schließlich verprügelt – bei einer Afterhours-Jamsession

Das Lokal am Ende heißt übrigens „Pike Slip Inn“. Eine grobe google-Recherche ergibt keine weiterführenden Treffer. Wurde der Name speziell für diesen Film erfunden? Schwer zu sagen. In Nähe der Manhattan Bridge gibt es jedenfalls eine kleine Straße namens „Pike Slip“ (eine Verlängerung der Pike Street). Dass es dort ein Inn gibt bzw. gab, ist nicht unwahrscheinlich. 1971 gab es das jedenfalls noch (oder vielleicht auch: wieder?): in einem Nebensatz in einem anderen großen New-York-Film, nämlich William Friedkins THE FRENCH CONNECTION, erwähnt eine Figur den Pike Slip Inn. Das geschieht wirklich nur in einem Nebensatz und ist mir nur aufgefallen, weil ich ihn kürzlich mit DEUX HOMMES DANS MANHATTAN im Hinterkopf sah.
In THE FRENCH CONNECTION holt Russo (Roy Scheider) am Anfang eines Dienstbeginns seinen Kollegen Doyle (Gene Hackman) in dessen Wohnung ab. Doyle ist schwer verkatert und nach einer Nacht mit einer Gelegenheitsbekanntschaft wortwörtlich ans Bett gefesselt. Russo nimmt das ganze relativ nonchalant hin. Eine ähnliche Szene gibt es zu Beginn von DEUX HOMMES DANS MANHATTAN, als Moreau Delmas in dessen Wohnung abholt (auch er liegt mit einer Gelegenheitsbekanntschaft im Bett). Die Kamerafahrten durch die unordentlich in der Wohnung verteilten Kleidungsstücke sind in beiden Filmen frappierend ähnlich. Vielleicht ist das aber auch nur ein Zufall, auch wenn Friedkin zu den vielen bekennenden Melville-Liebhabern unter den international bekannten Regisseuren gehört.

Wir waren aber eigentlich bei Melvilles „imaginiertem“ New York stehen geblieben. Die allererste solche Sequenz spielt im Mercury Theatre (wo eine der Liebhaberinnen Fèvre-Berthiers schauspielert) – also beim unabhängigen New Yorker Theater, das Orson Welles und John Houseman Ende der 1930er Jahre gründeten. Diese Sequenz ist allerdings recht schnell abgehakt (nicht zuletzt aufgrund der mangelnden Antwortbereitschaft der aufgesuchten Dame) und meiner Meinung nach nicht besonders erinnerungswürdig.
Erinnerungswürdiger ist später der Besuch Moreaus und Delmas‘ in einem Burlesk-Theater in Brooklyn (der Film spielt also nicht komplett in Manhattan): ein schummeriger Nachtclub, besucht und wahrscheinlich auch betrieben von zwielichtigen Gestalten, in das garantiert nicht eine Spur von Tageslicht je eindringt, in dem die Besucher etwas zombiehaft bei einem Drink den dargebotenen Tanzspektakeln zusehen (am Ende erwachen zumindest zwei der Besucher und prügeln sich, nachdem Moreau und Delmas das Lokal schon verlassen haben) – die Sorte Nachtclub, die es später in LE DOULOS oder LE CERCLE ROUGE noch wesentlich ausführlicher zu sehen gab, in einem Setting, das nominell Frankreich war.

New York, das ist jetzt bisher klar geworden, ist für Melville eine unglaublich großartige Stadt, die er mit seinen großen, melancholischen Augen gierig verschlingt. Die Menschen, die diese Stadt und ihre Mythologie bevölkern, tauchen nur relativ sporadisch, ziemlich kurz und am Rand auf. An einer Stelle entfernt sich Melville von seinen beiden Protagonisten. In einem Eck-Bistro, wo beide einen Club-Soda trinken (Delmas kippt sich einen großzügigen Schluck aus seinem Flachmann rein), schweift der Film kurz ab. Auf einem der Barhocker sitzt ein großer, starker Mann, der überaus sichtbar einen Pistolengurt um die Hüfte trägt. Auf einem anderen Barhocker schwankt ein schwer betrunkener Mann, der offenbar noch nicht einmal mehr richtig sitzen kann. Auf einem anderen hat sich ein älterer Herr, der wohl ein Rabbiner ist, niedergelassen und verspeist gerade ein Essen. Dann steht der Bewaffnete auf und zieht seinen Mantel an: eine Polizeiuniform. Etwa zeitgleich torkelt der Betrunkene los. Man erwartet, dass der Polizist ihn gleich mehr oder weniger rüde maßregeln wird – doch es kommt ganz anders: der Beamte hindert den Mann lediglich daran zu stolpern, weist ihm sanft den Weg aus der Tür und gibt freundlich den Rat, Acht zu geben. Keine Spur von den skrupellosen, brutalen, teils grausamen Polizisten in Melvilles späten Filmen (etwa in LE DEUXIÈME SOUFFLE, wo die Gesetzeshüter die Gangster sogar foltern). An einer anderen Stelle fragen die beiden Protagonisten auf der Straße einen anderen Streifenpolizisten nach dem Weg, den diese dann höflich und freundlich gewiesen bekommen. New York ist in DEUX HOMMES DANS MANHATTAN so toll, dass hier auch die Polizisten dufte Kerle sind.

DEUX HOMMES DANS MANHATTAN ist trotz der umgekehrten Personen-Ort-Konstellation („echtes“ Amerika mit „echten“ Franzosen statt „amerikanisiertes“ Frankreich mit „amerikanisch“-französischen Gangstern) durch und durch ein Melville-Film. Gerade auch in den Unterschieden findet man paradoxerweise Gemeinsamkeiten mit dem restlichen Werk: die kriminelle Unterwelt bzw. Parallelwelt und der Zweite Weltkrieg, Melvilles zwei Ur-Themen, sind auch hier mindestens implizit präsent.
Als Moreau und Delmas den verschwundenen französischen Delegierten in der Wohnung einer seiner Liebhaberinnen finden (sie wissen gleichwohl vorher, dass der Leichnam dort ist), sitzt er – offenbar starb er auf den Schlag – auf dem Wohnzimmersofa. Von dort transportiert ihn Delmas ins Schlafzimmer und drapiert ihn ins Bett seiner Geliebten, damit das anrüchiger aussieht und sich die Fotos teurer verkaufen. Delmas empört sich, tut aber nicht groß etwas dagegen und ruft seinen Chef herbei, um die delikate Situation zu bewältigen. Dieser kommt vorbei und erklärt den beiden zunächst, wer Fèvre-Berthier wirklich war: nicht nur ein renommierter Diplomat, sondern ein französischer Nationalheld, ein Résistant der ersten Stunde, der ohne zu zögern Leib und Leben im Kampf gegen die Nazis riskierte und dies mit Folterungen durch die Gestapo und einen längeren Aufenthalt im Konzentrationslager bezahlte. Es käme also gar nicht in Frage, dass Fèvre-Berthier in der Wohnung seiner Liebhaberin gefunden werde: deshalb wird der Leichnam, nachdem er bereits vom Schlafzimmer zurück auf das Sofa gebracht wurde, nun aus der Wohnung in ein leerstehendes Auto auf der Straße gebracht.
Der Zweite Weltkrieg, die Besatzung Frankreich, der Kampf gegen die Nazis – diese wiederkehrenden Themen verarbeitete der ehemalige Résistant und gebürtige Jean-Pierre Grumbach (Melville war sein amerikanophiler Deckname während des Kriegs) zentral in mehreren seiner Filme, im ersten abendfüllenden Werk LE SILENCE DE LA MER, in LÉON MORIN, PRÊTRE und in seinem magnum opus L‘ARMÉE DES OMBRES. In DEUX HOMMES DANS MANHATTAN, wo man diese Thematik am wenigsten erwarten würde, bringt Melville sie in der dialoggetriebensten Szene. Diese wirkt auf den ersten Blick deplatziert: DEUX HOMMES DANS MANHATTAN ist für Melvilles Verhältnisse ein recht „geschwätziger“ Film. Die Erklärungen des New Yorker afp-Chefs stoppen den Film jedoch für einige Minuten komplett. In Kenntnis von Melvilles restlichem Werk wirkt das aber geradezu zwingend: sein „amerikanischer Traum“ kann nicht unabhängig von der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg existieren.

Wie die Erklärungen des afp-Chefs ohne Kontext etwas verwirrend wirken, so würden die Bilder in diesen Momenten des Films ohne narrativen Kontext aussehen, als entstammten sie einem knüppelharten Gangsterfilm, einem pechschwarzen noir, oder eben einem späteren Melville-Film: Delmas, Moreau und der afp-Chef transportieren mehrmals einen Leichnam hin und her, und die Bilder sehen (rein visuell) so aus, als würde hier eine Bande von Gangstern die Leiche ihres Mordopfers zu beseitigen versuchen. Das könnte man leicht übersehen, weil der Film über weite Strecken ohnehin extrem low-key, mit vielen Schatten und viel dunklem Schwarz, fotografiert ist.
Die lange Rede über die Résistance-Vergangenheit Fèvre-Berthiers dient dem apf-Chef und Moreau letztlich auch als Rechtfertigung, um den Leichnam hinauszuschaffen und in einem verlassenen Auto zu deponieren. Man könnte die beiden also durchaus der Doppelmoral anklagen: Fèvre-Berthier auf dem Bett seiner Liebhaberin zu drapieren, sei unmoralisch – ihn aus der Wohnung rauszuschaffen hingegen moralisch richtig? Letzterem stimmt schließlich Fèvre-Berthiers Tochter zu, zugegebenermaßen aus Rücksicht auf ihre Mutter bzw. Fèvre-Berthiers Ehefrau, die wohl nichts von den Affären ihres Mannes wußte.
Diese moralische Zwickmühle thematisiert der Film jedenfalls nicht explizit, sondern überlässt die Bewertung voll und ganz dem Zuschauer. Als Delmas am Ende seine Filmrollen wegwirft, beginnt er zu lachen. Delmas, der schmierige Alkoholiker, der sensationslüsterne Käseblatt-Fotograf – ein moralischer Sieger in der Geschichte? Schwer zu sagen. Der moralische Konflikt ist aber natürlich auch banal im Vergleich zu dem, was Melville später in L‘ARMÉE DES OMBRES auffuhr.

Gangster-Ikonographie ohne Gangster

Zum Schluss noch einige Bemerkungen zu Jean-Pierre Melville als Schauspieler. Immer wieder finden sich Anmerkungen, die sein Schauspiel als hölzern und erkennbar nicht-professionell kritisieren. Dem kann ich mich nicht anschließen. Melville hat ein natürliches Charisma, zwei große melancholische Augen, ein außergewöhnliches und markantes Gesicht und eine wunderschöne Stimme. Wer ihm vorwirft, radebrechendes Englisch mit schwerem Akzent zu sprechen (die Kommunikation zwischen dem Protagonisten-Duo und den New Yorker Bewohnern läuft komplett auf Englisch), ist kleinlich – zumal seine Figur eben ein Franzose in New York ist. Dass er sich zwischendurch beim Englischen leicht verhaspelt, gibt dem Ganzen gar eine unglaublich lebensnahe Note. Am ehesten könnte man Melville vorwerfen, dass er überhaupt nicht schauspielert, sondern tatsächlich nur Melville ist und das Selbstdarstellerische, den er in seinem Kurzauftritt in À BOUT DE SOUFFLE oder etwa bei Fernsehinterviews (mit Fliegersonnenbrille und Cowboy-Hut ausstaffiert; manieriert, langsam und mit dramatischen Pausen sprechend) gerne mal an den Tag legte und das zugegeben sehr unterhaltsam war, hier völlig fehlt. Die nüchterne Moreau-Figur tut dem Film ganz gut, da Delmas schon „dramatisch“ genug ist – und es ja in erster Linie um New York geht.

Wo ich wiederum Melville widersprechen werde, ist die Bewertung des Films, den der Regisseur selbst als „unwichtig“ und misslungen ansah. Wo kämen wir aber hin, wenn wir auf die Selbstkritik von Regisseuren hören würden? DEUX HOMMES DANS MANHATTAN jedenfalls war ein Kinoflop in Frankreich: offenbar wollte niemand in Frankreich einen „New Yorker“ Film ohne Stars sehen. Es wurde der letzte Film, den Melville ohne Stars als Hauptdarsteller drehte.


DEUX HOMMES DANS MANHATTAN ist auf DVD in Frankreich bei „Gaumont à la demande“ erschienen. Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich „on demand“-DVDs sind, weil ich auf diese Edition gebraucht und als Gelegenheitsschnäppchen gestoßen bin. Die Edition ist auf jedenfalls in einer dieser sehr dünnen DVD-Hüllen, in einer recht schnörkellosen, wenngleich nicht völlig billigen Aufmachung. Eine Texttafel der DVD warnt, dass der Film nicht digital restauriert wurde. Dafür ist die Bild-/Tonqualität aber trotzdem recht gut. Untertitel gibt es allerdings nur auf Französisch. Von „Gaumont à la demande“ gibt es den Film auch in einer Box zusammen mit LE SILENCE DE LA MER und dem mir bislang völlig unbekannten QUAND TU LIRAS CETTE LETTRE (von 1953). In Frankreich ist DEUX HOMMES DANS MANHATTAN auch auf blu-ray erschienen. Es gibt auch eine italienische DVD-Edition (der Film heißt dort übersetzt „Die Hyänen der vierten Macht“). In den USA gibt es den Film auch auf DVD und blu-ray.

Von irischen Frauen und ihren Männern

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Zwei Filme von Desmond Davis nach Vorlagen von Edna O'Brien

Weiß zufällig jemand, wann die letzte öffentliche Bücherverbrennung durch die katholische Kirche stattfand? Ich weiß es nicht, aber 1960 kam es jedenfalls im an sich beschaulichen westlichen Irland zu solch einem unrühmlichen Vorgang: Der Dorfpfarrer von Edna O'Briens Heimatgemeinde verbrannte öffentlich drei Exemplare ihres Debütromans The Country Girls. Der Roman wurde auch von der irischen Zensur verboten, ebenso wie ihre nächsten sechs Romane. Es war aber auch zu unerhört, was sie den Lesern da auftischte: Sex von unverheirateten jungen Frauen und herbe Kritik an der Kirche und am Patriarchat.

Die Protagonistinnen der beiden Filme
Die 1930 geborene Edna O'Brien, zunächst Apothekerin, hatte 1954 gegen den Willen ihrer Eltern den 16 Jahre älteren Schriftsteller Ernest Gébler geheiratet, mit dem sie 1959 nach London zog, um der irischen Enge zu entfliehen (1964 ließ sie sich scheiden, die Ehe mit Gébler war für sie letztlich auch ein Gefängnis). In London schrieb sie 1960 für ein Honorar von 25 Pfund in drei Wochen ihren ersten Roman, der in London, New York und anderen weniger rückständigen Gebieten der englischsprachigen Welt als Irland ziemlich einschlug und bald auch in diverse Sprachen übersetzt wurde (1961 auf Deutsch). The Country Girls bildet zusammen mit den nächsten beiden Romanen The Lonely Girl (1962, später als Girl with Green Eyes wiederveröffentlicht) und Girls in Their Married Bliss (1964) die Country Girls Trilogy. Die Trilogie ist stark autobiografisch - wie ihre Heldinnen Caithleen "Kate" Brady und Bridget "Baba" Brennan hatte O'Brien ein repressives katholisches Internat besucht, wie Kate litt sie unter einem nichtsnutzigen Trunkenbold als Vater, wie Kate hatte sie eine problematische Beziehung zu einem älteren Mann (Gébler), der ihr zunächst intellektuell (oder zumindest an Weltläufigkeit) überlegen war. GIRL WITH GREEN EYES, der eine der beiden Filme, um die es hier geht, ist die Verfilmung des mittleren Teils der Trilogie, und Edna O'Brien lieferte nicht nur die Vorlage, sondern sie schrieb auch das Drehbuch. - Längst hat es sich auch in Irland herumgesprochen, dass die mittlerweile 86-jährige O'Brien zu den bedeutenden Literaten des Landes gehört, und seit der Jahrtausendwende hat sie einige größere Ehrungen und Auszeichnungen in ihrer Heimat empfangen. Spät, aber doch.

GIRL WITH GREEN EYES - Freundinnen: Kate und Baba
Der 1926 in London geborene Desmond Davis errang 1981 mit CLASH OF THE TITANS seinen mit Abstand größten Erfolg als Regisseur. Das Griechische-Götter-Spektakel mit Laurence Olivier als Zeus, Claire Bloom, Maggie Smith und Ursula Andress als Göttinnen und Harry Hamlin als jung-dynamischer Perseus (und zugleich Ray Harryhausens Schwanengesang) ließ die Kasse kräftig klingeln. Der Erfolg von CLASH OF THE TITANS sei ihm natürlich gegönnt, er verdeckt aber ein bisschen die Tatsache, dass Desmond Davis auch ein (zu) wenig bekannter Vertreter der British New Wave ist. Bei diesem Begriff denkt man normalerweise an Tony Richardson, Karel Reisz, Lindsay Anderson, vielleicht noch an John Schlesinger, aber kaum an Desmond Davis. Und das ist schade, denn die beiden hier besprochenen Filme sind einen Blick wert. (Vielleicht gilt das auch für THE UNCLE (1965), SMASHING TIME (1967) und A NICE GIRL LIKE ME (1969), seine weiteren Spielfilme aus den 60er Jahren, aber die kenne ich nicht.)

GIRL WITH GREEN EYES - neue Bekanntschaft
Davis hatte sich sozusagen von der Pike hochgedient, bevor er 1963 mit GIRL WITH GREEN EYES seine erste Regiearbeit übernahm: Vom clapper boy in den 40er Jahren zum zweiten und ersten Kameraassistenten (focus puller und camera operator) in den 50er und frühen 60er Jahren. In letzterer Position arbeitete Davis u.a. bei A TASTE OF HONEY, THE LONELINESS OF THE LONG DISTANCE RUNNER und TOM JONES, alle von Tony Richardson inszeniert. Davis war also 1963 kein Quereinsteiger in die British New Wave, die damals ja schon ungefähr ein halbes Jahrzehnt alt war (oder ein ganzes, wenn man die Dokumentarfilme des Free Cinema mitzählt), sondern er war schon einige Jahre dabei. Und Tony Richardson, der Executive Producer von GIRL WITH GREEN EYES, wusste, mit wem er es zu tun hatte, als die von ihm (gemeinsam mit John Osborne und Harry Saltzman) gegründete Woodfall Film Productions Davis mit seiner ersten Regie betraute. Nachdem er in den 60er Jahren fünf Kinofilme inszeniert hatte, arbeitete Davis in den 70ern ausschließlich für das Fernsehen, um dann mit CLASH OF THE TITANS zur großen Leinwand zurückzukehren - doch nur, um danach wiederum fast nur noch Fernsehfilme zu drehen. Einzige Ausnahme ist die Agatha-Christie-Verfilmung ORDEAL BY INNOCENCE von 1984 mit Donald Sutherland und Faye Dunaway. Im selben Jahr drehte Davis mit THE COUNTRY GIRLS auch eine Fernsehfassung des ersten Teils der Trilogie. Auch hier lieferte Edna O'Brien nicht nur die Romanvorlage, sondern schrieb auch das Drehbuch. - Nun aber endlich zu den Filmen!



GIRL WITH GREEN EYES (DAS MÄDCHEN MIT DEN GRÜNEN AUGEN, auch DIE ERSTE NACHT)
Großbritannien 1964
Regie: Desmond Davis
Darsteller: Rita Tushingham (Kate), Peter Finch (Eugene Gaillard), Lynn Redgrave (Baba), Maire Kean (Josie), Arthur O'Sullivan (Kates Vater), Joe Lynch (Onkel Andy), Liselotte Goettinger (Joanna), Julian Glover (Malachi Sullivan), Yolande Turner (Mary Maguire), T.P. McKenna (Pfarrer)

GIRL WITH GREEN EYES - weltmännisch: Eugene Gaillard
Die beiden Freundinnen Kate und Baba leben als junge Frauen in Dublin. Sie stammen aus demselben Ort im westlichen Irland und hatten zusammen eine Klosterschule besucht, bis sie durch einen bösen Streich, den sie den Nonnen spielten, ihren Rauswurf provozierten. Das und ihre erste Zeit in Dublin bildet den Inhalt des ersten Teils der Romantrilogie, im Film wird diese Vorgeschichte aber nur nebenbei erwähnt. Nun wohnen sie also zusammen in der Hauptstadt in der Pension der mütterlichen Joanna, die wohl (ebenso wie ihre Darstellerin Liselotte Goettinger) geborene Österreicherin ist. Die bodenständige Baba arbeitet als Sekretärin und interessiert sich hauptsächlich für ihre Freizeitgestaltung. Kate, die als Verkäuferin in einem Tante-Emma-Laden arbeitet, ist zwar auch kein Kind von Traurigkeit, aber etwas romantischer veranlagt, und sie tut etwas für ihre Weiterbildung, indem sie regelmäßig eine Bücherei aufsucht und anspruchsvolle Literatur liest. Die beiden früheren Landeier schlagen in der (vergleichsweise) großen Stadt nicht über die Stränge, und Dublin ist nicht das Swingin' London, aber die Umbrüche der 60er Jahre machen sich auch hier schon bemerkbar.

GIRL WITH GREEN EYES - Arbeit und Freizeit in Dublin in den 60er Jahren
Bei einem Ausflug in die weitere Umgebung lernen die beiden den gut betuchten Eugene Gaillard kennen, der ungefähr so alt ist wie sie beide zusammen, und der allein ein Landhaus bewohnt und nur von der vierschrötigen Haushälterin Josie mit Essen (und Dorfklatsch) versorgt wird. Gaillard, Sohn einer Irin und eines Ungarn, ist viel herumgekommen in der Welt, und jetzt schreibt und übersetzt er Bücher. Mit seiner selbstsicheren Art macht er großen Eindruck auf Kate und Baba, die ihrerseits versuchen, ihn zu beeindrucken und für sich zu interessieren. Das geht nicht ohne Missgeschicke: Als Eugene zu Kaffee und Kuchen bei Kate, Baba und Joanna eingeladen ist, fällt Kate, die sich besonders lässig geben will, die Zigarette in den Ausschnitt, und Baba muss mit einem Krug Wasser löschen. Aber der peinliche Lapsus hat keine negativen Folgen - Kate, die sich letztlich mehr für Gaillard interessiert als Baba, kann ihn mit ihrer offenen und lebhaften Art durchaus beeindrucken, und es entwickelt sich eine zunächst platonische Freundschaft. Es ist klar, dass Kate auf mehr zusteuert, aber Eugene hält noch eine gewisse Distanz, weil er vor einer emotionalen Bindung zurückscheut, wie er ihr offen sagt. Immerhin schläft sie bald bei ihm, sogar im selben Bett, aber noch nicht mit ihm. Einen ersten Rückschlag erleidet sie, als sie nebenbei - und nicht von ihm selbst - erfährt, dass er verheiratet ist. Seine Frau lebt seit einiger Zeit in den USA, wo sie im Scheidungsparadies Reno die Scheidung einreichen will (im damaligen Irland gab es bekanntlich keine Scheidung). Doch es wird deutlich, dass sich Eugene emotional noch nicht ganz von seiner Noch-Frau abgenabelt hat, und etwas später erfährt Kate ebenso nebenbei, dass die beiden auch eine gemeinsame Tochter haben, die sich bei der Mutter in den USA befindet.

GIRL WITH GREEN EYES - Booze and religion: Lebenselixiere der irischen Landfamilie
Nachdem so die Beziehung zwischen Kate und Eugene etwas stagniert und in der Schwebe ist, erscheinen eines Tages Kates Vater und ihr Onkel angetrunken an ihrem Arbeitsplatz, dem Tante-Emma-Laden. Sie wurden durch einen anonymen Brief über ihr "unzüchtiges Treiben" mit einem verheirateten Mann informiert, und nun wird Kate vor erstaunten Kunden harsch abgekanzelt und gegen ihren Willen zur sofortigen Rückkehr ins Heimatdorf gezwungen. Weniger überrascht wirkt Kates ältliche Chefin, die Ladenbesitzerin - wer weiß, vielleicht hat sie selbst den Brief geschrieben. Im heimatlichen Dorf macht Kates Tante ihr weitere moralinsaure Vorhaltungen wegen ihres "ehebrecherischen" Verhältnisses. Als Kate zaghaft erwidert, dass sich Eugene ja scheiden lasse, bekommt sie an den Kopf geworfen, dass Scheidung schlimmer als Mord sei. Und als ob das noch nicht reichen würde, erscheint nach einigen Tagen auch noch der Pfarrer (ob sich wohl der Bücherverbrenner in ihm wiedererkannt hat, falls er je den Film sah?), bleut ihr ein, dass sie wegen des Ehebruchs im Zustand der Todsünde lebe, und er verlangt ihren Eid, dass sie Eugene niemals wiedersehen wird. Doch damit hat er das Fass zum Überlaufen gebracht, und er erreicht genau das Gegenteil von dem, was er wollte. Mit einem Wutschrei nimmt sie die Beine in die Hand, rennt zum nächsten Bahnhof und fährt zurück nach Dublin. Nach einem Zwischenstopp bei Baba erscheint sie bei Eugene, der schon vom Eklat im Laden gehört hat, und der jetzt gar nicht anders kann, als sie bei sich aufzunehmen. Doch damit ist die Sache noch nicht ausgestanden. Nach einigen Tagen tauchen Kates Vater und Onkel und einige weitere Männer aus dem Dorf in höchst aggressiver Stimmung auf und verschaffen sich Eintritt im Landhaus. Während sich Kate vor Angst versteckt, versucht Eugene, die Invasoren abzuwimmeln, doch er kommt nicht weit. Einer streckt ihn mit einem Faustschlag nieder, und nun wollen sich alle gemeinsam auf ihn stürzen. Das könnte böse enden, wenn nicht im letzten Moment Josie mit einer Schrotflinte erscheinen würde. Mitten im Wohnzimmer gibt sie einen Warnschuss ab und schlägt damit den Mob in die Flucht. In einem Irland-Film von John Ford würde das eine komische Szene abgeben, aber hier ist es nicht sehr zum Lachen.

GIRL WITH GREEN EYES - Josie hat ein zweiläufiges Argument
Der gerade noch vereitelte Überfall fungiert nun als eine Art Katalysator - Kate und Eugene schlafen zum ersten Mal miteinander, und am nächsten Tag feiern sie in Dublin eine Art inoffizielle Hochzeit mit einem Austausch von Ringen - in Wirklichkeit ist Eugene ja immer noch verheiratet. Es folgt nun zunächst eine unbeschwerte Zeit ohne weitere Einmischung von Verwandten und sonstigen "besorgten Bürgern". Doch im Alltag bekommt die Beziehung schnell Risse. Kate hält trotz ihrer Erfahrungen mit Nonnen und Priestern am Katholizismus fest und will sogar regelmäßig die Messe besuchen, weil ihr sonst etwas fehlt. Eugene, der in Bezug auf Religion mindestens ein Skeptiker, wenn nicht gar überzeugter Atheist ist (auch wenn er das so explizit nicht sagt), bringt dafür wenig Sympathie auf. Ein weiterer Graben entsteht, als Eugenes englischer Freund Malachi Sullivan und die gemeinsame Bekannte Mary ihn im Landhaus besuchen. Kates Bemühungen um Bildung waren durchaus erfolgreich - als etwa Eugene einmal eine Zeile von James Joyce zitiert, erkennt sie den Autor auf Anhieb. Doch gegen die forciert geistreiche Konversation der Gäste kommt sie dann doch nicht an, und der vordergründig joviale Malachi lässt sie wohl auch bewusst auflaufen. Dass Mary eine Freundin von Eugenes Noch-Frau ist, stärkt Kates Position bei ihr auch nicht gerade. Und Eugene steht ihr nicht etwa bei oder wirft die Freunde hinaus, sondern er beteiligt sich an der Konversation, so dass sich Kate schließlich gekränkt zurückzieht. Danach konstatiert Eugene wieder einmal einen ihrer "Gefühlszustände" (emotional states), wie er das sarkastisch und wenig einfühlsam nennt, und er sagt ihr ganz unverblümt, dass er sich für sie nicht neu erfinden und den Simpel spielen werde.

GIRL WITH GREEN EYES - der Herr Pfarrer weiß über die Todsünden bescheid
Zum Bruch kommt es, als Eugenes Frau ihm eine Einladung in die USA samt Flugticket schickt, um die weitere Entwicklung zu besprechen. Der Brief enthält auch abfällige Bemerkungen über Kate, offenbar haben also Malachi oder Mary über die Situation Bericht erstattet. Eugene hat Kate nichts von der Einladung gesagt, und er hat sich noch nicht entschieden, ob er sie annimmt, doch Kate hat eigenmächtig den Brief geöffnet und so alles erfahren. Es kommt nun also zum offenen Streit, und Kate geht erst mal zurück in die Pension zu Baba. Eigentlich nur für ein paar Tage, wie sie meint. Doch Baba hat sich inzwischen entschlossen, nach London zu ziehen, und sie fordert Kate zum Mitkommen auf. Kate sagt halbherzig zu - eigentlich hofft und erwartet sie, dass Eugene sie zur Rückkehr ins Landhaus auffordert, was sie freudig annehmen würde. Doch es kommt nichts von ihm, und als sie deshalb sogar Baba zu Eugene schickt, bringt sie nur dessen Meinung, dass es so wohl am besten sei. Damit sind die Würfel gefallen. Kate und Baba verabschieden sich an einem Pier von Joanna und ein oder zwei Freunden - Eugene ist nicht da - und besteigen die Fähre nach England. Die letzten zwei Minuten zeigen Kate in London, wo sie als Verkäuferin in einem Buchladen arbeitet, und ihr Voice-over berichtet von ihrer Situation: Ein Brief von Eugene mit ein paar allgemeinen Floskeln, danach seit Monaten keine Nachricht mehr von ihm; Weiterbildung in der Abendschule; neue Freunde und Bekannte, neue Männer. Der Film hat seine gut 90 Minuten absolviert und ist hier zu Ende. Der letzte Teil der Romantrilogie behandelt Kates und Babas Abenteuer in London, wo beide heiraten werden, wie der Titel Girls in Their Married Bliss schon andeutet. Aber das ist Stoff für einen anderen Film (den bisher noch keiner gedreht hat).

GIRL WITH GREEN EYES - Dublin ade, London, wir kommen!
Desmond Davis lieferte mit seinem ersten Film eine souveräne Leistung ab, wobei er sich auf seine vorzüglichen Darsteller stützen konnte, allen voran Rita Tushingham, die mit ihren Hauptrollen in A TASTE OF HONEY und THE KNACK ...AND HOW TO GET IT eines der Gesichter der British New Wave schlechthin war und ist. Mit ihrem gleichermaßen sensiblen und dynamischen Spiel ist sie die Idealbesetzung für Kate, und der jederzeit souveräne Peter Finch steht ihr nicht nach. Zwar steht die letztlich problematische Beziehung zwischen Kate und Eugene im Vordergrund des Films, aber das Drehbuch und die detailfreudige Regie gewähren auch Einblicke in viele Facetten des irischen Lebens in den frühen 60er Jahren - und nicht alle davon sind erfreulich. - Über den sozialen und politischen Gehalt der englischen kitchen sink films wird manchmal vergessen, dass sich viele davon auch durch vorzügliche Kameraarbeit auszeichnen, und das gilt auch für GIRL WITH GREEN EYES. Davis, der bisherige camera operator, und sein Kameramann Manny Wynn zeigen, dass es dafür nicht immer so bekannte Leute wie Walter Lassally oder Freddie Francis an der Kamera brauchte (die einige Klassiker der New Wave filmten). Es wurde viel vor Ort gedreht, schöne Aufnahmen irischer Landschaft (die nie in Postkartenklischees abgleiten) gibt es ebenso wie reichlich Aufnahmen auf den Straßen Dublins (ein- oder zweimal mit Handkamera, die Kate folgt und sie umkreist). Das Wellington Monument wird in Szene gesetzt, indem dort Baba mit schallender Stimme einen leicht abgewandelten Shakespeare deklamiert: "Mitbürger! Freunde! Römer! Hört mich an: Begraben will ich Eugene, nicht ihn preisen." Das alles fügt sich zu einem sehr erfreulichen Film zusammen, der mehr Bekanntheit verdient hätte.



I WAS HAPPY HERE (HIER WAR ICH GLÜCKLICH)
Großbritannien 1966
Regie: Desmond Davis
Darsteller: Sarah Miles (Cass), Julian Glover (Matthew Langdon), Sean Caffrey (Colin), Cyril Cusack (Hogan), Maire Kean (Barfrau im Dorfpub), Eve Belton (Kate), Cardew Robinson (Totengräber)

I WAS HAPPY HERE - Hogan legt Patiencen und unterhält sich mit Cass
Vorlage für I WAS HAPPY HERE ist Edna O'Briens Kurzgeschichte A Woman by the Seaside, und wieder schrieb sie selbst das Drehbuch, diesmal unter Mitwirkung von Desmond Davis. Schauplatz ist ein verschlafenes Fischerdorf von kaum mehr als 400 Einwohnern an der irischen Westküste, in der Grafschaft Clare (aus der auch Kate und Baba sowie in der Realität Edna O'Brien stammen). In einem kleinen Hotel, das zu dieser Zeit ansonsten menschenleer ist, sitzen am Abend nach Weihnachten die melancholische Cass - vollständig Cassandra - und Hogan, der ruhige, altersweise Besitzer des Hotels, an der gemütlichen Bar und unterhalten sich. Cass ist die Frau, die hier einst glücklich war, in unbeschwerten Tagen vor rund einem halben Jahrzehnt, als sie Hogans Angestellte im Hotel war. Jetzt ist sie ihrem Mann in London davongelaufen und in ihren Heimatort zurückgekehrt, und sie bricht nun vom Hotel zu einer abendlichen Wanderung auf, um Colin zu treffen, ihre erste und große Liebe von damals. Kurz danach erscheint ihr Mann Matthew im Hotel, um sie aufzutreiben und zurückzuholen. Er ist Arzt und ein unfreundlicher, blasierter Schnösel - Julian Glover, der schon in GIRL WITH GREEN EYES mit Malachi Sullivan einen ähnlichen Typen spielte, setzt hier noch einen drauf. Als er Cass nicht in ihrem Hotelzimmer vorfindet und wütend schon mal ihren Koffer zusammenpackt, veräppelt ihn Hogan, indem er Sir Walter Scott zitiert: "Daring in love, dauntless in war". Worauf Langdon noch wütender mit Nietzsche antwortet: "Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!" Mit seiner Ankunft sind jetzt alle wesentlichen Protagonisten versammelt, und die Handlung spielt sich nun im weiteren Verlauf dieser Nacht im Umkreis von höchstens ein paar hundert Metern ab. Parallel dazu wird in einer ganzen Reihe von kurzen, fragmentarischen und nichtchronologischen Rückblenden Cass' Geschichte der letzten paar Jahre erzählt. Ich werde die Geschehnisse hier chronologisch wiedergeben.

I WAS HAPPY HERE - frisch verliebtes Paar
Damals waren sie also ein frisch verliebtes Paar, Cass und der kernige Fischer Colin. Doch auf Dauer sieht Cass in dem verschlafenen Nest keine Perspektive für sich, und so geht sie nach London, in der Erwartung, dass Colin bald nachkommen würde. Ihr Leben besteht jetzt aus einem Job als Tankwart und aus Warten auf Colin. Doch der kommt nicht, stattdessen schreibt er ihr schließlich, dass er als Seemann angeheuert hat und auf große Fahrt geht. So lebt sie nun isoliert und ziellos in den Tag hinein, bis eines Tages Matthew mit seinem Cabrio an der Tankstelle aufkreuzt und sie ihm Benzin gibt, obwohl eigentlich schon geschlossen ist. Wenig später begegnen sie sich zufällig in einem Pub. Matthew baggert sie an, und sie lässt sich darauf ein, um der Einsamkeit zu entfliehen. Aber schnell wird ihr klar, dass das eigentlich nichts werden kann. Matthew gibt sich großspurig, ist aber eigentlich ein unsicherer Charakter, und er leidet unter einem Standesdünkel. Seinen Freunden, die wohl auch Ärzte sind oder zumindest aus derselben Gesellschaftsschicht stammen wie er, stellt er Cass als die zukünftige Rezeptionistin der Praxis vor, die er (mit dem Geld seines Vaters) bald eröffnen wird - eine Freundin, die an der Tankstelle arbeitet, ist eine Peinlichkeit, die es zu verheimlichen gilt. Cass registriert das durchaus und will die Beziehung schon beenden, aber mit Geschenken und schönen Worten kriegt er sie noch einmal herum. Und dann wird Cass schwanger, und es wird geheiratet. Doch Matthews Leidenschaft ist nach der Hochzeit schnell erloschen, und als er seine Zeit als Assistenzarzt im Krankenhaus beendet hat und seine Praxis im gutbürgerlichen Wimbledon eröffnet, versinkt die Ehe vollends in Routine und Konventionen.

I WAS HAPPY HERE - Cass' Männer, Colin (links) und Matthew
Ein weiterer Sargnagel für die Beziehung ist es, als die schwangere Cass von einem anfahrenden Bus stürzt, beinahe überfahren wird und dabei das Kind verliert. Als sie nach Wochen aus dem Krankenhaus entlassen wird und das Grab des Ungeborenen besucht, erfährt sie vom Totengräber, dass bei der Beisetzung niemand - also auch nicht Matthew - anwesend war. So lebt sie nun einige Jahre in ihrer unglücklichen Ehe, und bei einem Weihnachtsdinner zu zweit im Nobelrestaurant, das von Anfang an in frostiger Atmosphäre stattgefunden hat, kommt es zum offenen Streit. Matthew wirft Cass an den Kopf, dass sie doch zu ihren rückständigen Leuten nach Irland zurückgehen soll - und zu seiner Verblüffung nimmt sie ihn augenblicklich beim Wort, steht auf und verschwindet. Er braucht wohl einige Zeit, um sich aus seiner Schockstarre zu lösen, so dass sie mit einigen Stunden Vorsprung im Fischerdorf erscheint.

I WAS HAPPY HERE - O'Brien Tower
Und dann taucht also auch Matthew hier auf. Cass ist inzwischen mit Colin zusammengetroffen, der nach dem Tod seines Vaters wieder im Nachbardorf lebt, und der es mit seinem Erbe und mit staatlicher Beihilfe wieder mit der Fischerei versuchen will. Die beiden verziehen sich in Colins Hütte und kommen sich näher, und vielleicht würden sie miteinander schlafen, obwohl Cass nervös und angespannt ist und Colin wegen Cass' Ehe Vorbehalte hat. Doch dann erscheint ein von Hogan geschickter Junge mit der Nachricht von Matthews Ankunft, und bei beiden bricht fast schon Panik aus. Matthew, der durch einen Zettel von Cass' Verabredung mit Colin erfahren hat, hat sich unterdessen auf die Suche nach den beiden gemacht, und im Dorfpub erhält er Colins Adresse. Als er in Colins Nachbarschaft erscheint, verlassen Cass und Colin fluchtartig die Hütte und verziehen sich in die Dünen zum Dorffriedhof. Dort herrscht nun auch zwischen den beiden schlechte Stimmung - Colin wirft Cass vor, dass sie ihn in diese Geschichte hineingezogen hat, und dass es ja schließlich ihre Entscheidung war, Matthew zu heiraten. Außerdem eröffnet er ihr, dass er verlobt ist, so dass es die von Cass erhoffte gemeinsame Zukunft ohnehin nicht geben würde. Matthew ist mittlerweile in Colins Hütte eingedrungen, findet sie aber leer vor. Er bedient sich an Colins Whisky und wartet erst mal, aber dann kommt Colins Verlobte Kate herein, die von der ganzen Geschichte um Cass keine Ahnung hat. Sie ist freundlich zu dem ihr völlig fremden Matthew, aber der fühlt sich nun unbehaglich und verschwindet, ohne Kate viel zu erzählen. Währenddessen hat Cass Colin die unerquicklichen Details ihrer Ehe sowie die Sache mit dem verlorenen Kind erzählt. Er bringt jetzt wieder etwas mehr Verständnis für sie auf, es ist aber trotzdem klar, dass ihre alte Beziehung längst tot ist und es keine Neuauflage geben wird. Schließlich kehrt Colin zu seiner Hütte zurück, während Cass in den Dünen bleibt.

I WAS HAPPY HERE - abendliche Verabredung
Und da erscheint dann bald Matthew, und es folgt Aussprache Numero zwei. Cass sagt nun Matthew, was sie bisher immer heruntergeschluckt oder vor sich hergeschoben hat - dass sie ihn nie geliebt hat und in der Ehe immer unglücklich war. Matthew hat wenig zu erwidern. Widerstrebend schluckt er die für ihn neuen Wahrheiten über sich und Cass, aber er schluckt sie. Auch er zieht schließlich ab und verlässt das Dorf. Es wird wohl bald eine Scheidung geben (in England im Gegensatz zu Irland kein größeres Problem). Am Ende ist Cass wieder am Hotel und unterhält sich kurz mit Hogan, der auf sie gewartet hat. Sie bleibt dann noch etwas im Freien. Sie hat sowohl mit Colin als auch mit Matthew gebrochen und ist damit an einem vorläufigen Endpunkt angekommen. Es ist aber auch der Druck und die Spannung von ihr abgefallen. Irgendwie kann es weitergehen.

I WAS HAPPY HERE - Einsamkeit in London, unten ein trostloses Grab für ein ungeborenes Kind
Im Vergleich zu GIRL WITH GREEN EYES ist I WAS HAPPY HERE der dunklere und melancholischere Film. Während Kate trotz aller Rückschläge immer nach vorne schauen kann, hat Cass einen Teil ihrer Zukunft schon hinter sich. Auch visuell ist I WAS HAPPY HERE dunkler, denn das Geschehen in der Hauptzeitebene spielt zum größten Teil in der Nacht. Allerdings sind diese Aufnahmen heller, als es realistischerweise in einer Winternacht der Fall wäre, so dass man immer genug erkennen kann, und es gibt auch noch genug Tageslicht zu sehen. Auch hier war Manny Wynn an der Kamera, und auch hier liefern er und Desmond Davis vorzügliche Arbeit ab. Etwa in einer mehrminütigen wortlosen Montagesequenz, die Cass' Fröhlichkeit und Ausgelassenheit in ihrer ersten Zeit mit Colin dokumentiert. Teil dieser Sequenz sind auch einige kurz eingeblendete Filmplakate, und hier leistet sich Davis einen kleinen selbstreferenziellen Schlenker, indem er auch Peter Finch und Rita Tushingham zeigt - allerdings nicht in GIRL WITH GREEN EYES, sondern es handelt sich um Plakate von THE SINS OF RACHEL CADE und A TASTE OF HONEY. Keine Selbstverliebtheit der Drehbuchautorin ist es hingegen, dass der Dorfpub "O'Brien" heißt. Vielmehr waren echte O'Briens schon lange in der Gegend ansässig und stellten zeitweise den Lokaladel. Der Überrest der im Film zu sehenden Ruine von Dough Castle heißt tatsächlich O'Brien Tower (heute kann man hier Golf spielen), und in der Nähe gab es ein O'Brien's Castle, von dem aber nichts mehr übrig ist.

I WAS HAPPY HERE - das finale Weihnachtsdinner
Das London, das man in I WAS HAPPY HERE zu sehen bekommt, hat nichts mit dem Swingin' London zu tun, das damals gerade in voller Blüte stand. Eher ist es ein abweisender Moloch, atmosphärisch verwandt vielleicht mit dem London aus Polanskis REPULSION. Aber während es dort wenigstens noch einen jazzigen Score gibt, bekommen Cass und die Zuseher bei Davis hauptsächlich Straßenlärm und Presslufthammer zu hören. Definitiv kein Ort zum Glücklichsein. - Auch I WAS HAPPY HERE kann sich auf überzeugende Darsteller stützen. Die zersplitterte Zeitstruktur, die bei manchen Filmen aufgesetzt oder sogar nervtötend wirken kann, funktioniert hier für mich bestens. Wie GIRL WITH GREEN EYES ist auch I WAS HAPPY HERE ein sehr sehenswerter Film. Er gewann 1966 beim Filmfestival von San Sebastian drei Preise, wurde aber außerhalb von England und Irland trotzdem nicht sehr bekannt. - Beide Filme von Desmond Davis sind in den USA auf DVD erschienen, nicht aber in England (was mich etwas wundert) oder Deutschland (was mich weniger wundert).

I WAS HAPPY HERE - hier war sie glücklich

Weltrevolution mit Frauen, Indigenen, Chinesen, Marsmenschen und Mary Pickford

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Frühe sowjetische Animationsfilme von Nikolaj Chodataev, Ol‘ga Chodataeva, Zenon Komissarenko und Co.

Beim Stichwort „Animationsfilm“ dürften viele zuerst an Walt Disney denken und an seine fantastischen, eskapistischen Bilderwelten, die ab den 1920er Jahren die Leinwände der USA, dann der Welt eroberten. Nun... Animationsfilme gab es in den 1920ern auch jenseits des damals noch nicht so benannten Eisernen Vorhangs. Dort dienten sie nicht immer nur der reinen Unterhaltung, sondern waren auch ein Mittel, um die sozialistische Weltrevolution voranzutreiben – gegebenenfalls bis ins Weltall.

Einer der Pioniere des sowjetischen Animationskinos war Nikolaj Chodataev, der zwischen 1924 und den frühen 1930er Jahren an mehreren Kurzfilmen beteiligt war. Ich sage „beteiligt war“, weil er mit einer größeren Gruppe von anderen Künstlern (darunter auch mit seiner Schwester Ol‘ga Chodataeva) Filme konzipierte und inszenierte – und zumindest bei den ersten seiner beiden offiziellen (und jeweils mit zwei anderen Filmemachern geteilten) Regie-Credits vielleicht nicht die zentrale kreative Kraft war.

Mehr zu Nikolaj Chodataev und den anderen sowjetischen Animationspionieren später. Jetzt gleich zum ersten Film – mit einer sozialistischen Revolution auf dem Planeten Mars!



MEŽPLANETNAJA REVOLJUCIJA [„Interplanetäre Revolution“]
Sowjetunion 1924
Regie: Nikolaj Chodataev, Zenon Komissarenko, Jurij Merkulov
Animation: Ol‘ga Chodataeva

„Eine Geschichte darüber, wie der Krieger Kominternov gen Mars flog und dort alle Bourgeois auseinanderjagte.“ So kündigt eine Texttafel zu Beginn dieses 8-minütigen Films das Kommende an. Das ist auch gut so, denn nur aufgrund des wüsten Bildreigens, der dann folgt, wäre es relativ schwierig zu wissen, was in MEŽPLANETNAJA REVOLJUCIJA eigentlich passiert.
Der angekündigte Rotarmist Kominternov, der wie ein kräftig-gesunder russischer Bauernjunge aussieht und eine Budjonowka mit Stern trägt, wird also eingeblendet. Dann folgen einige böse Bourgeois-Kapitalisten mit fiesen, grotesken Gesichtern, teils sogar tierischen Fratzen, die Hakenkreuze im Kopf oder gar auf der Stirn tragen und gefesselte Arbeiter wortwörtlich, wie Vampire, aussaugen.
Moment! Hakenkreuze? Das wirkt in einem sowjetischen Film der frühen 1920er Jahre höchst bizarr, da dieses Symbol heutzutage in erster Linie mit den Nationalsozialisten assoziiert wird. 1924 war die NSDAP jedoch eine verbotene Partei, die nach dem Hitlerputsch zunächst ein Randdasein fristete und sowjetische Filmemacher in dieser Zeit kaum interessiert hätte. Ein Kommentator bei einer der vielen youtube-Videos des Films meinte, dass diese möglicherweise bei einer späteren Aufführung des Films in den 1930er Jahren nachträglich hinzugefügt worden seien. Keine vollkommen abwegige Idee, aber erstens ist MEŽPLANETNAJA REVOLJUCIJA ein Film, der mit seiner Ästhetik höchstwahrscheinlich nicht in der sozialistisch-realistischen Ära Stalins gezeigt wurde, und zweitens gibt es eine andere Erklärung: Die Swastika war tatsächlich ein Symbol, das auch im späten Russischen Reich und in den Anfängen der Russischen Revolution benutzt wurde. Es war das Lieblingssymbol der letzten Zarengattin, Aleksandra Fёdorovna, die 1918 zusammen mit Nikolaj II. und anderen Mitgliedern der gefallenen Herrscherfamilie von den Bolschewiki hingerichtet wurde. Während der Revolutions- und Bürgerkriegsjahre nutzten Monarchisten, in Ehrung der Zarengattin, dieses Symbol. Das Hakenkreuz wurde in Russland nach der Februarrevolution tatsächlich aber auch als Symbol von der Provisorischen Regierung genutzt, und zwar für ihre Geldscheine. Das Zeichen, das eigentlich ja ein Glückssymbol ist, sollte das Versprechen eines glücklichen Lebens in einer neuen revolutionären Ära markieren. Die Provisorische Regierung selbst hatte kein Glück und wurde im Oktober 1917 von den Bolschewiki hinweg geputscht. (Die Banknoten mit der Swastika waren wesentlich langlebiger als die Provisorische Regierung: diese Geldscheine waren auch in Sowjetrussland im Umlauf, weil sich die Währungsreform der Bolschewiki verzögerte – die Noten wurden bis zur Reform im Mai 1919 weiterhin gedruckt, jedoch mit einer veränderten Signatur, und blieben bis 1922 im Umlauf, wie man hier auf dieser russischen Seite zur Geschichte russischer Münzen und Banknoten lesen kann.) Oder um es einfach mal kurz zu sagen: 1924 brauchte man in der Sowjetunion noch keine deutschen Nazis, um Hakenkreuze und verhasste kapitalistische Bourgeois in einen Zusammenhang zu bringen.
Nebst den Hakenkreuzen tragen die grässlichen Bourgeois auch Hüte mit vielen kleinen Sternchen, was wohl die US-amerikanische Flagge repräsentieren soll. Ein Halbmond ist auch zu sehen (also die Osmanen bzw. Türken) und Eiserne Kreuze (die Deutschen) ebenfalls. Eine der karikaturenhaften Figuren ist eindeutig als Wilhelm II. zu erkennen, der zu dem Zeitpunkt schon im niederländischen Exil weilte. Ein sehr bunter Haufen an antisowjetischen Figuren also – paradoxerweise schienen die Macher von MEŽPLANETNAJA REVOLJUCIJA extrem viel Spaß daran gehabt zu haben, diese zu kreieren, und tatsächlich sieht man mehr von den grotesken Fratzen als von den heldenhaften Rotarmisten.
So schrecklich diese interplanetarischen Böswatze auf dem Mars auch sind, so schnell bekommen sie beim Anblick einer Pravda-Schlagzeile Angst. Und nachdem die Rotarmisten mit der Rakete zum Mars geflogen sind, bekommen die Bösewichte gehörig was auf die Schnauze: wie in einem Horrorfilm, der fünfzig Jahre später hätte entstehen können, springt ein phantomartiger Rotarmist aus dem Spiegel und reisst einen Kapitalisten-Bösewicht mit sich fort. Wie in STAR WARS gibt es Scharmützel mit Laser- bzw. Blitzpistolen – oder zumindest sieht es so aus. Im letzten Drittel wird der Kampf wirklich turbulent, und es wird sehr schwierig, der „Handlung“ überhaupt noch zu folgen. Die Kapitalisten bekommen von den Rotarmisten eins über den Schädel gezogen, aber zwischendurch gibt es noch ein mysteriöses, mehrgliedriges, bärtiges Wesen – Gott? Und aus den Augen eines Planeten erwachsen eine Frau (mit recht üppigem Busen) und ein Mann, die sich küssen (?), dabei eine Blase in Herzform bilden, die dann platzt und Kinder herausfallen lässt (?) – was den Rotarmisten peinlich geniert. Zwischendurch gibt es dann diesen zärtlich-poetischen Moment, als ein Rotarmist einigen Sternen beim Tanzen zusieht, sich einen greift und an seine Mütze heftet... Jedenfalls scheinen am Ende die Kommunisten auf dem Mars zu siegen und telegrafieren ihren Sieg sogleich nach Moskau – im Hintergrund erscheint Lenins Geist als stroboskop-artiger Effekt.
Kommunisten bringen die sozialistische Revolution bis zum Mars – was wie sowjetische Propaganda nach Schema F klingt, ist ein wirklich wild-wüster Bilderreigen, der sich nur rudimentär für narrative Konsistenz interessiert und dem vielmehr an der puren Verbildlichung revolutionärer Zersetzung liegt. Dem Dadaismus und Surrealismus ist MEŽPLANETNAJA REVOLJUCIJA jedenfalls näher als dem sozialistischen Realismus. Die grotesken Fratzen mit den Kiefern, die wie Uhrwerke mahlen, erinnerten mich etwas an die (weit über 40 Jahre später) entstandenen Animationsarbeiten von Terry Gilliam für Monty Python – auch wenn ein direkter Einfluss mit relativ großer Sicherheit auszuschließen ist.

MEŽPLANETNAJA REVOLJUCIJA war ein unabhängig produzierter Film. De-facto-Produzent war Nikolaj Chodataev, der hier sein privates Vermögen investierte, um zusammen mit Zenon Komissarenko und Jurij Merkulov einen ambitionierten Film zu drehen. Letzterer sagte über MEŽPLANETNAJA REVOLJUCIJA folgendes:

„The battling rocket squadrons and the flight into the starry cosmos all seemed to us the most surpisingly beautiful, merry and witty spectacle. Amazed and stunned, we laughed happily, rolling around the floor, waving our legs in the dark, empty room. We fancied ourselves as the Columbuses of animation.“

Jetzt habe ich erneut von den Filmemachern gesprochen. Also sollte ich sie mal vorstellen: 
Nikolaj Chodataev wurde 1892 in Rostow-am-Don geboren. Er schloss 1918 in Moskau ein Studium an der Hochschule für Malerei, Skulptur und Architektur ab und arbeitete danach in einer Kommission für Denkmalschutz. Darüber, wie Denkmalschutz in der Bürgerkriegsära (1917-1922) funktionierte, kann ich ohne größere Recherche erst einmal nichts sagen. Nach anderen Angaben war Chodataev Absolvent der Moskauer Künstlerisch-Technischen Werkstätten (Vchumetas)– diese Kunsthochschule war in den frühen 1920er Jahren das Zentrum der künstlerischen Avantgarde in der Sowjetunion, und zog Vergleiche mit dem Bauhaus in Deutschland nach sich. Unabhängig von der biographischen Version kam Chodataev jedenfalls weder vom Spiel- oder Dokumentarfilm, noch vom Theater, sondern von der bildenden und plastischen Kunst. MEŽPLANETNAJA REVOLJUCIJA war sein erstes Filmprojekt. Offenbar äußerte sich Chodataev während seiner ganzen Arbeitsphase als Filmemacher selbstkritisch und voller Selbstzweifel über seine Werke: er hatte immer das Gefühl, dass seine Ambitionen größer als die schlussendlichen Resultate waren. Einer seiner letzten Filme, ORGANČIK (siehe unten) wurde 1933 wenig beachtet und wenn, dann verrissen. Sein letzter Film, „Puschkins neues Zuhause“ (der nicht bei IMDb oder beim russischen Animations-Wiki zu finden ist, sondern nur in Giannalberto Bendazzis Buch Animation: A World History. Volume I: Foundations – The Golden Age erwähnt wird, aber ohne russischen Originaltitel) wurde verboten, und dieses frustrierende Erlebnis führte endgültig dazu, dass Chodataev sich vom Film zurückzog (ausgenommen eine Beteiligung an KINOCIRK 1942 als Zeichner) und bis zu seinem Tod 1979 nur noch als Maler und Bildhauer tätig war. In einem Dokumentarfilm wird berichtet, dass Chodataev ein großer Spezialist für Frauenportraits war und sehr viele Portraits seiner Ehefrau malte.

Über Ol‘ga Chodataeva, die 1894 in Moskau geborene jüngere Schwester Nikolajs, ist wenig überliefert. Auch sie absolvierte einen künstlerischen Studiengang und arbeitete zunächst in den frühen 1920er Jahren als Grafikdesignerin. MEŽPLANETNAJA REVOLJUCIJA war auch ihr erster Film. Bis Ende der 1920er Jahre arbeitete sie mit ihrem Bruder zusammen bei weiteren Filmen. Im Gegensatz zu ihm blieb sie dem Animationskino jedoch erhalten und führte bis in die späten 1950er Jahre für etwa zwei Dutzend weitere Animationskurzfilme Regie bzw. Co-Regie. Wenn sie keine Kinofilme drehte, inszenierte sie kurze Animationsfilme, die integraler Bestandteil von Aufführungen in einem Moskauer Kindertheater waren. Ol‘ga Chodataeva starb 1968 in der Hauptstadt.

Der dritte genannte Beteiligte an MEŽPLANETNAJA REVOLJUCIJA war Zenon Komissarenko, geborten 1891 in Simferopol‘ auf der Krim. Auch er kam wie Chodataev von der bildenden und plastischen Kunst. Mehrere russische Quellen bezeichnen ihn als Schüler des Avantgardekünstlers Kazimir Malevič. Anderswo wird er als Absolvent der oben genannten Moskauer Künstlerisch-Technischen Werkstätten (Vchumetas) bezeichnet, mit Spezialisierung auf Bildhauerei. Welcher Version man auch glauben mag, gilt auch für ihn, dass er kein „cinematographic native“ war und auch nicht vom Theater kam. Gemäß Bendazzi war Komissarenko der Künstler, der im Science-Fiction-Film AĖLITA von 1924 für einige Szenen Stop-Motion-Spezialeffekte erschuf und später den befreundeten Chodataev dazu ermunterte, mit ihm einen eigenen Film zu drehen. Ėduard Nazarov, selbst ein Animationsfilmer einer späteren Generation (Jahrgang 1941), berichtet in einem Dokumentarfilm eine andere Geschichte: für AĖLITA wurde seitens der Produktion die Realisierung von Spezialeffekten ausgeschrieben; Chodataev bewarb sich zusammen mit seinen Freunden Komissarenko und Jurij Merkulov, doch deren Vorschläge wurden nicht ausgewählt. In Reaktion darauf machte sich das Trio auf, ein eigenes Filmprojekt, nämlich MEŽPLANETNAJA REVOLJUCIJA, eigenständig zu realisieren (sehr verwirrend ist, dass Nazarov kaum eine Viertelstunde später berichtet, dass Komissarenko sehr wohl bei AĖLITA mitwirkte – was soll denn nun stimmen?). Nach dem nächsten gemeinsam Film, KITAJ V OGNE (RUKI PROČ‘ OT KITAJA!), trennten sich die beruflichen Wege Kommissarenkos und Chodataevs. Von 1928 bis 1933 arbeitete Kommissarenko in der Filmabteilung der Roten Armee und inszenierte dort Lehrfilme (mit Titeln wie „Lerne, ins Ziel zu schießen“, „Das russische Gewehr“, „Das Maxim-Gewehr“, „Das U-Boot“, „Taktischer Angriff“, „Feldaufklärung“,). In den 1930er Jahren wandte sich Komissarenko vom Filmemachen ab und wieder der Malerei und plastischen Kunst zu (darunter auch der Gestaltung farbiger Fensterfronten). Einige seiner Gemälde wurden sogar im Westen, in Paris ausgestellt – ein französischer Kunsthistoriker lobte sie als ausdrucksstarke, abstrakte Malerei. Die Faszination für das Kosmische versiegte nicht mit MEŽPLANETNAJA REVOLJUCIJA: Kommissarenko gab seinen Gemälden gerne Titel wie „Universum“, „Venus“, „Milchstraße“. In dem Dokumentarfilm mit Ėduard Nazarov sind einige seiner Bilder bzw. Ausschnitte davon zu sehen. Ich kenne mich mit moderner Malerei nicht besonders aus, würde aber sagen, dass es in Richtung Abstrakter Expressionismus geht. Trotzdem er keine Filme mehr drehte, verbrachte der Animationspionier seine letzten Jahre in einem Altersheim für ehemalige Filmkünstler und verstarb dort 1980 (also mit etwa 89 Jahren).

Über den vierten Beteiligten, Jurij Merkulov, habe ich leider keine Informationen gefunden.



KITAJ V OGNE (RUKI PROČ‘ OT KITAJA!) [„China brennt (Finger weg von China!)“]
Sowjetunion 1925
Regie: Nikolaj Chodataev, Zenon Komissarenko, Jurij Merkulov
Animation: Ljudmila Blatova, Valentina Brumberg, Zinaida Brumberg, Ivan Ivanov-Vano, Nikolaj Chodataev, Ol‘ga Chodataeva, Zenon Komissarenko, Jurij Merkulov

Teil 1
Ein grässlich entstellter, grotesker Uncle Sam frisst Indien, Afrika, Australien, Java und den Kopf eines deutschen Lakaien auf. Auf der Suche nach weiterer Nahrung findet er China – ein Land mit hohem „Nährwert“ (heißt: vielen Rohstoffen). Durch ein Spalt in der großen chinesischen Mauer schleicht er sich in das Land. Im Prinzip kommt er schon relativ spät, denn wenig später erfahren wir, dass amerikanische, japanische, englische und französische Kapitalisten (weitere entsetzlich verzerrte Fratzen folgen) zumindest die europäischen Viertel schon unter Kontrolle haben. Ein Hinweis besagt, dass ein Viertel der Weltbevölkerung in China lebt. Einige weitere Informationen über China folgen – und ein Zwischentitel informiert die Zuschauer, dass eine Nationale Befreiungsbewegung darauf zielt, Imperialisten aus China zu verweisen. So was lassen sich die Imperialisten, die zumal auch mit schlangenartigen Missionaren verbandelt sind, nicht gefallen und bombardieren das Land.

Teil 2
In einigen Tableaus sehen wir nun Reisbauern, die sorgfältig Setzlinge einpflanzen. Die amerikanischen Imperialisten sind nun nicht mehr da, dafür aber die Grundbesitzer, ihre Verwalter, ihre Steuereintreiber sowie Bewässerungskontrolleure, die unfähig sind und auf ihrer Arbeit einschlafen. Ein neuer Damm lässt die persönlichen Parzellen der Bauern austrocknen. Als sich die Bauern beschweren, werden sie niedergeschossen. Oder vom Grundbesitzer enteignet und ausgeraubt. 

Teil 3
Falls bis hier irgendjemand den bösen Uncle Sam vergessen haben sollte: jetzt ist er wieder da! Ihm und seinen gemeinen Verbündeten vergeht bald das Lachen, als die chinesischen Bahnarbeiter zu streiken beginnen und politische Versammlungen abhalten. Sie werden dafür niedergeschossen. Mit einer Sache haben die schurkischen Imperialisten allerdings nicht gerechnet: Moskau! Die Strahlkraft, die von der Hauptstadt der Weltrevolution ausgeht, verdreht ihnen gar ihre tierischen Fratzen. Es kommt zu einem Abkommen zwischen China und der Sowjetunion, chinesische Studenten demonstrieren für eine Anerkennung der UdSSR und das Land bekommt dann auch ein Botschaftsgebäude. Sun Yat-sen, der Anführer der chinesischen nationalen Revolution, wird kurz erwähnt. Am Ende gibt es wieder ein Lenin-Bild und ein Lenin-Zitat (scheinbar eine gute Lösung für alle genannten Probleme) und chinesische Hände, die sich gegenüber einem kommunistischen Emblem erheben. Abschließend wird zur internationalen Arbeitersolidarität aufgerufen und der Arbeiterkampf in China zum Kampf aller Arbeiter weltweit erklärt.

Uff... Von allen hier besprochenen Filmen macht KITAJ V OGNE (RUKI PROČ‘ OT KITAJA!) wahrhaftig am allerwenigsten Spaß. Er ist nicht nur der längste und dabei im negativen Sinne anstrengendste, sondern auch der offensichtlichste „Propagandafilm“ unter ihnen. Die Experimentierfreude von MEŽPLANETNAJA REVOLJUCIJA ist deutlich zurückgefahren: hier geht es schon offensichtlich eher darum, Inhalte zu vermitteln bzw. „reinzuhämmern“.
Wenig hilfreich bei der Sichtung ist die dramaturgische Zerfahrenheit und auch das stilistische Allerlei, die den Film kennzeichnen. Zu ersterem: KITAJ V OGNE (RUKI PROČ‘ OT KITAJA!) scheint bisweilen eine etwas zu ambitionierte Strichliste abzuarbeiten. Von einem Thema wird immer wieder unvermittelt zum nächsten gesprungen. An anderen Stellen werden Kleinigkeiten jedoch geradezu aufreizend umständlich ausformuliert: etwa, um von den arbeitenden Reisbauern zu ihren vertrockneten Feldern zu kommen (an dieser Stelle werden gefühlt ein Dutzend Figuren eingeführt, von denen die meisten allerdings kaum relevant sind).
Was das stilistische Allerlei betrifft: von „freigestellten“ grotesken Fratzen, die vor einem schwarzen Hintergrund böse Sachen machen, bis zu den eher impressionistischen Bildern auf den Reisfeldern und zu den fast sozialistisch-realistischen Bildern der Arbeiter auf den Versammlungen durchläuft KITAJ V OGNE (RUKI PROČ‘ OT KITAJA!) gefühlt ein halbes Dutzend verschiedene Zeichenstile durch – was die inhaltliche Inkohärenz noch zusätzlich verstärkt. Die stilistische Zerfahrenheit lässt sich allerdings leicht erklären: von dem relativ kleinen Team bei MEŽPLANETNAJA REVOLJUCIJA ist die Anzahl der Beteiligten massiv gestiegen. Nebst dem eingespielten Kernteam aus den Chodataevs, Kommissarenko und Merkulov kamen noch die beiden Brumberg-Schwestern Valentina und Zinaida, der Zeichner Ivan Ivanov-Vano sowie die Zeichnerin Ljudmila Blatova dazu, die alle kreativen Input leisteten.

Zu Ivanov-Vano und Ljudmila Blatova habe ich nicht viel gefunden. Die Brumberg-Schwestern jedoch, die sich 1924 bei KITAJ V OGNE (RUKI PROČ‘ OT KITAJA!) zum ersten Mal an einem Film beteiligten, wurden später zu etablierten Größen des sowjetischen Animationsfilms. Geboren wurden Valentina und Zinaida Brumberg 1899 bzw. 1900 in Moskau (und teilen sich zufällig ihren Geburtstag!) in eine jüdische Akademikerfamilie – der Vater war Arzt, die Mutter Musiklehrerin. Beide begannen Anfang der 1920er Jahre ihr Studium an der bereits erwähnten Vchutemas. Der Studiengang, den sie belegten, sah in der Studienordnung eine Beteiligung an einem Filmprojekt vor – so landeten sie bei den Vchutemas-Alumni Chodataevs, Komissarenko und Merkulov, die für die Realisierung von KITAJ V OGNE (RUKI PROČ‘ OT KITAJA!) Verstärkung suchten. Je nach Quelle kamen die Brumbergs zu dem Film durch eine Ausschreibung – oder aber, weil sie Kommissarenko, Merkulov und die Chodataevs persönlich aus gemeinsamen Lehrveranstaltungen kannten. Nach KITAJ V OGNE (RUKI PROČ‘ OT KITAJA!) arbeiteten sie jedenfalls noch weiter mit den Chodataevs, später nur noch mit Ol‘ga. Ab den 1940er Jahren wurden die Brumberg-Schwestern zu etablierten Größen des sowjetischen Animationsfilms und zu einer wichtigen Inspirationsquelle für spätere sowjetische Animationsfilmer und -filmerinnen. Beide galten als sehr freundliche, zugängliche Damen, mit denen man zu jeder Zeit auch ohne besonderen Anlass gut plaudern und Tee trinken konnte. Die Abteilung innerhalb des Animationsfilmstudios Sojuzmul‘tfil‘m, der sie vorstanden, galt als besonders kollegial und die Brumbergs sollen zu allen Mitarbeitern, selbst den unerfahrensten Hintergrundzeichnern, gegenüber stets freundlich gewesen sein. In einem kurzen Dokumentarfilm über die beiden haben die jüngeren Animationsfilmer Ėduard Nazarov und Fёdor Chitruk sowie mehrere ehemalige Brumberg-Mitarbeiter nur lobende Worte über die beiden Schwestern zu verlieren (erwähnen aber, dass bei Streiten untereinander sehr wohl Fetzen fliegen konnten).



ODNA IZ MNOGICH [„Eine von vielen“]
Sowjetunion 1927
Regie: Nikolaj Chodataev
Animation: Valentina Brumberg, Zinaida Brumberg, Nikolaj Chodataev
Darsteller: A. Kudrjavceva (die junge Träumerin), Mary Pickford (Mary Pickford), Douglas Fairbanks (Douglas Fairbanks)

Moskau 1926: Mary Pickford und Douglas Fairbanks besuchen die Stadt und werden auch in der UdSSR als große Stars gefeiert. In diesem Kontext lernen wir eine junge Moskauerin kennen, in deren Wohnung sehr prominent Bilder der beiden, aber auch von Buster Keaton, Charlie Chaplin und Harold Lloyd hängen. Sie geht natürlich auch in die Menschenmenge, um ihre beiden großen Lieblingsstars zu sehen. Zuhause zurück deklariert sie dann den Zuschauern (also gemeint: uns) völlig begeistert, dass Mary sie nach Amerika eingeladen hat und packt einen Koffer für die Reise. Doch, oh je! Von der ganzen Aufregung überwältigt legt sich die junge Frau auf ihre Couch und schläft ein – und beginnt zu träumen...
... und erwacht (im Traum) vor den Studios der United Artists in Hollywood auf. Zunächst ist sie auf einer vielbefahrenen Straße, doch das täuscht. In Wirklichkeit befindet sie sich auf dem Filmset von INTOLERANCE, wo der große „Bolschewik Hollywoods“ David Griffith gerade mit viel Autorität Regieanweisungen durch ein Megafon schreit (wir sind in einem Traum und in Träumen ist ja alles möglich – selbst Griffith als Bolschewik zu bezeichnen). Auf besagtem Set taucht der Tramp (aka Charlie Chaplin) auf und wird von Polizisten verprügelt. So schlimm ist das ganze dann doch nicht, denn er streckt dem jungen Mädchen noch frech die Zunge aus, die daraufhin zu weinen anfängt. Getröstet wird sie durch Pat und Patachon, die zwar menschlich aussehen, sich aber wie Pferde benehmen und ihr versprechen, sie auf ihrem Rücken zu Mary (Pickford) mitzunehmen. Daraus wird leider nichts, denn sie treffen auf der Straße Harold Lloyd, der sichtlich Probleme mit seinem Auto hat und das ganze endet in einem Crash auf einer Baustelle. Harold und die junge Moskauerin werden dann auf einem Hochhausträger in die Höhe gehoben. Nach einigen Versuchen, sich à la NEVER WEAKEN im Gleichgewicht zu halten, fällt die junge Frau hinunter, kann sich aber weiter unten noch festhalten. Währenddessen reitet ein Höhlenmensch (Buster Keaton im Aufzug von THREE AGES) auf dem Dinosaurier Gertie heran, rettet sie und nimmt sie dann auf höchst unsanfte Weise mit. Von einem maskierten Bösewicht (dieser spielt wahrscheinlich auch auf eine Figur aus dem westlichen Stummfilm an – bloß welche weiß ich gerade nicht) wird die Träumerin mit einer List entwendet und in einer Industriepresse platt gedrückt. In diesem Zustand wird sie von einem Cowboy, der aus dem Baum erwachsen ist, in den Buster Keaton vorhin einen Besen verwandelt hat und der zwischendurch einen Zug gecrasht hat... also kurz: die Moskauerin wird vom Cowboy (Tom Mix) gerettet und dann reitet sie mit ihm fort. Nach einigen Umwegen (Sturz in einen Fluss, dann Wirbeln durch den Himmel – was so beim Reiten eben passiert) stellt sich der maskierte Bösewicht in den Weg und kämpft dann mit dem Cowboy, während die Moskauerin auf einem spontan durch Fusion entstandenes Doppelpferd auf der Stelle stehen bleibt. Der Maskierte macht den Cowboy platt und entführt erneut die Moskauerin. Der Dieb von Bagdad (Douglas Fairbanks), der sich spontan vom Himmel heruntergelassen hat, verwandelt die Leiche des Cowboys in einen fliegenden Teppich und eilt zur Rettung der jungen Moskauerin herbei – und verwandelt sich vorher in Zorro. Das Telefon klingelt, und Mary ruft Doug zum Frühstück. Doug geht also weg. Aus einer Höhle tauchen plötzlich Löwen mit anthropomorphen Gesichtern auf, die die wegrennende Moskauerin möglicherweise gleich verschlingen werden. Rechtzeitig springt sie durch ein Loch...
... und wacht auf. Die belebten Portraits ihrer Lieblingsstars an ihrer Wohnungswand sehen die junge Moskauerin verwirrt auf dem Fußboden sitzen und lachen.

Was für eine fantastische kleine Perle von einem irrsinnigen Film! Eine sowjetische Hommage an das Hollywood-Kino in Form eines surrealistischen Traumfilms.
Träumende Frauen sind in der russisch-sowjetischen Kulturgeschichte an sich nichts außergewöhnliches. In Nikolaj Černyševskijs Roman Was tun? von 1863 träumte die Hauptfigur, Vera Pavlovna, zwischendurch von einer Utopie eines künftigen sozialistischen Lebens: eine relativ triste Vision mit gänzlich unsinnlichen (um nicht zu sagen puritanischen) polygamen Vernunftsehen und einer kommunalen Organisation des Lebens, die den Charme einer sterilen Großkantine verströmt – das hinderte diesen auch ansonsten völlig unlesbaren und faden Roman nicht, zur „Bibel“ der russischen revolutionären Bewegung zu werden bzw. Lenin nicht daran, den Titel für seine Schrift über die Organisation der Partei als Avantgarde der Arbeiterschaft von 1902 zu klauen. Wie viel aufregender ist da doch der Traum der jungen, filmbegeisterten Moskauerin, den die Chodataevs und die Brumbergs zusammen erschaffen haben!
Es ist auch der Traum einer frühen Überwindung des Kalten Kriegs. Dieser begann in vielerlei Hinsicht nicht in den späten 1940er Jahren, sondern im Prinzip schon 1917. Die Russische Revolution läutete im Westen, besonders in den USA, den „red scare“ ein: ein massiver Antikommunismus, der sich gegen alles Russische, gegen Ausländer (und auch schon gegen Juden) wandte. In der Sowjetunion wurde die Systemfrage nicht nur als Abstraktion ausgetragen: der Kampf gegen den Kapitalismus wurde rasch zu einem Kampf gegen das Westliche und das Amerikanische. Der sowjetische Kommunismus war bereits in den 1920er Jahren massiv xenophob. Chodataev selbst hatte in MEŽPLANETNAJA REVOLJUCIJA und KITAJ V OGNE (RUKI PROČ‘ OT KITAJA!) schon anitamerikanische Ressentiments bedient. In ODNA IZ MNOGICH ist davon keine Spur zu sehen. Wenn auch das Fangirl-Verhalten des jungen Mädchens ein wenig auf die Schippe genommen wird, so ist der Film das Dokument einer echten Liebe für das US-amerikanische Kino und seine Helden (und Antihelden).
Wie viele dieser Stummfilme in der UdSSR in die Kinos (und vor allem: in wie viele Kinos) kamen, kann ich auf die Schnelle nicht sagen. In die sowjetischen Kinos kamen gemäß IMDb beispielsweise ROBIN HOOD (mit Douglas Fairbanks) und Keatons THE GENERAL (dieser aber erst 1929). Die 1920er Jahre kannten natürlich eine wesentlich lockerere Kulturpolitik als in den 1930er und 1940er Jahre, und sei es nur in Bezug auf Auslandsreisen, die sowjetische Filmemacher sich zu dieser Zeit noch erlauben konnten, um etwa Filme zu sehen – oder gar Filme zu planen und zu drehen, wie Manfred über Eisensteins lange Westreise schon berichtete.

ODNA IZ MNOGICH war auch ein frühes Beispiel der Vermischung von Animations- und Realfilmelementen – in der Sowjetunion möglicherweise der erste Film, der so etwas machte. Er enthält zudem auch etwas, was man als Proto-Mockumentary-Element bezeichnen könnte: das Dokument eines realen Ereignisses (Mary Pickfords und Douglas Fairbanks‘ Moskau-Besuch) wird nicht nur als Aufhänger für eine Kurzgeschichte gebraucht, sondern auch mit Spielszenen montiert (wenn die junge Frau, gespielt von einer A. Kudrjavceva, in einer jubelnden Menschenmenge zu sehen ist). Das dauert nur einige Sekunden. Im selben Jahr wie ODNA IZ MNOGICH kam ein abendfüllender Film mit dieser Idee heraus: in POCELUJ MĖRI PIKFORD („Ein Kuss von Mary Pickford“) verliebt sich ein Theaterkassierer in eine Schauspielerin vor dem Hintergrund von Pickfords und Fairbanks‘ Moskaubesuch. In die Filmhandlung sind zahlreiche dokumentarische Filmaufnahmen der beiden Hollywood-Stars montiert, deren Besuch von zahlreichen Kameramännern festgehalten wurde. Die beiden US-Stars wussten wohl im vornherein von dem Projekt – und haben für den Regisseur Sergej Komarov möglicherweise einige Szenen (als sich selbst) gespielt.

Doch zurück zu ODNA IZ MNOGICH, der diese ganzen Elemente völlig nonchalant und mit großer Leichtigkeit nutzt. Dazu gehört auch der Bruch der Vierten Wand, als sich die junge Filmliebhaberin begeistert an die Kamera wendet: das wirkt hier unglaublich frisch, bevor solche Effekte etwas über ein halbes Jahrhundert später zum Klischee postmoderner Ironie wurden.



BUDEM ZORKI [„Wir werden wachsam sein“]
Sowjetunion 1927
Regie: Nikolaj Chodataev

Im gleichen Jahr wie ODNA IZ MNOGICH kam von Nikolaj Chodataev ein Film heraus, der wieder das Zerrbild des fetten, grotesken, westlichen (hier spezifisch: englischen) Kapitalisten zeigte. Neidisch sieht dieser, wie die sowjetische Wirtschaft immer mehr anwächst. Das lässt er sich natürlich nicht bieten und sabotiert sie, indem er an ein paar Strommästen die Kabel runterreisst, so dass die sowjetische Wirtschaft dann (im freeze-frame) stillsteht. Dagegen hält die Sowjetunion viele Lösungen bereit: sozialistische Sterne, Bomberflugzeuge – und Staatsanleihen! Mit diesen sollen die sowjetischen Arbeiter und Bauern ihr Vaterland dabei unterstützen, die westliche Bourgeoisie zu zerschlagen, was explizit nicht nur mit dem Gewehr, sondern auch mit dem Rubel gelingen soll. Da bleibt dem grotesken, fetten, englischen Kapitalisten nichts anderes übrig, als heulend zusammenzubrechen.
BUDEM ZORKI ist kein großer Wurf, zumal bei nur drei Minuten und zumal er offensichtlich nur ein Werbeclip war, um den Verkauf von Staatsanleihen anzukurbeln. Nicht uninteressant ist er filmisch, weil er in nicht einmal drei Minuten recht flott ein Bedrohungsszenario aufmacht und die Überwindung dieses aufzeigt und dabei fließend zwischen Animation und Realfilm (hier: stock footage) hin- und her wechselt (und an einer Stelle sogar kurz kombiniert).
Der Film ist auch das Dokument eines Landes, das sich im permanenten Kriegszustand wähnt und sich in einem Zustand extremer Anspannung befindet, angetrieben von einer intensiven, ausländerfeindlich angehauchten Spionage- und Sabotage-Paranoia. Der Beginn des Stalinismus wird gemeinhin mit 1928 beziffert, doch der Übergang war in vielerlei Hinsicht eben auch fließend.



SAMOEDSKIJ MAL‘ČIK [„Der Samojeden-Junge“]
Sowjetunion 1928
Regie: Nikolaj Chodataev, Ol‘ga Chodataeva, Valentina Brumberg, Zinaida Brumberg
Animation: Vasilij Semёnov

Die Russische Revolution war nicht nur russisch. Nur knapp über die Hälfte der sowjetischen Bevölkerung war in den 1920er Jahren russisch. In der ersten All-Unions-Volkszählung von 1926 waren knapp unter 200 nationale Gruppen gelistet. Nebst Russen wären als größere nationale Gruppen Ukrainer, Weißrussen, Polen, Juden (die den Status einer eigenen Nationalität hatten), Georgier, Armenier, Usbeken, Tataren und andere zu nennen. Unter den kleinen nationalen Gruppen waren viele indigene Volksgruppen aus Sibirien und dem hohen russischen Norden verzeichnet – darunter die Nency bzw. Nenzen (das Regie-Autoren-Duo Aleksej Fedorčenko und Denis Osokin siedelten den Film ANGELY REVOLJUCII, über den ich vom goEast-Festival 2015 berichtete, in den Nenzen-Regionen an).

Nun: in SAMOEDSKIJ MAL‘ČIK erlegt der Nenzen-Junge Ču bei einem Ritt durch die verschneite Steppe einen Bären, der ihm aber im Dorf gleich vom betrügerischen Schamanen wieder abgenommen wird. Ču dient dem Dorfschamanen als Assistent beim Gottesdienst: er bedient den Mechanismus, der das Idol vor versammelter Gemeinde bewegt. Aus Rache für den gestohlenen Bären lässt er den ganzen Schwindel auffliegen und den Schamanen dabei blöd aus der Wäsche gucken. Dieser setzt Ču auf einer Eisscholle dann aus (wie genau, ist unklar – möglicherweise ist der Film nur teilweise überliefert und hier lückenhaft). Ču wird von einem sowjetischen Dampfer gerettet und dann an der Arbeiterfakultät für Völker des Nordens in Leningrad ausgebildet.

SAMOEDSKIJ MAL‘ČIK entstand im Kontext der sowjetischen Nationalitätenpolitik der 1920er Jahre, der sogenannten „Einwurzelungspolitik“ (korenizacija). Ihr Ziel war es, die nicht-russische Bevölkerung des Landes aktiv in das neue System zu integrieren. Dafür sollte die Sowjetmacht vor Ort die Sprache der jeweiligen Bevölkerung sprechen können. Die umfassenden Alphabetisierungskampagnen der 1920er Jahre fanden in muttersprachlichem Unterricht statt. Millionen von Ukrainern, die nicht in ehemaligen Habsburger Gebieten lebten, lernten beispielsweise erst in den 1920er Jahren in ihrer eigenen Muttersprache lesen und schreiben. Ein umfassendes und kompliziertes System von Sowjetrepubliken und autonomen Gebieten wurde implementiert – zusammen mit nationalen Quotenregelungen für die Besetzung von Staats-, Partei-, Verwaltungs- und Wirtschaftsämtern. Jede Nationalität sollte ihre eine eigene Nationalgeschichte und Nationalkultur haben (die Quadratur des Kreises war, dass diese natürlich „sowjetisch“ sein sollten und – die antireligiösen Kampagnen waren in den 1920er Jahren am virulentesten – möglichst „atheistisch“).
Die korenizacija-Politik, die in der Geschichtswissenschaft nach wie vor rege diskutiert wird, war ein zweischneidiges Schwert und ist keinesfalls mit der Vision eines multikulturellen Landes zu verwechseln: die Zukunftsvision der Bolschewiki war städtisch, industriell und im Kern auf eine europäische Moderne ausgerichtet. Bereits russische Bauern waren ihnen völlig fremd – nichtrussische Nomaden, Jäger und Sammler erst recht. Die korenizacija bedeutete auch einen Zwang zu nationaler Kategorisierung und zementierte das Denken in nationalen Kategorien. Jeder Sowjetbürger hatte in seinem Pass (also nicht „Reisepass“, denn die gab es nicht für jedermann, sondern im Pass zur Identifikation innerhalb der Sowjetunion) eine Nationalität verzeichnet. Anfang der 1930er Jahre endete die korenizacija, und der sowjetische Staat ging über zu einer Politik der Russifizierung sowie zu massivem Terror gegen nationale Minderheiten.

Ču, der Held von SAMOEDSKIJ MAL‘ČIK, wendet sich jedenfalls in seinem Dorf (aus persönliche Gründen) gegen das „alte Regime“ (dem Einfluss der Schamanen) und dem neuen Regime zu, das ihm eine gute Ausbildung ermöglicht (im Film allerdings auf Russisch). Er erinnert sich trotzdem an seine Heimat (in einem Flashback, der als Splitscreen realisiert ist und interessanterweise das Lenin-Portrait an der Wand überdeckt). Als er am Ende aus der Arbeiterfakultät geht, ist es also nicht unwahrscheinlich, dass er in seine Heimat zurückkehrt, um dort als Parteiarbeiter oder Verwaltungsbeamter am Aufbau des sowjetischen Staates mitzuwirken – bevor er dann möglicherweise zwischen 1936 und 1938 hingerichtet wurde oder in einem Lager verschwand.

Der Stil von SAMOEDSKIJ MAL‘ČIK, so ist es an mehreren Stellen zu lesen, sei von den Holzschnitzereien der Nenzen beeinflusst. Der oben genannte Regisseur Nazarov nennt den „Leningrader Stil“ des Malers Mstislav Dobužinskij als weiteren Einfluss auf den Look von SAMOEDSKIJ MAL‘ČIK. Ich selbst kann das schlecht beurteilen: mir scheint es jedoch, dass der Stil jenem in ODNA IZ MNOGICH nicht völlig unähnlich und dem des nächsten Filmes, GROZNYJ VAVILA I TЁTKA ARINA, sogar sehr ähnlich ist – vielleicht ein Hinweis darauf, dass die Chodataevs (offiziell waren die Brumbergs an letzterem nicht beteiligt) mittlerweile eine persönliche Handschrift entwickelt hatten. Die russischen Zwischentitel bilden jedenfalls in beiden Filmen schöne, lautmalerische Reime.

Und wer denkt, dass der Humor und das Quäntchen Irrsinn nach ODNA IZ MNOGICH versiegt ist, wird gleich eines besseren belehrt!



GROZNYJ VAVILA I TЁTKA ARINA [„Der grausame Vavila und Tantchen Arina“]
Sowjetunion 1928
Regie: Nikolaj Chodataev, Ol‘ga Chodataeva

Die Russische Revolution sollte nicht nur Arbeiter, Bauern und nationale Minderheiten befreien – sondern auch Frauen. Mit den Frauen verhält sich die ganze Sache zumindest ganz am Anfang der Revolution sehr einfach: ohne Frauen hätte es möglicherweise keine Russische Revolution gegeben. Anfang 1917 zeigte das Russische Reich bereits massive Zerfallserscheinungen. Am 23. Februar gingen streikende Textilarbeiterinnen in Petrograd – die männlichen Arbeiter waren mehrheitlich an der Front – auf die Straße, um für „Brot und Frieden“ zu demonstrierten. Ihnen schlossen sich viele weitere Frauen an. Diese Demonstration markierte den Beginn der sogenannten Februarrevolution, die zur Abdankung des Zaren, zur Berufung der „Provisorischen Regierung“ und zur Projektierung einer Verfassungsgebenden Versammlung führte. Der Begriff der „Februarrevolution“ hielt sich – der julianische Kalender nicht, und deshalb wurde später das gregorianische Datum dieses Ereignisses zum Frauentag erklärt: also der 8. März.

An einem solchen 8. März spielt auch GROZNYJ VAVILA I TЁTKA ARINA, allerdings nicht in der nunmehr Leningrad benannten Stadt, sondern in einem namenlosen russischen Dorf, in dem die beiden Titelfiguren leben. Tantchen Arina jedoch hat nicht gemerkt, dass heute der 8. März ist. Die Sonne erinnert sie daran und durch eine List bringen sie die beiden Eimer, die sie schleppt, nach Hause zurück, wo sie sich erinnert und von allen Haushaltsgegenständen einen kleinen Freudentanz vorgeführt bekommt. Die Garderobenständer geben ihr sogar ausdrücklich frei. In der Zwischenzeit kommt eine Nachbarin vorbei und ermuntert Arina, an diesem freien Tag zur Versammlung zu gehen. Selbst auf dem russischen Dorf gäbe es an einem freien Tag bestimmt Spannenderes zu tun, als zur Versammlung zu gehen – aber na gut: Richtung Versammlung also! Auf dem Weg treffen die beiden Frauen Arinas Mann, der offensichtlich bereits betrunken ist, aggressiv sein Mittagessen fordert und Arina schließlich schlägt. Nach einigem Ringen ziehen die Frauen dann doch los und lassen Vavila zurück, der blöd aus der Wäsche schaut. Wenn sich dieser dann an den Zuschauer wendet, was das denn für ein Männerleben sei und wer ihm jetzt seine Suppe und seinen Kartoffelbrei koche, wirkt er schon ziemlich lächerlich. Als sich aber zuhause die Haushaltsgegenstände über ihn lustig machen, zieht er wieder mit einem schlagfähigen Gegenstand los. Auf dem Weg gabelt er einen Kumpanen auf. Als sie vor der Hütte stehen, in der die Versammlung stattfindet, wird ihnen die Tür vor die Nase zugehauen. Bei der Versammlung wird Arina durch andere Versammlungsteilnehmerinnen vom Konzept der sowjetischen Befreiung der Frau überzeugt. Vavila und sein Kumpane schauen wieder blöd aus der Wäsche, und werden gar von den Gegenständen, die sie mitgenommen haben, um ihre Frauen zu schlagen, selbst geschlagen und vertrieben. Die Frauen indessen demonstrieren durch das Dorf mit der Losung „Nieder mit Küche und Herd“und die letzten Bilder machen klar, dass die Sonne sich mit ihnen solidarisiert.

Das größte Geheimnis von GROZNYJ VAVILA I TЁTKA ARINA ist vielleicht sein Titel: warum gehört der Titel nicht Arina alleine und warum ist sie erst an zweiter Stelle genannt? Die belebten, tanzenden, aktiv in die Handlung eingreifenden Haushaltsgegenstände geben dem Film eine leicht märchenhafte Note – aber hier endet auch jegliche Ähnlichkeit mit den Zeichentrickfilmen des Disney-Studios. Die in wenigen Minuten erzählte Geschichte einer weiblichen Befreiung, die gleichzeitig gewalttätige Männlichkeitsfantasien dekonstruiert, ist eher verwandt mit FEMINA RIDENS, SECRETARY, SEDMIKRÁSKY, AN ANGEL AT MY TABLE und teils BIGGER THAN LIFE – im sowjetischen, zeitgenössischen Kontext am ehesten vielleicht mit Eisensteins GENERAL‘NAJA LINIJA, in dem sich eine Bäuerin aktiv für die Modernisierung ihres Dorfes einsetzt. Im Gegensatz zu diesem denkt GROZNYJ VAVILA I TЁTKA ARINA allerdings kaum in sowjetischen, frühstalinstischen Klassengegensätzen, sondern konzentriert sich ganz auf den Geschlechtsaspekt bzw. auf die Überwindung ländlich-patriarchalischer Mentalitäten. Vavila ist persönlich „grausam“, aber kein Kulak oder Saboteur des sowjetischen Dorfes. Am Ende bekommt er jene Prügel, die er seiner Frau gegeben hat bzw. geben wollte, in ausgleichender Gerechtigkeit zurück. Ob er in einem potentiellen „Sequel“ des Films vielleicht lernen könnte, ein freundlicher, respektvoller und nüchterner Sowjetbürger zu werden, bleibt offen.
Ob Arina und ihre Freundin auch in den 1930er Jahren viel zu lachen hatten, muss ebenso offen bleiben. Als Bauern gehörten sie zu den potentiellen Opfern der Kollektivierungskampagnen, die sich ein Jahr später intensivierten. Auch als Frauen hatten sie womöglich nicht mehr lange zu lachen. Das Klima der Frauenbefreiung der 1920er Jahre endete ebenfalls in der Stalin-Ära: die Frauenabteilung der Kommunistischen Partei, die unter anderem die Legalisierung der Abtreibung und ein liberales Scheidungsrecht durchgesetzt hatte, wurde aufgelöst, eben erwähnte Gesetze rückgängig gemacht oder zumindest wieder verschärft und ein konservativeres Familienbild mit der Ehefrau und Mutter am Herd propagiert.



ORGANČIK [„Die Spieldose“]
Sowjetunion 1933
Regie: Nikolaj Chodataev

Unter einem namenlosen Zaren, der nicht der schlechteste war, aber doch der niederträchtigste, stirbt der Gouverneur von Dummstadt. Der Zar sucht einen Nachfolger und möchte den Kandidaten schicken, der am lautesten schreien kann, und das ist der General-Major Übermütig. Der wiehert so laut wie ein Pferd und hat nichts im Kopf – deshalb kriegt er dorthin eine Spieldose verpflanzt, die den menschlichen Verstand ersetzt. Der neue Stadtgouverneur von Dummstadt beginnt, kompulsiv Drohungen auszusprechen (er kreischt immer wieder „Razboju“ – „ich werde zerstören“) und um sich zu schlagen und erhält vom Zaren den Auftrag, die Grundsteuern mit allen Mitteln zu erheben und jegliches freie Denken zu zerschlagen. In Dummstadt wird der neue Gouverneur von den Notabeln (Klerus, Verwaltung, Händler) begeistert empfangen. Wenig begeistert ist er von der städtischen Bücherei, die er sogleich niederbrennen lässt. In seiner neuen Residenz angekommen entdeckt er die Liste der unbezahlten Grundsteuern aus den umliegenden Dörfern, was ihn wieder dazu bringt, eine Drohhaltung einzunehmen. Mit einer halben Armee zieht der neue Stadtgouverneur los und lässt ohne Vorwarnung ein Dorf bombardieren. Geknickt zahlen die Bauern die wenigen Rubel, die sie dem Staat schulden. Zur Feier des Sieges gibt es ein rauschhaftes Fest im Theater, bei dem der Stadtgouverneur ordentlich über die Stränge schlägt. Später wird der Betrunkene in seine Kutsche geworfen und Richtung Residenz gefahren, doch ein Sturm zieht auf. Die Kutsche gerät in ein Zeitloch und landet in einer sowjetischen Stadt der frühen 1930er Jahre. Nach kurzer Zeit wird das Gefährt der vergangenen Zeit vom motorisierten Verkehr überrollt. Der Stadtgouverneur landet im Fluss, ertrinkt und verschwindet. Die Spieldose, die in seinem Kopf das Gehirn ersetzte, wird im Museum aufbewahrt...

In der Kürze liegt die Würze des frühen sowjetischen Animationsfilms? Der zweitlängste der besprochenen Chodataev-Filme hat mir ebenso wenig gefallen wie der China-Halbstünder. Verfilmt hat Chodataev eine Erzählung des Schriftstellers Michail Saltykov-Ščedrin, einem der großen Satiriker des 19. Jahrhunderts: ein vehementer Kritiker von Bürokratie, Repressionen und sozialem Elend in der Ära Alexanders II. und Alexanders III. Es ist vermutlich letzterer, der dem Zaren in ORGANČIK als Vorbild diente: seine autoritäre, repressive Herrschaft beendete drastisch die vorangehende Reform-Ära Alexanders II. und sein korpulentes Äußeres lässt sich im leicht tierischen, namenlosen Zaren des Films erahnen. Die marxistischen Revolutionäre Russlands hatten ein gespaltenes Verhältnis zu Michail Saltykov-Ščedrin, weil er einerseits als Musterkritiker des alten Regimes, andererseits als nicht dezidiert politisch genug galt. Jedenfalls wurde 1932 die Bibliothek, die heute die Russische Nationalbibliothek ist, nach Saltykov-Ščedrin benannt und behielt diesen Namen auch bis Anfang der 1990er Jahre.

ORGANČIK war nicht der erste Tonfilm Chodataevs: 1931 hatte er bereits den tönenden Film AVTODOREC gedreht, über eine Organisation, die die Motorisierung des Landes und die Verbesserung des Straßennetzes vorantreiben wollte. Den Film habe ich nirgendwo gefunden und deshalb belasse ich es bei einem kurzen Hinweis. Die Nutzung des Tons geht in ORGANČIK kaum weiter als bis zur Untermalung mit Musik und vielen eher gimmick-haften Soundeffekten, die witzig sein sollen, aber zumindest bei mir nicht gefunkt haben. Narrativ wirkt der Ton jedenfalls kaum als Fortschritt gegenüber Chodataevs früheren Arbeiten: ORGANČIK ist sein Film mit den meisten expositorischen Zwischentiteln und Texten. Und im Gegensatz zu SAMOEDSKIJ MAL‘ČIK oder GROZNYJ VAVILA I TЁTKA ARINA reimen sich die Texte nicht. 

SAMOEDSKIJ MAL‘ČIK
GROZNYJ VAVILA I TЁTKA ARINA
SAMOEDSKIJ MAL‘ČIK sowie GROZNYJ VAVILA I TЁTKA ARINA sind auf einer kürzlich erschienen Doppel-DVD-Box der „filmedition suhrkamp“ mit dem Titel Der neue Mensch: Aufbruch und Alltag im revolutionären Russland enthalten. Der Titel der Edition mag nichtssagend sein und die Auswahl der Filme an sich scheint ein bisschen willkürlich, da man darunter nun wirklich vieles zusammenfassen könnte. Enthalten sind jedenfalls acht Filme: vier abendfüllende Spielfilme und vier Kurzfilme. Die Stummfilme (darunter die beiden Filme der Chodataevs) werden vom exzellenten Weimarer Stummfilmpianisten Richard Siedhoff begleitet. Die Auswahl und Zusammenstellung der Filme mag etwas willkürlich sein, ändert aber nichts daran, dass die Edition Der neue Mensch sehr schön ist. Die beiden Chodataev-Filme (die anderen bestimmt auch, aber ich bin noch nicht dazu gekommen, sie zu schauen) sind in guter Bildqualität zu sehen.

SAMOEDSKIJ MAL‘ČIK sowie GROZNYJ VAVILA I TЁTKA ARINA waren für mich eine Anregung, mich weitergehend mit den Chodataevs und dem frühen sowjetischen Animationsfilm zu befassen. Aus der DVD-Edition Der neue Mensch werde ich in Kürze mindestens noch einen Spielfilm besprechen – vielleicht aber auch mehr.

Weiblich und visionär auf dem 17. goEast-Festival des mittel- und osteuropäischen Films – Teil 1

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Auf dem diesjährigen goEast-Festival in Wiesbaden widmeten sich zwei Retrospektiven dem Schaffen weiblicher Regisseure in Mittel- und Osteuropa. In der Sektion „Feministisch wider Willen / Reluctant feminism“ liefen 13 Langfilme sowie knapp zwei Dutzend Kurzfilme weiblicher Regisseure zwischen 1930 und 2014. Die Hommage-Sektion widmete sich der ungarischen Regisseurin Mészáros Márta und zeigte acht ihrer Spielfilme sowie zwei Kurzfilme.
Ich trieb mich dieses Jahr schwerpunktmäßig noch mehr als in den vorigen Jahren (2013, 2015, 2016) bei dem Retrospektiv-Programm herum. Eine große Stärke des Retrospektiv-Programms dieses Jahr lag darin, dass die Filmblöcke meist als Double-Features mit einem Kurzfilm und einem Hauptfilm gestaltet waren.


Donnerstag, 27. April

ab 17.30 Uhr, Murnau-Filmtheater

BUBA
Regie: Nutsa Gogoberidze
UdSSR 1930
39 Minuten, DCP
Impressionen vom Leben in einem Bergbauerndorf in Georgien.
© goEast Filmfestival
In dokumentarischen, ethnografischen Bildern erleben wir den mühseligen Alltag einiger Bergbauern in einem wirtschaftlich unterentwickelten Gebiet Georgiens. Zu den beeindruckendsten Szenen gehört zweifelsohne das Einsammeln von Kuhdung, bei dem Jung und Alt gleichermaßen ohne Berührungsängte mitmischen und mitmatschen. Auch ein Gemeinschaftstanz und diese dunkle, stickige Hütte mit dem Kleinkindbett sind mir in Erinnerung geblieben. Ansonsten überwog während fast der gesamten Sichtung der Ärger über die penetrante Musikbegleitung (die als Tonspur bei der DCP enthalten war): abwechslungsweise fürchterliches elektronisches Gedudel oder Gewummere ohne jeglichen Bezug zu den Bildern – oder aber Ambientegeräusche aus der Konservendose, „passend“ zu den gerade laufenden Bildern. Wenn also Flussimpressionen zu sehen waren, gab es auch Geräusche von fließendem Wasser. Wenn ein windgepeitschtes Getreidefeld gezeigt wurde, hörte man schlecht aufgenommene Wind- und Sturmgeräusche. Die dahinter liegende Vorstellung, dass Stummfilmen etwas fehlt, nämlich der Ton, dass die Bilder also „unvollständig“ sind, könnte man putzig finden, wenn das nicht so ärgerlich wäre.
Nein, es war wirklich schwer, sich auf den Film zu konzentrieren. Das ist schade, denn die sowjetisch-georgische Filmemacherin Nutsa Gogoberidze war eine bedeutende Pionierin der Filmgeschichte: eine der frühen weiblichen Regisseure in der Sowjetunion – und wahrscheinlich die erste georgische Regisseurin überhaupt. Ihre Filmkarriere war allerdings nur von kurzer Dauer. Ende der 1930er Jahre wurde ihr Ehemann, ein hochrangiger Offizier der Roten Armee, im Zuge des Großen Terrors verhaftet und hingerichtet. Sie selbst wurde ins Lager geschickt und verbrachte dort 12 Jahre. Gogoberidze kehrte als gebrochene Frau zurück, drehte nie wieder einen Film und war emotional nicht mehr in der Lage, mit ihrer eigenen Tochter Lana zu kommunizieren. So sprach sie, als Lana Regisseurin wurde, mit ihr auch nicht über ihre frühere Filmkarriere. Sie arbeitete wohl noch bei einem sprachwissenschaftlichen Institut. Auf Nutsas Rückkehr aus dem GULag, die Lana später selbst in einem Film verarbeitet hat, komme ich noch weiter unten zu sprechen.
Vorführstörungen: 
(diese Zusatzrubrik richte ich hiermit ein, weil die reibungslosen Projektionen – besonders im Murnau-Kino – nunmehr eher die Ausnahme als die Regel waren)
Der Film startet mittendrin – etwa bei Minute 1 oder 2. Er wird angehalten und nach einer kleinen Pause dürfen wir ihn dann von Anfang an sehen.

RVANYE BAŠMAKI („Zerrissene Stiefel“)
Regie: Margarita Barskaja
UdSSR 1933
85 Minuten, 35mm
Deutschland, wahrscheinlich kurz vor der Machterlangung der Nazis. Einige Schulkinder wollen die Streikaktivitäten ihrer sozialdemokratischen Väter unterstützen. So kommt es auch in der Schule zu Auseinandersetzungen zwischen Arbeiterkindern und bürgerlichen Kindern.
RVANYE BAŠMAKI ist der erste sowjetische Kinofilm, in dem Kinder die Hauptrolle spielen – und gemäß den Angaben des Programmhefts der erste internationale Kinderspielfilm mit Ton (Jean Vigos ZÉRO DE CONDUITE kam etwa zeitgleich heraus). Das Resultat ist in vielerlei Hinsicht absolut faszinierend, in anderen Bereichen wieder etwas weniger überzeugend.
Zunächst zu ersterem: das Besetzen von Laiendarstellern, zumal Kinder-Laiendarstellern, ist etwas, was man vielleicht mit dem italienischen Neorealismus (hier allerdings doch nur in Nebenrollen) oder mit einigen Filmen der „nouvelle vague“ verbindet, also mit dem Kino nach dem Zweiten Weltkrieg. Besetzungen mit Laiendarstellern gab es natürlich schon vorher. Jean Renoir nutzte schon Laiendarsteller (z. B. in TONI, über den Manfred hier schon schrieb). Barskaja hingegen engagierte ein ganzes Kollektiv an Laiendarstellern im Alter zwischen 1 1/2 und 13 Jahren (so eine Infotafel zu Beginn des Films). Die Kinder waren keine ethnischen Russen, sondern deutsche bzw. deutschstämmige Kinder, die sie aus einer deutschen Schule in einer der beiden russischen Hauptstädte rekrutierte. Das hatte den Hintergrund, dass Barskaja zweisprachige Kinder haben wollte, die zwischendurch (für die „deutsche“ Atmosphäre des Films) auch mal einige kurze Sätze auf Deutsch sprechen bzw. Lieder auf Deutsch singen konnten.
Diese Mühen wurden allerdings zerstört. Der Film wurde Anfang der 1960er Jahre wiederentdeckt – und dann „gesäubert“. Die Tonspur, offenbar größtenteils in Direktton aufgenommen, wurde komplett ersetzt: das „unsaubere“ Russisch der Kinderdarsteller mit dem deutschem Akzent wurde von nativ-russischen, weiblichen Sprechern nachsynchronisiert, die normalerweise Animationsfilme einsprachen. Die Original-Tonversion des Films gilt als verschollen.
Die pure visuelle Stärke des Films bleibt. Und seine unbegrenzte Liebe zum Zauber eines „trivialen“ Kinderalltags. RVANYE BAŠMAKI beginnt mit einer ausgedehnten Szene, in der Kinder Doktor spielen: ein kleines Kind hört die anderen mit seinem Stethoskop (einer kleinen Flöte) ab, stellt die Diagnose und vergibt gleich Rezepte. Die kindliche Unbekümmertheit überträgt sich auf den Film: vergiss Plot, vergiss Narration – jetzt wird erst mal gespielt! Die Modernität der „nouvelle vague“ und auch anderer Kinoreformbewegungen scheint hier um 30 Jahre vorweggenommen zu sein. Später gibt es mehr Plot, teilweise auch Politik unter die Nase gerieben – aber diese kleinen Pausen gönnt sich der Film immer wieder. Kinderstreiche, gar die kleine Verschwörung eines Kleinen, der seiner Mutter den Zucker klaut, indem er sich unter dem Tisch versteckt, die Tüte ansticht und ein Glas darunter hält... Visuell ist das ganze sehr ansprechend gefilmt: Barskaja wusste ganz genau, wo sie ihre Kamera hinstellen musste und vor langen, komplexen Plansequenzen hatte sie auch keine Angst.
Der Film „bricht“ zwischendurch immer wieder ein, als es darum geht, dass jetzt mal etwas „politisches Programm abgespult werden muss: mit bourgeoisen Kindern, die Hakenkreuzarmbinden tragen und Petzer sind, mit flotten Arbeiterkindern, die im richtigen Moment aufstehen, die Faust recken und sozialistische Kampfparolen brüllen.
Margarita Barskaja kam wie Nutsa Gogoberidze aus dem Kaukasus, genauer aus Baku. Sie wirkte als Darstellerin und Assistentin bei Aleksandr Dovženko und fühlte rasch, dass ihr Platz eher hinter der Kamera war. 1930 inszenierte sie ihren ersten von drei Filmen. RVANYE BAŠMAKI war der zweite. Der dritte folgte 1937 (OTEC I SYN – „Vater und Sohn“). Barskaja war Anfang der 1930er Jahre sehr erfolgreich, angesehen, Teil des politischen Establishments und führte Briefkorrespondenzen mit Stalin und Lazar‘ Kaganovič höchstpersönlich (einem der engsten Vertrauten in Stalins Clique). Ende der 1930er Jahre wendete sich das Blatt gegen sie: Barskaja wurde in der Ära des Großen Terrors zunehmend isoliert und schikaniert. 1939, mit nur 35 Jahren, beging sie in Moskau Selbstmord.


ab 20.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

TRAMVAJ IDET PO GORODU („Eine Straßenbahn fährt durch die Stadt“)
Regie: Ljudmila Stanukinas
UdSSR 1973
22 Minuten, irgendeine miese digitale Datei mit Interlace-Streifen
Eine Straßenbahnfahrerin in Leningrad plaudert aus dem Nähkästchen, während eine versteckte Kamera aus dem Fenster die winterliche Stadt begutachtet oder die Passagiere filmt.
TRAMVAJ IDET PO GORODU ist weder ein großer, noch ein besonders ambitionierter Film, aber er ist vergnüglich, charmant und kurzweilig. Er ist eine Art Stadtsinfonie des winterlichen Leningrads: die Metropole ist verschneit und sieht alles andere als glamourös aus. Das ist aber mehr Wintertristesse als das Herausstellen sowjetischen Verfalls. Und bevor es zu traurig wird, gibt es die Passagiere zu beobachten: eifrige Leser, die in ihren Büchern vertieft sind; Verliebte, die sich küssen; müde Angestellte, die mit dem Schlaf kämpfen; Betrunkene, die sichtlich Mühe haben, auszusteigen; junge Marine-Soldaten, denen es trotz Anstrengung nicht gelingt, grimmig auszusehen; alte Damen, die mit ihren eleganten Pelzmänteln Respekt ausstrahlen; Sänger und Gitarristen, die die anderen Passagiere musikalisch unterhalten. Ein ganzes menschliches Mikrokosmos in einem kleinen Straßenbahnwaggon...
Der Film wurde in der Sowjetunion zensiert und eine Stelle gekürzt (wir sahen aber den vollständigen „Director‘s Cut“): zwischendurch erzählt die etwa 40-jährige Straßenbahnfahrerin, dass während der Hungerbelagerung Leningrads eine Nachbarin Tapetenkleister kochte und das Zubereitete auch gerne teilte. Als kleines Mädchen, die sie war, fand die Straßenbahnfahrerin das recht lecker. In der sowjetischen Erinnerungskultur wurde die genozidale Hungersblockade zum heroischen Kampf, zur heldenhaften „Verteidigung“ der Stadt umgedeutet (die Deutschen wollten die Stadt tatsächlich nie erobern, sondern zu Tode hungern) und da passten hungernde Familien, die Tapetenkleister aßen, nicht rein.
Die 86-jährige Regisseurin war bei der Vorführung anwesend. Dass die digitale Kopie extrem schlecht war und sogar hässliche Interlace-Artefakte zeigte, war daher suboptimal. Über Ljudmila Stanukinas habe ich kaum etwas gefunden. Aufgrund ihres Nachnamens kann man eine baltische Herkunft vermuten. Sie gab einige einführende Worte zum Film, doch ich kann mich daran nicht mehr exakt erinnern, weil er im Doppelprogramm mit RAMDENIME INTERVIU PIRAD SAKITKHEBZE lief, dessen Regisseurin Lana Gogoberidze auch da war und sprach und ich wohl nicht richtig aufgepasst habe, so dass ich im ersten Moment Stanukinas für Gogoberidze hielt. Das „machte“ aber nichts, denn später „meldete sich“ Stanukinas wieder „zu Worte“...

RAMDENIME INTERVIU PIRAD SAKITKHEBZE („Einige Interviews zu persönlichen Fragen“)
Regie: Lana Gogoberidze
UdSSR 1977
95 Minuten, 35mm
Die Journalistin Sofiko mag ihren Job: investigatives Recherchieren und das Interviewen von Menschen machen ihr Spaß. Doch wenn sie nach Hause kommt, muss sie sich noch um den Haushalt kümmern (Kochen, Putzen etc.). Dass ihr eigentlich netter Ehemann sie ständig annörgelt, wenn sie später nach Hause kommt – okay. Dass er eine Affäre hat, setzt Sofiko aber zu. Und dann sind noch die Erinnerungen an die Mutter, die einst aus dem Lager zurückkehrte...
© goEast Filmfestival
Filmstill in Schwarzweiß – der Film ist farbig
RAMDENIME INTERVIU PIRAD SAKITKHEBZE erwischte mich zunächst etwas auf falschem Fuß, denn aufgrund des Programmhefts (und einer etwas kryptischen Ankündigung kurz vor der Projektion) hatte ich einen semidokumentarischen Essayfilm erwartet – vielleicht so etwas wie Pasolinis COMIZI D‘AMORE auf Georgisch – und kein „klassisches“ Familiendrama. Mit zunehmender Laufzeit spielte das aber keine Rolle mehr: aus den falschen Gründen auf den Film gefreut, aber dennoch zurecht.
Gogoberidzes Film ist ein sensibles, autobiografisch gefärbtes Frauenportrait. Es ist eher ein Alltagsfilm als ein Ereignisfilm, und dass Sofikos Ehemann eine jüngere Liebhaberin hat, dürfte wohl die größte „Wendung“ sein. Das ganze ist mit ruhiger Hand inszeniert, aber auch nicht undynamisch: fetzige, bassbetonte 70er-Jahre-Musik, die auch in einem italienischen Genrefilm der Ära nicht deplatziert wäre, läuft, wenn die Protagonistin festen und entschlossenen Schrittes über die Prachtboulevards von Tiflis geht. Zwischendurch pausiert die Handlung, wenn Ausschnitte von Interviews eingeblendet werden, die Sofiko mit diversen Frauen führt. Oder aber ihr plötzlich Bilder aus der Vergangenheit vor die Augen erscheinen. In einem dieser Flashbacks erleben wir die Rückkehr der Mutter aus dem Lager: eine traumatische, schockierende Erfahrung, weil Sofiko eine Frau, die mittlerweile zu einer totalen Unbekannten geworden ist, umarmen und „Mami“ nennen muss.
Das goEast-Programmheft nennt RAMDENIME INTERVIU PIRAD SAKITKHEBZE einen der ersten feministischen Filme der Sowjetunion. Tatsächlich ist heute davon ausgehen, dass Frauen im realsozialistischen Osten zwar in der Arbeitswelt integriert waren, davon aber nicht unbedingt von der Last von „Küche und Herd“ befreit wurden. Wir sehen Sofiko arbeiten, zu Interviewterminen fahren, in der Redaktion an der Schreibmaschine sitzen. Abends kehrt sie nach Hause zurück, wo sie noch für ihre zwei Kinder und ihren Ehemann kochen muss – wobei letzterer keinen Finger rührt, sondern lieber hobbymäßig über Tierverhalten philosophiert. Es gehört zu den großen Verdiensten des Films, dass er die herrschende Geschlechterungerechtigkeit im Privaten präzise und unsentimental skizziert und die Belastung Sofikos zeigt, ohne dabei den Ehemann zu dämonisieren. Man würde Sofiko trotzdem eine sich latent anbahnende Liebesgeschichte mit ihrem engsten Arbeitspartner, einem Fotografen, aus vollstem Herzen gönnen. Doch es bleibt bei diesem wunderbar denkwürdigen Rendezvous in dessen Wohnung: er renoviert gerade, ist vollgeschmiert mit Farbe, nur mit großer Mühe improvisiert er eine Sitzgelegenheit für seine Arbeitskollegin, bereitet ihr dann Tee und Sandwiches zu – doch als er aus der Küche zurückkommt, ist sie auf dem Stuhl eingeschlafen. Also setzt er sich auf den Boden und schaut sie lange an, solange, bis sie aufwacht. Nachdem sie das tut, hat sie einige Visionen von schönen Momenten, die sie auf Arbeit mit dem Fotografen erlebt hat; sie merkt, was da los ist, welche Gefühle er für sie hat und was sein könnte – doch dann geht sie...
Ich habe einige Zeit gebraucht, um in RAMDENIME INTERVIU PIRAD SAKITKHEBZE reinzukommen: kein Film, der sich beim Zuschauer anbiedert. Allerspätestens bei dem Rendezvous Sofikos mit ihrem Kollegen in dessen Wohnung, wo nichts passiert, wußte ich, dass der toll ist.


ab 22.30 Uhr, Murnau-Filmtheater

MAJD HOLNAP („Vielleicht morgen“)
Regie: Elek Judit
Ungarn 1979
104 Minuten, 35mm
Eszter und István lieben sich und sind verheiratet – allerdings nicht miteinander. Ihren Ehepartnern ist die Affäre bekannt und bei beiden Ehen kriselt es. Die zwei Liebenden sind in einem Schwebezustand zwischen Ehe und Affäre gefangen. Als István ein kleines Landhaus erbt, eröffnet sich beiden eine Perspektive, vielleicht zusammen ein neues Leben anzufangen.
© goEast Filmfestival
Filmstill in Schwarzweiß – der Film ist farbig (zumindest auf Farbfilm gedreht)
Wer denkt, dass erst Tarr Béla das ungarische Landleben als eine Aneinanderreihung dreckiger Matschpisten, vollkommen maroder Gebäude, kalter ungemütlicher Zimmer und schlechten Regenwetters gezeichnet hat, von der man nur beim nächsten Glas Alkohol eine zeitweilige Flucht finden kann, wird hier eines besseren belehrt. Hardcore kitchen sink realism auf Ungarisch! Doch ein bisschen anders ist das trotzdem: wo Tarr ein kalter oder zumindest unterkühlter Analytiker bleibt, ist Elek Judit eine Humanistin, die in dem ganzen Dreck und in dieser eiskalten Winterluft nach dem Funken des Menschlichen sucht.
Und die findet sie in einer Vielzahl kleiner Momente. Wenn die beiden Liebhaber in dem vererbten Häuschen zusammen im Bett liegen und Mühe haben, die richtige Schlafposition zu finden – weil verbringen im vererbten Landhaus trotz der wahrscheinlich langen Dauer ihrer Affäre ihre erste gemeinsame Übernachtung haben. Die Momente des ausgelassenen Glücks, wenn Eszter im Garten mit ihren Kindern spielt. Die offensichtliche Zärtlichkeit, die sowohl Eszter wie auch István trotz allem noch für ihre jeweiligen Ehepartner fühlen: Menschen, die sie noch liebkosen wollen, auch wenn sie sie vorher beim Streiten angeschrieen haben. Das Leben ist eben schwierig. Kein Wunder, dass Großes immer wieder auf morgen verschoben werden muss, wenn es schon so schwer ist, heute mit diesem komplexen Gefühlshaushalt umzugehen.
Mehr Licht, mehr Ordnung, höhere Temperaturen, mehr Farben (MAJD HOLNAP ist in Farbe, aber so grau-braun und entsättigt, dass er fast monochrom wirkt) oder geregelte Beziehungsverhältnisse gibt es am Ende nicht. Das dürfte auch die ungarische zeitgenössische Filmkritik damals aufgebracht haben, die sich über die Unordnung in den gezeigten Zimmern echauffierte und einen Hausputz forderte.
Hier ist noch die Gelegenheit, um die absolut fantastische Meszléry Judit, die Darstellerin Eszters, zu loben: vielleicht die tollste Schauspielerin, die ich beim ganzen Festival erleben durfte und das waren sehr viele! Rau und zärtlich, abweisend und attraktiv, mit einer pragmatisch-alltäglichen Gelassenheit und einer sinnlich-erotischen Ausstrahlung. Eine Frau mit der man sich als Mann vorstellen kann, diese fürchterliche ungarische Landtristesse zu ohne Schäden überleben – zumindest bis morgen.
Vorführstörungen: Zu so später Zeit gelingen dem Vorführer die Rollenwechsel nicht mehr wirklich nahtlos – aber angesichts dessen, was sonst noch so passiert ist, wiegt das nicht sehr schwer. Und außerdem quatscht jemand die ganze Zeit. Offenbar mit sich selbst. Nach einer gewissen Zeit merke ich, dass es Ljudmila Stanukinas ist, die immer wieder auf Russisch vor sich hin brabbelt und verbal auf den Film reagiert. Zunächst scheint es, dass sie sich an der sehr expliziten Darstellung von Nacktheit empört (die allerdings absolut nicht exploitativ oder lüstern-fetischisierend daherkommt). Aber auch wenn die Charaktere angezogen sind brabbelt sie immer wieder vor sich hin. Das fällt stark auf, weil MAJD HOLNAP ein extrem leiser Film ist: keine extradiegetische Musik, ländliche Stille ohne Stadtgeräusche, oft absolute Ruhe wenn die Figuren gerade nicht reden. Nun... es stellte sich in den nächsten Tagen heraus, dass der Regisseurin von TRAMVAJ IDET PO GORODU selbst nach dem vierten Filmblock nicht die Energie fehlte, um noch weiter zu brabbeln.


Freitag, 28. April

ab 10.30 Uhr, Presse-Sichtungsraum im Festival-Zentrum (Wiesbadener Casino-Gesellschaft)

ROSSIJA KAK SON („Russland als Traum“)
Regie: Andrej Silvestrov, Daniil Zinčenko
Russland 2016
72 Minuten, DVD
Dokumentarisches und Essayistisches zur und in der sibirischen Stadt Kansk.
ROSSIJA KAK SON ist ein Gemeinschaftsprojekt, das zwanzig Videokünstler während eines Videofilmfestivals in der Stadt auf die Beine gestellt haben. De facto gibt es also zwanzig verschiedene Regisseure, und Andrej Silvestrov sowie Daniil Zinčenko sind eher als Koordinatoren denn als alleinige Urheber zu sehen.
Diese Produktionsumstände sind dem Film in positiver wie auch in negativer Weise zu sehen. Unzählige Video-Vignetten sind miteinander montiert und da findet sich Witziges neben Prätentiösem, Poetisches neben Pompösem. Das einzige, was durch den Film wie ein roter Faden läuft, sind „Interviews“ mit Menschen, die erzählen, wie sie kürzlich gewaltsam gestorben sind (nach der dritten Geschichte ist dieses Konzept allerdings nicht mehr besonders originell, sondern nur noch nervig) – und eine junge Frau, die singend durch einen Wald läuft (das bleibt bis zum Schluss ein poetischer Lichtblick). Ansonsten viele kleine Filme. Ein amerikanischer Tourist „lernt“ Russisch und schafft es nicht, das nachzusprechen, was ihm die Stimme auf dem Tape vorsagt (nach einer Minute nicht mehr witzig). Ein Mann am Rand eines Flusses lässt aus der Jogginghose, die er trägt und oben weit auseinander zieht, Raketen in den Himmel schießen (kurzweilig gehalten und irgendwie witzig).
Fazit: einen solchen Film braucht im Grunde kein Mensch, und zu lang ist er auch. Aber in den Gefilden des experimentellen Video-Episodenfilms gibt es bestimmt schlimmeres.
Vorführstörung: eigentlich wollte ich einen der Wettbewerbsfilme schauen, die ich durch die ganzen Retrospektiven im Kino verpasste. Kein besonders extravaganter Plan, denn der Sichtungsraum hat eigentlich immer sämtliche Filme auf Lager, die beim Festival laufen (mit Ausnahme vielleicht einiger Retrospektivfilme). REKVIJEM ZA GOSPOĐU J., der neue Film von Bojan Vuletić, war allerdings nicht da, weshalb ich zwei Retrospektivfilme am Sonntag aus meinem Sichtungsplan streichen musste, um ihn zu sehen. Adrian Sitarus neuer Film FIXEUR war verfügbar, allerdings hatte die DVD einen Defekt und konnte nicht abgespielt werden. Mészáros Mártas ELTÁVOZOTT NAP („Das Mädchen“) war da, doch nach drei Minuten stellte sich heraus, dass die DVD keine Untertitel hat. Von Evgenij Jufit war gar nichts da. Es war schon eine halbe Stunde vergangen, deshalb nahm ich den kurzen ROSSIJA KAK SON. Als sich herausstellte, dass die DVD ein anamorphisch verzerrtes Bild hat, biss ich die Zähne zusammen und schaute trotzdem...

ab ca. 12.00 Uhr, „Bei Gabriel“ in der Rheinstraße
Mittagspause
Bei meinem ersten goEast-Festival 2012 entdeckte ich dieses wunderbare libanesische Lokal und seitdem ist es absolut undenkbar, dass ich nach Wiesbaden fahre, ohne wenigstens einmal hier zu essen. Ich gönne mir einen „Großen libanesischen Teller“ und bekomme, abgesehen von einigen der Filme, die wunderbarste Delikatesse meines diesjährigen Besuchs. Hummus, Falafel, scharfer Couscous-Salat, ein Tomaten-Petersilie-Salat, eingelegte Rote Bete und Auberginen – jede Zutat in der bestmöglichen Zubereitungsqualität. Ein kulinarisches Gedicht.
Wer Wiesbaden besucht, sollte wenigstens einmal hier Mittag essen gehen!


ab 14.00 Uhr, Caligari FilmBühne

ČESKE HRADY A ZÁMKY („Tschechische Burgen und Schlösser“)
Regie: Karel Hašler
Österreich-Ungarn 1914
11 Minuten, DCP
Ein Herr hofiert auf dem tschechischen Land eine Dame und muss dann aus unbekannten Gründen schnellstens nach Prag: da werden Autos entführt, Fahrräder geklaut und schließlich gar Polizisten abgehängt, um rechtzeitig zum Termin zu kommen...
Karel Hašler war so etwas wie ein Universalkünstler: Schauspieler, Theater- und Filmregisseur sowie -autor, Schriftsteller, Dichter, Komponist, Songschreiber, Sänger und Kabarettist – und gemäß dem, was zu sehen ist, war Hašler auch Stuntman. Bei ČESKE HRADY A ZÁMKY führte er nicht nur Regie, sondern schrieb auch das Drehbuch und spielte selbst die Hauptrolle. Der Film selbst war kein Kinofilm, sondern ein Einführungsfilm zu einem Theaterstück mit dem Titel „Pán bez kvartýru“ (Der Herr ohne Wohnung): Teil einer multimedialen Aufführung also. Entsprechend endet der Film ohne „Ende“-Titel, als sich Hašler durch die Dachluke eines Gebäudes nach unten seilt – im Theater sollte er sich wahrscheinlich auch von oben auf die Bühne herunterseilen.
ČESKE HRADY A ZÁMKY kann es in Sachen Witz und Tempo durchaus mit den zeitgenössischen US-amerikanischen Komödien Mack Sennetts mithalten: nachdem Hašler erst einmal losläuft, um in Prag einen ominösen Termin rechtzeitig zu erreichen, gibt es kein Halten mehr. Nach wilden Autoverfolgungsjagden folgen akrobatische Balanceakte auf den Dächern hoher Prager Gebäude – und entweder beherrschte Hašler tatsächlich sein Handwerk so gut, dass er Attrappen vertuschen konnte, oder aber er und seine Co-Darsteller turnten an manchen Stellen tatsächlich 15 Meter über dem Boden. Slapstick-Action made in Bohemia – genau wegen solcherlei Raritäten fahre ich zum goEast. Und wegen des folgenden Hauptfilms...

STARCI NA CHMELU („Hopfenpflücker“)
Regie: Ladislav Rychman
ČSSR 1964
90 Minuten, DCP
Eine Schulklasse hilft im Sommer bei der Hopfenernte. Dabei kommen sich die zwei radikalen Individualisten Filip und Hanka näher: er hat sich aus dem Gemeinschaftsschlafraum davon gemacht und sich mit „geliehenem“ Mobiliar auf dem Dachboden ein gemütliches Einzelzimmer eingerichtet, um in Ruhe lesen zu können (Marx, Masaryk und Seneca) – sie weigert sich, Abends in Arbeitsklamotten herumzulaufen und bevorzugt elegante Garderobe. Der Rivale Hans wirbt ebenfalls um Hanka und intrigiert gegen Filip...
© goEast Filmfestival
Die Kamera schwebt am Rande eines Hopfenstrauch-Hains entlang (oder war das Hopfen? – der Titel des Films lässt das zumindest vermuten). Am Horizont sieht man eine Erhebung, die im leichten Gegenlicht von drei dunkel gekleideten Männern bestiegen wird. Sie sind bewaffnet – nein... wir sind ja nicht in einem Western (oder doch?)... sie tragen Gitarren und fangen an zu spielen und zu singen. Stimmen den Zuschauer in den Film ein und tragen zugleich das Lied vor, das STARCI NA CHMELU immer wieder begleiten wird, nämlich „Téma milenci v texaskách“ (Das Thema der Jeans-tragenden Liebenden). Die Gitarren-Linie wäre, wenn man es sich richtig überlegt, in einem Western auch gar nicht so verkehrt. Dezent ziehen sich die drei Musiker in Schwarz nach knapp einer Minute zurück – werden aber mehrmals wieder zurückkehren, um bei dem gleichen Lied, mit anderem Text, die Handlung wie ein griechischer Chor zu kommentieren. Zuschauer, denen nach diesem Anfang noch nicht alle sensorischen Rezeptoren geöffnet wurden, sind entweder tot oder lebendig-tote Zyniker. Wow! Wenn STARCI NA CHMELU so bleibt, wird das ein Knaller. Tatsächlich wurde er jedoch nur noch besser!
Aus einer total banalen Teenager-Schmonzette im Musical-Format zaubert Ladislav Rychman, der zumindest in seinem englischen Wikipedia-Eintrag als Pionier des tschechischen Musikvideos genannt wird, ein wahres Wunderwerk. Alles ist nur noch Tanz, Musik, Bewegung, Gesang, Farbe, zu purer Essenz konzentrierte Emotion. Das ist dermaßen dicht, dass STARCI NA CHMELU zwischendurch dem puren Experimentalfilm näher scheint als dem narrativen Film. Vielleicht kommt der Film einfach dem Wesen des Musicals (heißt: mit der Filmung von Musik, Tanz und Gesang zu „erzählen“) einfach so nahe wie nur die besten und kühnsten Vertreter seines Genres.
Für sich genommen mögen viele Bilder aus STARCI NA CHMELU etwas formalistisch und abstrakt erscheinen und manchmal könnte man denken, dass die inszenatorische Virtuosität (über die man mehrere Artikel schreiben könnte) zum Selbstzweck wird – doch das ist nicht der Fall. Denn die banale Teenager-Schmonzette wird mit zunehmender Laufzeit immer intensiver und existentieller. Da lieben sich zwei junge Menschen und treffen auf einen doppelten Widerstand: die Rivalität eines anderen Jungen – und den bürokratischen und puritanischen Starrsinn der Erwachsenen, die die Jugendlichen nur drillen wollen, ihnen aber kein eigenständiges Leben zugestehen möchten, oder auch Liebe (und von Sexualität gar zu schweigen). Der Film lässt keinen Zweifel daran, dass er auf der Seite seiner beiden Protagonisten steht. Es gibt eine lange Traumsequenz (für einen Mainstreamfilm, der STARCI NA CHMELU trotz allem eben auch war, sogar außergewöhnlich lang): der Protagonist träumt zu dem romantischen Lied „Den je krásný“ (Der Tag ist schön), dass seine Liebe zu Hanka bald zum Vorbild für die gesamte Gesellschaft wird und sogar die Hopfenernte danach ausgerichtet wird. Später hat sich das ganze ausgeträumt: der Film endet mit der Verbannung der beiden aus der Gesellschaft. Und das ist zweifelsohne eines der großartigsten „happy unhappy ending“, den man sich denken kann: ihre Verbannung ist ihre Befreiung. „Habe keinen Mitleid mit ihnen!“, sagt eine Lehrerin zu dem Rivalen Hans, als dieser dem wegfahrenden Bus der Liebenden hinterher blickt. „Ich bemitleide sie nicht. Ich beneide sie“, sagt er voller Sehnsucht in den Augen und in der Stimme.
Bevor hier noch 20.000 Zeichen mehr schreibe (zum Beispiel über die absolut begnadete Nutzung des Cinemascope-Formats) schlage ich dem geneigten Leser vor, selbst einen Blick auf einige der Musiknummern des Films zu werfen.
Hier ein Teil des oben besprochenen Filmanfangs. Man beachte, wie punktgenau in die Bewegung der Gitarristen geschnitten wird.
Hier die Vorbereitung zum Schulball. Rychman frönt hier in wunderbaren „dutch angles“. Die teilweise silhouettierten Bilder, und auch das Ende des Songs mit dem Aufsagen des Alphabets geben dem ganzen eine fast abstrakte Note.
Hier ein kurzer Ausschnitt aus der langen „Den je krásný“-Sequenz. Ich bin mir jetzt nicht mehr sicher, ob gleich zwei Träume nacheinander folgen oder es ein Traum-im-Traum gibt.
Hier wieder „Téma milenci v texaskách“, diesmal ganz kurz zu einer Prügelei in „dutch angles“.
Hier die Nummer „Bosa Nova“: der Höhepunkt des Films in Sachen expressiver Licht- und Farbgebung.
Und hier noch die Schluss-Version von „Téma milenci v texaskách“.
Vorführstörungen: Die Vorführung ist auf technischer Ebene makellos. Einige Zuschauer liefern sich allerdings immer wieder ironische Lachwettbewerbe, bei denen es darum geht, wer jetzt am lautesten die stilisierten Musical-Momente verlacht. Gefühlsmäßig handelte es sich auf jeden Fall um zynisch-ironische Verlachung, und nicht um befreites Lachen. Traurig...
Die ganzen dämlichen Pannen bei den Projektionen im Murnau und teilweise auch das Verhalten mancher Zuschauer im Caligari ließen mich manchmal daran zweifeln, ob ich 2018 wirklich wieder zum goEast-Festival kommen möchte. STARCI NA CHMELU beseitigt diese Zweifel wieder. Es sind genau solche Filme, für die ich Jahr für Jahr nach Wiesbaden fahre. Es sind solche Filme, für die man diese Kunstform liebt. Es sind diese Filme, für die man das Leben liebt.


ab 17.30 Uhr, Murnau-Filmtheater

BEDNIEREBA / FELICITA: EIN VERGESSENER GEORGISCHER CUT VON GEORGE ROMEROS „DAWN OF THE DEAD“
Regie: Salomé Alexi / N.N.
Georgien 2009 / Deutschland 2017
ca. 5-10 Minuten, irgendeine ranzige DVD aus der digitalen Zombie-Hölle
Zu Beginn ist die ganze Welt gestaucht: ein Film im Format von 1.85:1 oder 1.78:1 wird anamorphisch auf 1.33:1 zusammen gestreckt, so dass alles länglich gequetscht ist. Hier ist auch die Apokalypse ausgebrochen, denn alle Farben sind völlig durcheinander. Die Menschen haben allesamt blaue Gesichter wie die Zombies in George Romeros DAWN OF THE DEAD.
Nach 5 bis 10 Minuten wurde dieses klägliche Spektakel schließlich abgebrochen. Es folgte die Ankündigung, dass eine alternative DVD irgendwo im Stadtzentrum geholt wird. Deshalb läuft erst einmal der Hauptfilm des Filmblocks.
Sprachlos...
Übrigens war die Regisseurin Salomé Alexi bei dieser Vermurksung einer versuchten Filmvorführung anwesend...

FOR THOSE WHO CAN TELL NO TALES
Regie: Jasmila Žbanić
Bosnien und Herzegowina 2013
75 Minuten, DCP
Die australische Schauspielerin Kym Vercoe (gespielt von Kym Vercoe selbst) reist während eines Sommers nach Višegrad, Bosnien-Herzegowina, auf den Spuren des Schriftstellers Ivo Andrić‘ und seiner „Brücke über die Drina“. Im Hotel beschleicht sie ein merkwürdiges Gefühl. Zurück in Australien findet sie heraus, dass ihre Unterkunft während der jugoslawischen Zerfallskriege als Massenvergewaltigungslager diente. Im Winter kehrt sie zurück, um mehr zu erfahren...
© goEast Filmfestival
FOR THOSE WHO CAN TELL NO TALES ist eine wahre Geschichte aus dem Leben der australischen Schauspielerin Kym Vercoe. Bei einem Besuch in Bosnien übernachtete sie in einem Hotel, in dem nichts darauf hinwies, dass vor ein paar Jahren dort über Hundert Frauen vergewaltigt und ermordet worden waren. Angeblich wurde das Hotel noch nicht einmal richtig renoviert. In enger Zusammenarbeit mit der bosnischen Regisseurin Jasmila Žbanić entwickelte die Australierin daraus den Film (ihr künstlerischer Input als Initiatorin des Projekts, Autorin und Hauptdarstellerin war also wahrscheinlich nicht weniger bedeutend als Žbanić‘ Beitrag als Regisseurin).
In Deutschland ist man daran gewöhnt, dass jeglicher historischer Stoff in eine period-Kostüm-Schmonzette umgewandelt wird: die DDR gibt es dann in Grau-Braun, und die Nazi-Ära mit vielen bunten Hakenkreuzfahnen und schnittigen SS-Uniformen (und wehe da stimmt ein Knopf nicht! Dann melden sich die Leute zu Wort, von denen man annehmen kann, dass sie die Gestalten sind, die an Samstagen auf Provinzstadt-Flohmärkten bei den entsprechenden Ständen Landser-Memorabilia und -Literatur kaufen). Am Schluss solcher Historien-Schmonzetten haben alle was gelernt – meistens, dass die Deutschen im Zweiten Weltkrieg ganz schön schwer gelitten haben. Wer, wie Petzold mit PHOENIX, nicht darauf einstimmt, dem wird es richtig schwer gemacht. Und wer kein Gekröse zeigt, gilt als Feigling, der sich nicht traut, „Tabus“ zu „brechen“ (in diese Richtung gab es im Vorfeld zur Veröffentlichung von Fatih Akins THE CUT teils sehr merkwürdige Wortmeldungen).
In FOR THOSE WHO CAN TELL NO TALES gibt es absolut konsequent kein einziges Bild von den thematisierten Gewaltverbrechen zu sehen. Das hat nichts damit zu tun, dass Vercoe und Žbanić keine „Tabus brechen“ wollen. Das hat vielleicht ein bisschen mit Pietät zu tun. Das ist aber im Grunde auch eine sehr konsequente Art, die Abwesenheit von Erinnerung an Massenverbrechen zu filmen. Indem wir mit Vercoe zusammen nach und nach entdecken, was vor einigen Jahren in dem kleinen beschaulichen Städtchen mit der Brücke über die Drina geschehen ist, passiert etwas interessantes: sukzessive fängt der Zuschauer (wie Vercoe) an, sein eigenes Wissen mit den völlig „banalen“ und „trivialen“ Bildern der Stadt abzugleichen. Eine harmlose, idyllische Brücke, das schöne Kopfsteinpflaster auf dieser Brücke, ein Hotelkorridor, ein Hotelbett: das alles verwandelt sich nach und nach im Kopf des Zuschauers in „aufgeladene“ Erinnerungsorte.
Ohne mich (bisher!) mit Claude Lanzmanns Dokumentarfilmen auszukennen, so dürften Vercoe und Žbanić einige von dessen Ansätzen in die Form eines fiktional-narrativen Spielfilms übertragen haben: kein „Archivmaterial“ (hier wären das wohl: Rückblenden mit simulierter Gewalt), sondern nur heutige Befragungen von (hier: gespielten) Zeugen an den Orten des Verbrechens. Wie unsicher und tastend Vercoe die Orte des Verbrechens erkundet, so ist auch sie selbst ihrer gesamten Handlungsweise unsicher. Hat sie zum Beispiel das Recht, den angelsächsischen Touristenführer Tim Clancy, der seit Jahren in Bosnien lebt und arbeitet, suggestiv zu fragen, warum er die Verbrechen in seinen Reiseführern nicht erwähnt? Und was kann sie eigentlich, als einfache australische Touristin, die sich noch nicht mal richtig mit dem Land auskennt, da wirklich ausrichten? Soll sie sich „einmischen“, wenn selbst ihr Umfeld in Australien (Mutter, Partner, Freunde) ihr ständig sagt, dass sie das jetzt mal sein lassen soll? Antworten gibt es keine, sondern hauptsächlich nur Fragen. Vercoe verabschiedet sich schließlich mit einer kleinen persönlichen, symbolischen Gedenkggeste, die in nicht einmal einer Minute von der Hotelputzfrau weggeräumt werden dürfte, aber im Kopf des Zuschauers noch lange nachhallt.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Ansatz im Bereich des Spielfilms (und FOR THOSE WHO CAN TELL NO TALES ist von A bis Z wie ein Spielfilm gefilmt) bislang völlig ungeprobt geblieben ist. Falls nein, dann Chapeau, Kym Vercoe und Jasmila Žbanić. Falls ja – dann auch trotzdem Chapeau, Kym Vercoe und Jasmila Žbanić!

BEDNIEREBA / FELICITA
Regie: Salomé Alexi
Georgien 2009
30 Minuten, irgendeine CD oder DVD mit mieser Bildqualität
In einem georgischen Bergdorf stirbt ein Mann bei einem Autounfall. Die Ehefrau befindet sich in Italien, um ihre Familie finanziell zu versorgen, kann leider nicht spontan in die Heimat fliegen und schaltet sich per Telefon der Trauerfeier zu...
© goEast Filmfestival
Über Salomé Alexi schrieb ich schon 2015, als ich ihre wunderbare Schicksalsmaschine-Horrorfilm-Komödie KREDITIS LIMITI in meinem goEast-Festivalbericht besprach. Jetzt fand ich heraus, dass sie die Tochter von Lana und die Enkelin von Nutsa Gogoberidze ist: also die „dritte Gogoberidze“ einer ganzen Filmemacherinnen-Dynastie (Alexi heißt sie, weil sie den Nachnamen ihres Vaters, des 1978 verstorbenen Ehemanns Lanas, trägt).
BEDNIEREBA / FELICITA lässt keinen Zweifel daran, dass hier die Regisseurin von KREDITIS LIMITI am Werk ist: lange, fixe, minutiös kadrierte Tableaus mit einem extrem guten Blick für Raumkompositionen, ein ätzender, schwarzer und trotzdem humanistischer Humor, ein großes Gespür für die Absurditäten des Lebens, eine aktive, sich kümmernde weibliche Hauptfigur (hier allerdings nur hörbar, aber unsichtbar). Ob der Film vielleicht ein Tick zu lang ist, kann ich schwer sagen: die ständigen Pannen bei den Vorführungen steigern nicht gerade die Konzentration. Auf jeden Fall ist er sehr sehenswert.
Bei dem Q & A verriet Alexi, dass die starren Tableaus aus finanziellen Überlegungen heraus entstanden: das Geld reichte nur für ein Stativ, nicht für Dollies. Den Film hat Alexi komplett selbst aus eigener Kasse und mit Anleihen bei Freunden und Verwandten produziert, und gedreht wurde mit Laiendarstellern. Ihrer Meinung nach ein fantastischer Dreh: die Dorfbewohner hatten kein Problem mit langen Drehpausen, weil sie im Zweifelsfall 30 Meter weiter kurz nach Hause gehen konnten, oder aber einfach geduldig sitzen blieben, plauderten, entspannt eine rauchten.
Wie FOR THOSE WHO CAN TELL NO TALES ist auch BEDNIEREBA / FELICITA ein Film über Abwesenheit: hier nicht von Erinnerungszeichen, sondern von erwachsenen Frauen in wirtschaftlich benachteiligten Dörfern. Ein Bild von Arbeitsmigration vom anderen Ende her betrachtet – und was Alexi zu sagen hat, ist nicht schmeichelhaft: Rentnerinnen und Rentner, arbeitslose Frauen und Männer, die, wenn die Telefonverbindung gerade wieder gestört ist, hemmungslos über die „Italienerin“ lästern, die „ihr“ Dorf im Stich lässt und es sich in Italien gut gehen lässt – obwohl gerade sie mit ihrem Einkommen das halbe Dorf unterhält. Die Kinder des Dorfes (aber auch der sympathische Bruder des Verstorbenen) lassen trotzdem Hoffnung, dass hier nicht alles in Niederträchtigkeit versinkt.
Vorführstörungen: Nach dem ersten vermurksten Versuch, den Film zu projizieren, klappte es beim zweiten Mal etwas besser. Richtiges Bildformat, annehmbare Farben. Trotzdem war es eine fürchterliche digitale Kopie (gefühlt eine kaum 100MB große Datei auf einer CD): extrem krisselig und voller weißer Pixelartefakte auf den etwas dunkleren Farbflächen. Da die Figuren alle in Trauer Schwarz tragen, war das sehr auffällig. Die Frage, ob der Look des Films tatsächlich „gritty“ sein sollte (oder das doch die Projektion war) verneinte Alexi beim Q & A vehement: das Bild, aufgenommen mit einer hochqualitativen digitalen Kamera, sollte eigentlich absolut sauber, scharf und heller sein. Auch wenn sie es höflich ausdrückte (ich glaube, bei Agnieszka Holland wären Köpfe gerollt – dazu aber später mehr): Alexi war über die Projektion sehr verärgert.


ab 20.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

CIPKA („Pussy“)
Regie: Renata Gąsiorowska
Polen 2016
8 Minuten, DCP
Eine junge Frau möchte es sich in ihrer Wohnung gemütlich machen und sich selbst befriedigen. Nach allerlei Störungen verwandelt sich ihr Geschlecht dann auch noch in einen kleinen Käfer, der ihr wegrennt und den sie erst wieder fangen muss, bevor sie endlich zur Sache kommen kann.
Ein kurzer Animationsfilm, der wahrscheinlich am gleichen Tag in Jena auf dem cellu l‘art-Kurzfilmfestival lief und dort den Preis des besten Films im Bereich Experimental, Animation, Dokumentation gewann. Ein kurzweiliger, charmanter Film – eher verspielt-witzig als wirklich provokativ, auch wenn ich das für das Polen der PiS-Ära nicht mit Sicherheit sagen kann.

HRA O JABLKO („Spiel um den Apfel“)
Regie: Věra Chytilová
ČSSR 1977
92 Minuten, 35mm
Dr. John (gespielt von Jiří Menzel, wie Chytilová selbst eine zentrale Figur der Tschechoslowakischen Neuen Welle) ist Arzt auf einer Entbindungsstation und ein kleiner Don Juan. Er hat mehrere Liebhaberinnen und bandelt dann auch rasch mit der neuen Schwester Anna an. Bald wird es für ihn schwierig, seine Arbeit und seine ganzen Liebschaften zu koordinieren.
© goEast Filmfestival
Im Vorspann treibt sich die Kamera durch einen Garten – vielleicht der Garten Edens? Denn da ist auch ein Apfelbaum. Wild und nervös fährt sie auf die Äpfel zu, zoomt rein. Äpfel, Äpfel, Äpfel. Dann filmt sie auch die Äpfel, die heruntergefallen sind und im Gras liegen. Einige davon sind noch schön, andere sind schon lädiert und einige Exemplare sind bereits verfault. Ohne zur Ruhe zu kommen (HRA O JABLKO ist über weite Strecken mit einer extrem mobilen Handkamera gefilmt, die kaum jemals still steht) geht es weiter in die Entbindungsstation und da geht alles drunter und drüber: schreiende Hochschwangere, gestresste Ärzte, eilig umherlaufende Schwestern, Schweiß, Blut, kreischende Neugeborene. Keine Ruhe für die etwa 10 nächsten Minuten. Die Kamera tobt durch das Krankenhaus. Die fragmentierte, elliptische Montage ist nicht an logische Zusammenhänge interessiert, sondern an emotionaler Wucht. Blutige dokumentarische Bilder von Geburten werden mit Essensszenen aus der Kantine und weißen Mäusen (aus dem Versuchslabor im Krankenhaus?) zusammengeschnitten. Kurz: Chytilová kennt keine Gnade und macht keine Gefangene. Eine unglaubliche tour-de-force eines Filmanfangs.
So etwas wie Ruhe kehrt zum ersten Mal ein, als wir das Krankenhaus verlassen. Am verhältnismäßig ruhigsten ist es dann, wenn nur zwei Figuren in einem Raum sind – zumindest, solange keiner der beiden am Rande des Nervenzusammenbruchs oder des hysterischen Anfalls ist und das sind die Figuren HRA O JABLKO meist dann nicht, wenn sie gerade scharf auf Sex sind. Geilheit und hysterische Nervenanspannung: die zwei Grundzustände, in der sich die Charaktere – ob nüchtern oder schon angetrunken – im Film alternativ befinden. Nach und nach schält sich heraus, dass Dr. John die Hauptfigur sein soll, der eine Affäre mit der Ehefrau eines Arztkollegen hat und gleichzeitig die neue Schwester Anna anflirtet. Aber das stellt sich nur nach und nach heraus, weil HRA O JABLKO praktisch vollkommen frei von jeglicher Exposition ist und weil Chytilová sehr „demokratisch“ inszeniert: in diesem extrem dichten Film passiert unglaublich vieles – aber eine Wertung, was „wichtig“ ist und was nicht, gibt es nicht. Wenn Dr. John mit einer seiner Liebhaberinnen in seine Stammkneipe geht, dann lauschen wir nicht ihrem Gespräch: die Kamera wendet sich der Kabarettnummer zu, mit einer Barpianistin und einer leicht bekleideten Sängerin-Tänzerin. Im Krankenhaus spitzt sich diese Methode zu: flirtende Andeutungen und hoffnungsvolle Blicke, der Zustand der Hochschwangeren im Nebenraum sowie Personalfragen und das Abarbeiten von Monatsberichten prasseln fast gleichzeitig auf den Zuschauer ein.
HRA O JABLKO ist im Grunde eine einfache Screwball-Komödie, bloß ist das Tempo hier noch mal drei mal höher als bei den Hawks-Klassikern. Es ist ein absolut überwältigender Film, aber nicht im Sinne der tyrannischen Perfektion eines Kubricks, sondern aufgrund seiner „rohen“ und „ungeschliffenen“ Energie. Großartig!
HRA O JABLKO wurde, gemäß der Dame, die den Film vor der Projektion präsentierte, kurz nach Erscheinen verboten. Doch Chytilová wußte, wie sie sich für den Film einsetzen konnte. Ein hochrangiges Mitglied der tschechoslowakischen Filmkontrollkommission (der zufällig auch ein hochrangiger Armeeoffizier war) hatte sich kurz vor der Genehmigung des Filmdrehs für Chytilová eingesetzt und seine Intervention war maßgeblich dafür, dass sie den Film in Angriff nehmen konnte. Als der fertige Film kontrolliert wurde, setzte er sich für einen Kompromiss ein, um ein Verbot zu verhindern: Chytilová kürzte die blutigen dokumentarischen Bilder von Geburten und Kaiserschnittoperationen um einige Sekunden (Ausschnitte sind immer noch im fertigen Film erhalten). Als HRA O JABLKO kurz nach dem Erscheinen dann trotzdem noch verboten wurde, fuhr sie direkt zum Aufenthaltsort ihres Helfers hin (zu diesem Zeitpunkt der Anekdote nach eine ländliche Alkoholentzugsklinik) und appellierte an ihn: vom Film sprach sie überhaupt nicht, sondern davon, dass das Verbot ein Affront gegen seine Autorität sei. Er sei für die Veröffentlichung des Films verantwortlich, und wenn jetzt HRA O JABLKO verboten wird, dann würde er ja total lächerlich da stehen. Ein überzeugendes Argument: der hochrangige Beamte (ob trocken oder betrunken) fuhr sogleich nach Prag und machte da solange an passender Stelle Radau, bis der Film wieder in die Kinos genommen wurde. Egal, ob diese Anekdote nun stimmt, sie enthält sicher auch ein Körnchen Wahrheit. Erstens waren solcherlei Fälle von Kompetenz- und Verantwortungsgerangel für realsozialistische Staaten nicht untypisch. Zweitens passt die Geschichte zu Chytilová: wenn sie geschlagen wurde, verkroch sie sich nicht weinend in die Ecke, sondern schlug mit den Waffen ihres Gegners zurück.
Vorführstörungen: die Kadrierung des Bildes wurde bei zwei Filmrollen vermurkst und es war unten ein relativ breiter schwarzer Streifen zu sehen. Da die Kopie keine Untertitel hatte, wurden diese live mit einem Beamer projiziert, doch die Person, die sich kümmern sollte, war nicht da. Eine junge Dame mit guten Tschechisch-Kenntnissen, die eigentlich nur als einfache Zuschauerin den Film sehen wollte, opferte sich für diese Aufgabe. Sie war offensichtlich und verständlicherweise überfordert, weil sie HRA O JABLKO wahrscheinlich zum ersten Mal sah und es sich um einen Film handelt, in dem manchmal drei und mehr Personen gleichzeitig und extrem schnell sprechen. Des weiteren war die alte russische Filmregisseurin wieder in einer mitteilungsseligen Stimmung und blabberte die ganze Zeit. Flankiert wurde sie von einem jungen Mann, der in ihrer Nähe saß und ebenfalls die ganze Zeit vor sich her quasselte oder demonstrativ laut lachte (wenn er nicht gerade – ebenso demonstrativ laut – hustete und schniefte). Beide Störer machten sich Konkurrenz und stachelten sich gegenseitig regelrecht an.


ab 22.15 Uhr, Murnau-Filmtheater

WIR LASSEN UNS SCHEIDEN
Regie: Ingrid Reschke
DDR 1968
90 Minuten, 35mm
Die Ehepartner Koch haben gerade eine Ehekrise. Er zieht aus und fängt an, mit der Musiklehrerin des Sohnes anzubandeln. Sie hingegen lernt einen Architekten kennen, der am Bau des Fernsehturms am Alexanderplatz mitwirkt. Zwischendurch streiten sich die beiden Ehepartner darüber, wer jetzt mit der Erziehung des Sohns dran ist. Und schließlich kommen sie sich wieder näher.
Vielleicht war es unfair, diese Ehekomödie nach Chytilovás HRA O JABLKO zu zeigen, der ziemlich viele Filme im direkten Vergleich altbacken und bieder aussehen lässt, aber WIR LASSEN UNS SCHEIDEN war dann doch ein kleiner Tiefpunkt des Festivals. Filmhistorisch ist er nicht uninteressant: es war einer der Filme, die nach dem „Kahlschlag-Plenum“ produziert wurden, als es darum ging, in kurzer Zeit wieder die ostdeutsche Filmindustrie anzukurbeln und die Kinos mit lokalen Produktionen zu versorgen – wobei narrative und ästhetische Experimente (vorerst!) wieder out waren. WIR LASSEN UNS SCHEIDEN war auch ein Film, der eine Art „konservative“ Wende in der Familienpolitik der DDR begleiten sollte: das Scheidungsrecht wurde belassen, doch die Scheidungsrate sollte trotzdem nach unten gedrückt werden. Das macht den Film filmhistorisch irgendwie auch wieder interessant: denn wenn die Frau nicht arbeiten würde, könnte man man ihn glatt für eine bundesdeutsche Ehekomödie halten. Am Ende ist die Kernfamilie wieder glücklich und einträchtig vereint und die „traditionellen, bürgerlichen Familienwerte“ wurden geschützt. Dass die Ehefrau arbeitet, wird aber nicht trotzdem zu keinem Zeitpunkt zur Disposition gestellt.
Handwerklich ist WIR LASSEN UNS SCHEIDEN gut gemacht, aber eben auch recht beliebig. Das Drehbuch ist Stangenware: jegliche Wendung kann man etwa 50 Meter gegen den Wind riechen. Und der Humor war absolut nicht meins: Wenn Papa sich mit Sohnemann über einen fast zwei Meter breiten Bogen Papier beugt, auf dem detailliert die gemeinsamen Wochenendaktivitäten geplant sind, dann ist das meiner Meinung nach wirklich zu grob gestickt. Gemäß der Dame, die den Film vor der Vorführung einführte, war für die Rolle des Vaters, besetzt vom eher (man könnte fragen: passenderweise?) farblosen Dieter Wien, ursprünglich Armin Mueller-Stahl vorgesehen, der wegen Krankheit allerdings kurzfristig absagen musste. Ob er den Film gerettet hätte, wage ich trotzdem zu bezweifeln.
Vorführstörungen: Etwa in der Mitte des Films schiebt sich plötzlich ein schwarzes Rechteck unten links in das Bild. Wenn da mal nicht schöne Erinnerungen an das „Bonusprogramm“ des letzten Jahres wach werden? Jedenfalls bleibt die schwarze Störstelle auch für die nächsten paar Minuten im Bild. Entnervt gehe ich zur Kasse, um Bescheid zu geben (und hole mir bei der Gelegenheit gleich ein „Frust“-Bier). Ohne weitere Erklärung wird mir nach etwa zwei Minuten gesagt, dass das Problem gelöst sei. Des weiteren wurde WIR LASSEN UNS SCHEIDEN ohne Untertitel gezeigt. Für Zuschauer, die Deutsch nicht fließend verstehen, gibt es deshalb über Kopfhörer eine Simultanübersetzung. Darum brabbelt die alte russische Regisseurin bei diesem Film besonders laut vor sich hin, damit sie sich selbst durch die Kopfhörer hören kann.


ab 00.00 Uhr, Schlachthof Wiesbaden
goEast-Party mit DJ Malalata und DJ Janeck – und einem kurzen informellen Regisseursgespräch

Auf der traditionellen goEast-Party am Freitag-Abend im Schlachthof (etwa 200 Meter vom Murnau-Kino entfernt) möchte ich bis 01.00 Uhr etwas verweilen, bevor ich einen Freund am Bahnhof abholen werde. In einem Nebenraum wird Frei-Wodka ausgeschenkt. Es ist relativ voll. Auf einmal sehe ich einen Mann, der mir bekannt vorkommt, weil ich ihn im Festivalkatalog gesehen habe. Nach einigem Zögern spreche ich ihn an. Ob er Englisch spricht (ja). Ob er zufälligerweise ein Regisseur aus Rumänien ist (ja). Ob er Adrian Sitaru ist (ja). Ich sage ihm, wie fantastisch ich seinen Film DOMESTIC finde, den ich 2013 beim Festival sah. Wie großartig gefilmt die lange Plansequenz ist, in dem das kleine Mädchen das Huhn in der heimischen Badewanne schlachtet. Wie traurig es ist, dass ich seinen neuen Film FIXEUR wegen terminlichen Unpässlichkeiten verpasst habe und ausgerechnet dieser Film im Presseraum nicht läuft. Wir plaudern noch fünf Minuten. Er gibt mir seine Mail-Adresse und meint, dass er mir eventuell den Film über einen Link geben könne. Wir verabschieden uns. Er geht zur Bar, um sich ein neues Bier zu holen. Ich gehe hinaus in Richtung Bahnhof...


In Teil 2 meines Festivalberichts, der in Kürze hier erscheinen wird, geht es unter anderem um Mészáros Márta, um Frauenknastfilme aus dem realsozialistischen Bulgarien und um die wichtige Frage, warum Agnieszka Holland eigentlich Jean-Marie Le Pen nicht getötet hat...

Weiblich und visionär auf dem 17. goEast-Festival des mittel- und osteuropäischen Films – Teil 2

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was bisher geschah... (Teil 1 des Festivalberichts)

Samstag, 29. April

ab 13.00 Uhr, Caligari FilmBühne

NAPLÓ GYERMEKEIMNEK („Tagebuch für meine Kinder“)
Regie: Mészáros Márta
Ungarn 1984
107 Minuten, 35mm
Ende der 1940er Jahre wird die ungarische Teenagerin Juli aus dem sowjetischen Kasachstan nach Ungarn zurückgeholt. Ihre Eltern, geflohene ungarische Kommunisten, waren dort gelandet, fielen aber Stalins Terror zum Opfer. Juli wächst nun bei einer neuen Ziehtante auf, einer Freundin ihrer Eltern: eine glühende und fanatische Stalinistin, ihres Zeichens seit kurzem Gefängnisdirektorin. Julia rebelliert zunehmend gegen ihre Adoptivmutter, findet Trost bei einem Gleichaltrigen, bei Filmen und bei einigen freundlicheren Bekannten ihrer Eltern. Der Terror greift aber immer mehr um sich.
© Stekovics Gáspár Photography
Vier „Tagebücher“ drehte Mészáros Márta zwischen 1984 und 1999 („für meine Kinder“ 1984 – „für meine Lieben“ 1987 – „für meinen Vater und meine Mutter“ 1990 – „das letzte Tagebuch“ 1999): in der Tetralogie führt die Protagonistin Juli den Zuschauer durch die stalinistische Ära in Ungarn, die noch erheblich repressiver ausfiel als in anderen ostmitteleuropäischen Ländern sowie durch die Wirren der Revolution von 1956. Das „letzte Tagebuch“ wie auch Teile des ersten Tagebuchs spielen in Kasachstan in den 1930er und 1940er Jahren. Die Filme waren autobiografisch: Mészáros selbst war die Tochter ungarischer Kommunisten, die in der Sowjetunion der 1930er Jahre dem Terror zum Opfer fielen. Mehrere ihrer Filme handeln von elternlosen jungen Frauen, die in kaputten, schwierigen, repressiven Verhältnissen aufwachsen.
NAPLÓ GYERMEKEIMNEK ist im Kern also ein weibliches Coming-of-Age-Drama im stalinistischen Ungarn. Die mit ruhiger Hand erzählte Geschichte einer Teenagerin, die eigentlich die gleichen banalen Probleme wie alle Teenager auf der Welt haben könnte, wenn sie nicht in so ungewöhnlichen Umständen geboren wäre. Sie ist die einzige, die sich an ihre Eltern erinnert und auch erinnern will, während alle Personen ihrer Umgebung ein Mantel des Schweigens über die „Gesäuberten“ legen. Ihr Heranwachsen besteht darin, immer heftiger gegen ihre Ersatzmutter zu rebellieren und dabei auf einsamer Front zu stehen, weil ihr ganzes Umfeld vor der mächtigen Parteibeamtin und Gefängnisdirektorin Angst hat, und der Film gewinnt in diesem Konflikt auch zunehmend an Intensität.
Ungarn war seit der großen innenpolitischen Liberalisierung ab den frühen 1960er Jahren das realsozialistische Land, in dem man am ehesten eine solche filmische Abrechnung mit den stalinistischen Jahren erwarten konnte. Mészáros ist in ihrer Darstellung der Ära sehr minutiös und schonungslos: Julis Eltern wurden in der Sowjetunion repressiert, doch die Regisseurin lässt keinen Zweifel daran, dass der ungarische Stalinismus auch tatsächlich ungarisch war und siedelt ihn konsequenterweise auf der denkbar persönlichsten Ebene an, nämlich dem Familienkreis.
Auch wenn mich NAPLÓ GYERMEKEIMNEK nicht zu Begeisterungsstürmen animiert, dürften weitere Sichtungen lohnenswert sein. Das ist problemlos möglich, denn der Film ist auf einer britischen DVD-Edition von Second Run erhältlich.
Vorführstörungen: kaum zu glauben, aber keine! Schöne Kopie, knackig-scharf eingestellt, richtig kadriert, nahtlose Rollenwechsel. Sachen gibt‘s...


ab 16.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

A LÖRINCI FONÓBAN („In der Lörinc-Spinnerei“)
Regie: Mészáros Márta
Ungarn 1971
17 Minuten, 35mm
Einige Blicke in den Arbeits- und Freizeitalltag von Textilarbeiterinnen.
Mészáros nutzt in NAPLÓ GYERMEKEIMNEK zwischendurch immer wieder Archivmaterialien, zum Beispiel Wochenschauen. Ihr Inszenierungsstil ist eher nüchtern-realistisch als expressiv, so dass man auf die Idee kommen könnte, dass ihre Erfahrungen als Dokumentarregisseurin sich auf ihre Spielfilme auswirken. Interessanterweise ist gerade A LÖRINCI FONÓBAN, obwohl Dokumentarfilm, ein bisschen wie ein Spielfilm inszeniert. Der einleitende Kameraschwenk durch das Glas eines Buswartehäuschens in Nähe des Fabrikgeländes (der gleiche Schwenk in umgekehrte Richtung beendet den Film) lässt fast Episches erwarten. Etwa in der Mitte des Films bereitet sich eine junge Arbeiterin für einen Samstagbendball in der Stadt vor: sie zieht sich an, macht sich die Haare, schminkt sich. Dazu läuft ein fetziges Poplied, das von einem Mädchen handelt, das sich für den großen Ball vorbereitet. Das könnte ein billiger Effekt sein – aber irgendwie funktioniert es und macht diesen „alltäglichen“ dokumentarischen Moment sehr emotional.

ÖRÖKBEFOGADÁS („Adoption“)
Regie: Mészáros Márta
Ungarn 1975
89 Minuten, 35mm
Die Fabrikarbeiterin Kata, Anfang 40, ist ledig, hat aber eine Affäre mit einem verheirateten Mann und wünscht sich von ihm ein Kind. Sie lernt die 17-jährige Anna kennen, die in einem Waiseninternat zur Schule geht. Die beiden freunden sich an und Kata setzt sich dafür ein, dass Anna dem Internat entkommt und ihren Freund heiraten kann.
© Stekovics Gáspár Photography
„Female buddy movie“ wäre sicherlich der falsche Begriff für ÖRÖKBEFOGADÁS, weil mit der Bezeichnung dann doch zu viel Leichtigkeit und Lustiges transportiert wird. Doch auf jeden Fall ist Mészáros ein sehr bewegender und intensiver Film über eine außergewöhnliche Frauenfreundschaft gelungen, eine Frauenfreundschaft, die auch eine Beziehung zweier Aussenseiter ist: die eigenbrötlerische ledige Arbeiterin und die rebellische Waise.
In vielen Momenten ist ÖRÖKBEFOGADÁS ein Film von close-ups auf Gesichter und teils auf Körper, die oft aussehen, als wären sie mit einem Teleobjektiv gefilmt, ohne Kamerabewegung, aber mit kleinen Schenks und Zooms. Wo NAPLÓ GYERMEKEIMNEK manchmal etwas distanziert erscheint, wirkt ÖRÖKBEFOGADÁS umso intimer und auch emotional wesentlich intensiver. Dieser Stil mündet in die großartige Hochzeitsszene gegen Ende. Anna hat nun dank Katas Intervention ihren Freund geheiratet und sitzt mit ihm, Kata und einigen Gästen beim Bankett. Mit großer Freude sondiert die Kamera eine ganze Tischreihe von Gästen: eine regelrechte Parade der Gesichter, der ausgetauschten Blicke, des Lachens, aber auch einiger Trauerminen. Schließlich geht es ans Tanzen, und bald folgt der erste Streit (oder zumindest der erste im Film sichtbare Streit) des Paares, der dazu führt, dass der Bräutigam weggeht und die Braut einsam in einer Ecke zurückbleibt. Das ganze ist in der oben beschriebenen Manier gefilmt: Teleobjektiv, mit vielen Gesichtern und unscharfen Vorder- und Hintergründen, zu hören sind keine nachvollziehbaren Dialoge, sondern nur die Ambientegeräusche vieler verschiedener Gespräche und die penetrant fröhliche Musik der Tanzband. Ein großartiger Moment puren visuellen Erzählens und sicher der inszenatorische Höhepunkt des Films.
Eine weiterer schöner Moment: Kata und Anna gehen zusammen in ein Restaurant, um Cognac zu trinken und Spaß zu haben. Sie sind die einzigen Frauen im Lokal, und alle Männer glotzen sie regelrecht an. Ein junger Mann steht schließlich auf, tritt an den Tisch der beiden Frauen und will sich setzen, oder Anna zum Tanz einladen. Anna weist ihn lachend ab. Ein gesetzter, etwas älterer Herr weiß, dass der grüne Junge selbstverständlich keine Chance hat und die beiden Frauen eigentlich einen so unwiderstehlichen Gentleman wie ihn brauchen. Er wiederholt das Prozedere und wird dann genauso lachend abgewiesen. Nein, kein schmieriger, selbstverliebter Typ wird diesen beiden Frauen den Umtrunk verderben. Dieser beginnt zwar mit einigen Sätzen zwischen den beiden, doch der Rest wird wie die spätere Hochzeit nur noch mit den Ambientegeräuschen des Lokals und mit kaum vernehmbaren Dialoge gefilmt.
ÖRÖKBEFOGADÁS war der dritte und letzte Mészáros-Film, den ich beim Festival sah, und für mich der beste. Abgesehen von diesen zwei „großen Momenten“ fällt es mir schwer zu sagen, was genau an dem Film so faszinierend war.
Vorführstörungen: der Bildstand war über weite Strecken des Films extrem zittrig – die englischen Untertitel der Kopie waren verdächtig weit oben im Bild und irgendwie schien die Kadrierung etwas merkwürdig. Ist es also möglich, dass der Film „open matte“ projiziert wurde und so stark aufgezoomt wurde, dass das leichte Bildzittern, das der 35mm-Vorführung in geringem Maße inhärent ist, sich krass verstärkte?


ab 18.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

Polnischer Dokumentar-Kurzfilmblock „Die werktätige Frau“

DZIEWCZĘTA Z „NAWOJKI“ („Die Mädchen aus „Nawojka““)
Regie: Maria Kwiatkowska
Polen 1963
14 Minuten, 35mm
Eindrücke aus einem Wohnheim für weibliche Studenten in Krakau.
Da wir uns in Polen befinden, gibt es als Begleitmusik Jazz, ohne, dass da irgendetwas Anrüchiges suggeriert wird. Einige kurze Momente, in denen wir mehrere junge Frauen in einem Raum sehen – eine schläft, zwei lesen/lernen, eine isst, eine bügelt – gewähren einen Einblick in die beengten Wohnverhältnisse.

24 GODZINY JADWIGI L. („24 Stunden der Jadwiga L.“)
Regie: Krystyna Gryczełowska
Polen 1967
15 Minuten, 35mm
Ein Tag im Leben der Metallarbeiterin Jadwiga zwischen Nachtschicht und häuslich-familiären Pflichten.
Gänzlich ohne Kommentare sehen wir den Alltag einer Arbeiterin, die nebenbei auch noch Ehefrau und Mutter ist. Aufstehen, arbeiten, einkaufen, kochen, waschen, Kinder bespaßen, schlafen, aufstehen, arbeiten... Zwischendurch hängt der Mann vor der Glotze. Was RAMDENIME INTERVIU PIRAD SAKITKHEBZE schon implizit machte, ist hier ganz explizit: die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt in einer patriarchalischen Kultur wirkt wie eine doppelte Belastung, solange es keine andere Kultur gibt bezüglich der Haushaltspflichten.

RODZINA („Familie“)
Regie: Danuta Halladin
Polen 1971
15 Minuten, 35mm
Ein älteres Ehepaar hat über ein Dutzend „schwieriger“ Waisenkinder adoptiert und zieht diese groß.
Staatssozialistische Systeme haben also inoffiziell genau das gemacht, was auch marktwirtschaftliche Systeme machen: nämlich staatliche Kernaufgaben aufgegeben und „privatisiert“. So landen die „kaputten“ Waisenkinder, die nicht einmal mehr der Staat haben möchte, bei dem Ehepaar Hellak. Mutti Hellak und Papa Hellak (beide wohl in ihren späten 50ern) erscheinen aber auch als die wesentlich besseren Eltern als Volkspolen. Beide sind vollkommen unsentimentale, pragmatische und bodenständige Gestalten, die ihre Tätigkeit als liebevolle Ersatzeltern als tagtägliche Selbstverständlichkeit wahrnehmen, als eine Sache, die sich für christliche Humanisten gehört und für die sie weder Lob noch Dank haben möchten – das macht Halladins Portrait dieser utopischen Familie umso anrührender.

ROBOTNICE („Arbeiterinnen“)
Regie: Irena Kamieńska
Polen 1980
16 Minuten, 35mm
Vom Alltag einiger Textilarbeiterinnen, die sich bei der Mittagspause über schlechte Arbeitsbedingungen und suboptimalen Arbeitsschutz beklagen.
In diesem Film erinnert die industrielle „Moderne“ im volkssozialistischen Polen eher an das 19. Jahrhundert: wenn ein dichter Wasserdampf durch die Textilwerkstatt wabert, fühlt sich das eher nach Dickens als nach strahlender sozialistischer Moderne an. Wenn die Arbeiterinnen nicht Polnisch sprächen, sondern sagen wir mal Englisch, hätte ROBOTNICE in jedem staatssozialistischen Land als treffendes Portrait kapitalistischer Ausbeutung durchgehen können: Arbeiterinnen, die in lausiger Arbeitskleidung in drückender Hitze und Feuchtigkeit schuften müssen, und das auch am Samstag, wenn die Busse nicht mehr regelmäßig zur Fabrik fahren (zwei Stunden vor Schichtbeginn da sein und verplempern, oder eine Stunde zu spät kommen und dafür Strafe zahlen – die Arbeiterinnen dürfen „frei“ wählen). Was die Arbeiterinnen nach der Arbeit noch zuhause an Hausarbeit erledigen müssen, brauchen wir uns nicht vorzustellen: wir haben es ja in 24 GODZINY JADWIGI L. gesehen.

JESTEM MĘŻCZYNĄ („Ich bin ein Mann“)
Regie: Maria Zmarz-Koczanowicz
Polen 1985
16 Minuten, 35mm
In einem kleinen Dorf besetzt ein einziger Mann sämtliche Ämter des öffentlichen Lebens (darunter auch den Vorsitz der örtlichen Frauen-Liga) und berichtet von den wunderbaren Erfolgen, die die Dorfverwaltung (das heißt: er selbst) in allen möglichen Bereichen auf dem Weg zur nationalen Wiedergeburt Polens zu verzeichnen hat.
War das jetzt eine „echte“ Doku oder ein Mockumentary? Das ist die Frage, die ich mir bis heute stelle. Vollkommen nüchtern wird hier eine kleine persönliche Lokaldiktatur portraitiert, bei dem der Lokaldiktator höchstpersönlich durch sein Dorf führt. Völlig ungerührt, als wäre es das natürlichste auf der Welt, erzählt dieser umtriebige dörfliche Potentat stolz von seinen ganzen Erfolgen. Wie er ein deutsches Denkmal hat entfernen lassen. Wie er eine lokale Kneipe hat schließen lassen, weil es sich für echte Polen nicht ziemt, Zeit mit Ausschweifungen dort zu verplempern. Wie zuversichtlich er ist, dass die weibliche Seilziehmannschaft des Dorfes bestimmt die beste überhaupt in der Gegend ist, weil er sie ja höchstpersönlich selbst trainiert hat. Zwischendurch gibt es immer wieder Gesangseinlagen eines Frauenchors: die Sängerinnen tragen Folklore-Kleider und besingen die Größe Polens und die ehrwürdige Tradition der Piasten (eine polnische Herrscherdynastie des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, auf die sich polnische Nationalisten gerne beziehen).
1985 in einem kleinen Dorf im sozialistischen Polen: doch von Sozialismus findet sich hier keine Spur. Das ist ein tiefer Moloch voll von krudem Nationalismus, geführt von einem Fantasten, der die ganze Zeit wirres Zeug über die polnische nationale Wiedergeburt faselt. Die Frage, ob das eine echte Doku oder ein Mockumentary ist, mag vielleicht doch nicht ganz so wichtig sein. In ersterem Fall: eine deprimierende Bestandsaufnahme. In letzterem Fall eine Zuspitzung ultranationalistischer Tendenzen, die bereits viele Jahre vor der Wende deutlich waren und die das Regime selbst pflegte und hegte... Verstörend.

POCZĄTEK („Anfang“)
Regie: Dorota Kędzierzawska
Polen 1985
5 Minuten, 35mm
Kurzes Bild-Tongedicht, das teilweise in einer Fabrik spielt.
Eine schöne Ton-Film-Standbild-Montage, die ebenso schnell vorbei ist, wie sie angefangen hat.

DZIEŃ ZA DNIEM („Tag für Tag“)
Regie: Irena Kamieńska
Polen 1988
16 Minuten, 35mm
Wir folgen zwei Zwillingsschwestern bei ihrem monotonen Arbeitsalltag: Ziegel auf den Lastwagen aufladen, am Ankunftsort abladen. Ein Job, den sie schon ihr ganzes Leben lang machen.
In dem satirischen Roman „Die geheimen Pariser Hefte des Oberst Popow“ von Jean Burnat erzählt der Titelheld, der sich auf geheimer Mission in Frankreich befindet, dass Frauen in der UdSSR nicht nur arbeiten, sondern auch noch besonders geehrt werden: man gäbe ihnen schließlich die dreckigsten und mühsamsten Arbeiten. Was bei Burnat schwarzhumorig wirkt, verwandelt Kamieńska in einen kafkaesken Alptraum, ja fast in die postapokalyptische Dystopie eines sklavenähnlichen Lebens: verschneit-vermatschte Straßen, ein Lastwagen, und immer wieder diese Berge an Ziegeln, die die beiden Schwestern auf die oder von der LKW-Ladefläche hieven müssen. Am Ende fahren die Frauen durch die matschige Straße, und zwischendurch werden Straßenplakate eingeblendet, die großkotzig zukunftsoptimistische Parolen verkünden und dann... Aber dann war vorzeitig Schluss.

Vorführstörungen: DZIEŃ ZA DNIEM wird tatsächlich kommentarlos kurz vor Schluss einfach abgebrochen, und nicht einmal eine Sekunde später wird das Saallicht auf 200 % Helligkeit aufgeblendet. Möglicherweise hat der Vorführer Kamieńskas „hardcore-Realismus“ (so eine Bezeichnung im Programmheft) nicht ertragen. Die Kuratorin der „reluctant feminists“-Retrospektive äußerte jedenfalls vor dem verwunderten Publikum ihren Unmut darüber. Sie fügte hinzu, dass die Filme auch nicht in der vorher eigentlich eindeutig vereinbarten Reihenfolge abgespielt wurden und sprach dann von „Kommunikationsproblemen“. So kann man das natürlich auch nennen.


ab 20.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

DEVOČKI („Mädchen)
Regie: Valerija Gaj Germanika
Russland 2005
47 Minuten, DCP
Ein paar asoziale Gören trinken, rauchen, kreischen sich gegenseitig an, schaffen es nicht, sich ein DIY-Bauchnabel-Piercing zu stechen und gehen ihrer Umwelt und dem Zuschauer tierisch auf die Nerven.
... und damit ist meinerseits zu dem Film auch alles gesagt. Mögen bitte andere Leute Ausuferndes dazu schreiben.

KRYL‘JA („Flügel“)
Regie: Larisa Šepit‘ko
UdSSR 1966
86 Minuten (reine Filmdauer – Pause nicht eingerechnet), 35mm
Die ehemalige Kampffliegerin Nadežda Petruchina ist heute Direktorin einer Schule. Sie lebt völlig entfremdet von ihrer Umwelt, kommt mit der neuen Generation der 1960er Jahre nicht klar und wird erst in ihren Kriegserinnerungen oder auf dem Flugfeld eins mit sich selbst.
© goEast Filmfestival
Manfred schrieb über KRYL‘JA bereits vor über sechs Jahren auf diesem Blog, als der Film noch wesentlich unbekannter war als heute.
Ich selbst hatte viel Mühe, was zu großen Teilen nicht mit dem Film selbst zu tun hatte und kann mich nur an einige Splitter erinnern, die ich nicht kohärent zusammensetzen kann. Da ist das schweißbedeckte Gesicht Nadeždas, als sie aus dem kühlen Theater auf den heißen Vorplatz hinaustritt. Dieser eine und einzige Moment, in dem sie jegliche Hemmungen fallen lässt und mit der Wirtin Bier trinkt und sogar Walzer tanzt. Die aufgesetzt-überdrehte Fröhlichkeit beim Besuch der Tochter, die offensichtlich einer tiefsitzenden Unsicherheit im Umgang mit Menschen entspringt, die nicht in irgendeinem Dienstverhältnis zu ihr stehen. Und natürlich dieser fantastische und unglaublich vieldeutige Schluss, als sie einfach wegfliegt: ist sie befreit? Wird sie ein neuer Mensch? Oder ist das Wegfliegen das Eingeständnis, dass sie nie mit den neuen Zeiten klar kommen wird? KRYL‘JA zeigt „banale“ äußerliche Ereignisse, handelt aber vor allem von einem Geisteszustand...
...und mein Geisteszustand konnte sich leider nicht auf diesen Film einstellen, denn...
Vorführstörungen: KRYL‘JA war von allen Filmen, die ich im Murnau sah, der mit dem vollsten Zuschauerraum. Ob die relative Berühmtheit Šepit‘kos dafür verantwortlich war oder an einem Samstagabend um 20.00 Uhr im Murnau-Filmtheater einfach immer etwas mehr Besucher anwesend sind, weil eben Samstagabend ist, kann ich nicht sagen (ich halte letzteres für wahrscheinlicher). Auf jeden Fall gab es viele Zeugen für die größte Panne, die ich beim diesjährigen goEast-Festival erlebte: nach dem Ende der ersten Filmrolle sollte die zweite Rolle folgen, doch das tat sie nicht. Die Leinwand blieb einfach weiß. Irgendwann wurde dann der Projektor aus- und das Saallicht angeschaltet. Offenbar war die zweite Filmrolle kurzzeitig verschollen, oder passte nicht in den Projektor oder was auch immer. Die Zuschauer wurden von einem der Einlass-Mitarbeiter zur Geduld aufgerufen. Nach etwa fünf bis zehn Minuten gingen die Lichter wieder aus – aber das war nur ein falscher Alarm: Licht wieder an und dann noch einmal mehrere Minuten warten. Schließlich ging es dann, nach bestimmt etwa 15 Minuten Pause, doch mit der zweiten Filmrolle weiter. Ob KRYL‘JA irgendeinen besonderen, subtilen Erzählrhythmus hat, könnte ich also beim besten Willen nicht sagen, weil es doch schwierig war, unter solchen Umständen in den Film einzutauchen.
Die mittlerweile fest zum „Inventar“ der Vorführungen gehörende russische Regisseurin brabbelte weiterhin die ganze Zeit vor sich hin (hier hatte ich zwischendurch das Gefühl, dass sie manchmal einfach Dialogfetzen nachsprach). Sie wurde dabei auch immer lauter. Diesmal waren einige Leute in ihrer Nähe, die sie immer wieder – dies gezwungenermaßen in ordentlicher Lautstärke – zur Ruhe gemahnten. Nach weiteren zehn bis fünfzehn Minuten wurden mindestens zwei der Zuschauer in ihrer Nähe richtig sauer: es kam fast zu einem kleinen Tumult, bei dem Stanukinas fast angebrüllt wurde. Danach war sie tatsächlich (wohlgemerkt: bei diesem Film) erst einmal ruhig.
Der Vorfall führte allerdings nicht zu mehr Ruhe im ganzen Kinosaal, sondern leider zu einer Art allgemeinen Enthemmung: das Samstagabend-Publikum auf den hinteren Reihen begann, über den ganzen Saal einen derartig penetranten Flüsterteppich zu verbreiten, dass man irgendwann die starrköpfige russische Dame geradezu bereuen musste.
Das ist unfair: KRYL‘JA ist wahrscheinlich der Film, von dem ich am meisten erwartete. Geblieben sind in meinem Kopf diffuse Ahnungen von etwas Großem, das nicht in jeder Sekunde des Films zu sehen ist, sondern sich erst in der Summe und mit der verstreichenden Zeit entwickelt. Da ist auf jeden Fall eine Neusichtung vonnöten.


kurz vor 23.00 Uhr, Moritz Kebap Haus, Moritzstraße 11
Spätes Abendessen
Mit Lutz, dem Kollegen, den ich Freitagabend am Bahnhof abgeholt habe, ehemaliger Chefredakteur des multimania-Magazins, für das ich dieses Jahr presse-akkreditiert war, ging ich dann ziemlich gerädert in Richtung Innenstadt. Beim Moritz Kebap Haus in der Moritzstraße, etwa 50 Meter vom Apollo-Kinocenter entfernt, stillten wir den Hunger, der entsteht, wenn man stundenlang Filme schaut, ohne ans Essen zu denken zu können. Der „Moritz“ ist für mich auch eine kleine gastronomische Tradition beim goEast-Festival. Erstens ist er in praktischer Nähe der Spielstätte Apollo. Zweitens hat er im Gegensatz zu „Gabriel“ spät Abends und auch am Sonntag offen. Und drittens ist das Essen dort nicht nur lecker, sondern wird auch immer mit einer kleinen leckeren Nachtisch-Beigabe serviert. Ein Mini-Döner-Sandwich war genau das richtige, um mich wieder auf Vordermann zu bringen, zumal das Fleisch exzellent war – weit über dem durchschnittlichen Imbiss-Niveau!


ab 23.00 Uhr, Festival-Zentrum (Wiesbadener Casino-Gesellschaft)
Erstes informelles Filmgespräch mit „Bildstörung“
Das goEast-Festival bietet nicht nur Filme, sondern auch zahllose Vortrags- und Filmgesprächsveranstaltungen: Diskussionen mit Filmwissenschaftlern, Kuratoren und auch Filmemachern selbst gibt es jeden Tag im Festival-Zentrum. Ich meide diese Veranstaltungen nicht aus böser Absicht oder weil ich denke, dass das grundsätzlich langweilig und unergiebig ist, sondern weil ich zwischen einem Vortrag und einer Filmvorführung, die parallel laufen, im Zweifelsfall immer die Filmvorführung wählen werde.
Lutz kennt in seiner Funktion als ehemaliger multimania-Chefredakteur die zwei Macher des kleinen und sehr feinen Labels „Bildstörung“ über Mailkontakt und fädelte mit den beiden ein kleines Treffen zum Biertrinken ein. Carsten und Alexander sind im Grunde nicht weniger als zwei kleine Helden der Filmkultur in Deutschland, die unter anderem Andrzej Żuławskis aufwühlenden POSSESSION, Narciso Ibáñez Serradors provokanten ¿QUIEN PUEDE MATAR A UN NIÑO? und Věra Chytilovás anarchischen SEDMIKRÁSKY in Deutschland auf DVD herausgebracht haben, die den besten deutschen Film des Jahres 2016, DER BUNKER, veröffentlicht haben und in Kürze einen der drei großen deutschen Filme Zbyněk Brynychs (DIE WEIBCHEN) herausgeben werden. Die beiden waren zum zweiten Mal beim goEast-Festival als geladene Gäste anwesend. Wir trafen sie vor dem Eingang des Casinogebäudes, tranken Bier und sprachen – sprachen über Steven Spielberg, seinen JAWS und seine Columbo-Folge, Eloy de la Iglesia, Jess Franco, Joe D‘Amato, das Geschäft des Filmverleihs in Deutschland, Stanley Kubrick, die Parallelen zwischen 2001 und A TOUCH OF ZEN, die Vor- und Nachteile von 35mm vs. DCP, Köln, Hannover, Jena, Magdeburg, Halle, Weimar, Gentrifizierung in Weimar, Christopher Nolan und INTERSTELLAR, Menahem Golan und ESCAPE TO THE SUN, DEMOLITION MAN, CONAN, John Milius, Zbyněk Brynych, seine WEIBCHEN und seine ENGEL, DIE IHRE FLÜGEL VERBRENNEN, Dominik Graf, Bollywood-Kino und die emotionalen Zusammenbrüche, die es hervorrufen kann, Mediabooks, 84-Entertainment-Mediabook-Sammler, bfi-Dual-Editions – und über einiges mehr.
In meinem Hotelzimmer versank ich kurz vor vier Uhr morgens ins Bett.


Sonntag, 30. April

ab 11.00 Uhr, Caligari FilmBühne

POKOT („Fährte“)
Regie: Agnieszka Holland, Kasia Adamik
Polen / Deutschland / Tschechische Republik / Schweden / Slowakei 2017
128 Minuten, DCP
In einer kleinen polnischen Bergstadt im Dreiländereck Polen-Tschechien-Slowakei gibt ein arroganter Kleinmafioso im Verbund mit der Polizei den Ton an. Der Männerbund trifft sich regelmäßig zu illegalen Jagden. Dagegen protestiert die örtliche Englischlehrerin und bekennende Tierliebhaberin Duszejko vehement. Dann ereilt eine Mordserie die Herren der Stadt – und Duszejko ermittelt auf eigene Faust...
© goEast Filmfestival
Als „feministisch-ökologischer Thriller“ wurde POKOT angekündigt. In meiner Vorstellung wuchs er ein wenig zu einer Art „Slasherfilm im schlesischen Hinterland“ an. Ersteres stimmt auf jeden Fall mehr, trifft es aber auch nicht richtig. POKOT ist ein Film, der ein wenig auf allen Hochzeiten gleichzeitig tanzen möchte und es auch tut. Zweifelsohne ist er das ätzende Portrait einer viel zu mächtigen Männerbund-Clique – auch wenn dafür eigentlich von der Clique recht wenig zu sehen ist. Er ist auch ein Serienmörder-Thriller – auch, wenn er sich selbst eigentlich zu gut „aufbaut“, nur, um dann im zweiten Drittel andere Sachen zu tun, die teils interessanter, teils auch weniger interessant sind. Er ist auch ein weibliches Aussenseiterportrait, und Duszejko (sie heißt mit Vornamen Janina, mag aber nur mit ihrem Nachnamen angesprochen werden) ist sicherlich eine faszinierende Figur, äußerst mitreißend gespielt von Agnieszka Mandat: hier ist ein exzentrischer Charakter, liebenswürdig wie Miss Marple, zornig gegen Ungerechtigkeiten, dass einem das Herz aufgeht und doch lauern da Abgründe – auch wenn diese Abgründe bisweilen etwas zu sehr offensichtlich werden. Zwischendurch zieht sich POKOT ganz in den Wald und in das Waldhäuschen Duszejkos zurück, und deutet für kurze Zeit eine Screwball-Komödie und eine zarte Ménage-à-trois-Romanze an. Wo sich der Film allerdings abseits seiner Hauptfigur begibt und zusätzliche Charaktere einfügt, stolpert er und fällt um wie der epileptische IT-Fachmann der örtlichen Polizei: gerade dieser wirkt so offensichtlich wie ein reines Comic-Relief-Element, dass es fast schon weh tut. Ich bin unschlüssig. Agnieszka Holland selbst sagte im Q & A nach dem Film, dass POKOT als Multi-Genre-Film angelegt ist – und dass sicherlich einige Kritiker nicht bereit sein werden, die verschiedenen Elemente „zusammenzukleben“ (sie sagte tatsächlich irgendetwas von „glue“). Und tatsächlich: ich sehe viele positive Elemente, ich sehe auch Schwächen. Vielleicht wird mir irgendwann eine Neusichtung einen kleinen Topf voller Kleber in die Hand geben...
Agnieszka Holland hat aber zweifelsohne das großartigste Q & A gegeben, das ich auf dem Festival sah. Obwohl von eher kleiner Statur, ist sie eine äußerst charismatische Persönlichkeit: sehr selbstsicher, unverblümt, extrem eloquent und dabei immer mit einem scharfen Humor ausgestattet. Auf eine Frage aus dem Publikum, was sie von erstarkenden „rechtspopulistischen“ Tendenzen in Europa halte, antwortete sie resolut und ohne auch nur eine halbe Sekunde zu zögern: „Fuck them!“. In Zeiten, in denen Rassismus, Hassparolen, chauvinistische Gewaltphantasien und allerlei sonstige Niederträchtigkeiten mit putzigen Parolen wie „berechtigte Sorgen“, „wir sollten die Leute da abholen, wo sie stehen“ (ich dachte, dass dafür eigentlich Taxis zuständig seien) und „Ängste, die wir ernst nehmen müssen“ verniedlicht werden, tut so eine Antwort wirklich gut. Holland erklärte dann, wie sehr sie die Schnauze voll davon hat, dass im Polen der PiS und der wieder erstarkten katholischen Kirche alles, was nicht weiß, polnisch und männlich ist, als Lebewesen zweiter Wahl gelte. In diesem Kontext erzählte Holland dann eine Begebenheit: vor einigen Jahren flog sie in die USA (wahrscheinlich von Paris aus). Kurz vor dem Abflug stand in der Warteschlange direkt vor ihr Jean-Marie Le Pen, Begründer und langjähriger Vorsitzender des rechtsradikalen Front National. Für einen kurzen Moment schoss ihr durch den Kopf, dass sie eigentlich die Möglichkeit hätte, ihn zu töten, ihn mit irgendeinem spitzen, scharfen oder auch schweren stumpfen Gegenstand anzugreifen.
Nun... Jean-Marie Le Pen lebt noch und Agnieszka Holland sitzt nicht im Knast wegen Mord. Sie hat stattdessen einen Film gedreht. Einen Film, in dem die schmierigen, faschistischen, chauvinistischen, menschenverachtenden und sadistischen Dreckssäcke allesamt zur Hölle geschickt werden. Dass diese Fantasie selbst natürlich auch einen fiesen, bitteren Beigeschmack hat, daraus machte Holland weder als Regisseurin von POKOT, noch als Gesprächspartnerin beim Q & A einen Hehl.
Ja, doch... vielleicht sollte ich mir POKOT irgendwann nochmal anschauen, mit genau diesem Bild im Hinterkopf: in einer Warteschlange steht eine kleine polnische Frau hinter einem bulligen französischen Mann.


ab 16.00 Uhr, Apollo-Kinocenter
REKVIJEM ZA GOSPOĐU J. („Requiem für Frau J.“)
Regie: Bojan Vuletić
Serbien / Bulgarien / Mazedonien / Russland / Frankreich 2017
94 Minuten, DCP
Montag... Eine ältere Frau, früher eine renommierte Journalistin, heute arbeitslos, möchte Selbstmord begehen, und zwar am besten am Freitag. Da gibt es noch allerlei zu planen. Doch Selbstmord ist gar nicht so einfach...

© goEast Filmfestival
Suicide is arduous
it brings on many hitches
and I can take it or leave it if they please
(aus dem Titelsong von M.A.S.H. – leicht modifiziert)

Am Abend des 21. Aprils 2012, wahrscheinlich schon nach halb 11, in einem Saal des Apollo-Kinocenters, verliebte ich mich bei meinem ersten Besuch definitiv in das goEast-Festival: PRAKTIČAN VODIČ KROZ BEOGRAD SA PEVANJEM I PLAKANJEM (im deutschen DVD-Titel kürzer und viel weniger poetisch: „Rendezvous in Belgrad“) lief hier und wurde zu einem meiner großen Filmerlebnisse des Jahres 2012. Ich glaube, dass nur selten irgendeine persönliche Erwartungsmesslatte so hoch war wie für den Folgefilm des Serben Bojan Vuletić, ganze fünf Jahre später. Nun... übersprungen wurde sie nicht, aber auf jeden Fall berührt.
REKVIJEM ZA GOSPOĐU J. beginnt ganz unten, da wo andere Filme bereits zum Schluss kommen: eine Frau sitzt in ihrer Küche und baut eine Pistole zusammen. Etwas schlimmes wird passieren und die Tatsache, dass die Kamera absolut fix ist und alles mit großer Gnadenlosigkeit in Gänze festhält, bekräftigt das fatalistische Grundgefühl.
Nach und nach kommt heraus, dass die Dame offenbar Selbstmord begehen möchte und sich nun langsam darauf vorbereitet. Die Pistole hat sie schon. Die Grabstelle neben ihrem Mann hat sie auch – sie muss nur noch eine passende Grabinschrift für sich selbst bestellen. Das letzte Bier und die letzte Zigarette (mit einem letzten Streichholz) sind auch schon vorbereitet. Als sie jedoch eine Kugel für ihre Pistole bei einem ehemaligen Kartenspielkollegen ihres Mannes kaufen möchte, wird das ganze komplizierter: durch Andeutungen gibt ihr der etwas schmierige aber doch verständnisvolle Typ zu verstehen, dass er begreift, was sie vorhat – aber ob sie zum Wohl ihrer Töchter nicht eine etwas weniger „dreckige“ Methode wählen möchte, zum Beispiel Beruhigungstabletten mit hochprozentigem Alkohol? Das leuchtet der niedergeschlagenen, fürchterlich welt- und lebensmüden, aber doch ganz vernünftigen Dame ein. Sie braucht nur zu ihrem Arzt zu gehen und sich etwas verschreiben zu lassen. Doch da fangen die Probleme an: als Arbeitslose braucht sie beim Arzt eine bestimmte Bescheinigung des Arbeitsamtes – die sie nur bekommt, wenn ihre ehemalige Arbeitsstelle ihr eine Arbeitsbescheinigung ausstellt – was sich wiederum als schwierig herausstellt, weil die Arbeitsstelle nicht mehr wirklich existiert, und die letzten Mitarbeiter dort dann auch noch ihren Namen auf den Unterlagen falsch geschrieben hat... Und dann wird auch noch ihre ältere Tochter schwanger...
An ausformulierter (Vulgär-)Psychologisierung ist REKVIJEM ZA GOSPOĐU J. vollkommen desinteressiert. Er ist ein absolut reiner Aktionsfilm, insofern wir bis kurz vor dem Schluss tatsächlich nur das Äußere der Selbstmörderin sehen. Eine Erklärung für den Todeswunsch der Frau liefert der Film nicht. Ihr Ehemann ist tot, und möglicherweise hat sie dessen Tod nicht überwunden – sie will sich auf jeden Fall an dessen ersten Todestag (dem Freitag) töten. Vielleicht kann sie nicht damit umgehen, arbeitslos zu sein – immer wird angedeutet, dass sie einst eine engagierte und begeisterte Journalistin war. Oder es kann auch sein, dass sie ihre beiden Töchter nicht mehr aushält, die echte Nervensägen sind und sich gegenseitig die ganze Zeit anpflaumen. Vielleicht ist es auch nichts von all dem.
Oft ist, wenn es um weibliche Filme geht, ist von „starken“ Frauen die Rede. Irgendwo muss da ein Missverständnis in der Perspektive oder in der Wahrnehmung dessen liegen, was Film ist oder kann, denn REKVIJEM ZA GOSPOĐU J. ist ein ganz starker Film über eine extrem „schwache“ Frau. Die Titelfigur, absolut fantastisch gespielt von Mirjana Karanović (die auch für Jasmila Žbanić, die Regisseurin des im ersten Teil besprochenen FOR THOSE WHO CAN TELL NO TALES gearbeitet hat), ist völlig leer, energielos, ohne Antrieb – und schließlich stellt sich heraus, dass die Hürden, die sich vor ihr auf dem Weg zum Selbstmord aufbauen, ihr kleines Rest an Energie völlig überfordern. Frau J. ist dermaßen schwach, dass sie noch nicht einmal Selbstmord begehen kann...
...unter anderem auch, weil sich ihr eine alptraumhafte Bürokratie in den Weg legt. Hier liegt auch der banalste Interpretationsansatz zu dem Film: REKVIJEM ZA GOSPOĐU J., liest man an mehreren Stellen, sei ein Film über das Schicksal von Wende-Verlierern in Post-Jugoslawien (Frau „J.“), über auswuchernde und korrupte Bürokratie, die den Menschen ihre Würde nehmen. Das ist an sich nicht falsch, aber ich denke doch, dass der Film weit darüber hinaus reicht. Mehr noch als PRAKTIČAN VODIČ KROZ BEOGRAD SA PEVANJEM I PLAKANJEM ist REKVIJEM ZA GOSPOĐU J. ein „un-serbischer“, weil im Kern universeller Film.
„Frau J.“ hat übrigens Vornamen und Nachnamen, die nicht mit J anfangen, allerdings einen mittleren Namen (ob zweiter Vorname oder Vatersnamen – gibt es das in Serbien? – weiß ich nicht), der mit „J“ beginnt. Ihre frühere Arbeitsstelle hat jedoch einen Fehler gemacht bei der Ausstellung einer Arbeitsbestätigung und aus Versehen „K.“ statt „J.“ hingeschrieben. Tatsächlich ist REKVIJEM ZA GOSPOĐU J. weniger ein Wende-Verlierer-Film über Serbien als etwas, das den alptraumhaften Welten Franz Kafkas viel näher ist. Etwa ab der Mitte des Films häufen sich die Andeutungen, dass wir uns die ganze Zeit gar nicht in einer serbischen Stadt, sondern eigentlich schon im Jenseits, oder im Fegefeuer, oder gar bereits in der Hölle befinden. Als die Protagonistin ihre alte Arbeitsstelle für die Bescheinigung aufsucht, findet sie nur eine riesige, verfallene Druckerhalle vor und gespenstisch leere Redaktionsräume – ein Ort, der tatsächlich auch als „jenseitig“ gefilmt wird. Dass die Selbstmörderin plötzlich ein Büro findet, in dem zwei ehemalige Arbeitskollegen arbeiten, macht das ganze nicht beruhigender. Ob diese Szenen nicht möglicherweise eine Vision der Selbstmörderin sind? Immer wieder erklingen die Töne eines Gongs. Ohne mich mit der Materie auszukennen: aber diese Klänge hören sich an wie eine fernöstliche (vielleicht buddhistische) Todeszeremonie. Auf jeden Fall Klänge des Todes aus der geografischen Ferne. Dem trockenen Realismus der starren Kamera zum Trotz: mit zunehmender Laufzeit wird Vuletić‘ Film zunehmend von einem mystischen Hauch beseelt.
REKVIJEM ZA GOSPOĐU J. will am Ende nicht weniger als den Tod mit den Mitteln des Films zu überwinden. Hier fällt mir die Sage von Orpheus und Eurydike ein und vielleicht kann man den Film auch als eine Variation sehen: ohne Orpheus, nur mit Eurydike, die auf sich alleine gestellt selbst einen Ausgang aus der Hölle finden muss und schließlich auch findet.
Es gibt drei Filme, die mich bei diesem Festival an den Rand der Tränen geführt haben, weil sie so unfassbar schön, oder unfassbar berührend, oder gar unfassbar unfassbar waren: STARCI NA CHMELU, POSLEDNATA DUMA (weiter unten mehr dazu) und dieser. REKVIJEM ZA GOSPOĐU J. hat mich vielleicht gar an den Rand des emotionalen Kollapses geführt, was vielleicht auch damit zusammenhängt, dass ich am Sonntag nach zweieinhalb Festivaltagen mit vollem Programm und starkem Schlafmangel langsam in einen Zustand starker Erschöpfung geriet, in einen Mix aus Müdigkeit, leichter Depression und nervlicher Überreizung.


ab 18.30 Uhr, Murnau-Filmtheater

MILYJ, DOROGOJ, LJUBIMYJ, EDINSTVENNYJ... („Mein Lieber, Teurer, Geliebter, Einziger...“)
Regie: Dinara Asanova
UdSSR 1985
70 Minuten, 35mm
Ein Mann, der nachts private Taxidienste anbietet, nimmt eine sehr junge Frau mit einem Baby auf, die Schutz vor einem prügelnden Ehemann sucht. Der Fahrer will sie eigentlich rasch wieder loswerden, doch sie hängt sich äußerst hartnäckig an ihn. Gemeinsam fahren sie durch die verschneite Leningrader Nacht.
MILYJ, DOROGOJ, LJUBIMYJ, EDINSTVENNYJ... ist der letzte Film der kirgisisch-sowjetischen Filmemacherin Dinara Asanova, die nicht einmal zwei Monate nach der Kinopremiere mit nur 42 Jahren unerwartet starb (Herzstillstand). Asanova war an Larisa Šepit‘kos ersten Langfilm ZNOJ von 1963 beteiligt. Ab den 1970er Jahren machte sie sich einen Namen als Regisseurin von Filmen über jugendliche Delinquenten und generell über Konflikte zwischen Teenagern und Erwachsenen und galt als großes Talent im Umgang mit jugendlichen Schauspielern. In den 1980er Jahren arbeitete sie bei vier Filmen – unter anderem diesem – mit dem Schauspieler und Drehbuchautoren Valerij Priёmychov zusammen. Priёmychov, der für mich mit seinem markant-kantigen Gesicht ein bisschen wie der vergessene kleine russische Cousin von Scott Glenn aussieht, spielte im GULag-Auflösungs-Selbstjustiz-Actionthriller CHOLODNOE LETO PJAT‘DESJAT TRET‘EGO („Der kalte Sommer 1953“) die Hauptrolle. In MILYJ, DOROGOJ, LJUBIMYJ, EDINSTVENNYJ..., für den er auch das Drehbuch schrieb, ist er nicht weniger charismatisch und beeindruckend – da kann seine Partnerin Ol‘ga Mašnaja leider nicht so gut mithalten.
Wie bereits gesagt: ein eindeutiger Fall von Festivalerschöpfung hatte mich diesen Nachmittag ereilt, und ich möchte diesem Zustand zuschreiben, dass ich MILYJ, DOROGOJ, LJUBIMYJ, EDINSTVENNYJ... etwas unterwältigend fand und dass er sich eher wie 120 als wie kurze 70 Minuten anfühlte. Er bietet zweifellos beeindruckende Impressionen des nächtlichen, verschneiten Leningrad, mit Priёmychov einen wie schon erwähnt fantastischen Hauptdarsteller und eine überaus aufregende Autoverfolgungsjagd gibt es auch. Andererseits wirkte der Film zwischendurch wie ein B-Movie, dem der kleine Funke Genialität fehlt, um seine eigenen Begrenzungen zu sprengen. Dafür, dass in den ersten zwei Dritteln nur zwei Personen ohne Ziel durch Leningrad fahren, paukte er am Ende dann noch ganz schön überhetzt viele Wendungen durch.
Auch von den Ankündigungen her hätte ich einen wilderen Film erwartet. Tatsächlich war aber MILYJ, DOROGOJ, LJUBIMYJ, EDINSTVENNYJ... eine kleine Ruhepause vor dem kommenden aufbrausenden Sturm...


ab 20.00 Uhr, Murnau-Filmtheater

POSLEDNATA DUMA („Das letzte Wort“)
Regie: Binka Željazkova
Bulgarien 1973
102 Minuten, 35mm
Einige Frauen sitzen in den frühen 1940er Jahren in einem faschistischen Gefängnis in der Todeszelle. Statt passiv auf ihre Hinrichtung zu warten, wehren sie sich mit kreativen Protestaktionen gegen die Schikanen ihrer Wärter.
© goEast Filmfestival
Filmstill in Schwarzweiß – der Film ist farbig

Wow...
...
...
... eine mechanische Spielzeugpuppe läuft zu fetzigen Balkanrock-Klängen auf der Straße. Eine Maschinengewehrsalve ertönt und die Puppe fällt um. Das sind die ersten Bilder von POSLEDNATA DUMA. Bilder, die aussehen, als kämen sie aus einem freidrehenden italienischen Giallo. Gegen Ende des Films sehen wir ein Torbogen, an dem ein baumelnder Galgenstrick hängt. Die Kamera platziert sich dann unter dem Torbogen, schaut nach oben und beginnt dann, wie wild geworden eine Kreisbewegung unter dem baumelnden Galgenstrick auszuführen, dass einem ganz schwindelig wird – als hätte Sergio Leone den Schluss-Flashback von C‘ERA UNA VOLTA IL WEST abstrahierter und auf Speed gefilmt. POSLEDNATA DUMA ist von Anfang bis Ende voll von solchen bizarren, entfesselten Regieideen und während des ganzen Films schwingt das Gefühl, dass man solche Bilder im italienischen Genrekino der 1960er und 1970er Jahre gesehen hat – dort aber nicht so radikal und wahnwitzig wie das, was Binka Željazkova auf die Leinwand gezaubert hat, in einem Land, das in dieser Zeit erheblich weniger „lustig“ und „fröhlich“ als Italien war. Ja, neben Željazkova sieht sogar Chytilová ein bisschen weniger wild aus.
Radikales antiautoritär-feministisches Manifest, Women-in-Prison-Exploitation, Musical und Performance-Kunst (also Choreografien mit und ohne Musik), Momente purer visueller Abstraktion mit wilden Mehrfachbelichtungen, schmachtendes Melodrama, Politessayfilm über Heldengedenken, Paranoia-Thriller – das alles ist POSLEDNATA DUMA. Der Film springt dabei ohne jegliche Vorwarnung, teilweise sogar mit desorientierenden Ton-Überlappungen, zwischen diesen disparaten Genres und Stilen sowie zwischen drei verschiedenen Zeitebenen.
In der Gegenwart der frühen 1970er Jahre wird wie jedes Jahr in Bulgarien an einem 2. Juni der Tag zur Ehrung der gefallenen Antifaschisten gefeiert. Die Stadt (wahrscheinlich eine Provinzstadt) befindet sich im Ausnahmezustand: Stände und Paraden werden vorbereitet, Jung und Alt eilt ins Zentrum, eine Rockband spielt bereits fetzige Lieder und eine Sirene mahnt zu einer bestimmten Zeit zu einer Schweigeminute, die unverzüglich da begangen wird, wo sich die Leute gerade befinden. Immer wieder sehen wir Bilder von Straßen, in denen viele Menschen völlig still auf der Stelle stehen bleiben (was einigermaßen merkwürdig aussieht).
Die Haupthandlung spielt im Gefängnis. Dort sitzt ein halbes Dutzend Frauen in einem Todestrakt und ist der nackten Willkür der männlichen Wärter und des Direktors ausgesetzt. Die Frauen werden permanent überwacht und belauscht. Manchmal wird mitten in der Nacht eine von ihnen herausgezerrt, an den Galgen gebracht und dann einer brutalen und makabren Scheinhinrichtung unterzogen. Auch Vergewaltigungen stehen an der Tagesordnung. Und nicht zuletzt wird jede einzelne vom Direktor unter Druck gesetzt und dazu gedrängt, gegen ihre Zellengenossinnen auszusagen: das funktioniert zumindest im weitesten Sinne, insofern Misstrauen zwischen den Frauen gesät wird. Doch die Insassinnen wehren sich auf ihre eigene Weise. Eine von ihnen ist hochschwanger, doch mit der Hilfe ihrer Zellengenossinnen kann sie das Kind gebären. Daraufhin werden die Zellenwände mit allerlei farbigen Motiven bemalt, um dem Kind bunte Bildgeschichten erzählen zu können. Die Frauen finden auch andere Formen des passiven Widerstands: einige rennen, wenn ihre Zellentür aufgemacht wird, sofort durch die Gefängnisflure (das wird mit einer sehr denkwürdigen Point-of-View-Kamera gefilmt) – auch wenn sie nach spätestens zwei Minuten doch wieder gefangen werden. Zwischendurch verschaffen sie sich Luft, indem sie ihre Wärter und den Direktor wüst beschimpfen. Als im Innenhof allen Insassinnen die Köpfe geschert werden, stimmen sie ein kollektives Gelächter an, das die Wärter fast in Panik versetzt. Und schließlich bricht eine Art kleine Rebellion aus, als alle Frauen sich vor dem Fenster des Direktors versammeln und unisono in seine Richtung pusten.
Die dritte Zeitebene ist die Erinnerung der Frauen an die Zeit vor ihrer Inhaftierung. In den Flashbacks erinnert sich die eine etwa an ihre letzte Aktion als Partisanin, bei der sie schließlich gefangen genommen wurde, während einer ihrer Kameraden getötet wurde. Eine andere, eine Lehrerin, erinnert sich an ihren Unterricht und ihre Schüler, mit denen sie „Antigone“ las und dann eine besonders wilde, aufrührerische Vorstellung des Stücks probte – gespielt wie ein Stück Performance-Kunst in einer felsigen Landschaft.
Woraus in linearer Erzählweise etwa drei bis vier Filme gedreht werden könnten (oder heutzutage wohl sieben bis acht Serienstaffeln) führt Željazkova mithilfe eines elliptischen Schnitts und unerwarteter Montagesequenzen einem einzigen Film zusammen. Harte Balkanrock-Gitarre, die wir im Erzählstrang der 1970er Jahre hören, erklingt in dem Knast-Erzählstrang, bevor es kurz danach wieder in die 1970er geht. Eine Lesung der Namen gefallener Antifaschisten am Gedenktag wird unterbrochen durch Bilder der Frauen im Gefängnis, die in die Kamera schauen und „Anwesend!“ rufen. Zwischendurch beginnen die Frauen in der Zelle zu tanzen, Mehrfachbelichtungen überlagern sie mit immer mehr Ausschnitten ihrer Wandmalerei, bis alles zu einem mehrminütigen abstrakten Bild-Ton-Gemälde verschwimmt.
Ich komme hier nicht aus den Pötten: POSLEDNATA DUMA hat mich offenbar dazu gebracht, inkohärentes Zeug zu brabbeln, das nicht annähernd zeigen kann, was für ein unfassbarer und unglaublicher Film das ist. Daher vielleicht noch ein paar wenige Worte zu Binka Željazkova, die offenbar so obskur ist, dass selbst die Kuratorin nicht viel sagen konnte. Željazkova, Jahrgang 1923, war in den frühen 1940er Jahren Kämpferin bei den kommunistischen Partisanen und kannte aus dieser Zeit persönlich den späteren, langjährigen Parteichef Todor Živkov, mit dem sie eine lebenslange Animosität verband. Zwischen den späten 1950er Jahren und 1990 drehte sie 6 Spielfilme, einen TV-Film und zwei Dokumentarfilme. Bei fast allen Filmen hatte sie mit der Zensur zu kämpfen. Ihr zweiter Film, PRIVARZANIJAT BALON („Der zusammengebundene Ballon“) von 1967, erzählt davon, wie ein Ballon in einem bulgarischen Dorf der frühen 1940er auftaucht und dort für Tumulte sorgt. Der Ton des Films passte dem Regime nicht, und ganz besonders nicht eine Szene, in dem ein Esel gefeiert und von den Männern in einer Art Parade durch das Dorf getragen wird. Dem Film wurde vorgeworfen, die Kommunistische Partei zu beleidigen und er wurde verboten.
Željazkova war mit dem ehemaligen antifaschistischen Partisanen, Drehbuchautoren und Regisseur Christo Ganev verheiratet, der auch einige Drehbücher für sie verfasste und ebenfalls Probleme mit dem Regime hatte. Ihre gemeinsame Tochter, Svetlana Ganeva, ist Kamerafrau. Željazkova zog sich 1990, mit der Wende, aus dem aktiven Filmgeschäft zurück. Sie starb 2011 mit 88 Jahren in Sofija.


ab 23.00 Uhr, Festival-Zentrum (Wiesbadener Casino-Gesellschaft)
Zweites informelles Filmgespräch mit „Bildstörung“
POSLEDNATA DUMA sollte das letzte Wort des Abends sein, zumindest in Sachen Filmvorführung. Welcher Film sollte denn bitte schön nach einem solchen noch folgen können?
Vollkommen überwältigt ging ich mit Lutz in die Innenstadt zum Festivalzentrum, um dort noch ein letztes Absacker-Bier zu trinken (nur ein letztes). Carsten und Alexander von „Bildstörung“ tauchten nach wenigen Minuten zufällig auch dort auf. Aus dem Absacker-Bier wurden dann mehrere Runden und lange Gespräche über abseitige feministische Interpretationen von Mainstream-Horrorfilmen, Frauenfiguren bei James Cameron, Leni Riefenstahl und David Griffith, Paul Thomas Anderson vs. Robert Altman (MAGNOLIA als Rip-Off von SHORT CUTS), Paul Thomas Anderson vs. Paul W. S. Anderson, die ästhetischen Unterschiede zwischen František Vláčils MARKETA LAZAROVÁ und ÚDOLÍ VČEL, sowie zwischen MARKETA LAZAROVÁ und TRUDNO BYT‘ BOGOM (zwischen „Marketa“ und „Gott“), die Unterschiede zwischen den verschiedenen Fassungen von BLADE RUNNER, Walerian Borowczyk, Jean-Luc Godard und vieles mehr.
Schon wieder erst kurz vor vier ins Bett gekommen.



Zum Schluss ein kleines persönliches Ranking

Absolute Bretter
STARCI NA CHMELU – POSLEDNATA DUMA

Große Knaller
HRA O JABLKO – REKVIJEM ZA GOSPOĐU J.
ÖRÖKBEFOGADÁS

Kleine Knaller
MAJD HOLNAP
FOR THOSE WHO CAN TELL NO TALES
RAMDENIME INTERVIU PIRAD SAKITKHEBZE
KRYL‘JA
ČESKE HRADY A ZÁMKY
JESTEM MĘŻCZYNĄ

Wirklich gut
NAPLÓ GYERMEKEIMNEK
TRAMVAJ IDET PO GORODU
A LÖRINCI FONÓBAN
BEDNIEREBA / FELICITA

Ganz gut
CIPKA
RVANYE BAŠMAKI
MILYJ, DOROGOJ, LJUBIMYJ, EDINSTVENNYJ...
BUBA
POKOT

Mäh
ROSSIJA KAK SON
WIR LASSEN UNS SCHEIDEN

Nein!
DEVOČKI

Fahr doch selbst zur Hölle!
BEDNIEREBA / FELICITA: EIN VERGESSENER GEORGISCHER CUT VON GEORGE ROMEROS „DAWN OF THE DEAD“
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