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Ein verprügeltes Gesicht, Edgar Ulmers Geist und Steven Seagal

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GUTSHOT STRAIGHT
USA 2014
Regie: Justin Steele
Darsteller: George Eads (Jack Daniel), Stephan Lang (Duffy), AnnaLynne McCord (May), Ted Levine (Lewis), Vinnie Jones (Carl), Steven Seagal (Paulie Trunks)



Auf dem Cover der deutschen DVD von GUTSHOT STRAIGHT sieht man Steven Seagal, der offensichtlich gerade frisch von einem Photoshop-Termin kommt und mit einer Pistole auf irgendetwas außerhalb des Bilds zielt. Unter ihm zielen auch drei weitere Gestalten (die übrigens im Film überhaupt nicht auftauchen) auf irgendwelche unbekannten Ziele. Alles klar, ein typischer Seagal-Actioner, denkt man sich: er spielt mal wieder einen Ex-CIA-Ex-Irgendetwas-Typen mit einem Hang zu ostasiatischer Mystik, der stinkesauer ist, weil Böswatze seiner Frau/seiner Tochter/seinem Buddy etwas schlimmes angetan haben und der jetzt noch schlimmere Sachen mit besagten Böswatzen anstellen wird.

Doch im Prolog wird zunächst ein Typ mit einem zerschlagenen Gesicht zu Seagal geführt, der in Patenmanier gemütlich hinter einem Büroschreibtisch sitzt. Er hantiert mit einer riesigen, phallischen Zigarre herum, spricht mit einer Stimme, die Batman wie eine zwölfjährige Sopranchoristin klingen lässt und auf dem Kopf trägt er etwas, das wie ein besonders aufwendiges Toupet aussieht (oder wie ein totes pelziges Tier). Nach einigen strengen Worten und der salbungsvoll vorgetragenen Frage, ob er denn sein Freund sei, bietet er dem Typen mit dem zerschlagenen Gesicht eine Pistole an. Vorspann. Und was für ein Vorspann: als würden wir uns in einem James-Bond-Film befinden. Popart-Credits der Extraklasse, die die schlechtesten unter den 007-Vorspännen qualitativ bei weitem übertrifft und mit einem tollen Song unterlegt ist. Dann folgt eine Szene in einem Casino in Las Vegas. Jack, der Typ, der im (chronologisch späteren) Prolog mit zerschlagenem Gesicht Trübsal geblasen hat, stolziert mit breitem Lächeln auf seinem makellosen Gesicht durch die Spielhalle, plaudert freundlich mit einem Croupier, setzt sich dann an einen Pokertisch und provoziert eine schwarze Spielerin so lange mit einem rassistischen Witz, bis er gewinnt...

Die ersten paar Minuten von GUTSHOT STRAIGHT sind eine ziemlich „schlechte“ Vorbereitung auf das, was schlussendlich folgt: kein Seagal-Actioner, kein Pseudo-Bond-Film, und auch kein Casino- & Zockerfilm, sondern eine Perle von einem fiesen kleinen neo noir. Ein neo noir, der sich nicht an der glamourösen Seite des klassischen noirs orientiert, mit ihren klassischen Schönheiten Lauren Bacall und Rita Hayworth sowie ihren kernigen Helden Humphrey Bogart und Robert Mitchum, die in luxuriösen Bars und Nachtclubs ihren Intrigen nachgingen, sondern am schäbigen poverty-row-noir mit seinen wirklich kaputten Randexistenzen und seinen schmierigen Cafés. GUTSHOT STRAIGHT erinnert aus mehreren Gründen bisweilen an Edgar Ulmers DETOUR. 

Aber der Reihe nach... Jack mag am Anfang die ganze Zeit lächeln, aber das ist nur ein Abwehrmechanismus. Im Casino wird er von einem mysteriösen Mann angesprochen, der ihm seine Visitenkarte gibt, ihm dann irgendetwas von Geld und Möglichkeiten erzählt und dem notorischen Spieler sogar anbietet, ihn bei einem Pokertisch mit großen Einsätzen auf Pump einzukaufen. Jack schickt den Mann zum Teufel – und als er zu Hause ankommt, wird er erst einmal von Typen verprügelt, denen er noch Geld schuldet. Die Schläger machen unwiderruflich klar, dass sie bald für den Restbetrag vorbeikommen werden (zumal einer von ihnen vom markanten Vinnie Jones gespielt wird). Das restliche Geld will Jack bei seiner Bank anpumpen, doch trotz Anflirtens der jungen Bänkerin wird er mit Nachdruck weggeschickt.

Jack in misslicher, Duffy in hedonistischer Position
Drinks im Stripclub, Anbahnung von Poolsex mit Voyeur
So ruft Jack den mysteriösen Fremden aus dem Casino doch noch an, um sich wegen der „Möglichkeiten“ zu erkundigen. Ein Termin in einem schummerigen Stripclub wird vereinbart, wo beide sich beschnuppern. Duffy, der Fremde, scheint ziemlich reich zu sein, spendiert sämtliche Drinks, und verliert zwei Wetten an Jack (er soll mit vier 50-Dollar-Scheinen eine Bierflasche öffnen und diese danach mit bloßen Händen zerschlagen). Nach Ladenschluss nimmt Duffy Jack in sein Haus mit und bietet ihm dort eine ganz große Wette an: 10.000 Dollar, wenn Jack mit seiner Ehefrau schläft – und 20.000, wenn er dabei zugucken darf. Für Jack ist das – so attraktiv er Duffys Ehefrau gleich beim ersten Anblick offenbar findet – etwas zu viel. Doch als er sich davon machen möchte, schlägt Duffy ihn K. O. Als Jack wieder aufwacht, ist nur noch seine Ehefrau im Haus, und dann bahnt sich zwischen den beiden doch etwas im Pool an. Plötzlich steht der reiche Exzentriker daneben, eine Tasche voll Geld in der Hand. Das nimmt Jack nun wieder alle Lust, aber als er wiederholt gehen möchte, kommt es zu einem Gerangel zwischen den beiden Männern. Duffy fällt unglücklich, bricht sich das Genick und ist tot.

Lewis "erkennt" Jack
Femme fatale May
Während Jack in Panik auszubrechen droht, nimmt die Ehefrau die Gesamtsituation mit großer Gelassenheit und sogar einer gewissen Freude auf, warnt Jack jedoch davor, die Polizei zu benachrichtigen: er wisse ja nicht, was für ein Mensch Duffy wirklich gewesen sei. In einer Nacht- und Morgengrauen-Aktion wird die Leiche erst einmal beseitigt. Am nächsten Morgen fühlt sich für Jack alles wie ein entfernter Alptraum an, doch das Erwachen kommt jäh: er hat sein Portemonnaie in Duffys Villa vergessen und muss dieses wieder beschaffen. Als er vor dem Hauseingang rumschleicht, grüßt ihn plötzlich ein Mann, namens Lewis. Es ist Duffys Bruder, der sich rasch an Jack von einer vergangenen Pokernacht erinnert und ihn freundlich in Duffys Haus bittet. Mit einem Lächeln im Gesicht macht Lewis immer wieder versteckte Anspielungen darauf, dass er wohl ahne, dass irgendetwas komisches vorgefallen ist.
Das nächste Treffen zwischen Jack und Lewis in einem Casino verläuft noch unerfreulicher. Denn nun erklärt ihm Lewis, dass er sehr wohl wisse, dass Jack Duffy getötet hat. Er sei aber bereit, die Sache zu vergessen und Jack und seine Tochter (der Spieler hat eine Frau und eine Tochter, von denen er getrennt und entfremdet lebt) am Leben zu lassen, unter einer Bedingung: Jack soll Duffys Ehefrau ermorden. Einfacher gesagt als getan, denn nun fühlt sich Jack erst recht zu ihr, May, angezogen. Da es ihm aber auch um das Leben seiner Tochter geht, sucht er den großen Kredithai Paulie auf, um ihn um Ratschlag und eine Pistole zu bitten. Paulie gibt sie ihm mit dem Tipp, sie Lewis nutzen zu lassen. Beim Showdown schließlich prügelt Jack Duffys Bruder nieder. May nimmt Paulies Waffe und will damit Jack töten. Die präparierte Pistole explodiert aber und schießt nach hinten, direkt in Mays Gesicht. Und als Lewis wieder aufwacht und sich erneut auf Jack stürzt, taucht Paulie mit seinen Schlägern auf, erschießt Lewis und spricht das Urteil über Jack: er solle Duffys Geld nehmen und für immer aus Las Vegas verschwinden. Nachdem er die Geldtasche bei seiner Ex-Frau und seiner Tochter deponiert hat, macht Jack genau das: ohne Geld, mit nur einem klapprigen Auto und einem geschundenen Gesicht fährt er weg.

Ein glanzloser Antiheld, der in eine sexuell aufgeladene, gewalttätige Intrige voller wunderlicher und absurder Wendungen gerät. Zwielichtige Gestalten und eine femme fatale, deren Vertrauenswürdigkeit stets auf der Kippe steht, weil überall Verrat lauert. GUTSHOT STRAIGHT ist ein fast schon puristischer neo noir. Doch was hat es mit dem DETOUR-Vergleich auf sich?

Jack Daniel erscheint wie eine Wiedergeburt von Al Roberts, dem glücklosen Protagonisten von DETOUR und der wahrscheinlich miserabelsten Figur, die der klassische film noir hervorgebracht hat: ein Loser, der selbst im heruntergekommensten Café der ganzen Stadt noch seine Würde verliert und angepöbelt wird. Sicher: Jack ist kein gescheiterter Künstler wie Al, sondern nur ein gescheiterter Pokerspieler. Und im Gegensatz zu Al scheint er zumindest eine halbwegs bürgerliche Vergangenheit zu haben, mit Ehefrau, Tochter und bescheidenem, aber solidem Eigenheim. Der tiefe Masochismus jedoch, der Al kennzeichnete, fehlt ihm. Doch auch Jack kann seine Würde nur in Scherben mit sich herumtragen: Paulies Schläger lachen ihn aus, Paulie selbst behandelt ihn wie einen kleinen Lausbub, bei seiner Bank kriegt er quasi Hausverbot, und die Bartenders der schummerigsten Stripclubs behandeln ihn von oben herab.


Das zerschlagene Gesicht mit den ganzen Blutergüssen trägt Jack durch den ganzen Film (hinzu kommt über die meiste Laufzeit auch ein T-Shirt mit blutverschmiertem Kragen), und auch wenn man die Ursache dafür sieht, nämlich die Tracht Prügel zu Beginn, erscheinen diese Zeichen eher ein existentieller Bestandteil seiner Person zu sein als die Folge eines Ereignisses. Das erinnert ein wenig an den permanenten Schweißfilm auf Al Roberts Gesicht: kein Zeichen der Temperaturverhältnisse oder irgendeiner Anstrengung, sondern Ausdruck existentieller Verzweiflung. Blutergüsse und Schweiß – Jack Daniel und Al Roberts tragen die Essenz ihres Daseins sichtbar im Gesicht.

Mit DETOUR verbindet GUTSHOT STRAIGHT sicherlich auch einige Versatzstücke des Plots: ein Mann tötet aus Versehen einen anderen Mann und wird dann von jemandem erpresst, der genau das weiß (gleichwohl die blasse AnnaLynne McCord nicht annähernd an Ann Savage rankommt). Doch mehr als alles hat der Film von 2014 ein ähnliches „Feeling“ wie der Klassiker aus dem Jahre 1945: es ist das „Feeling“ eines B-Films, der er es schafft, zu etwas größerem zu werden, weil er seine eigenen Begrenzungen umarmt.

Trotzdem ist und bleibt GUTSHOT STRAIGHT ein Original. Seine narrative Struktur ist von einer erstaunlichen Klarheit: nach A folgt B, dann C... Doch er lässt die einzelnen Plotpoints als reine Zeichen stehen, gibt ihnen keine Erklärungen, reduziert alles auf das reine Skelett. Dabei nimmt er radikal Jack Daniels Perspektive ein und als Zuschauer verfügen wir nur über seinen Wissensstand (teils sogar noch weniger). So stolpern wir wie er durch diese einfache, aber doch bizarre Geschichte: warum Duffy ausgerechnet ihn für seine sexuelle Fantasien auswählt, warum Lewis May töten will, was nun das genaue Verhältnis zwischen Duffy, Lewis und May ist, warum ausgerechnet er ein Blutbad zu verantworten hat und dann hinter sich lassen muss – Jack wird es nie erfahren. Besonders unklar ist, warum offenbar jeder seinen Namen kennt: Duffy nennt ihn Jack, bevor er sich vorstellen kann, Lewis tut es genau so, ja gegen Ende spricht ihn gar irgendein Türsteher vor einem Pokerspielzimmer einfach so mit Jack an. Alle haben einen Informationsvorsprung vor Jack. Dies erklärt wohl auch die für einen film noir untypische Rauminszenierung (trotz der sehr expressiven Bildgestaltung). Die meisten Einstellungen sind Nah- und Halbnaheinstellungen mit extrem geringer Tiefenschärfe. Selbst einige der Establishing Shots scheinen mit einem Teleobjektiv aufgenommen worden zu sein: die meiste Zeit bewegt sich Jack durch eine Welt, die wie verschleiert wirkt und in der nichts auch nur annähernd deutlich zu erkennen ist. Die Schleier lüften sich auch am Ende nicht – und die zwei weiteren Toten erklären auch nichts weiteres. In Zeiten, in denen Mainstream-Sehgewohnheiten doch stark auf langwierige (Über)erklärungen ausgerichtet sind, wirkt GUTSHOT STRAIGHT erstaunlich frisch.

Was ist aber nun mit Steven Seagal und Vinnie Jones, die schließlich, zumindest auf dem Cover der deutschen DVD, die Credits anführen? Seagal tritt nur kurz im Prolog auf und wird in den Anfangs-Credits nicht erwähnt. Gegen Ende wird die Prologszene  mit leicht alternativen Einstellungen  wiederholt, und dann taucht Seagal ganz am Schluss während des Showdowns auf. Zusammengerechnet kommt wohl nicht einmal fünf Minuten Screentime zusammen. Ein reines Cameo also, der zudem wie ein absurder Fremdkörper wirkt. Denn Seagal teilt sich kein einziges Frame mit dem Hauptdarsteller George Eads: Ihr Dialog ist in Schuss-Gegenschuss-Aufnahmen aufgelöst. Jacks Hinterkopf, wenn man Paulie frontal sieht, dürfte wahrscheinlich einem Double gehören. Auch im Showdown wird Eads wahrscheinlich von einem Stand-in gespielt, wenn Seagal im Bild zu sehen ist. Kurz: mit dem legendären Actionstar wurden wahrscheinlich irgendwelche halbwegs passenden Szenen gedreht, die dann in GUTSHOT STRAIGHT reingeschnitten wurden. Das würde in einem anderen Kontext lächerlich wirken (und irgendwie ist es ja auch lächerlich), fügt sich aber hier ganz gut in einen Zustand der permanenten Verwirrung und Dissoziation ein, den der Protagonist erlebt. Aber vielleicht hat es auch einen Sinn: Seagal ist am Ende der deus ex machina, der die ganze Geschichte abbricht und ihr einen Schlusspunkt setzt. Seine Paulie-Figur sowie ihre funktionierenden wie auch präparierten Pistolen sind gewissermaßen der materialisierte, wiederauferstandene Geist des schicksalhaften Telefonkabels von DETOUR.

Sehr unglücklich ist natürlich, dass dieser „Pseudo-Seagal-Film“ wie ein echter Seagal-Actioner vermarktet wird. Es gibt in GUTSHOT STRAIGHT keine Action, keine Actionfigur, keine Actionfilmgeschichte. Auch als „einfacher“ Thriller funktioniert der Film kaum, weil er eben vor allem von einer noir-Atmosphäre lebt, die sich nicht in erster Linie durch klassische Spannung auszeichnet. Leider dürfte der Film also einige Mühe haben, ein Publikum zu finden – zumal als direct-to-video-Produktion.


GUTSHOT STRAIGHT ist als DVD in Deutschland und in den USA erhältlich, ab März nächsten Jahres auch in Großbritannien. Außer mangelnden Untertiteln und einem etwas penetranten, chemischen Plastik-Geruch spricht allerdings nichts gegen die deutsche DVD.

Keaton aquaphob

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Buster Keaton – der Name steht für spektakuläre Action und Stunts in urbanen Umgebungen, im Inneren von Häusern oder auf modernen Fortbewegungsmitteln wie Autos, Motorrädern, Bussen oder Eisenbahnen. Doch Keaton konnte auch auf hoher See und auf einem so traditionellen Fortbewegungsmittel wie einem Schiff oder einem Boot sein komisches Potential entfalten...



THE BOAT
USA 1921
Regie: Buster Keaton, Edward F. Cline
Darsteller: Buster Keaton (der Mann), Sybil Seely (die Frau), Edward F. Cline (der Mann von der Küstenwache)


Ein Mann (stellen wir uns im Folgenden vor, er würde Buster heißen) baut eigenhändig ein Segelboot. Prompt will er seine Frau und seine beiden Kinder auf eine kleine Spritztour mitnehmen. Doch davor muss das Boot noch aus der Garage geholt werden, wo es gebaut wurde – eine Operation, die eine mittelgroße Ruine hinterlässt. Dann wird das Gefährt namens „Damfino“ eingeweiht (mit Cola). Vor dem Seegang gibt es noch Schwierigkeiten: das Boot sinkt nämlich zunächst. Nach fixer Reparation geht es los! Da Buster ein echter Tüftler ist, hat er an alles gedacht: mit einem Hebel kann er Mast und Segel herunterklappen, wenn das kleine Schiff unter eine Brücke passieren muss. Technische Raffinesse bringt bei menschlichem Versagen natürlich nichts, und so beginnt die Fahrt etwas holprig. Das ganze macht richtig hungrig, und im Bootsinneren genießen Buster und die zwei kleinen Buster-Junioren die Steaks, die Ehefrau und Mutter zubereitet hat – nun, nicht wirklich, denn das Fleisch ist so hart geworden, dass es an die Wand genagelt werden kann (und später auch wird!). Nach dem Abendessen ist vor dem Schlafen: die Familie legt sich zur Nachtruhe hin. Eine feuchte Nachtruhe, wenn man das Bullauge offen lässt. Es dann zu schließen bringt auch nichts, denn ein gefährlicher Sturm ist mittlerweile aufgezogen. Das Boot wird durcheinander geworfen, Buster kämpft gegen Lecks und muss schließlich seine Familie auf dem Rettungsboot in Sicherheit bringen. Die vier Menschen, die nur einen Ausflug machen wollten, stehen kurz vor dem Ertrinken, nachdem der kleine Junior den Stöpsel des Rettungsboots herausgezogen hat (!). Doch die vier Schiffbrüchigen sinken einfach nicht, sondern bleiben stehen. Einige Schritte weiter entdecken sie, dass sie am Rande eines rettenden Strands gesunken waren.

THE BOAT gehört definitiv nicht zu meinen Keaton-Favoriten. Er ist bestenfalls die Summe seiner Teile, die für sich genommen nicht alle rundum überzeugen. Dennoch zeugt dieser Kurzfilm von Keatons inszenatorischem Können, etwa in der Szene, in der das Boot im Sturm mehrmals um die eigene Achse geschleudert wird, mit Buster im Inneren. Weniger akrobatisch, aber nicht weniger spektakulär ist der Schluss: Buster watet mit seiner Frau und seinen zwei Kindern durch ein dunkles, schwarzes Meer, und plötzlich taucht der Strand auf – ein schöner und sehr effizienter Beleuchtungseffekt. Der kreative Höhepunkt des Films ist jedoch keineswegs akrobatisch, sondern ein wunderbarer Moment purer Keaton-Poesie. Buster befindet sich im Inneren seines selbstgebauten Bootes, will das ganze gemütlicher gestalten und nagelt deshalb ein Bild mit Seemotiv an die Wand. Natürlich dringt Wasser durch und beginnt – zur Verwunderung Busters – „aus dem Bild“ herauszufließen.

Ein recht subtiler und stiller Gag findet sich bei der Entsorgung der ungenießbaren Steaks. Der Mann und die beiden Jungs wollen auf Ehefrau und Mutter Rücksicht nehmen und drücken deshalb keinen Unwillen gegen die Steaks aus, sondern verstecken sie – in Busters charakteristischem Hut (das selbst nach einer Fleischzubereitung benannt ist: pork pie hat). Andere Gags funktionieren hingegen nicht so richtig. Einen strahlenden Wasserleck will Buster mit einem Trichter auffangen, den er zunächst in den Boden des Bootes bohren möchte und wenig später schöpft er mit einer kleinen Teetasse das Wasser aus dem Bullauge – etwas bemüht und hölzern.
Recht interessant ist der Familienstand der Hauptfigur: Keaton spielt einen im wesentlichen glücklich verheirateten Mann mit zwei Kindern. Eine ungewohnte Konstellation, da das Grundgerüst in vielen anderen Keaton-Filmen darin besteht, dass der ledige Protagonist das Herz seiner Angebeteten zu erobern versucht oder sich auf der Suche nach der großen Liebe begibt.
THE BOAT ist ein Film, der lange Zeit als verschollen galt, bis James Mason 1952 Buster Keatons Haus kaufte, im Keller diverse Filmrollen fand und diese restaurieren ließ.



THE LOVE NEST
USA 1923
Regie: Buster Keaton, Edward F. Cline
Darsteller: Buster Keaton (der verlassene Verlobte), Joe Roberts (der Kapitän), Virginia Fox (die Ex-Verlobte)


Eine Verlobte macht mit ihrem Verlobten (den wir unter uns sicherlich Buster nennen dürfen) Schluss. Seine Traurigkeit will der junge Mann mit einer einsamen Bootsreise auf hoher See dämpfen, doch rasch ist er verloren. In letzter Minute wird er von einem Schiff gerettet. Oder eher: „gerettet“. Denn der Kapitän führt seine Mannschaft mit eiserner Hand und schmeißt seine Seemänner schon bei kleinsten Vergehen gnadenlos über Bord. Auch Buster wird irgendwann dran glauben müssen. Nachdem er aus Versehen einen Eimer Wasser auf den Kapitän verschüttet, ihn – aus Versehen – mit einem Gewehr bedroht und sein Kaffeeservice (jawohl: aus Versehen) zertrümmert hat, ist es soweit. Doch dann wird ein Wal gesichtet, und die Hinrichtung verschoben. Als bei der Jagd der Kapitän über Bord fällt und scheinbar ertrinkt, erklärt sich Buster kurzerhand zum neuen Kapitän, doch wenig später taucht der „alte“ wieder auf. Die Amtsanmassung bringt diesen endgültig zum Platzen (und dies wiederum den kleinen Rest der Seemannschaft außer Buster zum spontanen Kollektivselbstmord). Eine wilde Verfolgungsjagd entscheidet Buster für sich, als er den kompletten Dampfer zum Sinken bringt, weil er das Rettungsboot nicht auf andere Weise zum Wasser bringen konnte. Am nächsten Morgen fängt Buster einen Fisch, und erledigt diesen mit einem glatten Gewehrschuss – was wiederum das Rettungsboot zum Sinken verurteilt. Zum Glück war unser Protagonist gerade in der Nähe einer merkwürdigen, schwimmenden Holzkonstruktion. Er erkennt nicht, dass es sich um eine Zielscheibe für Marineschießübungen handelt und wird wenig später in die Luft gesprengt. Tot begibt er sich in Richtung Himmel... Und fällt dann in Richtung Hölle... Und wacht schließlich aus seinem delirierendem Traum auf. Nur wenige Sekunden später merkt Buster zudem, dass er sich auch nicht verloren auf hoher See befand: sein Boot war die ganze Zeit noch am Ufer angebunden.

Keatons Filme sind teils auch Filme über gestörte Wahrnehmungen, und nirgendwo sind die Sinne offener für Verzerrungen als im Traum. Hier sind besonders wilde Kapriolen möglich, und die Möglichkeiten eines Traums entwickelte Keaton in SHERLOCK JR. als Film-im-Traum-im-Film-Konzept weiter. Der Traum von THE LOVE NEST, diese surrealistisch verzerrte Welt, entwickelt auch eine unterschwellige Gewalt, eine latent fatalistische Atmosphäre, einen morbiden Unterton, den Keaton auch schon in COPS (und etwas weniger pointiert THE GOAT) genutzt hatte.
Schon als der erste Seemann einen Fehler macht und der Kapitän ihn dann stellt, über Bord schmeißt und einen Kranz aus einer extra dafür vorbereiteten Kranzkollektion greift und hinterherwirft, ist klar, dass Buster auch einen Fehler machen und den tödlichen Zorn des Kapitäns spüren wird – und Buster selbst weiß es auch (gleichwohl er schließlich nicht vom Kapitän des Walschoners, sondern von der Marine „gerichtet“ wird). Grausamkeit, Witz und Poesie halten sich hier die Balance. Nirgends wird dies deutlicher als im angedeuteten Selbstmord Busters: er hat mit einem Gewehr rumgespielt, den er in der Kapitänskoje fand und damit aus Versehen auf den Kapitän gezielt; er nimmt in Konsequenz davon das Gewehr mit, geht auf das Deck, läuft eine Treppenleiter am Rande des Schiffs in das Wasser hinunter, geht komplett in das Wasser, bis er versinkt – und schießt dann unter Wasser... Doch dann taucht er wieder auf, und läuft mit dem Gewehr in der einen Hand und einem erlegten Fisch in der anderen wieder hoch. Das ist ein schwarzer Humor, der sehr perfide die Erwartungen der Zuschauer manipuliert und sie in die Falle lockt (dabei gilt gemeinhin Chaplin als der Subversive unter den Slapstick-Komikern der 1920er Jahre). Die Logik des Traums sieht vor, dass Fische mit Gewehren gefangen werden und deshalb ist es nur folgerichtig, wenn Buster später im Film dabei sein Boot zerschießt und so auf eine der todbringenden Holzkonstruktionen gedrängt wird.
Wesentlich einfacher und harmloser wirken die Gags, wenn Buster Befehle des Kapitäns wie etwa „all hands on deck“ oder „to the port“ allzu wörtlich nimmt und seine Hände auf‘s Deck legt oder dem Kapitän eine Flasche Portwein holt.
Der surrealistische THE LOVE NEST war Buster Keatons letzter kurzer Stummfilm.



THE NAVIGATOR
USA 1924
Regie: Buster Keaton
Darsteller: Buster Keaton (Rollo Treadway), Kathryn McGuire (Betsy O‘Brien)


Rollo Treadway ist ein verträumter und tollpatschiger Millionär, der für das Leben „draußen“ kaum tauglich ist. Aus einer Laune heraus möchte er heiraten: Betsy O‘Brien, eine Millionärstochter und praktischerweise seine Nachbarin. Alles ist vorbereitet, die Schifftickets für die Flitterwochen schon gebucht – nur Betsy weiß von ihrem Eheglück nichts und lehnt den Antrag aus heiterem Himmel dann auch folgerichtig ab. Durch eine Verkettung von Umständen (es geht um eine recht wilde und wirre Industrie- und Armeespionage-Intrige) geraten die beiden jungen Millionäre auf ein Schiff, das kapitänslos durch die See gleitet. Da es sehr groß ist, viele Treppen und Etagen hat, finden sie sich zunächst nicht. Als sie das tun, lehnt Betsy Rollos wiederholten Heiratsantrag erneut ab, aber dennoch raufen sie sich zusammen, um das Überleben auf dem verlassenen Schiff zu sichern. In der Küche merken die beiden, dass Kaffeezubereitung mit Meerwasser nicht so das wahre ist, und dass Spargeldosen schwierig zu öffnen sein können. Plötzlich erblicken beide ein Schiff, das sie retten könnte. Mit einer Flagge möchten sie auf sich aufmerksam machen, doch dummerweise erwischen sie das Zeichen für Quarantäne (was das andere Schiff regelrecht flüchten lässt). Nach der ganzen Aufregung möchten sich die beiden Millionäre zur Nachtruhe begeben: gar nicht einfach, wenn Geisterbilder durch Bullaugen schweben, Türen klappern, ein Feuerwerk aus Versehen (in Keaton-Filmen passiert immer so vieles aus Versehen!) losgeht oder ein Open-Air-Camping aufgrund von Regen unterbrochen wird. Sei‘s drum: nach einigen Tagen haben sich Rollo und Betsy eingelebt, die Kesselräume zu bequemen Nachtlagern umgebaut, die Küche mit allen möglichen Hilfsapparaturen ausgestattet. Dann ist endlich Land in Sicht. Freilich ein Land, das von angriffslustigen Kannibalen bevölkert wird und nicht zum Andocken einlädt. Nun bekommt Rollo allerhand zu tun: ein Leck muss unter Wasser repariert, Betsy vor den Kannibalen gerettet, schließlich letztere in einem rasanten Showdown vom Leibe gehalten werden. Als die beiden Protagonisten schon kurz vor dem Ertrinken sind, taucht ein U-Boot auf, das die beiden rettet. Betsy küsst Rollo in Dankbarkeit (der nächste Heiratsantrag könnte also klappen), doch dieser bringt schon in wenigen Sekunden das U-Boot (im wörtlichen Sinne) durcheinander...

Als ich THE NAVIGATOR im Jahr 2012 zum ersten Mal sah, speicherte ich ihn in der Kategorie „okay-ish“ ab. Eine Sichtung im Kino letztes Jahr öffnete mir dann die Augen für die grandiose Keaton‘sche Komik, die tolle inszenatorische Gestaltung und die Poetik des Films. Die erneute Sichtung für diese Besprechung ließ mich noch weitere Feinheiten entdecken, die ich vorher nicht gesehen oder bemerkt hatte.

THE NAVIGATOR mag vielleicht nicht Keatons bester Film sein und er ist auch nicht mein Lieblings-Keaton (da bin ich recht „traditionell“ und würde wohl THE GENERAL wählen). Wer mich jedoch – als erklärter Keaton-Fan und ambivalenter Chaplin-Skeptiker – fragen würde, warum ich den „Mann mit dem Steingesicht“ für den allergrößten unter den Stummfilm-Komikern der 1920er Jahre halte, dann würde ich wohl auf die „Verfolgungsjagd“ im ersten Drittel von THE NAVIGATOR hinweisen. In knapp drei Minuten und (je nach dem, wo man das Ende setzen möchte) 31 Einstellungen erschafft Keaton ein Gag, der wie ein eigener Ultrakurzfilm funktioniert, mit einer eigenen minutiösen Dramaturgie und der fast zu 100 % nur mittels der Montage und der Rauminszenierung abgewickelt wird (zum Nachverfolgen siehe hier).

Exposition: ein Mann und eine Frau – verloren auf dem Schiff
1 Panorama auf das verlassene Schiff
2 Rollo tritt nach der Nachtruhe gutgelaunt aus seiner Kabine aufs Deck hinaus, doch ein Windstoß bläst sein Hut weg. Er tritt wieder an seine Kabine, nimmt einen Reservehut und geht weiter (die Grundlage für eine spätere und erstaunlich nonchalante Wiederholung des Witzes)
3 Betsy läuft auch auf dem Deck, ist sichtlich verunsichert und sucht nach Ko-Passagieren
4 Rollo betritt das Schiffsrestaurant, das sichtlich menschenleer ist
5 Halbnahaufnahme: Rollo ist etwas irritiert und
6 tritt aus dem Schiffsrestaurant hinaus...
7 aufs Deck, wo ihm ein Windstoß wieder den Hut wegbläst – im Gehen greift er gleich in seine Kabine und setzt den nächsten Hut auf (diesmal einen Zylinder, also einen Hut, den man als Bräutigam tendenziell eher auf einer Hochzeit tragen würde als einen pork pie hat!)
8 er kommt an das Steuer, findet dort niemanden vor, dreht ein wenig an der Lenkung und blickt neugierig auf das, was sich gleich als Kompass herausstellt
9 Kompassnahaufnahme
10 Er blickt auf seine Uhr, erstaunt auf den Kompass, dann wieder auf seine Uhr

Mittelteil: ein Mann und eine Frau – Möglichkeit einer Begegnung
11 Sie kommt auf das Deck an, wo sich seine Kabine befindet, und steigt die Treppen herunter und kehrt ihm den Rücken zu, während er von weiter oben hinuntersteigt: die Möglichkeit einer Begegnung ist also gegeben
12 Beide bleiben erst einmal auf ihrer jeweiligen Etage stehen
13 Er wirft eine aufgerauchte Zigarette herunter
14 Er entfernt sich langsam aus dem Bild, während sie stehen bleibt.
15 Nahaufnahme brennende Zigarette
16 Sie hebt die Zigarette auf...
17 ...und ruft

Showdown: ein Mann und eine Frau – verpasste Begegnung
18 ...er hört, dreht sich um, beginnt zu rennen
19 sie steigt auf seine Etage, ruft, beginnt zu rennen
20 er rennt
21 sie rennt, biegt ab – er kommt am anderen Ende um die Ecke und rennt
22 sie rennt, biegt ab – er biegt ab, rennt
23 sie biegt ab, rennt, biegt ab – er biegt ab, rennt
24 sie rennt, biegt ab – er biegt ab, rennt, biegt ab
25 sie tritt in einen Raum und geht dort eine Treppe runter – er kommt am anderen Ende des Raums (das zwei Türen hat) rein, ignoriert die Treppe, und springt an der anderen Seite aus der Tür raus
26 Nun rennen beide durchgehend im gleichen Bild vereint durch drei verschiedene Etagen des Schiffs, und verpassen sich trotzdem. Dieses Bild ist gewissermaßen die radikale Zuspitzung der Grundsituation eines Mannes und einer Frau, die sich verpassen – und vielleicht der visuelle Höhepunkt des Films.

Auflösung: ein Mann und eine Frau – Zufallsbegegnung
27 Sie steigt schließlich in das Schiffsinnere hinab und setzt sich auf eine Bank
28 Aus Versehen (schon wieder!) fällt Rollo durch ein Lüftungsrohr (oder wie man die Dinger nennt – Marinejargon beherrsche ich nicht gerade fließend)
29 Sie sitzt auf der Bank, er fällt runter, dabei zerbricht die Bank
30 Beide ahnen schlimmes, richten sich auf, sehen sich an, erkennen sich, schrecken auf. Er entspannt sich sogleich, nimmt eine coole Charmeurpose ein, setzt ein verführerisches Gesicht auf (Stoneface hin oder her: Keaton ist ein grandioser Mime) und spricht:
31 Zwischentitel: „Will you marry me“

Jetzt, wo ich die „Verfolgungsjagd“ in einzelne Einstellungen aufgesplittet habe, fällt mir auf, dass sie gleichermaßen auch eine Art kondensierte Zusammenfassung einer Mann-Frau-Annäherung ist (Existenz untereinander unbekannt, Begegnung möglich, Begegnung angebahnt, Begegnung findet statt) – und damit gewissermaßen auch das Thema des gesamten Films (ein Mann möchte eine Frau heiraten) zusammenfasst.
Sie ist formell großartig, weil sie den Gag aus Montage und Rauminszenierung heraus entwickelt. Das Lachen wird so im Raum verortet, und nicht mehr im Körper der Darsteller oder in den Accessoires (außer im Sub-Gag mit dem Hut). Buster Keaton war durch seine Stunts eigentlich immer körperlicher als Chaplin, aber zugleich auch abstrakter und formalistischer (einen solchen Formalismus erreicht Chaplin meiner Meinung nach nur in seinem unterschätztesten und gewissermaßen Keaton‘schesten Stummfilm, THE CIRCUS).

Einen ähnlich formalistischen Gag bringt Keaton schon früher im Film. Rollo hat gerade entschieden, zu heiraten. Also geht er zu seiner Nachbarin, um sie über ihre glückliche Zukunft zu unterrichten. Er setzt sich in das Auto, der Chauffeur fährt los. Normalerweise eine expositorische Einstellung, die mit einem Schnitt oder einer Abblende abgebrochen wird, damit die Person in der Einstellung danach ankommt. Stattdessen folgt ein kleiner Kameraschwenk, und wir sehen, dass das Auto kurz nach Anfahrt umbiegt, um auf der anderen Straßenseite, also knapp zehn Meter weiter, zu parken. In nur wenigen Sekunden entwickelt sich nicht nur ein subtiler, aber sehr witziger Gag, sondern zugleich auch eine Charakterisierung der Rollo-Figur, deren Untauglichkeit für den Lebensalltag (von einer extremen Survival-Situation mal ganz abgesehen) in einer einzigen Einstellung demonstriert wird. Mit einer einzigen Einstellung (geschenkt: dass Rollo ein etwas tollpatschiger Träumer ist, wissen wir schon aus vorherigen Szenen) wird eine Fallhöhe für das darauffolgende Survival-Szenario geschaffen, und obwohl wir über die Figur lachen, fühlen wir mit ihr und ihrem klassenbedingt beschränkten Lebenshorizont. Diese Einstellung ist sozusagen die eigentliche, richtige Exposition des Films. Die vordergründige Exposition um die wirre Spionagegeschichte wird vergleichsweise recht verkrampft und überkompliziert abgewickelt und dient nur dazu, die beiden Protagonisten halbwegs glaubwürdig auf das leere Schiff zu bringen.

Auch in kleinen, scheinbar unwichtigen Momenten beweist Keaton einen großen visuellen Einfallsreichtum und einen feinen Sinn für Poesie. Als sich Rollo und Betsy sich zur Nachtruhe verabschieden, tun sie es auf eine relativ formelle und distanzierte Weise. Rollo zündet für Betsy nur noch kurz eine Kerze an und dann geht jeder aufs Zimmer. Doch eben jenes Kerzenlicht wirft einen Schatten der beiden in den Hintergrund, der leicht verzerrt ist – sodass sich Rollo und Betsy in ihrer Schattenvariante küssen! Das kann man leicht übersehen, weil abrupt von einem Zwischentitel in die Szene geschnitten wird und die „realen“ Figuren, die im Bildvordergrund die Kerzen anzünden, eher die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Die deep-focus-photography, die Keaton nicht nur in diesem Film sehr gewinnbringend einsetzt, ermöglicht aber auch in diesem Fall einen Blick auf die vermeintliche Nebenhandlung.

Einen sehr schönen Moment würde ich als „Poesie des Trotzes“ bezeichnen. Rollo und Betsy haben versucht, draußen zu übernachten, wurden jedoch vom Regen überrascht, sind durchnässt in das Schiffsinnere geflüchtet und können nicht mehr auf guten Schlaf hoffen. Rollo entdeckt an einem Tisch ein Kartendeck, das jedoch eine kleine Wasserfontäne aus Betsys Hut nass gemacht hat. Er nimmt es auf, und beginnt zu mischen. Oder versucht es. Gleich zwei Karten bleiben kleben (Herzbube und Herzdame!). Dann mischt er weiter. Was natürlich überhaupt nicht klappt, weil die durchweichten Karten sich verbiegen, aneinander kleben bleiben. Doch Rollo stört das nicht wirklich und er macht unbeirrt einfach weiter, bis am Schluss nur noch matschige Papierpampe übrig ist. Erst beim Austeilen der Karten hat Rollo Einsehen, dass das nichts wird.

Ein kleiner Höhepunkt der Akrobatik ist natürlich die Tauchssequenz, als Rollo mit einem schweren Taucheranzug unter Wasser geht, um ein Leck am Schiff zu reparieren. Als er ins Wasser taucht, scheint er zugleich in eine Art Unterbewusstsein, oder in einen Traum einzutauchen: die Gags werden surrealer. Ein Baustellenwarnschild für die Straße findet sich zufällig unter Wasser, und Rollo stellt es dann auch gewissenhaft und gut lesbar hin, bevor er ans Werk geht. Nach Ende der Reparatur wäscht er sich auch ganz gründlich die Hände und trocknet sie ab – also unter Wasser!

Sowie COPS oder eben THE LOVE NEST zu den düstersten Keaton-Filmen gehören, gehört THE NAVIGATOR zu den fröhlichsten und optimistischsten. Wenn ich vorher schrieb „der nächste Heiratsantrag könnte also klappen“, dann ist damit gemeint: der wird klappen! Der unbewusst aufgesetzte Zylinderhut (bräutigamtauglich) während der „Verfolgungsjagd“, der nächtliche Schattenkuss, das Zeichen der Karten: Immer wieder weist der Film mit mehr oder minder subtilen visuellen Mitteln daraufhin, dass Rollo und Betsy eigentlich ein gutes Paar sind bzw. heiraten sollten. Und warum nicht auch gleich noch Sex haben sollten! Als Rollo mit seinem Taucheranzug die Kannibalen verscheucht, wollen er und Betsy zum Schiff zurückkehren. Sie wählen dabei eine unorthodoxe Variante: Rollo legt sich im Wasser auf den Rücken, während sich Betsy rittlings auf ihn draufsetzt und dann in Richtung Schiff paddelt. Sex in Reiterstellung bei einem unverheirateten Paar kennt man in Hollywood gewöhnlich nur aus „Post-Code“-Zeiten (also über vier Jahrzehnte nach Erscheinen von THE NAVIGATOR). Nun: 1924 war Will H. Hays schon Präsident der Motion Picture Producers and Distributors of America, aber bis zu seinem „Code“ sollte es noch ein bisschen dauern (die gleiche Szene ist nach 1930/34 schwer vorstellbar).

Interessant und etwas verstörend ist der autoaggressive Akt, der folgt, als die beiden am Schiff ankommen. Wasser ist in den Taucheranzug gelangt. So greift Rollo zu einem Messer und schlitzt sich den Bauch auf. Natürlich: nur der Bauch des Anzugs. Das ganze wirkt dennoch recht drastisch. Thanatos folgt wenige Sekunden nach dem Eros. Eine selbst auferlegte Bestrafung für die vorangehende Ungezügeltheit?

THE NAVIGATOR endet jedenfalls mit einer kleinen Anspielung auf THE BOAT: das U-Boot dreht sich um die eigene Achse wie das kleine Schiff im Kurzfilm. In den ganzen Apparaturen, die sich Rollo und Betsy in der Küche zusammenzimmern, kann man durchaus ein kleines Zitat aus dem Kurzfilm THE SCARECROW sehen, in dem sich Buster Keaton und Joe Roberts eine WG mit allerlei technisch raffinierten Apparaturen eingerichtet haben – ein kleiner Triumph des Geistes über die Materie. THE NAVIGATOR wiederum übt mit seiner Trias aus Mann-Frau-Maschine Themen ein, die später in THE GENERAL noch beschleunigt wurden.

Moskauer Straßen, kaukasischer Mais und immer wieder Krieg: das 15. goEast-Festival des mittel- und osteuropäischen Films

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Freitag, 24. April 2015

16.00 Uhr, Caligari FilmBühne
GOLI (NAKED ISLAND)
Regie: Tiha K. Gucac
Kroatien 2014
75 Min., DCP

Die kroatische Insel Goli Otok (wörtlich: „nackte Insel“) wurde von 1949 bis 1989 als Strafgefangenenlager genutzt. In den Anfangsjahren diente sie vor allem als Internierungsort für Stalinanhänger und Sowjetunion-nahe Mitglieder der Kommunistischen Partei, die nach dem Bruch Jugoslawiens mit der UdSSR 1948 massiv verfolgt wurden. Tiha Gucacs Großvater gehörte zu den knapp über 16.000 Menschen, die auf Goli Otok interniert wurden. In GOLI arbeitet die kroatische Filmemacherin das Schicksal ihres Opas auf, sucht mehrere Menschen auf, die sie als kleines Kind „Onkel“ oder „Tante“ nannte (Mitgefangene ihres Großvaters) und begibt sich schließlich auf Spurensuche auf die Insel.
Als persönliches Projekt mag GOLI sicherlich seine Berechtigung haben. Als Dokumentarfilm finde ich ihn eher mäßig gelungen. Das Nachvertonen von Archivfilmen und -fotografien bei historischen Dokumentationen ist mir nach wie vor unsympathisch, zumal in einer solchen Penetranz. Nach etwa der Hälfte des Films verliert Gucac auch vollkommen ihren Fokus: intimes Portrait des Großvaters, persönliches Familienalbum, Erforschung der „stalinistischen“ Frühphase Jugoslawiens, Denkmal für die ehemaligen Gefangenen von Goli Otok, Rundumschlag über politische Repression im sozialistischen Jugoslawien, öffentlich ausgetragene Fehde mit Mutter und Vater – irgendwie will der Film all das zugleich sein, und so gelingt ihm auch keines davon.


18.00 Uhr, Murnau-Filmtheater
ČOVEK I ZVER (MAN AND BEAST)
Regie: Edwin Zbonek
Jugoslawien / Bundesrepublik Deutschland 1963
90 Min., 35mm


© Fotoarchiv des Deutschen Filminstituts – DIF
ČOVEK I ZVER war Teil der selektiven Artur-Brauner-Retrospektive, die das diesjährige Symposium des goEast-Festivals mit dem Untertitel „Der Produzent als Grenzgänger und Brückenbauer“ präsentierte. Im Mittelpunkt standen west-östliche, thematisch und und von den Bedingungen der Produktion her grenzüberschreitende Filme Brauners.
Gemäß den Ausführungen Olaf Möllers, Kurator der Brauner-Retrospektive, wurde im Deutschland der 1960er Jahre kaum ein Film mit so viel Hass, Zorn und Missmut empfangen wie die jugoslawisch-deutsche Produktion ČOVEK I ZVER. Mit heutigen Augen hingegen kann man ein kleines Filmmeisterwerk begutachten, ein wunderbarer Grenzgang zwischen dem klassischen Erzählkino und den Erneuerungswellen der frühen 1960er Jahre. Das Lexikon des internationalen Films erwähnt „dramaturgische Schwächen“ und „Kolportage“ (der kann also nur toll sein!).
Erzählt wird die Geschichte der mühsamen Flucht eines Häftlings aus einem Konzentrationslager. Franz (Götz George) flieht aus dem Lager, in dem sein Bruder Willy als Wachmann arbeitet. So wird die Flucht nicht nur zu einem Weg in die Freiheit, sondern auch zu einer tragischen Familienauseinandersetzung biblischen Ausmaßes.
Die Projektion des Films war – gelinde ausgedrückt – eine Katastrophe. Das Bild, dessen Format wohl offenbar irgendwo bei 1.66:1 liegen sollte, war viel zu eng maskiert. Die Maskierungen waren schlecht eingestellt, so dass an den Seiten des Bildes relativ breite Schattenstreifen zu sehen waren. Gezeigt wurde offenbar ein originaler jugoslawischer Cut des Films auf Serbokroatisch, und die englischen Untertitel wurden digital projiziert – meistens aber nicht. Optimistisch geschätzt wurden vielleicht gerade mal ein Drittel der Dialoge halbwegs adäquat untertitelt, und das bei einem Film, der, wenn er mal Dialoge hat, dann auch richtig loslegt.
Und was kann man sagen: der Film war trotzdem magisch. Die eindringlichen Bilder wirkten dennoch wuchtig, beeindruckend, furchteinflössend, umwerfend. Die teils sehr schnelle Montage brachte dennoch genau das richtige Maß an Überwältigung, die dem Thema angemessen erscheint. Wenngleich das Gesagte oft keinen Sinn ergeben konnte und keine Zusammenhänge schuf, so hielten die Bilder das ganze zusammen. Dieser schreckliche Moment, wenn Franz und ein anderer Gefangener gezwungen werden, einen an ein Kreuz gebundenen nackten Co-Häftling zu Tode auszupeitschen. Franz‘ Versteck in der wassergefluteten Höhle, mit dichtem weißen Nebel, das über das Wasser zieht. Und eine der vielleicht ungewöhnlichsten Verfolgungsjagden, die je in einem Film zu sehen war: ein Mann fährt bei hohem Schnee wackelig mit einem Fahrrad davon und ein Schäferhund rennt ihm nach. Die unvermeidliche Begegnung mündet in einen Kampf: der Mann kann den Hund würgen, auf den Boden niederringen. Der Hund versteht dies als Unterwerfungsgeste, und anerkannt infolgedessen Franz als seinen neuen Meister. Ein magischer Filmmoment.


20.00 Uhr, Murnau-Filmtheater
BRICHA EL HASHEMESH (ESCAPE TO THE SUN)
Regie: Menahem Golan
Israel / Frankreich / Bundesrepublik Deutschland 1972
ca. 115 Min., 35mm

„Wer denkt, dass Artur Brauner keine trashig-sleazige Seite hatte, wird hiermit eines besseren belehrt.“ - meinte sinngemäß Olaf Möller in einem inoffiziellen Statement vor den Türen des Murnau-Filmtheaters nach der Aufführung dieses zutiefst bizarren Films. Ja, man lasse sich das mal auf der Zunge zergehen: Menahem Golan, der spätere Boss der Cannon Group, inszeniert einen Film über das Schicksal sowjetischer Juden, denen zu Beginn der 1970er Jahre die Ausreise aus der Sowjetunion verweigert wird.

© Fotoarchiv des Deutschen Filminstituts – DIF
Filmstill ist schwarzweiß, der Film selbst aber in Farbe
Herausgekommen ist ein echtes Kuriosum. Der Film soll ein ernsthaftes oder besser gesagt ein ernsthaft gemeintes Statement über Antisemitismus in der Sowjetunion sein. Dabei ist er jedoch nicht angemessen nüchtern, sondern völlig melodramatisch inszeniert, voller übergroßer Gefühle und überdrehtem Kitsch – als hätte sich Golan mit einer Douglas-Sirk-Retro auf den Dreh vorbereitet. Golan ist aber nicht Sirk, und zwischendurch ist BRICHA EL HASHEMESH ein echt banales Stück Film, der energielos Expositionsschnipsel vor sich hinjagt – nur um dann wenig später kleine Manierismen bis zum Anschlag aufzudrehen. Als der Held der Geschichte, Yasha Bazarov, mit einer Schusswunde in der Schulter delirierend in einer Scheune liegt, beginnt die Kamera pumpend in eine Öllampe an der Decke rein- und rauszuzoomen – ganz so, als hätten wir kurzzeitig in einen italienischen Giallo reingezappt. Oder als Sarah Kaplan (Lila Kedrova) den Bescheid über die Ablehnung ihres Ausreiseantrags erhält, da geht sie in eine schummerige Kneipe. Eigentlich will sie nicht trinken, doch der lokale Säufer vom Dienst flirtet sie an und überredet sie dazu, einen zu heben und ihre Seele auszuweinen. Ein paar Jahre zuvor deklamierte Kedrova einige antikommunistische Gemeinplätze in einer ähnlichen Situation in TORN CURTAIN und das war‘s, doch hier geht es anders aus: es wird weiter gesoffen, und weiter gesoffen, und irgendwann wird das Mobiliar zertrümmert, Zucker aus unerfindlichen Gründen systematisch auf der Tischdecke verstreut und nostalgische jiddische Liebeslieder gesungen.
Aber um noch mal von vorne anzufangen... ähm... ob das hilfreich ist? Der Film beginnt mit einem fingierten Prozess, der, wenn die Angeklagten keine Juden wären, glatt aus dem feuchten Schritt eines McCarthyisten entspringen könnte (so strunzegemein ist diese sowjetische Richterin mit ihrer blau getönten Sonnenbrille, die aus dem in der UdSSR natürlich nichtexitenten Hippieladen um die Ecke zu kommen scheint)! Die Angeklagten werden von den Kommunisten jedenfalls durch die Bank zum Tode verurteilt (von der Frau abgesehen), und der Schriftsteller zum Zwangsaufenthalt in der Psychiatrie, was ihn zu einer schwülstigen Rede über Gedankenfreiheit inspiriert. Schnitt: in Zeitlupe fährt ein verliebtes Pärchen während der Credits in einer Kutsche durch eine romantische verschneite Landschaft und tollt dann ein wenig im Schnee herum (wirklich komplett von A bis Z in Zeitlupe!). Und dann folgt die nächste Szene: Yasha Bazarov ist beim Handball der tollste Spieler, doch seine Mannschaftskollegen mögen ihn nicht, weil er Jude ist. Das sieht man an dem Goldkettchen, das er auch in der Gemeinschaftsdusche der Sporthalle auf seiner wuchernden Brustbehaarung trägt, während er sich nach dem Spiel genüsslich einseift. Es gibt dann eine kleine Prügelei, in Zuge derer Seifenschaumteile auch mal den Körper wechseln.
Metaphorisch gesagt, schafft der Film die Gradwanderung zwischen ernsthaftem Anliegen und irrsinnigem Melodrama nicht: er stolpert, und fällt... aber er prallt nicht auf den Boden, sondern fängt an zu schweben und fliegt dann einfach weg, um etwas anderes zu werden.
Am vielleicht beeindruckendsten ist die Figur des Major Kirsanov (Laurence Harvey), der die Familie Bazarov und deren Freunde verfolgt, schikaniert, bedrängt, unter Beobachtung stellt. Major Kirsanov (a. k. a. „Major Hartschnurrbart“, wie ich ihn seit der Sichtung des Films gerne nenne) ist gewissermaßen die Heisenbergsche Unschärferelation des Films. Er ist die fleischgewordene politische Repression der UdSSR – aber ist kein Antisemit! Er ist der persönliche Dämon des Films und der Bazarovs – und verbrachte dennoch seine Kindheit als armer kleiner Waisenjunge! Er ist die Verkörperung des bürokratischen Glaubens an das Sowjetsystem – aber im Grunde drangsaliert er die Bazarovs nur, weil er gerne mal Yashas Verlobte Nina zum Beischlaf zwingen würde. Er ist die absolute Negativfigur des Films – doch wie soll man jemanden hassen, der aussieht, als hätte ein Elvis-Imitator mit Schnurrbart aus Tollpatschigkeit sein weißes Las-Vegas-Kostüm mit einer KGB-Uniform verwechselt? Irgendwie scheint sich Golan auch ein bisschen in Major Hartschnurrbart verliebt zu haben (die logischste Alternative wäre Nina Kaplan, gespielt von Josephine Chaplin, doch diese bewarb sich wohl mit diesem Film für den Negativpreis der ausdruckslosesten Schauspielerin ever). Und irgendwie scheint es auch logisch und folgerichtig, dass ihm, Major Hartschnurrbart, das Freezeframe gehört, mit dem der Film aufhört.
Auch wenn das nach diesen vielen Ausführungen nicht verwunderlich klingt: BRICHA EL HASHEMESH lässt mich einfach nicht los, und je mehr ich über diesen Film nachdenke, umso mehr mag ich ihn.


22.30 Uhr, Caligari FilmBühne
CRNCI (THE BLACKS)
Regie: Goran Dević, Zvonimir Jurić
Kroatien 2009
75 Min., 35mm

Stell dir vor, einige Männer in lächerlichen Kostümen rennen durch einen Wald, spielen Krieg und der ganzen Welt ist es egal...
Die ersten zwanzig Minuten von CRNCI sagen vielleicht mehr über die Absurdität von Krieg als die meisten (vermeintlich) großen Meisterwerke des Antikriegsfilms. Während der jugoslawischen Zerfallskriege begeben sich ein paar kroatische Soldaten auf eine Mission, um einige Kollegen aus serbischer Gefangenschaft zu retten. Sie haben keine Ahnung, wo sie sind. Sie wissen nicht, welcher Spur sie folgen sollen. Der älteste Soldat und Chef des Trupps behauptet unermüdlich zu wissen, wo sie sich befinden. Die anderen wissen, dass das nicht stimmt. Sie rennen weiter. Der jüngste Soldat muss sich hinter einem Gebüsch erleichtern, und als alle nach zwei weiteren Stunden Marsch seinen Haufen entdecken, ist es kaum noch zu verbergen, dass sie herumirren. Feinde gibt es bestimmt auch irgendwo im Wald, bloß wo? Das ganze endet jedenfalls in einem fürchterlichen Blutbad: die Soldaten bringen sich gegenseitig bzw. sich selbst um.
Nach diesem Prolog folgt die große Rückblende, die erklärt, warum das eben gesehene passiert ist. Was ich davon halten soll, weiß ich ehrlich gesagt nicht: verwirft der Film nicht seine eigene Prämisse, wenn er alles doch irgendwie „erklärt“? Und hätte ich nicht lieber einen Film gesehen, in dem ein paar Männer 70 Minuten lang durch einen Wald rennen? Beide Fragen würde ich mit Ja beantworten. 
Allerdings kämpfte ich nach etwa einer halben Stunde Laufzeit mit großer Müdigkeit und nickte immer wieder ein: jeweils nur ganz kurz, aber trotzdem konnte ich irgendwann die gesehenen Bilder nicht mehr sinnvoll zusammenfügen – also auf einer rein kognitiven Ebene. Ich schaute den Film, sah ihn aber nicht.


Samstag, 25. April 2015

10.00 Uhr, Pressesichtungsraum Festivalzentrum im Gebäude der Wiesbadener Casino-Gesellschaft
ANGELY REVOLJUCII (ANGELS OF REVOLUTION)
Regie: Aleksej Fedorčenko
Russland 2014
113 Min, Screener
© goEast
Aleksej Fedorčenko ist gewissermaßen ein alter Bekannter des goEast (siehe hier). Zusammen mit seinem Drehbuchautor Denis Osokin befasst er sich nun schon seit einigen Filmen immer wieder mit kleinen ethnischen Minderheiten in Russland. Nun auch in ANGELY REVOLJUCII.
Den Inhalt zusammenzufassen ist gar nicht so einfach, aber in Grundzügen zu schaffen: Polina Schneider, eine Beamte des Bildungsministeriums (?), wird zusammen mit anderen Sowjetaktivisten (die vielleicht ihre früheren Liebhaber sind?) in die Provinz geschickt, um den indigenen Völker der Chanty und der Nency die sowjetische Lebensweise näher zu bringen. Das klappt teils mehr (die Ausstellung suprematistischer Avantgardebilder kommt erstaunlich gut an), teils weniger (die Kampagne gegen religiöse Katzenverehrung stößt auf massives Unverständnis). Schlussendlich werden die sowjetischen Bildungsaktivisten ermordet, und es folgt eine brutale sowjetische Terrorkampagne, bei der unter anderem Älteste öffentlich verstümmelt werden...
ANGELY REVOLJUCII zeichnet den Übergang von der „liberalen“ sowjetischen Nationalitätenpolitik in den 1920er Jahren hin zur terroristischen Nationalitätenpolitik der 1930er Jahren nach. „Liberal“ war immer in Anführungszeichen zu verstehen, denn die Verbreitung des muttersprachlichen Unterrichts, die Förderung traditioneller Kultur und die ethnischen Quotenregelungen für Staats- und Parteiposten auf lokaler oder regionaler Ebene hatten von Beginn an ihre Schattenseiten. Die UdSSR führte zugleich einen Zwang zu eindeutiger nationaler Identität ein, kleine Minderheitengruppen wurden exotisiert, der sowjetische Vielvölkerstaat war stets ein recht eindeutig russisch-zentriertes „Zivilisierungsprojekt“.
Die recht differenzierte Darstellung sowjetischer Minderheitenpolitik, das Portrait indigener Völker in der frühen Sowjetunion, die Gestaltung der Dramaturgie nach der (Nicht-)Logik des magischen Realismus, die Unterbringung vieler, vieler, vieler, vieler kleiner Ideen: all dies gelingt Fedorčenko und Osokin mit Ach und Krach. ANGELY REVOLJUCII ist kein schlechter Film, und wirklich Langeweile kann eh nicht aufkommen, aber er ist manchmal hoffnungslos überladen, verzettelt sich in Mini-Vignetten variierender Qualität. Sein Zugang zur frühen Sowjetzeit als historisches Ereignis ist nicht uninteressant, zumal die zerschossene Form des Films vielleicht mehr über das gewalttätige Chaos der Zeit sagen kann, als eine „realistische“ Herangehensweise. Dennoch bleibt neben der Hoffnung auf weitere spannende Filme Fedorčenkos und Osokins auch ein leichtes Gefühl der Frustration oder Enttäuschung zurück.


12.00 Uhr, Pressesichtungsraum Festivalzentrum im Gebäude der Wiesbadener Casino-Gesellschaft
[DIGITAL RESTAURIERTE FILME DER MANAKI-BRÜDER]
Regie: Janaki Manaki, Milton Manaki
[Mazedonien] 1905-1923
ca. 70 Min. (gesehen: 35), Screener

Janaki und Milton Manaki gelten als die ersten bedeutenden Filmemacher des Balkans, als Filmpioniere Südosteuropas. Ganz und gar nicht pionierhaft ist der Screener, der die Kinovorführung ohne meine Anwesenheit ersetzen musste. Möglicherweise war die Kontextualisierung bei der Aufführung besser oder anders, aber so präsentierte sich das ganze als lose Ansammlung von Filmschnippseln ohne jegliche Kontextualisierung. Filmtitel und Zwischentitel hatten das gleiche Schriftbild, was die Sichtung nicht eben einfacher machte. Die Bilder selbst: in dieser Form ethnografisch interessanter als filmografisch. Die Manaki-Brüder filmten Alltagsszenen in mazedonischen Dörfern (Markt, Schlachtbetrieb, Hochzeitsfeier), und offenbar ganz viele osmanische Militärparaden. Ratlos und enttäuscht unterbrach ich irgendwann die Sichtung und ging in die Mittagspause vor dem längsten Film des Festivals.


14.00 Uhr, Murnau-Filmtheater
MNE DVADCAT‘ LET (I AM TWENTY)
Regie: Marlen Chuciev
UdSSR 1965
175 Min., 35mm

© goEast
Der in Tiflis geborene Regisseur Marlen Chuciev gehört zu den Gallionsfiguren des sowjetischen Tauwetters im Kino – gleichwohl er namentlich unbekannter ist als etwa Tarkovskij oder Kalatazov. Seinen Magnum Opus MNE DVADCAT‘ LET bezeichnete Olaf Möller gar als „Zentralmassiv des Tauwetter-Kinos“.
Wenn ich es richtig verstanden habe, gibt es von diesem Film drei Versionen. Die erste, von 1962, hieß noch ZASTAVA IL‘IČA und kam niemals in die Kinos, weil Nikita Chruščev den Film sah, nicht mochte und sogleich verbot. Unter strengen Auflagen erhielt Chuciev die Erlaubnis, denselben Film noch einmal zu drehen: heraus kam MNE DVADCAT‘ LET in der Fassung von 1965, die im Murnau-Filmtheater lief und unter Experten als die beste gilt. Ende der 1980er Jahre schnitt Chuciev eine neue Fassung zusammen, möglicherweise aus den beiden existierenden?
Im (vagen) Zentrum von MNE DVADCAT‘ LET steht Sergej, der vom Militärdienst in seine Heimatstadt Moskau zurückkehrt und dort sein neues Leben als Erwachsener in die Gänge leitet. Er verliebt sich in eine Passantin, deren Liebe er tatsächlich erobern kann, besucht Parties, sorgt sich mit Mutter und Schwester um den Unterhalt der Wohnung, stellt sich die großen Fragen des Lebens und begegnet schließlich in einer Vision seinem im Zweiten Weltkrieg gefallenen Vater.
Trotz der Laufzeit ist MNE DVADCAT‘ LET ein „kleiner“ Film der „großen“ kleinen Momente. Weniger ein dramaturgisches Konzept als eine lockere Aneinanderreihung kleiner Vignetten bietet Chuciev in seinem monumentalen Film. Mehr als das große Ganze brennen sich eher mehr oder weniger kurze Passagen in die Netzhaut. Eine Bande von Kumpels, die sich nach einer durchfeierten Nacht im Innenhof eines Wohnkomplexes trifft, und einer bringt einen Topf mit Fleischnudeln mit, aus dem direkt gelöffelt wird. Die Eröffnung mit der komplexen Plansequenz, in der die Kamera durch eine Straße streift und nach dem Protagonisten sucht. Überhaupt Chucievs Vorliebe für fast menschenleere Moskauer Straßen.
Der Höhepunkt des Films ist sicherlich die „große Verfolgungsjagd“: Sergej geht mit dem Nachbarsjungen ins öffentliche Bad. Im Bus verliebt er sich spontan in eine Co-Passagierin, die ganz in ihre Buchlektüre vertieft ist. Er will unter allen Umständen die junge Frau im Blick behalten, auch wenn der Bus ganz schön voll ist und andere Passagiere ihn teils zur Seite schieben. Als sie aussteigt, folgt er ihr weiter, über einen Büchermarkt, über einen Imbiss und bis hin zu ihrer Haustür. Sie hat irgendwie geahnt, dass sie verfolgt wurde, und als sie Sergej schließlich erblickt,  „verabschiedet“ er sich mit einem Winken.
Nicht weniger schön ist die Sequenz der Maiparade, bei der Sergej die Frau wieder trifft. Sie ist dort mit ihren Freunden unterwegs, die nach ihr rufen („Anja“) als sie kurz zurückbleibt, um mit Sergej zu reden (so erfährt er ihren Namen). Er selbst spannt dann seine Kumpels ein, um ebengesagte Freunde der Frau loszuwerden: geschickt drängen sie sie in Situationen, in denen sie gezwungen werden, eines der vielen großen 1.-Mai-Banner zu tragen. Sergej flieht mit Anja aus der Maiparade, geht zu ihr nach Hause. Auf dem Treppenabsatz wehrt sie einen Kuss ab, doch sie erlaubt ihm, ihn anzurufen. Ein Bild für die Ewigkeit: Anja steigt die Treppe hoch, und am Ende eines jedes Stockwerks schaut sie herunter und teilt Sergej ein weiteres Stück ihrer Telefonnummer mit.
Nun... so sehr viele dieser Momente auch geglückt sind (die Begegnung mit dem Vater in der Vision ist ebenfalls sehr berührend), so sehr scheint mir MNE DVADCAT‘ LET als epische Erzählung unausgegoren. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass ich zwischendurch mit der typischen Festivalmüdigkeit zu kämpfen hatte. Vielleicht würden weitere Sichtungen andere Erkenntnisse bringen (wie sie mir bei einem anderen „monumentalen“ Hauptstadtfilm, LA DOLCE VITA, schlussendlich brachten).


18.00 Uhr, Caligari FilmBühne
KEBAB I HOROSKOP (KEBAB AND HOROSCOPE)
Regie: Grzegorz Jaroszuk
Polen 2014
72 Min., DCP

Ein Horoskopschreiber und ein Mitarbeiter in einer Dönerbude, die beide eben arbeitslos geworden sind, treffen sich zufällig. Spontan stellen sie ein gemeinsames Projekt auf die Beine: zusammen geben sie sich als Marketing-Spezialisten und möchten einen fast bankrotten Teppichladen und seinen Mitarbeitern mit klugen Tips über Selbstoptimierung und Effizienzsteigerung wieder auf die Beine helfen...
KEBAB I HOROSKOP ist ein recht sympathischer Film. Zu viel mehr reicht es allerdings nicht. Die minimalistische aber großartige Eingangssequenz, in der sich die beiden Protagonisten in einer Dönerbude begegnen und kennenlernen, setzt allzu hohe Versprechen. Die Grundidee (zwei „Loser“ erklären einer Gruppe von „Losern“, wie sie ihr Geschäft verbessern können, und alle lernen sich dabei besser kennen) läuft recht schnell ins Leere. Mehrere Subplots, etwa über einen japanischen Selbstmörder, der bei der Kassiererin des Ladens untergebracht ist oder über die manisch-depressive Mutter der Verkaufsberaterin laufen gegen die Wand: zu kurz, um wirklich interessant und greifbar zu werden, zu lang als einfache „Nebensätze“. Da die Grundidee rasch ausgelutscht ist, gerät der Film auch in eine gewisse Vorhersehbarkeit und arbeitet sich zunehmend verkrampft am Plot ab.
Je mehr ich über den Film nachdenke, umso belangloser scheint er mir.


20.00 Uhr, Alpha-Saal im Apollo-Kinocenter
SIMINDIS KUNDZULI (CORN ISLAND)
Regie: George Ovashvili
Georgien / Deutschland / Frankreich / Tschechische Republik / Kazachstan / Ungarn 2014
100 Min., DCP

© goEast
In einem Fluss, der Georgien von Abchasien trennt, werden in jedem Frühjahr kleine Inseln aufgeschwemmt, die bis in den Herbst, wenn sie wieder weggeschwemmt werden, fruchtbare Mini-Kornkammern bilden. Auf eben einer solchen Insel baut ein alter abchasischer Bauer mit Hilfe seiner Enkelin eine Hütte und legt ein Maisfeld an. Um die beiden herum bekämpfen sich währenddessen georgische und abchasische Soldaten...
Der größte Skandal des diesjährigen goEast-Festivals ist wohl, dass diese kleine Filmperle aus Georgien nicht im Wettbewerb lief, sondern in der „Beyond Belonging“-Sektion „Filmen gegen Krieg: von Trauma und Aussöhnung“. SIMINDIS KUNDZULI ist eine Urgewalt von einem Film. Eine extrem einfache Erzählung, inszeniert in traumhaft schönen Cinemascope-Bildern, die vom Klang der Wellen, des Windes in der Mais-Plantage und ab und zu der Gewehrschüsse rhythmisiert werden. Der Film ist über weite Strecken fast komplett dialogfrei (ohne die Uhr gestoppt zu haben: die erste Dialogzeile erklingt wohl nicht vor der 30-Minuten-Marke), sondern vertraut vollkommen seinen Bildern. Klar, Filme mit extrem wenigen Dialogen können mich immer leicht beeindrucken. Aber der Zauber von SIMINDIS KUNDZULI reicht weiter. Es ist auch eine universelle und wahrhaft große humanistische Geschichte. Dabei vollkommen unsentimental. Der alte Mann rettet einen verletzten georgischen Soldaten – nicht, weil es im Drehbuch so nett aussieht, sondern weil es in seinem Weltbild keine Alternative geben kann: er ist ein Gast, und der Gast wird eben versorgt. Reden tut er mit ihm dennoch nicht: sie könnten sich rein sprachlich eh nicht verstehen. Nur zornig wird der alte Mann, als der georgische Soldat und seine Enkelin sich anzuflirten beginnen. Wenn der Georgier dem alten Abchasier bei den Arbeiten hilft, dabei einige Pflöcke mit einer Axt zuspitzt und währenddessen die Teenagerin anguckt, dann ist klar, was Sache ist (überhaupt ist SIMINDIS KUNDZULI immer wieder unumwunden erotisch, wenn nicht gar ganz offen sexuell). 
Als Beitrag über Krieg ist dieser Film eigentlich mitnichten zu „gebrauchen“, denn das georgisch-abchasische Setting mit der angeschwemmten Insel gibt nur eine Grundsituation vor, die fast einer Laboranordnung gleicht, aber eben glaubwürdig unterfüttert ist.
Nun, wenngleich dieser ziemlich großartige Film nicht im Wettbewerb war, so gibt es dennoch eine kleine Gerechtigkeit auf dieser Welt: er läuft ab 28. Mai auch in Deutschland regulär im Kino.


22.00 Uhr, Caligari FilmBühne
POD ELEKTRIČESKIMI OBLAKAMI (UNDER ELECTRIC CLOUDS)
Regie: Aleksej German Jr.
Russland / Ukraine / Polen 2015
138 Min., DCP

Im Moskau der Zukunft wird ein Hochhaus nicht fertig gebaut, steht trist wie ein Klotz in der Gegend und viele Leute tummeln sich dann drum herum und deklamieren pompöse Dialogzeilen.
Zweifelsohne der Tiefpunkt des Festivals. Hohe Erwartungen, weil er ja auf der Berlinale gut lief. Im Ergebnis die Karikatur prätentiösen Kunstkinos. „Es isthart, ein Gott zu sein“ hieß der letzte Film Aleksej Germans Sr.. Ich kann nur sagen: es ist hart, Sohnemanns Film zu dieser fortgeschrittenen Stunde zu gucken und dabei wach zu bleiben. Mir ist es gelungen. Knapp. Die Mühe war es nicht wert.


Sonntag, 26. April 2015

10.00 Uhr, Pressesichtungsraum Festivalzentrum im Gebäude der Wiesbadener Casino-Gesellschaft
DE CE EU? (WHY ME?)
Regie: Tudor Giurgiu
Rumänien / Bulgarien / Ungarn 2015
132 Min., Screener

Ein eifriger Staatsanwalt ermittelt in einem Fall von Korruption gegen einen Kollegen. Dabei entdeckt er, dass hinter der Sache viel mehr steckt, als er ursprünglich dachte...
„Sidney Lumet für sehr arme Leute“ mag ein hartes Urteil sein, aber tatsächlich hat mich dieser rumänische Beitrag arg enttäuscht (nicht nur, weil Rumänien seit meinem letzten goEast für mich ein Filmland voller großer Versprechen ist). Der Hauptdarsteller Emilian Oprea war nach meinem Geschmack zu blass. Der Film schleppte sich mühsam und sehr drehbuchraschelnd durch seine Intrigen und Wendungen. Manche Charaktere (etwa die Verlobte des Protagonisten) scheinen nur da zu sein, weil es im Drehbuch steht. Vor allen Dingen aber scheitert DE CE EU? daran, dass die extreme Bedrängnis der Hauptfigur im Kampf gegen die Korruption zu keinem Zeitpunkt wirklich spürbar ist (genau das war die große Stärke von Altmeister Lumet in SERPICO, PRINCE OF THE CITY und NIGHT FALLS ON MANHATTAN), sondern stets nur eine reine Behauptung bleibt. Aus dem Nichts wird die Figur paranoid (weil es so im Drehbuch steht). Aus dem Nichts springt sie am Ende in den Freitod.


13.30 Uhr, Murnau-Filmtheater
IJUL‘SKIJ DOŽD‘ (JULY RAIN)
Regie: Marlen Chuciev
UdSSR 1966
108 Min., 35mm

© goEast
Wenn man IJUL‘SKIJ DOŽD‘ im Sinne des klassischen Erzählkinos zusammenfassen möchte, dann geht es um eine glückliche und harmonische Beziehung, die durch zunehmende Entfremdung nach und nach in die Brüche geht. Doch Chuciev „erzählt“ das nicht straight, sondern gönnt sich und seinen Figuren zahllose Umwege. Und tatsächlich sind diese Umwege wesentlich spannender als die „eigentliche“ Geschichte. Und zugespitzt: die „toten“ Momente des Films waren faszinierender als die „lebendigen“.
Drei dokumentarisch gefilmte, gewissermaßen „abstrakte“ Momente strukturieren IJUL‘SKIJ DOŽD‘. Zu Beginn gibt es eine sehr lange Plansequenz durch einen Moskauer Bürgersteig, die zwischendurch von Motiven aus der Renaissance-Malerei unterbrochen wird (die Hauptfigur, Lena, arbeitet in einem Verlag für Kunstbücher) und von einem Radio begleitet wird, dessen Sender immer wieder abrupt umgeschaltet werden.
Etwa in der Mitte des Films gibt es eine Passage mit einer Straßenmontage, bei der Kamera sich durch den Moskauer Straßenverkehr bewegt. Irgendwann taucht dann mit einer gewissen Regelmäßigkeit dasselbe Motiv auf: ein Transportwagen mit zwei aufgeladenen Pferden. Die „suchende“ Kamera „entscheidet“ sich schließlich für dieses Motiv und bleibt dann dran hängen. Dieser Moment ist vielleicht eine schöne Zusammenfassung von dem, was Chuciev-Filme charakterisiert: sie scheinen oftmals das Ergebnis zufälliger „Entscheidungen“ der Kamera zu sein. Wichtig scheint es zunächst immer zu sein, die vielen Möglichkeiten aufzuzeigen, um nach der Entscheidung zu wissen, dass es auch andere Auswahloptionen gegeben hätte. Es ist eine sehr offene Herangehensweise ans Kino und eine radikale Absage an das Konzept der Schicksalshaftigkeit: es muss nicht kommen, wie es kommt.
Chucievs „Kino der extremen Zwanglosigkeit“, wie ich es nennen würde, leitet ebenso MNE DVADCAT‘ LET ein, wenn die Kamera eine Moskauer Straße erforscht und es mehrmals so scheint, als würden wir den Protagonisten im Visier haben (und dem dann doch nicht so ist).
IJUL‘SKIJ DOŽD‘ schließt dann ebenso offen ab. Der Film endet mit einer Montage aus vielen Gesichtern von der Straße: Lenas Geschichte ist nicht abgeschlossen, aber wir könnten uns nun trotzdem theoretisch einer anderen Geschichte widmen. Wessen Geschichte?
Ehrlich gesagt macht es mir im Nachhinein mehr Spaß, über IJUL‘SKIJ DOŽD‘ nachzudenken, als ihn wirklich zu schauen. Gerade die eigentlichen Handlungsmomente mit ihren vielen langen und meiner Meinung nach fürchterlich trivialen Dialoge haben mich bisweilen etwas angeödet. Mein Fazit aus diesem Film ist aber klar: es ist jammerschade, dass im Rahmen der Hommage an Chuciev keiner seiner Dokumentarfilme gezeigt wurden!


16.00 Uhr, Alpha-Saal im Apollo-Kinocenter
DESTINACIJA_SERBISTAN / LOGBOOK_SERBISTAN
Regie: Želimir Žilnik
Serbien 2015
94 Min., DCP

Želimir Žilnik, einer der Vertreter der jugoslawischen Neuen Welle (hier nun erneut ein Verweis auf meine alte goEast-Besprechung, in der Žilnik allerdings nicht gut weggekommen ist), nimmt in seinem Dokumentarfilm LOGBOOK_SERBISTAN einen ungewöhnlichen Aspekt Serbiens in den Blick: nämlich seine Eigenschaft als Aufnahme- und Transitland für Flüchtlinge aus Afrika und dem Nahen Osten.
Im Laufe seines Films erzählt Žilnik vom Leben vieler Menschen mit vielen verschiedenen Hintergründen und Zielen. Ein Syrer etwa hat sich spontan dazu entschieden, in Serbien zu bleiben, Serbisch zu lernen und in einer Gemeinschaftsunterkunft als Dolmetscher für arabischsprachige Flüchtlinge zu arbeiten. Zwei afrikanische Flüchtlinge, die aus verschiedenen englischsprachigen Ländern kommen (der eine aus Ghana, glaube ich), gehen den Weg in Richtung Westeuropa gemeinsam. Ein (ostafrikanisches?) Ehepaar mit Kleinkind möchte ursprünglich die Grenze nach Ungarn überschreiten, doch die Eheleute entscheiden sich nach dem Rat eines Fluchthelfers anders: sie kaufen ein brachliegendes, kriegszerstörtes Haus für ein Appel und ein Ei und richten sich vorläufig als Kleinbauern ein, während der Mann als Erntehelfer anheuern geht.
Žilnik legt implizit sehr viel Wert auf das Moment der Begegnung zwischen einheimischen Serben und Flüchtlingen und offenbart dabei viel gegenseitige Neugier und Offenheit. In geballten anderthalb Stunden wirft das natürlich auch Fragen auf. Kommt dieser relativ offene Umgang der Serben mit Flüchtlingen daher, dass eine Kamera dabei ist? Oder dass Žilnik sein verfügbares Material so zusammengesucht hat? Oder weil Serben sehr lebhafte und vor allem relativ aktuelle Erfahrungen mit Flüchtlingen aufgrund der jugoslawischen Zerfallskriege haben?
LOGBOOK_SERBISTAN ist als Projekt der Sensibilisierung sowohl in Serbien selbst wie auch im Ausland gut zu gebrauchen. In einem deutschen Kontext, in dem viele Leute so oft über die ganzen Flüchtlinge maulen, erinnert er jedenfalls daran, dass deren Aufnahme bzw. überhaupt der Umgang mit ihnen eine gesamteuropäische Angelegenheit ist.


18.00 Uhr, Alpha-Saal im Apollo-Kinocenter
NIČIJE DETE (NO ONE‘S CHILD)
Regie: Vuk Ršumović
Serbien / Kroatien 2014 
95 Min., DCP

Die Geschichte eines Wolfskindes, übertragen in die Ära des zerfallenden Jugoslawien: ein von Wölfen erzogener Junge wird von Jägern in einem Wald gefunden, später in ein Waisenheim gebracht, wo er zunächst sich selbst überlassen wird, sich nach und nach durch die Freundschaft mit einem der anderen Bewohner zu einem „richtigen“ Menschen entwickelt. Mit dem gewaltsamen Zerfall Jugoslawiens wird er als Kindersoldat von einer bosnischen Miliz zwangsrekrutiert.
NIČIJE DETE habe ich eigentlich – mangels Alternativen – nur als Lückenfüller zwischen der 16-18- und der 20-22-Uhr-Schiene gesehen. Und so entstehen aus Lückenbüßer doch wundervolle Sichtungen. Ich befürchtete ein wenig eine „pädagogisch wertvolle“ Betroffenheitskeule, doch die serbisch-kroatische Koproduktion erwies sich als erstaunlich unsentimentaler und komplexer Film mit störrischen, vielschichtigen Charakteren. Haris, so wird der Wolfsjunge genannt, ist sicherlich auch ein Opfer in einem recht tristen Waisenheim, aber er ist eben auch ein Mensch, dessen Umgang tagtäglich eine schwere und strapazierende Herausforderung ist. Žika, der Haris‘ bester Freund und Vertrauter wird, ist in der Nahrungskette des Waisenheims recht weit unten positioniert, und freundet sich nur zu gerne rasch mit jemandem an, der noch weiter unter ihm steht. Doch auch er schlägt und beschimpft Haris immer wieder. Der schnurrbärtige Sozialpädagoge, der sich nicht damit abfinden will, dass man Haris sich selbst überlässt, glaubt felsenfest an eine gute Zukunft des Wolfsjungen, doch auch seine Erziehungsmethoden sind oft autoritär, teils latent gewalttätig. Paradoxerweise sind es die Mobbingtäter, die Haris dazu bringen, seine ersten (zornigen) Worte auszusprechen, als sie ihm seine geliebte Glasmurmel wegnehmen. Und der Mensch, der Haris als Mitglied der Gesellschaft am ernsthaftesten nimmt, ist ausgerechnet der Kommandant einer paramilitärischen bosnischen Miliz: er „identifiziert“ Haris als Bosnier, gibt ihm eine Uniform und drückt ihm eine Maschinenpistole in die Hand. In NIČIJE DETE hat eben alles seine vielen Seiten.
© goEast
Luzifus von the-gaffer.de a.k.a. Der Chefredakteur (mit dem ich den Trip nach Wiesbaden unternommen habe, und der hier seinen eigenen Bericht veröffentlicht hat) schien die Zwangsmobilisierung Haris‘ gegen Ende des Films etwas zu viel des Guten. Doch ich denke, dass man sie auch als ultimative Stufe einer radikalen „Zivilisierung“ sehen kann: Krieg ist in diesem Sinne der absolute (freilich nach gängigen Maßstäben natürlich negative) Höhepunkt von Zivilisation. Vom Wolfskind aus dem Walde zum sozialistisch-jugoslawischen Pionier zum bosnischen Soldaten – kein Wunder, dass Haris am Ende wieder aus der Zivilisation aussteigen möchte. Den Preis für seine Zivilisierung muss er trotzdem bezahlen: eine Rückkehr und Integration in die Natur, die sich von ihm abwendet, ist nicht mehr möglich.
Auch wenn ich für den deutschen Kinostart des nächsten Films nun komplett schwarz sehen muss, ist es trotzdem fein, dass NIČIJE DETE den Hauptpreis des Festivals gewonnen hat (was seine Chancen auf westeuropäische Kinostarts erhöht).


20.00, Caligari FilmBühne
KREDITIS LIMITI (LINE OF CREDIT)
Regie: Salomé Alexi
Georgien / Frankreich 2014 
85 Min., DCP

KREDITIS LIMITI ist eigentlich eine relativ leichte, absurde Komödie. Hinter dieser verbirgt sich eine bittere, fast unendlich traurige Tragödie. Und hinter dieser lauert ein purer Horrorfilm.
Nino, die Betreiberin eines Imbissladens in Tiflis und stolze Wohnungsbesitzerin, konnte sich bislang ein bequemes Leben leisten, weil ihr Vater einst als mittelgroßer Bonze zu Sowjetzeiten recht erfolgreich und ohne geschnappt zu werden die örtliche Kasse der Partei für sich „privatisierte“. Doch nun ist das Geld durchgebracht, Nino und ihre große Familie (Ehemann, Tochter, Sohn, Mutter, Großmutter) stehen vor dem Ruin. Täglich muss die Frau aufs Neue ums Geld kämpfen, aber der Imbissladen läuft nicht richtig, und mit jedem neuen Tag flattern neue Rechnungen, Mahnungen und geldvernichtende Situationen ins Haus.
Eine Komödie ist KREDITIS LIMITI, weil der Ton immer sehr leicht erscheint. Doch er ist auch ein Film über eine Frau, die in einer erbarmungslosen Schicksalsmaschine gefangen ist, aus der es für sie kein Entkommen geben kann. Für jede weitere Geldquelle, die sich auftut (meistens ein Kredit oder ein Anpumpen) tun sich zwei weitere Rechnungen auf, die immer größer werden. Der Gipfel kommt, als die Großmutter in ein Koma fällt und im Krankenhaus an Schläuchen zur Lebenserhaltung angeschlossen wird: nach zehn kostenlosen Tagen folgt mit jedem neuen Tag eine neue happige Rechnung, doch den Schlauch abdrehen darf Nino rechtlich nicht, solange sich der Zustand der Großmutter nicht verschlechtert und natürlich will sie das auch nicht – sie, die alles menschenmögliche tut, um auch noch Geld für die Behandlung einer kranken Freundin aufzutreiben. Der Schluss ist unvermeidlich: Nino und ihre Familie werden aus der Wohnung rausgekehrt, wie Hunderttausende anderer Haushalte in Georgien, als 2008 (oder 2009?) eine Immobilienblase platzte.
© goEast
Die strenge Komposition des Films macht deutlich, wie sehr Nino von Anfang an ausweglos gefangen ist. KREDITIS LIMITI ist ein Film, der die meisten Elemente seiner Geschichte nicht diskursiv, sondern mit seinen formalen Mitteln erzählt, besonders mithilfe des Produktionsdesigns. Ein aufgehellter Fleck auf einer Tapete weist etwa daraufhin, dass hier mal ein Bild oder ein wertvoller Spiegel hing, der wohl verkauft wurde. In anderen Momenten kann die Einrichtung auch eine Wahrnehmungsfalle sein, eine Verkörperung von Falschheit und ein Versuch, das Gesicht zu bewahren: eine üppige Vitrine voller wertvoller Liköre und Alkohole enthüllt Ninos Mutter ganz nebenbei als Fake, als Ansammlung von Flaschen, die mit Tee oder Kaffee gefüllt wurden. KREDITIS LIMITI ist mehrheitlich in starren Tableaus gefilmt, es gibt aber auch lange Plansequenzen durch Tifliser Bürgersteige, wenn Nino geschäftig nach dem nächsten Schnäppchen sucht oder zum naheliegenden Pfandhaus geht: überall an den Läden prangern riesige Zahlen voller Versprechungen, die die Hauptfigur noch mehr unter Druck setzen.
Die Wege des Geldes werden formalistisch aufgezeigt. So holt sich Nino mithilfe einer Freundin einen Kredit in einer hyperstilisierten Bank, in der alles durcharrangiert ist (selbst die Abstimmung der Nagellackfarbe der Bänkerin mit der Farbe ihres Datumstempels), in der nächsten Szene teilen sich die beiden Frauen das Geld in der Gosse auf, vor einer graffitibesprühten Wand, die von Hunden angepisst wurde: im Tempel gibt es Geld im Übermaß, in der Gosse werden die Krummen aufgeteilt.
Auch immer wieder faszinierend ist es, wie Salomé Alexi den Raum und die Tiefenschärfe nutzt. In der absurdesten Szene des Films möchte Nino eine Tante (?) oder Freundin der Mutter um Geld anpumpen, während sich die quartiersbekannte Straßenkehrerin von Nino wiederum Geld leihen möchte. Beide gehen zur Tante, diese wirft in einem Stoffbündel das Geld vom Balkon herunter – und natürlich bleibt dieses an den Ästen eines Baumes hängen. Spielende Kinder werden beauftragt, das Bündel zu holen. Nino setzt sich mit der Straßenkehrerin auf eine Bank, unterhält sich mit ihr über die Mühen des Lebens, während im Hintergrund die Kinder auf dem Baum klettern, von der Tante auf dem Balkon angefeuert. Das Geld bleibt also schon irgendwo hängen, aber oft da, wo man es nicht gebrauchen kann!
Meisterhaft! Und das auch noch bei einem Debüt, den die Regisseurin selbst geschrieben, produziert und geschnitten hat.


22.00 Uhr, Caligari FilmBühne
POSLESLOVIE (EPILOGUE)
Regie: Marlen Chuciev
UdSSR 1984
98 Min. 35mm

© goEast
Filmstill ist schwarzweiß, der Film selbst aber in Farbe
Schwiegereltern! Im Volksmund gibt es ja nichts nervigeres. Über eben diese sprichwörtliche Nervigkeit hat Marlen Chuciev einen wunderbaren Film gedreht.
Der Zoologe Viktor, der in einer schönen Moskauer Wohnung mit seiner Frau und seiner Hündin lebt, bekommt eines Tages Besuch von seinem Schwiegervater Aleksej angekündigt. Viktors Frau kennt ihren Vater nur allzu gut und macht sich auch aus dem Staub: eine Geschäftsreise kann praktischerweise vorgeschoben werden. Viktor, der gerade Urlaub macht, muss nolens volens den alten Mann empfangen. Recht schnell merkt er, was für eine Nervensäge er sich da eingefangen hat. Eine Nervensäge, die sich über kleinste Dinge minutenlang freut, abgedroschene Lebensweisheiten von sich gibt, darüber meckert, dass Moskau sich geändert hat und schlussendlich sogar seinem Schwiegersohn vorschreiben möchte, wie dieser sein Schreibtisch arrangieren sollte.
Aber! So einfach läuft das ganze nun doch nicht. Wir sind in einem Chuciev-Film, und wenn wir mittlerweile etwas gelernt haben, dann wohl, dass Chuciev keine direkten Wege nimmt, sondern lieber verwilderte, unbekannte Nebenpfade betritt. Denn der Regisseur und seine beiden tollen Hauptdarsteller Rostislav Pljatt und Andrej Mjagkov verteilen die Sympathien recht unerwartet: der penetrante alte Mann kann sich des Herzens der Zuschauer sicher sein, während der in seiner Arbeit gestörte junge Mann rasch pedantisch, herrisch und intolerant wirkt (auch wenn wir wissen, dass seine Aufregung eigentlich gerechtfertigt ist). Diese Verteilung der Sympathien erzeugt Chuciev mit einem recht einfachen Mittel: er lässt einfach Viktor immer wieder in die Kamera sprechen und das Geschehen kommentieren. Was anderswo ein Mittel der Identifikation sein könnte, wird hier zum Mittel der unbewussten Distanzierung: denn Viktor erscheint dann automatisch in einer Position der Rechtfertigung, seine diesbezüglichen Versuche wirken selbst penetrant und vor allem besserwisserisch. 
Chuciev ist aber kein Zyniker, sondern ein Humanist. Beide haben ihre Gründe. Und hinter der jovialen Fassade des alten Mannes verbirgt sich eine tiefe Traumatisierung aus dem Zweiten Weltkrieg. Sein Dozieren über die Vorzüge des klassischen Rasiermessers über den Systemrasierer dient in erster Linie dazu, seelische Kriegsnarben zu verbergen und ein eigenes persönliches Stück Erinnerungskultur aufzubauen.
POSLESLOVIE ist über weite Strecken ein Zweipersonen-Kammerspiel, gefilmt in einem recht nüchternen Stil. Abweichungen stechen umso mehr hervor. In einer Szene, die man wohl als psychedelisch bezeichnen könnte, freut sich Aleksej stürmisch, als draußen ein Gewitter ausbricht, und Viktor hält diese Begeisterung mit einer Kamera fest, während die Wohnung von Gewitterblitzen brutal aufgehellt wird. Und wieder zeigt sich Chuciev in den Außenszenen als feinsinniger Dokumentarist. Die Häuser- und Wohnblockfassaden, die in den 1960er Jahren noch von einem optimistischen Aufbruch kündeten, erscheinen hier nun einfach nur trostlos: was in Schwarzweiss modern erscheint, kann in Farbe eben abgeranzt und verbraucht aussehen.


Montag, 27. April 2015

10.00 Uhr, Pressesichtungsraum Festivalzentrum im Gebäude der Wiesbadener Casino-Gesellschaft
BELYE NOČI POČTAL‘ONA ALEKSEJA TRJAPICYNA (THE POSTMAN‘S WHITE NIGHTS)
Regie: Andrej Končalovskij
Russland 2014
101 Min., Screener
© goEast
Andrej Končalovskij, der Grenzgänger zwischen UdSSR/Russland und den USA (und dessen TANGO & CASH ich bislang sehr schätzte), kehrt nun in die russische Provinz zurück. Das Konzept von BELYE NOČI POČTAL‘ONA ALEKSEJA TRJAPICYNA klingt im Grunde wie eine russifizierte Version von De Sicas LADRI DI BICICLETTE. Končalovskij drehte den Film komplett mit Laiendarstellern, die sich selbst spielen. Erzählt wird vom Lebensalltag eines Postboten im Gebiet Pleseck, im russischen Norden. Aufgrund der geografischen Bedingungen ist er nicht mit dem Fahrrad unterwegs, sondern mit einem Motorboot, um auch an entlegene Orte die Post bringen zu können. Auf seinen Touren begegnet er natürlich allen Bewohnern, darunter auch einer alleinerziehenden Mutter, in die er ein bisschen verliebt ist und einem lokalen Dorfsäufer. Eines Tages wird der Motor seines Bootes geklaut und er kann keine Post mehr austragen...
Končalovskij, der schon in SIBIRIADA ein feines Gespür für die Lebensumstände in der abgelegenen russischen Provinz bewiesen hatte, entwirft hier ein faszinierendes und zutiefst menschliches Portrait vom Alltagsleben in einer infrastrukturschwachen Region. Mit Ausnahme eines Traummotivs, das immer wieder auftaucht (nämlich eine graue Katze) verzichtet der Film konsequent auf Psychologisierung und Symbole, sondern verlässt sich ganz und gar auf seine tollen Laiendarsteller. Aleksej Trjapicyn ist ein unwahrscheinlicher Filmheld, aber dank seines knittrigen, kantigen und höchst lebendigen Charaktergesichts trägt er mühelos den ganzen Film auf seinen Schultern.
Fazit: klein, leise, unscheinbar, nach klassischen Maßstäben „ambitionslos“ – und sehr schön!


Persönliches Ranking

aktuelle Filme:

1. SIMINDIS KUNDZULI (CORN ISLAND)

– KREDITIS LIMITI (LINE OF CREDIT)

3. NIČIJE DETE (NO ONE'S CHILD)

4. BELYE NOČI POČTAL‘ONA ALEKSEJA TRJAPICYNA (THE POSTMAN‘S WHITE NIGHTS)

5. DESTINACIJA_SERBISTAN / LOGBOOK_SERBISTAN

6. ANGELY REVOLJUCII (ANGELS OF REVOLUTION)

7. KEBAB I HOROSKOP (KEBAB AND HOROSCOPE)

– [CRNCI (THE BLACKS)]

9. GOLI (NAKED ISLAND)

10. DE CE EU? (WHY ME?)

11. POD ELEKTRIČESKIMI OBLAKAMI (UNDER ELECTRIC CLOUDS)


Retrospektive:

1. ČOVEK I ZVER (MAN AND BEAST)

 BRICHA EL HASHEMESH (ESCAPE TO THE SUN)

3. POSLESLOVIE (EPILOGUE)

4. MNE DVADCAT‘ LET (I AM TWENTY)

5. IJUL‘SKIJ DOŽD‘ (JULY RAIN)

6. [DIGITAL RESTAURIERTE FILME DER MANAKI-BRÜDER]


Persönliche Spezialpreise: 

Bester Darsteller
- Ilyas Salman als der alte Mann in SIMINDIS KUNDZULI
(knapp vor Denis Murić als Haris in NIČIJE DETE und Aleksej Trjapicyn als er selbst in BELYE NOČI POČTAL‘ONA ALEKSEJA TRJAPICYNA)

Beste Darstellerin:
- Evgenija Uralova als Lena in IJUL‘SKIJ DOŽD
(knapp vor Nino Kasradze als Nino in KREDITIS LIMITI)

Bester Nebendarsteller:
- Laurence Harvey als Major Hartschnurrbart a.k.a. Major Kirsanov in BRICHA EL HASHEMESH

Bestes Produktionsdesign:
- ? für KREDITIS LIMITI

Bester Filmanfang:
- Straßenplansequenz meets Renaissancemalerei meets gestörtes Radioprogramm in IJUL‘SKIJ DOŽD (vor Arbeitsloser meets Arbeitsloser in Dönerbude in KEBAB I HOROSKOP)

Bester Filmschluss:
- Eine Wölfin steht in einem Wald, blickt einen Teenager an und läuft desinteressiert weg in NIČIJE DETE

Bestes Arrangement prolliger Goldkettchen auf wallender Brustbehaarung:
- Yehuda Barkan als Yasha Bazarov in BRICHA EL HASHEMESH

Howard Hawks zu Gast bei Jess Franco

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X312: FLUG ZUR HÖLLE
Bundesrepublik Deutschland / Spanien 1971
Regie: Jess Franco
Darsteller: Thomas Hunter (Tom), Esperanza Roy (Anna Maria Vidal), Fernando Sancho (Bill der Steward), Gila von Weitershausen (Steffi), Siegfried Schürenberg (Alberto Rupprecht), Howard Vernon (Pedro)


Vor einigen Wochen schrieb ich in meinem Bericht zum goEast-Festival 2015über einen Film, der die „trashig-sleazige“ Seite von Artur Brauners Wirken als Filmproduzent veranschaulichte. Nun, im Gegensatz zur „Riskanten Welle“, die sich auf einen Film beschränkte (also ČOVEK I ZVER), war Brauner in diesem Bereich etwas umfangreicher tätig. So produzierte er ab Anfang der 1970er Jahre mehrere Filme des Eurosleaze-Papstes Jess Franco, darunter VAMPYROS LESBOS, DR. M SCHLÄGT ZU (eine Art Mabuse-Ripoff, wenn man das wirklich so sagen möchte), DER TODESRÄCHER VON SOHO (nach einer Vorlage von Edgar Wallaces Sohn Bryan Edgar) – und eben X312: FLUG ZUR HÖLLE. Das Arbeitsverhältnis Brauners mit Franco war wohl enger als mit Menahem Golan, da er mit dem Spanier zusammen auch die Drehbücher verfasste.

Stets mit charmantem Lächeln, oft mit schmackhaftem
Drink in Griffweite: Tom (hier im Beicht-Modus)
Irgendwo in einer brasilianischen Küstenstadt lässt sich ein etwas müde aussehender Mann zu einem Bürogebäude chauffieren. Dort setzt er sich in einen Arbeitsraum, greift nach den beiden Arbeitsgegenständen, die er in den nächsten Stunden brauchen wird – nämlich eine Flasche Scotch mit Glas und ein Diktiergerät – und beginnt seine Erzählung, oder man möchte fast sagen: seine Beichte. DOUBLE INDEMNITY-mäßig erinnert er sich an die vergangenen, todbringenden Ereignisse. Tom, der im „wahren“ Leben als Reporter arbeitet, ist zusammen mit einer Gruppe von mehr oder minder bizarren Passagieren in einem holprigen Flugzeug aus Chile geflohen (wir schreiben das Jahr 1971: Salvador Allende ist der erste Marxist, der in demokratischen Wahlen Ende 1970 zum Präsident eines lateinamerikanischen Landes gewählt wurde – für manche Leute in Chile und international ein geradezu apokalyptisches Ereignis, wesentlich apokalyptischer als die Ereignisse Ende 1973. Jedenfalls greift der Film diese „Rote-Socken“-Panik auf, zumindest am Rande). Unter Toms Co-Passagieren findet sich ein hunde- und männerliebender spanischer Adeliger, eine ultranervige US-amerikanische Touristin, die naive junge Wienerin Steffi, ein junger Mann namens Carlos, der besagter Steffi schöne Augen macht, der grobschlächtige Steward Bill und eine mysteriöse Schönheit namens Anna Maria Vidal. Vor allem aber fliegt der ehemalige Chef der chilenischen Nationalbank Alberto Rupprecht mit einem Aktenkoffer voller Kostbarkeiten mit. Dumm nur, dass dies nicht geheim gehalten wurde und er nur einen Bodyguard dabei hat, der sich auch noch auf dem Flugzeugklo wie ein kleiner Amateur von einem Gangster erschießen lässt. Der Gangster allerdings, der den Auftrag hat, die Maschine zu einem mit seinen Auftraggebern ausgemachten Treffpunkt umleiten zu lassen, ist auch nicht der Geschickteste: den Piloten kann er im Cockpit nicht unter Kontrolle bringen und die Maschine stürzt ab. So findet sich die illustre Gesellschaft mitten im brasilianischen Dschungel wieder. Der Survival-Marsch beginnt. Würze in das ganze bringt die Tatsache, dass alle auf den Inhalt von Alberto Rupprechts Koffer neugierig sind, und die gröberen unter ihnen (zum Beispiel der Steward Bill) durchaus bereit sind, über Leichen zu gehen.

So weit, so banal, möchte man sagen. X312: FLUG ZUR HÖLLE könnte ein fürchterlicher Langweiler sein (und die ersten zehn Minuten deuten ein wenig in diese Richtung). Dennoch ist der Film, wenn man keine allzu bornierte Sichtweise auf Kino und seine Magie hat, wunderbar gelungen. Und zugespitzt ausgedrückt könnte man sagen: er ist gelungen, trotzdem Jess Franco auf dem Regiestuhl saß und gleichzeitig eben weil der exzentrische Spanier den Film gedreht hat.

Zum „trotzdem“: X312: FLUG ZUR HÖLLE ist ein Actionfilm mit leichtem Survival-Thriller-Touch, also ein Stoff, der eine effiziente, ökonomische, dynamische Inszenierung verlangt, mit einem Drehbuch, das recht schnörkellos von A nach B führt. Das sind nicht gerade Attribute, die man mit Jess Franco in Verbindung bringt, bei dem eine Striptease-Szene sich auch über ganze fünf Minuten hinziehen kann und dessen Filme im Allgemeinen eher frei assoziativ als kompakt zusammengeschnürt sind. Die Gratwanderung gelingt ihm dennoch und mit X312: FLUG ZUR HÖLLE ist etwas herausgekommen, das man wohl als so etwas wie einen „straighten“ Jess-Franco-Actionfilm bezeichnen kann (aber bei über 200 Filmen kann es durchaus vielleicht noch ein weiteres halbes Dutzend von dieser Sorte geben).

X312: FLUG ZUR HÖLLE ist tatsächlich als Actionfilm im wörtlichen Sinne inszeniert, als Aktionsfilm, als Film der permanenten Bewegung. Bei Franco bewegt sich die Kamera meistens nicht, sie zoomt, rein, raus, wieder rein, und das nicht zu wenig. Und was hier Franco liefert, ist ein schwindelerregendes Crashzoom-Feuerwerk ohnesgleichen. Kein Stillstand, immer Bewegung, Schnitt von einem Zoom in den nächsten. X312: FLUG ZUR HÖLLE wurde mehr am Schneidetisch realisiert als „in“ der Kamera. Das betrifft natürlich auch den Zusammenschnitt aus holprigen Studiodrehs mit Aufnahmen, die sehr offensichtlich von der Second Unit gedreht wurden oder gar Stockmaterial sind und der bei Jess Franco fast schon als „auteuristisches“ Statement erscheinen kann. Was in einigen seiner anderen Filme nicht recht überzeugt, weil es den Bogen dann doch überspannt, funktioniert hier wunderbar. Franco übt sich sogar ein wenig darin, Stockmaterial zu sparen, wenn die Explosion des Flugzeugwracks so gefilmt wird, dass sie nur zu hören bzw. auf den schockierten Gesichtern der Verunglückten zu sehen ist.

So schön kann es sein, sich zu verlieben!
Wohldosierte Zärtlichkeit in einer erbarmungslosen Welt
In den ersten Minuten des Films überwog bei mir noch die Skepsis. Die „Vorstellung“ der Flugpassagiere durch Tom im Off weckte mein Interesse, weil die teils gekippt gefilmten Bilder der Gesichter so bizarr und elliptisch zusammengeschnitten wurden. Die kurze Zwischenlandung in einer schmierigen Dschungelbar (wo Alberto Rupprecht zusteigt) nahm mich schließlich ganz für den Film ein. Steffi, die Wienerin, sitzt Carlos gegenüber. Den Kuschelbär, den sie im Flugzeug auf dem Nebensitz angeschnallt hatte, hat sie für die Zwischenlandung mit raus genommen (wie sie überhaupt auch später im Dschungel den Teddybären immer mit sich und ihn sogar zwischendurch zu Carlos' Radio tanzen lässt!). Carlos hingegen hat sein tragbares Radio auf den Tisch gestellt: es läuft gerade ein leichter Schlager und der Junge Mann beginnt, fröhlich die Melodie mitzupfeifen, während er die Wienerin dabei anschaut. Steffi, die bislang die Blicke Carlos‘ eher uninteressiert, wenn nicht sogar etwas genervt entgegennahm, fängt an zu lächeln! Später kriegen die beiden vor lauter Lächeln und Pfeifen gar nicht mit, dass es mit dem Flug weitergehen soll und der Steward muss sie schon sehr laut auffordern, mitzukommen. Die Szene in der schmierigen Dschungelbar ist überhaupt toll: das Dekor ist wahrscheinlich eher eine bundesdeutsche Kantine, aber das „Beba CocaCola“-Schild und ein Pflanzentopf mit brasilianischer Flagge teilen uns mit, dass wir uns im südamerikanischen Dschungel befinden. Bill tauscht ein paar Worte mit dem Kneipier aus (der für den Steward natürlich noch ein kaltes Getränk im Hinterzimmer übrig hat). Tom ist offenbar verkatert und deswegen trinkt er ein großes Glas Rum mit einer darin aufgelösten Aspirintablette. Die mysteriöse Schönheit namens Anna Maria Vidal, die später im Film wichtig wird, sitzt weiterhin hinten, raucht und sieht dabei verführerisch und mysteriös aus. Dann geht‘s weiter.

Edelsteine mit klangvollen Namen
Von Hawks‘ianischer Figurencharakterisierung zu sprechen ginge vielleicht zu weit, aber tatsächlich werden die Figuren in X312: FLUG ZUR HÖLLE hauptsächlich über ihre Handlungen und nicht über ihre Auslassungen charakterisiert. Stichwort Hawks: der hat zusammen mit einigen anderen großen Regisseuren ein kleines Cameo in einer der wohl wunderlichsten Details dieses an Details sehr reichen Films. In der Aktentasche des Alberto Rupprecht befindet überhaupt kein Geld, sondern gewöhnlicher Plunder – und ein unscheinbares Zigarrenkarton, das einige wertvolle Edelsteine enthält. Das findet Bill heraus, nachdem er Rupprecht ermordet und den Krokodilen zum Fraß gegeben hat. Die weggeworfene Zigarrenschachtel findet später Anna Maria Vidal, und darin befindet sich ein Papier mit der Auflistung der Edelsteine – und ihrer Namen!

Aufgelistet von den teuersten zu den billigsten (unter den Namen, die erkennbar sind) handelt es sich um:
[Howard] „Hawks“ – 374.000 $
[Buster] „Keaton“ – 325.000 $
[Nicholas] „Ray“ – 243.000 $
[Ernst] „Lubitsch“ – 198.000 $
[Max] „Ophuls“ – 145.000 $
[Josef von] „Sternberg“ – 121.000 $
[George] „Cukor“ – 120.000 $
[Alexander] „Dovjenko“ – 117.000 $
[Budd] „Boetticher“ – 90.000 $
„Scarface“ – 88.000 $ (zwei Mal Hawks kann nie schaden?)
(Ohne Pause- und Einzelbild-Funktion beim DVD-Player hätte ich Sternberg vielleicht nicht und Cukor sicherlich gar nicht entdeckt.)
Wenn ich den Film bis zu diesem Zeitpunkt auch schon vorher mochte: spätestens da habe ich mich in ihn verliebt. Mitten im Urwald in einem wilden Action-Survival-Exploiter eine Liste mit den „teuersten“ Regisseuren rauszuholen, das hat schon irgendwie Klasse! Ob das Francos und Brauners gemeinsame Liste ist? Dass Franco den Surrealisten Keaton, den expressionistischen Seelenerkunder Ray und den abstrakten Minimalisten Boetticher mochte, wäre zumindest nicht verwunderlich.

Nackte Haut; grausame Tode; Howard Vernon mit Bräunungscreme
und Goldkettchen; Faustkampf auf dem Lastwagen
X312: FLUG ZUR HÖLLE bleibt dennoch ganz und gar ein Franco-Film. Am deutlichsten wird dies in den Szenen, die man als „Sleaze-Inserts“ bezeichnen könnte. Anna Maria Vidal, die ausgiebig zur treibenden Musik Bruno Nicolais in einer Dschungelkaskade badet – dann wird sie von einer Schlange bedroht und von Tom gerettet, der ihr mitteilt, dass er sie wie die Schlange die ganze Zeit beobachtet hat. Oder Anna Maria Vidal, die später von der Freundin des schmierigen Dschungelgangsters Pedro (Howard Vernon mit angeklebtem Schnurrbart und Bräunungscreme) auf dessen Anordnung vergewaltigt wird, bevor er dann selber ranmöchte (dumm für ihn, dass er in seinem Zimmer Stichwaffen so offen rumliegen lässt).

Am Franco-istischsten ist vielleicht der Umgang mit dem gewaltsamen Tod der Figuren. So unfeierlich, dreckig, klanglos, gänzlich von jeglichem Pathos entledigt sterben in Filmen wohl nur wenige Figuren außerhalb des Franco-Universums. Das betrifft nicht nur „Pappkameraden“ am Rande, sondern den harten Kern der Figurenriege. Die zarte Liebe, die Franco zwischen Steffi, Carlos, seinem Radio und ihrem Teddybär sanft aufbaut, ist ein zartes Pflänzchen, das vor Pfeilen, Messern, Gruppenvergewaltigungen und Kopfschüssen nicht sicher ist. Ein einfaches Abenteuer-Survival-Filmchen mit Diamantenraub-Subplot hätte jeder drehen können. Für einen holprigen Exploiter voller irritierender Brüche, der weder schmachtenden Kitsch noch wahrhaftig Abgründiges verschmäht, der den Zuschauer zwischendurch geradezu auf die Schnauze fallen lässt, brauchte es schon einen Exzentriker wie Franco.

X312: FLUG ZUR HÖLLE ist in Deutschland auf einer DVD von Pidax erhältlich. Ton und Bild sind in Ordnung, wirklich mehr, was man auf dieser Edition gut oder schlecht finden könnte, gibt es nicht, außer vielleicht, dass der Film hier im Gegensatz zur britischen DVD offenbar ungekürzt ist.

Wenig Chancen für morgen

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ODDS AGAINST TOMORROW (dt. WENIG CHANCEN FÜR MORGEN)
USA 1959
Regie: Robert Wise
Darsteller: Harry Belafonte (Johnny Ingram), Robert Ryan (Earle Slater), Ed Begley (Dave Burke), Shelley Winters (Lorry), Kim Hamilton (Ruth Ingram), Lois Thorne (Eadie), Gloria Grahame (Helen), Will Kuluva (Bacco), Carmen de Lavallade (Kitty), Mae Barnes (Annie)

Johnny Ingram
Die bis zur Unkenntlichkeit zerfetzten und verkohlten Leichen zweier Männer (wie man als Zuschauer weiß - zu sehen bekommt man sie nur von Leichentüchern bedeckt) liegen vor rauchenden Trümmern nebeneinander auf dem Boden. Dialog eines Sanitäters und eines Polizisten:

"Well, these are the two that did it."
"Which is which?"
"Take your pick!"

Der Clou dabei: Als sie noch lebten, war der eine ein Farbiger und der andere ein rassistischer Weißer, der voller Hass und Verachtung auf Ersteren herabblickte. Jetzt sind sie ununterscheidbar geworden - man kann sich aussuchen, wer wer ist. Hämischer als Robert Wise (und seine Drehbuchautoren Abraham Polonsky und Nelson Gidding) am Schluss von ODDS AGAINST TOMORROW kann man Rassismus kaum verhöhnen.

Earle Slater
Zurück zum Anfang. ODDS AGAINST TOMORROW ist die Geschichte dreier verkrachter Existenzen in New York City, die sich widerwillig zu einem Bankraub zusammenschließen. Johnny Ingram ist ein talentierter junger Nachtclubsänger, den seine Leidenschaft für Pferdewetten in den privaten und finanziellen Ruin getrieben hat. Seine Frau Ruth hat sich wegen seines Lebenswandels von ihm scheiden lassen, seine kleine Tochter Eadie darf er nur zu den genau festgesetzten, knapp bemessenen Zeiten sehen. Johnny kann kaum die Alimente für Ruth und Eadie zahlen, und er hat 7500 Dollar Schulden bei dem Gangsterboss Bacco, von denen er nicht weiß, wie er sie zurückzahlen soll - wenn er nicht beim nächsten Rennen gewinnt. Earle Slater, der Rassist, stammt aus den Südstaaten, und seit seiner Zeit bei der Armee hat er beruflich und privat nichts auf die Reihe gekriegt. Momentan ohne Job, ist er impulsiv und unberechenbar. Es ist Selbstmitleid und ein latenter Minderwertigkeitskomplex, den er mit seinem aggressiven Verhalten kaschiert. Slater saß schon zweimal im Gefängnis, das zweite Mal wegen Totschlags. Zahm ist er nur bei seiner Freundin Lorry, die einen guten Job hat und genug für beide verdient. Doch Slaters Ego verträgt es auf Dauer nicht, von ihr ausgehalten zu werden.

Dave Burke
Treibende Kraft des Bankraubs ist der gealterte Ex-Polizist Dave Burke. Er saß ein Jahr in Sing Sing ein, weil er vor einem Ausschuss zur Untersuchung des organisierten Verbrechens die Aussage verweigert hatte. Er sei da zum Sündenbock gestempelt worden, meint er zu Slater bei ihrer ersten Begegnung. Vielleicht war das so, vielleicht war er aber auch selbst in korrupte Machenschaften verstrickt. Wie sich nämlich zeigt, besitzt er einen guten Draht zu Bacco. Es ist Burke, der den Plan für den Überfall ausbaldowert und Johnny und Slater als Komplizen auserkoren hat, und der sie nun nacheinander zu sich bestellt. Slater sieht eine Chance, seine finanzielle Misere zu beenden, und sagt mit Vorbehalten zu. Johnny ist ein alter Bekannter von Burke, fast sind sie sogar Freunde - aber nur fast. Denn Johnny will zunächst sauber bleiben und lehnt seine Mitwirkung ab. Da greift Burke zu einem drastischen Mittel: Er wendet sich an Bacco, und der setzt daraufhin Johnny die Daumenschrauben an. Bacco verlangt die sofortige Zurückzahlung der Schulden, und um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, droht er Johnny, sich an Ruth und Eadie zu vergreifen. Johnny weiß, dass es sich um keine leeren Drohungen handelt, und weil er keine andere Möglichkeit sieht, das Geld aufzutreiben, gibt er nun doch seine Zusage zur Mitwirkung. Doch als Slater erfährt, dass ein Farbiger mit von der Partie ist, will er nichts mehr damit zu tun haben und zieht sich zurück. Aber nach einem unerfreulich verlaufenden Tag, an dem Lorry befördert wird und noch mehr Geld verdient, während Slater mit der aufdringlichen Nachbarin Helen schläft, hält er es weniger denn je aus, ohne eigenes Einkommen dazustehen, und er steigt doch wieder ins Boot.

Bacco und Burke füttern Tauben - und hauen Johnny in die Pfanne
So findet sich also das ungleiche Trio zusammen. Und jeder der drei hat einen triftigen Grund dafür, auch Burke. Wenn er seinen beiden Komplizen seinen Plan schmackhaft machen will, spricht ihm zwar die nackte Geldgier aus den Augen, doch da ist noch mehr. Die Wände seiner kleinen Wohnung in einem heruntergekommenen Hotelbau, in dem der Wind durch das Treppenhaus pfeift, sind vollgepflastert mit Erinnerungsfotos, Urkunden und Ehrenplaketten aus 30 Jahren Polizeidienst. Es ist offenkundig, dass er noch nicht mit seiner Polizistenvergangenheit und deren unrühmlichem Ende abgeschlossen hat. Er will sich nicht nur materiell verbessern, sondern auch neue Reputation gewinnen. "Fifty grand can change it back", sagt er zu Johnny, und damit meint er die 50.000 Dollar, die jeder der drei als Beute zu erwarten hat. Wohlgemerkt, 50.000 Dollar von 1959, ungefähr das Achtfache wert wie dieser Betrag heute. - Als Ziel ausersehen ist die First National Bank in einer Kleinstadt am Hudson River, 100 Meilen nördlich von New York. (Der Ort namens Melton ist fiktiv, die dort spielenden Szenen wurden in Hudson gedreht.) In dieser Bank werden jeden Donnerstag die Lohngelder der örtlichen Firmen für die Auszahlung am folgenden Freitag bereitgehalten und in den Abendstunden die Tageseinnahmen der Geschäfte am Ort gezählt und in die Bücher eingetragen - ein Vermögen in kleinen, nicht registrierten Scheinen, das nur darauf wartet, von Burke und seinen Spießgesellen abgeholt zu werden. Denn in der Bank befinden sich dann nur einige harmlose Angestellte und ein alter, kurzsichtiger Wachmann. Man muss nur in die Bank hineinkommen, und genau dafür brauchte Burke unbedingt Johnny. Denn an jedem dieser Donnerstage bringt ein Kellner aus einer nahe gelegenen Imbissbude um 18:00 Uhr Verpflegung für die Bankangestellten an einen Seiteneingang, der dafür vom Wachmann kurz geöffnet wird. Dieser Imbiss-Bote ist ein Farbiger, und der Plan sieht vor, ihn kurzzeitig außer Gefecht zu setzen, während Johnny in einer identischen Kellner-Uniform an die Tür klopft. Wenn der kurzsichtige Wachmann erst einmal geöffnet hat, wird es leicht sein, ihn zu überwältigen, und der Rest ist ein Kinderspiel.

New York City ...
Am Tag des Überfalls fahren die drei getrennt nach Melton, um sich erst dort zu vereinen, und schon dabei kommt es zu Unregelmäßigkeiten im Ablauf. Slater fährt den hochfrisierten Fluchtwagen und tankt kurz vor dem Ziel, und dabei wirft der Tankwart aus reiner Neugier einen Blick unter die Motorhaube und erkennt mit dem Blick des Fachmanns, dass der äußerlich unscheinbare alte Kombi stark übermotorisiert ist, worauf Slater aufbrausend reagiert. Wird sich der Tankwart an ihn erinnern, wenn er von dem Überfall hört? Als Johnny in der Stadt flaniert, ereignet sich ein harmloser kleiner Autounfall - und ein Polizist spricht ihn direkt an und fragt ihn, ob er den Unfall gesehen hat. Johnny trägt eine Sonnenbrille, aber wird ihn der Polizist mit seinem geübten Blick später vielleicht trotzdem beschreiben oder wiedererkennen können? Zwischen Johnny und Slater herrschte seit ihrer ersten Begegnung eine aggressive Spannung, und Burke musste immer wieder beschwichtigend eingreifen. Nun, beim Treffen der drei auf einer Brache irgendwo am Rand von Melton, droht die Stimmung weiter zu eskalieren, und Burke kann nur mit Mühe verhindern, dass die beiden anderen jetzt schon übereinander herfallen. Da bis zum Abend noch einige Zeit bleibt, trennen sie sich vorerst wieder, um die Zeit totzuschlagen, durch zielloses Herumgehen oder Dasitzen und auf den Fluss Starren. In dieser Passage kommt die Handlung für fünf Minuten praktisch zum Stillstand. Nach klassischen Genre-Konventionen müsste man das als Durchhänger bezeichnen. Doch in Wirklichkeit ist der Film in dieser Sequenz völlig bei sich. Nicht durch Handlungselemente, aber durch eine Atmosphäre bleierner Langsamkeit und Schwere wird eines klargemacht: nämlich, dass die Protagonisten längst auf verlorenem Posten stehen. Um noch mit heiler Haut davonzukommen, müssten sie schleunigst zusammenpacken und verschwinden. Doch selbst wenn jeder einzelne von ihnen das wollte, würden sie durch ihre interne Gruppendynamik daran gehindert werden.

... und Melton / Hudson
So nimmt das Verhängnis also seinen Lauf. Unmittelbar vor dem Überfall weicht Slater vom Plan ab. Entgegen der Abmachung gibt er Johnny nicht die Autoschlüssel für den Fluchtwagen, sondern er behält sie zunächst selbst und gibt sie dann in der Bank an Burke weiter. Der Überfall selbst verläuft zunächst wie geplant. Der Wachmann kann problemlos überwältigt werden, und in der Bank gibt es keine Überraschungen. Doch als Burke als erster die Bank verlässt, steht zufällig ein Polizeiwagen ganz in der Nähe. Burke wird zum Stehenbleiben aufgefordert, und als dann Sekunden später die Alarmsirene der Bank losgeht, kommt es sofort zur Schießerei mit den Polizisten. Burke wird getroffen und bricht fluchtunfähig zusammen. Statt seinen Lebensabend im Gefängnis zu verbringen, zieht er es vor, sich eine Kugel in den Kopf zu schießen. Johnny und Slater könnten jetzt noch mit dem schnellen Wagen fliehen - wenn sie den Schlüssel hätten. Doch der liegt jetzt vor Burke auf der Straße, mitten im Schussfeld der Polizei. So bleibt nur die Flucht zu Fuß, und aus dem Schusswechsel mit der Polizei wird dabei eine Schießerei der beiden Kontrahenten gegeneinander. Der finale Showdown findet auf den Dächern riesiger Treibstofftanks statt. Es kommt, wie es kommen muss: Eine Kugel schlägt an der falschen Stelle ein, und alles fliegt mit einem gewaltigen Rumms in die Luft (wie es zehn Jahre zuvor schon James Cagney in Raoul Walshs WHITE HEAT widerfuhr). Als i-Tüpfelchen folgt der schon geschilderte Epilog mit den Sanitätern und Polizisten. Als die Leichen abtransportiert werden, gerät ein Schild mit der Aufschrift "STOP - DEAD END" ins Bild.

Zwei Seiten von Slater - mit Lorry und Helen
ODDS AGAINST TOMORROW wird meist als Film noir bezeichnet. Das ist auch nicht falsch, aber von den klassischen Vertretern der Gattung aus den 40er und frühen 50er Jahren unterscheidet er sich doch deutlich. 1959 gedreht, weist er schon deutlich in die 60er Jahre. Das beginnt schon mit der Titelsequenz, die mit abstrakt-grafischen Ornamenten gestaltet ist, und die an Kreationen des großen Meisters Saul Bass erinnert. Heute noch modern wirkt auch der unterkühlt-jazzige Soundtrack des Films. Geschrieben wurde er von John Lewis, dem musikalischen Vordenker und Pianisten des Modern Jazz Quartet. Diese Formation verband Bebop und Cool Jazz mit Einflüssen europäischer Klassik und bewahrte dabei eine dezente Blues-Note. Lewis und seine drei Kollegen im Modern Jazz Quartet spielten die Musik auch ein, unterstützt von einigen weiteren Solisten und einem Orchester. Der Soundtrack erschien 1959 auch auf LP. - Die Außenaufnahmen - von denen es reichlich gibt - wurden komplett on location in New York und in Hudson gedreht, und die Innenaufnahmen entstanden auch nicht in Hollywood, sondern in einem altehrwürdigen Studio in der Bronx, das einst der Biograph Company gehört hatte. ODDS AGAINST TOMORROW knüpft damit nicht an die klassischen Noirs an, die meist komplett im Studio produziert wurden, sondern an die Semidocumentaries wie etwa Jules Dassins THE NAKED CITY (1948), in dem der "Big Apple" New York der eigentliche Star des Films ist. - Nicht neu, aber selten genutzt war ein Stilmittel, das Robert Wise unbedingt einmal ausprobieren wollte, wozu er jetzt die Gelegenheit hatte, nämlich den Einsatz von Infrarot-empfindlichem Film in manchen Szenen (das hatte beispielsweise auch schon Leni Riefenstahl bei DAS BLAUE LICHT gemacht). Noir-typisches low key lighting gibt es dagegen wenig, und die meisten Szenen spielen im Tageslicht.

Johnny bei Ruth und Eadie
Produziert wurde ODDS AGAINST TOMORROW von einer kleinen und kurzlebigen Firma namens HarBel Productions, und "HarBel" bedeutete nichts anderes als "Harry Belafonte". Tatsächlich war Belafonte die treibende Kraft des Films. Durch Hits wie "Matilda", "Island in the Sun" und dem "Banana Boat Song" bereits berühmt und wohlhabend geworden, konnte er es sich leisten, seine eigene Produktionsfirma zu gründen. ODDS AGAINST TOMORROW war ihr erster Film, allerdings war er kommerziell erfolglos, und nachdem ein oder zwei weitere von HarBel produzierte Filme an der Kasse auch durchfielen, gab Belafonte seine Ambitionen als Produzent schnell wieder auf. In den Credits von ODDS AGAINST TOMORROW wird er nicht genannt, aber er war tatsächlich der Executive Producer, also der, der letztlich zahlt und anschafft. Und er war es, der den Stoff auswählte (nach einem Roman eines William McGivern, von dem der Film dann vor allem am Schluss erheblich abweicht), und der Abraham Polonsky als Drehbuchautor und Robert Wise als Regisseur verpflichtete. In den Credits steht "Directed and produced by Robert Wise", aber in seiner Eigenschaft als Produzent war Wise nur für die praktischen Tagesentscheidungen beim Dreh zuständig - der Chef war Belafonte. Belafonte hatte damals auch schon als Schauspieler reüssiert, vor allem mit der männlichen Hauptrolle in Otto Premingers CARMEN JONES, so dass es keine Hybris war, sich selbst mit der Rolle des Johnny zu betrauen. Tatsächlich hatte er HarBel auch dazu gegründet, sich selbst Rollen von starken, unabhängigen Charakteren abseits subalterner Klischee-Schwarzer zu verschaffen (auch in dieser Hinsicht ist ODDS AGAINST TOMORROW meilenweit von den Noirs der 40er Jahre entfernt). Es war auch Belafonte, der das Modern Jazz Quartet ins Spiel brachte, aber Wise war von dieser Idee auch gleich begeistert.

Killens oder Polonsky? Auflösung unten im Text
Über Robert Wise, einen der vielseitigsten Regisseure, die Hollywood hervorgebracht hat, will ich hier nicht viele Worte verlieren, und dafür ein bisschen über Abraham Polonsky (1910-1999) berichten, dessen Drehbuch schon mehr oder weniger fertig war, als Wise engagiert wurde. Polonsky war Kommunist und machte kein großes Geheimnis daraus. Im Krieg war er beim militärischen Geheimdienst OSS in Frankreich aktiv, danach schrieb er u.a. die Drehbücher zu Robert Rossens BODY AND SOUL und den von ihm selbst inszenierten FORCE OF EVIL, beide mit John Garfield in der Hauptrolle. 1951 wurde Polonsky von Sterling Hayden (der auch beim OSS gewesen war) vor dem einschlägigen Kongressausschuss unamerikanischer Umtriebe bezichtigt. Daraufhin selbst vorgeladen, weigerte er sich, seinerseits Namen zu nennen, und wurde deshalb von seinem damaligen Studio 20th Century Fox gefeuert und auf die Schwarze Liste gesetzt. In den 50er Jahren lebte er dann hauptsächlich als ungenannt bleibender Drehbuchautor von TV-Serien. Unter wechselnden Pseudonymen soll er auch weiterhin an Kinofilmen beteiligt gewesen sein, aber anscheinend ist nichts Näheres darüber bekannt, um welche Filme es sich handelte und wie er sich jeweils nannte. ODDS AGAINST TOMORROW ist jedenfalls der erste Film nach Polonskys Blacklisting, bei dem seine Mitwirkung gesichert ist. Weil aber die Schwarze Liste damals noch Bestand hatte, war er in den Credits als John O. Killens aufgeführt. Dieser Name war nicht erfunden, sondern Killens war ein schwarzer Schriftsteller, und ein guter Freund von Belafonte, der sich hier als Strohmann zur Verfügung stellte. Als weiterer Drehbuchautor von ODDS AGAINST TOMORROW ist Nelson Gidding (1919-2004) gelistet. Gidding war ein Freund von Robert Wise, und er schrieb allein oder gemeinsam mit anderen bei vier weiteren Wise-Filmen das Drehbuch, nämlich I WANT TO LIVE!, THE HAUNTING, THE ANDROMEDA STRAIN und THE HINDENBURG. Ich bin nicht sicher, ob Gidding bei ODDS AGAINST TOMORROW als zusätzlicher Strohmann eingeführt wurde, sozusagen zur doppelten Absicherung, oder ob er noch nennenswert zum Script beitrug, das ja eigentlich schon fertig war, als er dazustieß. Falls Letzteres, war sein Beitrag jedenfalls deutlich kleiner als der von Polonsky. Bemerkenswert ist übrigens, dass die Involvierung von Polonsky nicht nur dem engsten Kreis um Belafonte und Wise bekannt war, sondern mit semi-offizieller Billigung durch United Artists geschah, die den Vertrieb von ODDS AGAINST TOMORROW übernahm. 1997, zwei Jahre vor seinem Tod, wurde Polonsky von der Writers Guild of America offiziell als Autor von ODDS AGAINST TOMORROW anerkannt.

Typisch Noir - in diesem Film eher die Ausnahme
Der Banküberfall gegen Ende des Films nimmt nur wenig Raum ein, viel mehr Zeit und Gewicht bekommen davor die Interaktionen der drei Protagonisten untereinander und mit ihrem jeweiligen Umfeld: Johnny als Sänger und Vibraphonist in einem verrauchten Nachtclub. Sein letzter Besuch bei Ruth, wobei er als Fremdkörper wirkt, weil sie gerade mit ihren honorigen (und überwiegend weißen) Bekannten von der Eltern-Lehrer-Vereinigung (PTA) eine Sitzung abhält. Sein letzter Ausflug mit Eadie in den Central Park. Als er nach dem Ausflug mit Ruth allein ist, wird deutlich, dass er sie noch immer liebt, aber sein Versuch, wieder eine Brücke zu ihr zu bauen, wird abgeblockt. Belafonte gibt diesen zornigen jungen Mann zwischen Verzweiflung und Selbstbehauptungswillen sehr überzeugend. Und Earle Slater und sein kompliziertes Verhältnis zu Lorry, sein Seitensprung mit der verheirateten Helen, und seine brutale Überreaktion, als er in einer Bar von einem vorlauten jungen Soldaten provoziert wird. Robert Ryan - privat ein netter Mensch - wohnte damals in derselben Gegend wie Belafonte, und sie waren gut miteinander bekannt, ihre Kinder gingen zusammen zur Schule. Wie so oft in seiner Karriere spielt Ryan hier keinen platten, eindimensionalen Schurken, sondern einen getriebenen Charakter, in dessen Abgründe man hineinschauen, die man aber nicht ausloten kann. Auch Ed Begley gibt eine famose Vorstellung. Er stand in seiner Karriere selten in der ersten Reihe, glänzte aber in prägnanten Nebenrollen, etwa in TWELVE ANGRY MEN, SWEET BIRD OF YOUTH, BILLION DOLLAR BRAIN (wo er als durchgeknallter Milliardär mit einer Privatarmee die Sowjetunion erobern will und von Michael Caine als Agent Harry Palmer daran gehindert wird) oder in dem vom Italowestern beeinflussten HANG 'EM HIGH mit Clint Eastwood. - Die überzeugenden Darsteller, Wise, Polonsky, die Musiker, der Kameramann Joseph Brun und Belafonte als Mastermind des Ganzen haben einen Film gemacht, der heute auf mich zeitlos modern wirkt.

Zeit totschlagen bis zum Abend
ODDS AGAINST TOMORROW ist u.a. in den USA und in England auf DVD erschienen. In der US-DVD von MGM, die ich besitze, ist in den Credits tatsächlich Polonsky statt Killens aufgeführt. Der Soundtrack ist auf CD und Vinyl zu haben. Derzeit ist ODDS AGAINST TOMORROW auch auf drei Portionen verteilt auf YouTube zu sehen.

Eine Lunchbox als Sesam-öffne-dich; der Autoschlüssel - unerreichbar

Casa Ricordi: Oper als Film, Film als Oper

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Oder: Ein Reader's Digest der italienischen Oper des 19. Jahrhunderts

CASA RICORDI (DAS HAUS RICORDI)
Italien/Frankreich 1954
Regie: Carmine Gallone
Darsteller: Paolo Stoppa (Giovanni Ricordi), Renzo Giovampietro (Tito I Ricordi), Andrea Checchi (Giulio Ricordi), Roland Alexandre (Gioachino Rossini), Marcello Mastroianni (Gaetano Donizetti), Maurice Ronet (Vincenzo Bellini), Fosco Giachetti (Giuseppe Verdi), Gabriele Ferzetti (Giacomo Puccini), Märta Torén (Isabella Colbran), Roldano Lupi (Domenico Barbaja), Micheline Presle (Virginia Marchi), Nadia Gray (Giulia Grisi), Myriam Bru (Luisa Lewis), Elisa Cegani (Giuseppina Strepponi), Fausto Tozzi (Arrigo Boito), Danièle Delorme (Maria)

Giovanni Ricordi in der Scala
Rossini, Donizetti, Bellini, Verdi, Puccini. Die klangvollen Namen stehen für rund hundert Jahre italienischer Operngeschichte, die grob vom Beginn bis zum Ende des 19. Jahrhunderts reicht, und CASA RICORDI ist ein Episodenfilm, der jedem der fünf Meister einen Abschnitt widmet. Gekrönt sind die Episoden jeweils durch eine Arie des in diesem Abschnitt behandelten Komponisten, dargeboten auf einer Opernbühne im farbenfroh-opulenten Stil des 19. Jahrhunderts. Es handelt sich um Ausschnitte aus Rossinis "Der Barbier von Sevilla", Donizettis "Der Liebestrank", Bellinis "Die Puritaner", Verdis "Othello" und Puccinis "La Bohème". Carmine Gallone stellte dazu keine Opernsänger auf die Bühne, sondern Schauspieler, und ließ sie von professionellen Sängern stimmlich doubeln - darunter so klangvolle Namen wie Mario del Monaco (der den Othello singt) und Renata Tebaldi (Mimi in "La Bohème"). Als Aufhänger und verbindende Klammer des Ganzen fungiert eine Familien- und Firmengeschichte: Der in Mailand beheimatete Musikverlag Casa Ricordi wurde bald nach seiner Gründung im Jahr 1808 zum weltweit führenden Verlag für Opernpartituren und sonstige klassische Musik, und CASA RICORDI folgt über mehrere Generationen den Leitern des Verlags, der ca. 150 Jahre lang ein Familienbetrieb blieb (ohne intensiv auf deren Geschicke einzugehen - im Vordergrund stehen immer die Komponisten). Auch die fünf im Film behandelten Tonsetzer waren alle bei Casa Ricordi unter Vertrag.

Rossini und Isabella Colbran
Während bei den meisten italienischen und französischen Episodenfilmen der 50er und 60er Jahre jede Episode von einem anderen Regisseur realisiert wurde, lag hier alles in den Händen von Carmine Gallone. Allerdings gibt es sechs Drehbuchautoren (einer davon ist Gallone), und bei jedem ist übereinstimmend in der IMDb "story and screenplay" vermerkt. Ohne dass ich eine Bestätigung dafür gefunden hätte, legt das den Verdacht nahe, dass einer von ihnen für die Rahmenhandlung und von den anderen jeder für eine Episode verantwortlich war - insofern also doch ein typischer Episodenfilm. Ich habe mir nicht die Mühe gemacht und nachgeprüft, was an der Handlung authentisch und was erfunden ist - von einem solchen Film erwartet ohnehin niemand historische Genauigkeit. Das Folgende ist also der Inhalt des Films, aber nicht unbedingt im Detail die historische Wahrheit.

Der "Barbier von Sevilla" - erst Debakel, dann Triumph
1808 im napoleonisch regierten Mailand: Der Drucker Giovanni Ricordi macht mit überall angeklebten Flugblättern Reklame für seine Künste, und das bringt ihm einen Auftrag des damals schon renommierten Opernhauses, der Scala, ein: Er soll Noten in einem Rekordtempo drucken, das kein Konkurrent liefern kann. Ricordi nimmt den Auftrag an und gestaltet die Konditionen zu scheinbar für ihn ungünstigen Bedingungen um: Statt sich in Geld bezahlen zu lassen, verlangt er die Berge an altem, mit Noten beschriebenem Papier (samt Verwertungsrechten), das in den Kellergewölben der Scala unbeachtet vor sich hin gammelt. Der Intendant der Oper hält ihn für verrückt, doch in Wirklichkeit hat sich Ricordi damit eine Goldgrube eröffnet. Im sich schnell entwickelnden Markt für Partituren erlangt Casa Ricordi bald ein Quasi-Monopol, und Giovanni kann von den Direktoren der Opernhäuser ebenso wie von der Laufkundschaft viel höhere Preise verlangen, als sie bislang üblich waren. Doch er handelt nicht nur eigennützig: In bisher ungekanntem Ausmaß beteiligt er auch die Komponisten an den Einnahmen, und er gewinnt so ihr Vertrauen, ja ihre Zuneigung, und er kann viele mit langfristigen Verträgen an sein Haus binden.

Donizetti und Virginia Marchi; unten Marchi in "Der Liebestrank"
Gleich einer der ersten seiner neuen Klienten ist ein abgerissener junger Hungerleider, ein gewisser Gioachino Rossini, den er erst einmal mit einem von seiner Frau gekochten Gulasch aufpäppeln muss, bevor über Musik und Geschäfte gesprochen werden kann. Nach ersten Erfolgen arbeitet Rossini an einer Vertonung des Librettos "Der Barbier von Sevilla", und das ist ein gewagtes Unterfangen, weil bereits Jahre zuvor Giovanni Paisiello dasselbe Libretto zu einer Oper gemacht hatte. Paisiello hat viele fanatische Anhänger, die es als Majestätsbeleidigung auffassen werden, wenn ein Emporkömmling denselben Stoff nochmal in die Finger nimmt und damit die Künste ihres Idols in Frage stellt. Rossini hat auch ein hausgemachtes Problem: Er ist ein heißblütiger Frauenheld, und er beginnt eine Affäre mit der Sängerin Isabella Colbran, die eigentlich mit Rossinis Freund Domenico Barbaja liiert ist, dem Impresario des Opernhauses in Neapel, wo er seine ersten Opern zur Aufführung brachte. Eigentlich wollte Barbaja seinen Freund gegen Paisiello unterstützen, aber zufällig bekommt er Wind vom Verhältnis Rossinis mit Isabella, und so macht er nun das Gegenteil. So gerät die Uraufführung in Rom zum Debakel mit teilweise unfreiwillig komischen Einlagen. Anhänger Paisiellos und bezahlte Störer pfeifen pausenlos, und Rossini ist am Boden zerstört. Doch sein Aufstieg lässt sich nicht verhindern: Ricordi hält an ihm fest, setzt sofort eine neue Aufführung mit aufgeschlossenerem Publikum durch, und die gerät zum Triumph. Selbst Barbaja hat ein Einsehen und gibt der Oper ebenso wie Rossini und Isabella seinen Segen.

Generationenwechsel - Giovanni und Tito Ricordi
Der Einzige, der bei der ersten Aufführung Rossini verteidigt hat, war ein junger Mann, der selbst Musiker ist. Er stellt sich Ricordi als Gaetano Donizetti vor und wird bald selbst unter Vertrag genommen. In einem raffiniertem Schachzug erledigt Ricordi gleich mehrere Probleme gleichzeitig. Denn er selbst und mit ihm zusammenarbeitende Operndirektoren leiden unter den Launen der Diva Virginia Marchi, der man nichts recht machen kann, und die wegen jeder Kleinigkeit vor Gericht zieht. Ricordi arrangiert Proben von Donizetti mit Marchi, und trotz einiger Irritationen zwischen den beiden ist am Ende Marchi einmal zufrieden, Donizetti hat eine erstklassige Sängerin für die Titelpartie, die Direktoren akzeptieren Donizettis Werk für ihr Haus, und so steht einer triumphalen Premiere nichts mehr im Weg - und Donizetti und Virginia werden auch noch ein Paar. - Jahre später. Giovanni Ricordis Sohn Tito ist inzwischen ein junger Mann, der sich im Verlag engagiert, und - teilweise gegen den Widerstand seines Vaters - einige Neuerungen einführt, z.B. neue Druckverfahren. Nun wird er nach Paris geschickt, wo Vincenzo Bellini lebt und arbeitet, bereits ein Starkomponist. Doch in letzter Zeit hat man nichts mehr von ihm gehört, es gibt nur Gerüchte über seine angegriffene Gesundheit. Tito reist also nach Paris, um sich nach Bellinis Befinden zu erkundigen. Wie sich erweist, wird Bellini von seiner Geliebten Luisa Lewis in einer Villa außerhalb von Paris abgeschirmt und vor seinen Freunden, die ihn besuchen wollen, verleugnet - angeblich, um ihn zu schonen, aber in Wirklichkeit aus Eigennutz, weil sie ihn mit niemandem teilen will, wie der Arzt des tatsächlich kranken Bellini konstatiert. Insbesondere vor Bellinis früherer Geliebten Giulia Grisi, die zugleich die Sängerin seiner großen Partien ist, will sie ihn fernhalten. Erst als er am Abend der Premiere seiner neuen und letzten Oper im Fieberwahn zusammenbricht, erkennt Luisa ihren Fehler. Sie fährt mit einer Kutsche in die Oper, gesteht ihre Machenschaften und fordert Giulia, Tito und den mit Bellini befreundeten Rossini auf, mit ihr zu Bellini in die Villa zu kommen. In einer rasenden nächtlichen Kutschfahrt bei Gewitter, die wie ein Ausflug in den Gothic Horror wirkt, eilen die vier in die Villa - nur um Bellini tot auf dem Boden liegend vorzufinden. Verzweifelt bricht Luisa über ihm zusammen.

"Die Puritaner"; Bellini liegt krank darnieder; Giulia Grisi, Tito Ricordi und Rossini in Bellinis
Sterbezimmer; der tote Bellini und Luisa Lewis - Finale wie in der Oper
Erneuter Sprung in die Zukunft: Giovanni Ricordi ist tot, Tito ist der Chef des Hauses Ricordi, und der immer noch expandierende Verlag hat ein neues, größeres Gebäude bezogen. Titos Sohn Giulio stößt sich in den Revolutionswirren 1848 die Hörner ab und engagiert sich dann ebenfalls im Verlag. Der neue Star des Hauses heißt Giuseppe Verdi. Doch nachdem er für "Ein Maskenball" schlechte Kritiken erntet, gerät Verdi in eine tiefe Schaffenskrise. Die neue Mode der Wagner-Oper hat auch in Italien ihre Anhänger gefunden, und Verdi wird von einem Teil der Kritiker als altmodisch geschmäht. Beleidigt beschließt der Maestro, überhaupt keine Musik mehr zu schreiben, sondern sich als Edel-Bauer auf sein Landgut zurückzuziehen. Verdis Frau Giuseppina und sein Librettist Arrigo Boito können nur mit Mühe verhindern, dass er die schon begonnene Partitur zu "Othello" vernichtet, aber weder sie noch Giulio Ricordi (der in die Fußstapfen von Tito getreten ist, der sich zur Ruhe gesetzt hat) können ihn dazu bewegen, wieder zu komponieren. Der Umschwung kommt erst, als Verdi nach Parma fährt und mit seiner Kutsche mitten zwischen die Fronten von rebellierenden Armen und schussbereiter Polizei gerät. Als man ihn erkennt, stimmen die Massen spontan den Gefangenchor aus "Nabucco" an, und nun begreift Verdi, wer sein wahres Publikum ist: nicht die Kritiker, mögen sie ihn feiern oder verdammen, sondern das einfache Volk, das seine Musik liebt. Er macht sich wieder an die Arbeit zum "Othello", und einmal mehr endet eine Episode in diesem Film mit einer umjubelten Premiere.

Verdi als Ehrengast bei den Ricordis und zwischen den Fronten in Parma
Und schließlich Giacomo Puccini. Wir befinden uns mittlerweile im Jahr 1895, "im Zeitalter des Eiffelturms", wie jemand im Film sagt, denn Puccini recherchiert in Paris. Das Café Momus im Quartier Latin, in dem sich die Protagonisten von Henri Murgers Scènes de la vie de bohème trafen, existiert schon lange nicht mehr, doch Puccini will jenen Stoff zu einer Oper mit dem Titel "La Bohème" machen. In einer Parallele zwischen Roman und Oper einerseits und der Wirklichkeit andererseits lernt Puccini eine Clique junger Künstler kennen, die ohne Geld, aber sorglos in den Tag hinein leben. Eine von ihnen ist Maria, und Puccini verliebt sich in sie. Doch wie Mimi, die Heldin von "La Bohème", leidet auch Maria an der Schwindsucht, aber sie verschweigt Puccini ihren Zustand. Die Premiere von "La Bohème" findet in Italien statt, und Puccini war zur Vorbereitung schon - ohne Maria - einige Wochen anwesend. Nun soll zum Premierenabend Giulio Ricordis Sohn, der wie sein Großvater Tito heißt (zur besseren Unterscheidung werden sie auch als Tito I und Tito II bezeichnet), Maria mit dem Zug aus Paris holen. Doch er bringt nur die Nachricht, dass sie vor vier Wochen gestorben ist. So endet diese Episode für Puccini mit einem künstlerischen Erfolg, aber in Trauer. Und damit endet auch der Film - nein, nicht ganz. Als Giulio Ricordi wieder im Verlagshaus ist, wartet dort ein junger Musiker, der um ein Gespräch gebeten hat, und der zum Zeitvertreib ein paar seiner eigenen Noten auf dem Klavier spielt. Giulio hält einige Momente inne und lauscht interessiert den Klängen, bevor er sich dem jungen Mann zuwendet. Das Leben geht weiter, und die Musikgeschichte auch ...

Othello und die tote Desdemona
Man muss weder Opernexperte noch Opernliebhaber sein, um CASA RICORDI etwas abgewinnen zu können (wie ich als Opernmuffel hiermit ausdrücklich bestätige). Der Film ist in keiner Weise tiefschürfend, aber er bietet ansehnliche Schauwerte, insbesondere prächtige Technicolor-Farben, und mit seiner episodischen und anekdotenhaften Struktur wird er über seine Länge von ungefähr zwei Stunden hinweg nie langatmig, sondern bietet kurzweilige Unterhaltung (wobei die deutsche Version, die ich gesehen habe, um ungefähr 10 Minuten gekürzt ist). Große Gefühle und Dramatik (eben wie in der Oper) gibt es auch, vor allem das Finale der Bellini-Episode ist hier fast eine Oper im Kleinen.

Puccini und Maria
So etwas wie ein Reader's Digest (was ich hier nicht abwertend meine) ist CASA RICORDI nicht nur in Bezug auf 100 Jahre Operngeschichte, sondern auch hinsichtlich Carmine Gallones Schaffen. Gallone (1885-1973) war ein sehr produktiver Regisseur, der seit 1913 ca. 125 Filme drehte und dabei natürlich verschiedene Genres bediente. So schuf er etwa aufwändige Historienepen, z.B. eine dreistündige Stummfilmfassung von DIE LETZTEN TAGE VON POMPEJI (1926), den im Zweiten Punischen Krieg spielenden KARTHAGOS FALL (1937), der als der teuerste Film des faschistischen Italien gilt, MESSALINA (1951), DER KURIER DES ZAREN (1956, die Version mit Curd Jürgens) und zuletzt KARTHAGO IN FLAMMEN (1960, diesmal ist es der Dritte Punische Krieg). Bei uns ist Gallone wahrscheinlich am besten als Regisseur des dritten und vierten der Don-Camillo-Filme mit Fernandel und Gino Cervi in Erinnerung. Aber sein eigentliches Metier war der Opernfilm: MADAME BUTTERFLY (1939), RIGOLETTO (1946), VERDIS LA TRAVIATA (1947, auch als DIE KAMELIENDAME), IHRE WUNDERBARE LÜGE (1947, wie der Originaltitel ADDIO MIMÌ! schon vermuten lässt, handelt es sich um "La Bohème"), DER TROUBADOUR (1949), LA LEGGENDA DI FAUST (1949, nach "Mefistofele" von Arrigo Boito, der nicht nur Librettist, sondern auch Komponist war), SIZILIANISCHE LEIDENSCHAFT (CAVALLERIA RUSTICANA, 1955), MADAME BUTTERFLY (1954), und schließlich TOSCA (1956). Dazu kamen noch einige Musikerbiografien wie DREI FRAUEN UM VERDI (1938), MELODIE ETERNE (1940, mit Gino Cervi als Mozart - kein Witz!), und PUCCINI - LIEBLING DER FRAUEN (1953). Fosco Giachetti, Gallones Verdi in CASA RICORDI, spielte auch schon im Film von 1938 den Maestro, und auch Gabriele Ferzetti war schon im Puccini-Film von 1953 in der Titelrolle zu sehen, wo auch Märta Torén, Nadia Gray, Myriam Bru und Paolo Stoppa mitspielten, die allesamt in CASA RICORDI wieder auftauchten. Bei all diesen (und noch weiteren) Filmen konnte Gallone auf begnadete Stimmen zurückgreifen (als Schauspieler oder Sänger-Doubles), wie etwa mehrfach Beniamino Gigli, Jan Kiepura und Maria Cebotari. CASA RICORDI bildet also so etwas wie einen Schnelldurchlauf, einen (wenn auch sicher nicht repräsentativen) Querschnitt durch Gallones Werk als Opernfilmregisseur.

"La Bohème" - Mimi auf ihrem Sterbebett; Marias Platz in der Vorstellung bleibt frei
CASA RICORDI ist in Italien auf DVD erschienen (ohne fremdsprachige Untertitel). Die Originalfassung ist derzeit auch auf YouTube zu finden (ebenfalls ohne Untertitel). Die deutsche Fassung mit einer Fernseh-Laufzeit von 104 Minuten (was einer Kino-Laufzeit von gut 108 Minuten entspricht) war letztens in mindestens zwei Dritten Programmen zu sehen. Vielleicht lohnt es sich, darauf zu achten, ob sie nochmal irgendwo läuft.

Giulio Ricordi, bereit für einen neuen Klienten - vielleicht ein neues Genie

Ein erotisches Kuleschow-Experiment an der Adriaküste

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VERFÜHRUNG AM MEER / OSTRVA
Bundesrepublik Deutschland / Jugoslawien 1963
Regie: Jovan Živanović
Darsteller: Peter van Eyck (Peter), Elke Sommer (Eva)


„Eine miserabel gespielte und schlecht inszenierte Kolportage-Geschichte, deren Ansätze zu spekulativer Erotik unfreiwillige Heiterkeit erzeugen könnten, wenn der Film nicht so extrem langweilig wäre.“ So urteilte das Lexikon des internationalen Films in dem ihm so typischen Duktus über VERFÜHRUNG AM MEER - einem in vielerlei Hinsicht absolut bemerkenswerten Film (weshalb er in meinem großen persönlichen Filmkanon des Jahres 2014 Eingang gefunden hat).

Eva zieht im Dorf die Blicke aller Männer auf sich, interessiert
sich aber nur für eine der umliegenden Inseln und ihrem
mysteriösen Herrn
Worum geht es? Eine junge Frau (Elke Sommer) erhält in Berlin von einem dubiosen älteren Paar einen mysteriösen Auftrag, der sie an die jugoslawische Adria-Küste bringt. Mit ihrem natürlichen Charme verdreht sie dort allen Männern, ob jung und alt, den Kopf, doch sie interessiert sich nur für die umliegenden, angeblich vollkommen unbewohnten Inseln, die sie mit einem Boot abfährt. Eine der Inseln wird offenbar doch von einem Bewohner für sich reklamiert: ein unfreundliches Schild, ein Gewehrschuss, bellende deutsche Schäferhunde vertreiben Eva rasch von diesem Eiland. Sie kehrt dennoch zurück und lernt schließlich den Bewohner kennen: Peter (Peter van Eyck), ein Einsiedler, der von der Zivilisation abgewandt in einer improvisierten Bretterhütte haust und sich autark mit Fischerei versorgt. Eva setzt alles daran, diesen freiwilligen „Robinson“ zu verführen - dies gehört offenbar zu ihrem Auftrag, denn zwischendurch kehrt sie an die Küste zurück und telefoniert mit ihrer dubiosen Auftraggeberin. Deren Plan wird jedoch durchkreuzt, als sich auch Eva wirklich in Peter verliebt...

Nur anhand der Inhaltszusammenfassung könnte man hinter VERFÜHRUNG AM MEER eine Altherrenfantasie vermuten, die in biederer Inszenierung öde vor sich hinschmiert. Tatsächlich haben wir es bei diesem faktischen Zweipersonenkammerspiel auf einer mediterranen Insel mit einem Film zu tun, der eine ungeheuerliche und sehr erotische Energie entwickelt, und dabei immer ein Quäntchen Mysterium behält.

VERFÜHRUNG AM MEER funktioniert in erster Linie über die Montage. Diese treibt den Film voran, indem sie narrative Erklärungen teils brutal abwürgt und dafür auf Emotionalisierung und Affekt setzt. So wird schon der Prolog, in dem Eva ihren Auftrag erhält, abrupt unterbrochen: sie und ihre Auftraggeberin kommen gerade zu den Details, als die ältere Frau die jüngere fragt, ob sie etwas trinken wolle, „Kaffee? Oder Cognac“ - Schnitt - zu der jungen Frau, die bereits auf dem Adria-Dampfer ist und an der Schiffsbar einen Cognac nimmt. Einen ähnlichen „matching cut“ gibt es später an dem Küstendorf, wo der lokale Beau (eigentlich Gigolo) Eva nachstellt und sie fragt, ob er für sie den Mond stehlen solle. Sie bittet ihn darum, die Tafel am Badestrand zu klauen, an der für Touristen die Wasser- und Lufttemperatur des Tages vermerkt ist (und die in früheren Szenen en passant gezeigt wurde). Schnitt - Eva befindet sich auf der Insel des Einsiedlers und verfasst darauf eine besänftigende Nachricht.

Die Verweigerung, im ersten Drittel den „Auftrag“ zu erklären, wäre in einem anderen Film ein Aufhänger für eine Spannungssituation. Nicht hier jedoch. Die „Motivation“ des „Auftrags“, die ganz am Ende noch nachgereicht wird, scheint fast schon ein Zugeständnis an plotgesättigte Zuschauererwartungen zu sein. Wer mit solchen an den Film rangeht, wird ihn vermutlich tatsächlich „extrem langweilig“ finden. VERFÜHRUNG AM MEER ist im Kern ein Film darüber, wie sich eine junge Frau in einer Situation verliert und sich verliebt, weil irgendetwas an dem Einsiedler oder irgendetwas an seiner Lebenssituation ihn reizt. Als „schwierig, schweigsam, ohne Charme, verwöhnt, grob, müde“ beschreibt sich Peter selbst gegen Ende des Films. Eva kann ihm nur antworten, dass sie schon immer genau so einen Mann gesucht habe. VERFÜHRUNG AM MEER zeigt einen Prozess, in dem aus der kalkulierenden Eva, die eiskalt auf Geld aus ist und gegenüber Peter zunächst sehr theatralisch aufspielt, eine liebende Eva wird; und wie aus dem abweisenden, eigenbrötlerischen Peter ein liebender Peter wird. Diesen Prozess hält VERFÜHRUNG AM MEER in tatsächlich verführerischen, erotischen und oft mysteriösen Bildern fest. Der Moment, in dem es bei den beiden „Klick“ macht, ist undeutlich (und irgendwie ist das ja auch wie im wirklichen Leben). Der Film etabliert aber eine Grundatmosphäre, in dem dieser Prozess möglich wird und inszeniert die Umgebung, in der sich Eva und Peter befinden, als Raum, der mit erotischem Knistern und mit begehrenden Blicken angereichert wird, als Resonanzraum, der auf die Annäherungen zwischen den beiden zu reagieren scheint.

Auf eine kurze Formel ausgedrückt: über weite Strecken funktioniert VERFÜHRUNG AM MEER wie erotisches (und von den Füßen auf den Kopf gestelltes) Kuleschow-Experiment. Scheinbar neutrale, oder um es in der Sprache des Lexikons des internationalen Films auszudrücken, langweilige Bilder, werden durch die Montage mit erotischer Spannung aufgeladen.

Am deutlichsten wird dies an einer Einstellung, bei der man Kiesgeröll einen Abhang hinunterrollen sieht. Diese kommt direkt nach einer Einstellung, in der Eva auf der Inselküste ihre Bluse ausgezogen und begonnen hat, sich in einem knappen Bikini zu sonnen, um Peters Blicke auf sich zu ziehen (gesehen aus einer relativ großen Distanz von oben - eine voyeuristische Perspektive andeutend). Ein erotisches Bild wird mit einer banalen Naturimpression verbunden. Später im Film wird die Geröll-Einstellung fast identisch wiederholt, nachdem Eva eine Botschaft auf dem geklauten Temperaturenschild geschrieben hat: keine vordergründig erotische Szene, doch durch das wiederholte Geröllbild wirkt die gesamte Situation dennoch wieder aufgeladen.

Sonnenbad (beobachtet von voyeuristischer Position), gefolgt von Geröll
Tafel platzieren, gefolgt von erotisch aufgeladenem Geröll
Solche merkwürdigen Montagen durchziehen den gesamten Film: immer wieder schneidet er von Elke Sommer in mehr oder minder anzüglichen Posen auf die Umgebung - auf die Meereswellen, auf einen schwankenden Schiffsmast, auf kreischende Möwen im Himmel. Irgendwann hat dies die Nebenwirkung, dass das Meer im Hintergrund, das Möwengeschrei auf der Tonspur, das Bild eines Bootes am Strand eine eigene Erotik entwickeln. Die Spitze dieser Inszenierung findet sich, als Peter und Eva sich am Strand leidenschaftlich küssen und auf den Boden niedersinken. Ein Schnitt führt uns zu einer Felsenverengung am Ufer, die von einer tosenden Welle aufgefüllt wird: ein Explizite-Sexszene-Vermeidungsschnitt-mit-Symbolbildcharakter, der sich gut in den Rest des Films einbettet.

Von Evas Beinen zu den Möwen
Von Eva und ihrem Rücken zum Meer und wieder zu den Möwen
Sex on the Beach - sexy Montage
Diese Montagetechnik lädt die scheinbar zufällige, „neutrale“ Umgebung nicht nur auf, sondern macht sie auch zum Beobachter, gar zum Voyeur. Als Eva von Peter recht schroff von der Insel verwiesen wird, bereitet sie sich zum Gehen auf, doch bevor sie ins Boot steigt, kommt ihr ein Gedanke: sie nimmt ihre Schwimmflossen und „verbummelt“ sie hinter einem Busch, wohl um später einen Vorwand zu haben, auf die Insel zurückzukehren. Ein ganz kurzer Zwischenschnitt zeigt eine Ziege. Mit einfachen, aber effizienten Mitteln wird gleich deutlich gemacht, dass Eva bei ihrem Manöver beobachtet wird (und wenn Peter sie später genau darauf anspricht, erinnert sich der Zuschauer daran, dass sie tatsächlich beobachtet wurde).

Ganz ohne diese Techniken arbeitet die vielleicht bemerkenswerteste Szene von VERFÜHRUNG AM MEER. Peter und Eva, mittlerweile ein Paar, bereiten sich auf einen Kinobesuch vor. Sie zieht ein hübsches Abendkleid an, er einen Anzug mit Krawatte. Sie treten aus dem Haus, also Peters Bretterhütte, und rufen ein Taxi. Da keines vorbeikommt, gehen sie eben zu Fuß. Auf dem Weg zum Kino entscheiden sie, dass sie einen Liebesfilm schauen wollen. Sie kommen an der Kasse (einem Baum) an: sie kauft die Tickets, dann betreten sie den Saal und müssen sich dann an bereits sitzenden Zuschauern vorbei auf ihre Sitze schmuggeln. Eva entschuldigt sich mehrmals, als sie aus Versehen Co-Zuschauer stört. Während der Film läuft, lobt sie das Spiel des Hauptdarstellers, den Peter als John Dos Passos identifiziert. Eva, die sehr wohl weiß, dass Dos Passos ein Schriftsteller ist, bringt das zum schmunzeln und sie spricht ihn auch darauf an. Peter begeistert sich hingegen eher für die Hauptdarstellerin (die „voyeuristische“ Inselziege). Als Eva Anzeichen von Eifersucht zeigt, legt ihr Peter den Arm um die Schultern und fordert seine Co-Zuschauer dazu auf, ihm das nicht übel zu nehmen. Schließlich küssen sich die beiden und die Kamera enthüllt, dass er die ganze Zeit seine Hauspantoffeln und sie ihre Gummistiefel trug.

Sich schick machen, Tickets kaufen, bei Co-Zuschauern um Verzeihung bitten
Der Liebesfilm läuft, doch die beiden möchten im Kinosaal lieber rumknutschen
Die beiden, die gerade eine Art Idylle durchleben, mimen selbstbewusst und parodierend ein bürgerliches Leben in einer ganz und gar unbürgerlichen Umgebung und haben sichtlich Spaß daran. Es ist vielleicht der Moment, in dem deutlich wird, dass die Beziehung der beiden tatsächlich etwas Handfestes geworden ist, und in dem beide Figuren im Umgang miteinander jegliche Doppelbödigkeit haben fallen lassen. Der „Kinobesuch“ ist passend auch ein Moment, in dem sich die angestaute Spannung des Films humoristisch entlädt, in dem die Figuren ebenso wie die Zuschauer sich etwas entspannen können - durchaus in einer bewußten Komplizenschaft, denn Eva wie auch Peter brechen mehrmals die vierte Wand, wobei der jeweilige Adressat ein imaginärer Co-Zuschauer im imaginären Kino ist. Ein Kommentator bei IMDb erinnerte dieser Bruch der vierten Wand an französische nouvelle-vague-Filme.

Ganz falsch ist diese Bemerkung nicht, doch eigentlich war die Welle nicht französisch, sondern jugoslawisch und „schwarz“: VERFÜHRUNG AM MEER ist eine Produktion Artur Brauners, mit zwei deutschen Hauptdarstellern, doch die komplette restliche Crew war jugoslawisch, mit teils persönlichen Verbindungen zur „Jugoslawischen Schwarzen Welle“ (über die ich bereits hier und hier schrieb). Regisseur Jovan Živanović, der in den 1940er Jahren seine Filmkarriere begann und zunächst vor allem im Dokumentarfilmbereich tätig war, inszenierte in den 1960er Jahren vor allem Melodramen mit einer pessimistischen Sicht auf den jugoslawischen Lebensalltag. Sein urbanes Melodrama ČUDNA DEVOJKA („Studentenliebe“) von 1962 wurde als „kitchen sink realism“ auf Jugoslawisch bezeichnet. UZROK SMRTI NE POMINJATI („Do Not Mention The Cause Of Death“), das in einem Dorf während des Zweiten Weltkriegs spielt, sorgte wohl 1968 für starke politische Kontroversen. I BOG STVORI KAFANSKU PEVAČICU (“Und Gott schuf die Wirtshaussängerin”) von 1972 vermischt pessimistischen Realismus, Melodrama und Folklore-Musical-Elemente und gilt unter Kennern als Wegmarke der späten Jugoslawischen Neuen Welle.

Kameramann Stevan Mišković war bereits in den 1930er Jahren im Filmbereich aktiv. Sein Haupttätigkeitsbereich war jedoch nicht der Spiel-, sondern der Dokumentarfilm (etwas, was man den Bildern von VERFÜHRUNG AM MEER nicht unbedingt wirklich ansieht). Seine „schwarze“ Verbindung war seine Mitarbeit mit dem berühmten Skandalregisseur Dušan Makavejev an dessen kontroversen Dokumentarfilm/Mockumentary/Essay NEVINOST BEZ ZASTITE (“Unschuld ohne Schutz”).

Die mazedonische Cutterin Jelena Bjenjas arbeitete wiederholt mit Jovan Živanović. Später schnitt sie auch Filme von Miodrag Popović und Vojislav Rakonjac, zwei zentralen Figuren der „Schwarzen Welle“.


VERFÜHRUNG AM MEER ist in einer deutschen DVD-Edition erhältlich. Diese ist zwar ziemlich schmucklos, enthält aber den Film in einer recht guten Bild- und Ton-Qualität. Der Film liegt nur in einer deutschen Tonfassung vor. Gemäß IMDb ist die Originalsprache des Films Serbokroatisch. Falls es sich tatsächlich um eine Synchronfassung handelt, dann hat sich für diese auf jeden Fall Peter van Eyck selbst eingesprochen.

Vier Hausmädchen

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Eine junge Frau aus einfachen Verhältnissen wird als Hausmädchen in einer Familie aus einer gehobeneren Schicht eingestellt. Sie soll in erster Linie die hochschwangere Herrin des Hauses bei heimischen Arbeiten entlasten. Als es jedoch zwischen dem Hausherren und dem Hausmädchen zu einem Verhältnis kommt und letzteres schwanger wird, beginnen die Leidenschaften hochzukochen.

Eine einfache Geschichte, die in vier Filmen variiert wird. Drei von ihnen inszenierte Kim Ki-young, einer der großen Außenseiter und Exzentriker des koreanischen Kinos von den 1960er bis 1980er Jahren. Das Konzept, eigene Filme mit fast der selben Geschichte zu variieren, war keineswegs neu. Howard Hawks drehte 1959 RIO BRAVO: 1966 und 1970 folgten die Variationen EL DORADO und RIO LOBO. Ein wesentlich passenderer Vergleich mit Kims „Hausmädchen-Trilogie“ sind jedoch Fritz Langs WOMAN IN THE WINDOW (1944) und SCARLET STREET (1945). 2010 drehte Im Sang-soo einen Film, der gemeinhin als Remake bezeichnet wurde – den Begriff Variation halte ich für fruchtbarer. Aber der Reihe nach...


HANYO (THE HOUSEMAID)
Republik Korea 1960
Regie: Kim Ki-young
Darsteller: Lee Eun-shim (das Hausmädchen), Kim Jin-kyu (der Hausherr), Ju Jeung-ryu (die Hausherrin)

HANYO präsentiert uns zu Beginn eine Familie wie aus dem Bilderbuch: Vater, Mutter, Tochter, Sohn. Sie leben in scheinbarer Harmonie: von einer kleinen Wohnung sind sie in ein kleines zweistöckiges Haus umgezogen. Die Frau ist hochschwanger, und engagiert deshalb ein Hausmädchen, um bei den häuslichen Arbeiten auszuhelfen. Doch schon bevor die todbringende Haushaltshilfe ankommt, wird deutlich, dass irgendetwas nicht stimmt. Die rasende Kamera und die dissonante Musik (im Vorspann) sind erste Hinweise, aber auch kleine gewalttätige Ausbrüche machen deutlich: das Hausmädchen wird keine intakte Familie zerstören, sondern einer Gruppe von bereits gestörten Menschen den Spiegel vors Gesicht halten.

Rattengift und voyeuristischer Blick
Die immer wieder suggerierte Deutung von HANYO sieht das Hausmädchen schlimmstenfalls als Monster, bestenfalls als Bösewicht. Wer genau hinschaut, wird merken, dass Sympathien und Antipathien nicht eindeutig verteilt sind und Kim es sich selbst und dem Zuschauer alles andere als einfach macht.

Der Hausherr etwa ist als Musiklehrer für Fabrikarbeiterinnen angestellt. Die Unterrichtung, so sehr er immer mal einen kleinen Witz auf den Lippen trägt, versteht er auch immer als Akt der sozialen Unterwerfung. Er sieht die Arbeiterinnen als minderwertig an und hat auch keine Angst, ihnen gegenüber handgreiflich zu werden – oder eine von ihnen bei der Fabrikverwaltung zu denunzieren, für einen Liebesbrief, der offensichtlich eher verliebt-schwärmerisch als aggressiv sexuell ist (HANYO wird danach eine Art Versuchsanordnung aufbauen, die indirekt dem Hausherrn ins Gesicht sagt „Fühlst du dich von diesem harmlosen Zettel bedroht? Warte erst mal ab, was das Hausmädchen mit dir anstellen wird!“).
Den Klassenunterschied zu den Arbeiterinnen und dem Hausmädchen markiert der Hausherr auch sehr deutlich, indem er sie systematisch mit „du“ anspricht, während die jungen Frauen ihn immer siezen (so durchgehend in den verfügbaren französischen und deutschen Untertiteln). Die koreanische Sprache kennt wohl sechs verschiedene Honorativ-Formen, von denen drei geläufig sind – und offenbar zwei Formen des Duzens. Das widerspiegelt die Bedeutung, die soziale Hierarchien im Koreanischen haben, und es ist zu vermuten, dass der Film damit in der gegenseitigen Anrede der Figuren bewusst spielt (mangels Kenntnis der koreanischen Sprache mag ich da keine tiefer gehenden Interpretationen vorlegen).
Auch zuhause, als Hausherr, offenbart der Musiklehrer schnell seine dunkle Seite. Er ist herrisch, latent gewalttätig, und gebiert sich offen grausam gegenüber seiner gehbehinderten Tochter (er lässt sie kaltblütig auf der Treppe stürzen mit der Begründung, dass sie eben mehr trainieren müsse) und seinem Sohn (als dieser einer kleinen Bitte nicht sofort nachgeht, reißt er ihm ein Spielzeug aus der Hand und droht damit, es zu zerstören). 

Doch das bedeutet nicht, dass in HANYO die Kinder unschuldig sind. Der Junge hänselt immer wieder seine Schwester, die nur langsam auf Krücken gehen kann. Das Mädchen hingegen hat die sozialen Klassenambitionen ihrer Eltern gut internalisiert, und begegnet dem neuen Hausmädchen mit Verachtung, Misstrauen, sehr schnell gar mit Paranoia – noch bevor es dafür nur den geringsten Anlass gibt. So erscheint das Hausmädchen schlussendlich als selbst-erfüllende Prophezeiung der Ängste, die die Mittelklasse-Familie plagen.

Die Ehefrau und Hausherrin hingegen lebt in einer materialistischen Blase und hängt einem recht pervertiertem Bild von Familie nach: ihrer Meinung nach ist die größte Bedrohung für die Familienwerte Sex – während Raub oder gar Mord völlig in Ordnung gehen, solange man sie richtig vertuschen kann.

Nasse Fenster und Lust
Das Hausmädchen hingegen, absolut wunderbar von Lee Eun-shim dargestellt (meiner Meinung nach die beste Hausmädchen-Darstellerin aller vier Filme), bleibt in vielem ein Geheimnis. Man weiß nur, dass sie vom Land kommt. Es gibt zu Beginn Anzeichen dafür, dass sie geistig etwas zurückgeblieben ist, was sich als Trugschluss entpuppt. Psychisch labil mag sie sein, aber auf eigene Weise ist sie auch eine eiskalte Rationalistin, die zumindest im Rahmen ihrer eigenen Logik konsequent handelt – wenngleich mörderisch und selbstzerstörerisch. Sicher ist, dass sie eine proaktive Figur ist: in den beiden folgenden Filmvariationen wird das Hausmädchen vom Hausherren vergewaltigt und in der Variation von 2010 von ihm verführt – der HANYO von 1960 ist so der einzige Film der Reihe, in der das Hausmädchen aktiv den Hausherren verführt.

HANYO kann als bitterböse Satire auf eine rein materialistische Aufsteiger-Mentalität gedeutet werden. Die Familie, in die das Hausmädchen gerät, steigt, wenn man so will, von der niedrigen Mittelklasse in die mittlere Mittelklasse auf und umgibt sich gerne mit Statussymbolen. Dazu gehört das Klavier im Wohnzimmer ebenso wie das Fernsehgerät (das ähnliche fetischisierende Äußerungen auslöst wie in Douglas Sirks Melodrama ALL THAT HEAVEN ALLOWS). Das Mädchen vom Lande nehmen diese Mittelschichtsangehörigen letztendlich völlig irrational als Bedrohung für ihren sozialen Status an und haben durchaus keine Hemmungen, einen „Klassenkampf von oben“ gegen sozioökonomisch Niedrigstehende zu entfesseln.
Sehr bemerkenswert ist, dass in HANYO die Hausherren KEINE Reichen sind, sondern tatsächlich aufsteigende Mittelschicht. Das ändert sich im Laufe der Hausmädchen-Filme: die Hausherren werden stetig wohlhabender, das Haus immer größer – bis sie schließlich in HANYO (2010) Multimillionäre sind. Die materialistischen Ängste der Hausherren werden aber nirgendwo so deutlich wie in HANYO (1960): der Aufstieg ist frisch, die Abwehrmechanismen gegenüber Arbeiterschichten sind wesentlich lebendiger. Und das Hausmädchen kann ihre Rolle als brutale Strafe wesentlich wirkungsmächtiger entfalten. HANYO kann als bitterböse Satire über seelenlosen Materialismus gelesen werden, auch wenn er natürlich in erster Linie ein psychosexueller Thriller ist und bleibt (und – in Hollywood-Begriffen – Hitchcock oder vielleicht besser Nicholas Ray näher steht als sagen wir Stanley Kramer).

HANYO ist stilistisch äußerst bemerkenswert. Die „establishing shots“ bei den Szenenübergängen sind dynamisch, gar teilweise verwirrend schnell geschnitten, aber der Film ist vor allem für seine eleganten Plansequenzen bekannt, gefilmt entlang der Terrasse des Hauses mit Blick in das Innere der Räume: ein aufdringlicher, bedrängender, voyeuristischer Blick, der dem aufdringlichen, bedrängenden und voyeuristischen Charakter des Hausmädchens entspricht.
Im Inneren herrscht Bedrängung: die Familie mag in einem zweistöckigen Haus wohnen, das wesentlich größer ist als die vorherige Wohnung, aber die Räume sind trotzdem eng. Oder werden stets eng gefilmt. Etwa aus dem Inneren eines Küchenschranks, wo die Flasche Rattengift lagert, die wie ein Damoklesschwert über die Geschichte hängt. Das Haus ist außerdem voller Flügeltüren: immer wieder werden sie zugeschoben, meist vor der Nase einer anderen Figur. Es ist eine Geste, die sich im Verlauf des Films immer wiederholt und stetig deutlicher macht, dass jegliche Kommunikation im Hause immer mehr zusammenbricht und zunehmend von Zorn, Raserei und Wahnsinn überlagert wird. Die bedrückende Geräuschkulisse fördert die Enge der Räume noch mehr: ein penetrant gespieltes Klavier (verschiedene Motive, ob gerade der Hausherr spielt oder das Hausmädchen manisch dissonante Akkorde reinhackt), das permanente Rattern der Nähmaschine, draußen der tobende Regen – ein nervenzerrendes Sounddesign, das die Spannung des Films bis kurz vor der Explosion steigert.

Drastische Bilder
Kim erschafft in HANYO immer wieder extreme, brutale, drastische Bilder voller psychischer und physischer Grausamkeit, die in einem Film von 1960 schier erstaunlich sind (und das ist das Jahr, in dem PSYCHO und PEEPING TOM herauskamen): permanente Morddrohungen, kaltblütiger Mord, Selbstverletzung... Das Hausmädchen beginnt in einer Szene, die Tochter des Hauses unter Zwang zu füttern: sie stopft sie regelrecht mit Reis (der Film lässt in diesem Moment offen, ob der Reis nicht möglicherweise vergiftet ist). Diese Szene mag in ihrer emotionalen Grausamkeit etwas subtiler sein als der Mord am Sohn des Hauses, oder der Versuch des Hausherren, das Hausmädchen mit bloßen Händen zu erwürgen – sie zeugt aber vom großen Talent Kims, eine Atmosphäre der permanenten Bedrohung, Beklemmung und des Unbehagens zu schaffen. Sexualität wird, dem Entstehungsjahr entsprechend, größtenteils eher bedeckt inszeniert: ein Gewitterblitz, das in einen Baum einschlägt, muss dann eben als Ersatz für eine richtige Sexszene herhalten. Dennoch beginnt in einer Art Akt sexueller Selbstunterwerfung das Hausmädchen an einer Stelle, die nackten Beine des Hausherrn im Morgenmantel frenetisch zu küssen.

Falls diese Ausführungen alle etwas unaufgeräumt klingen, hängt das damit zusammen, dass in HANYO nur schwer eine Ordnung reinzubringen ist: alle rasenden Emotionen überlagern sich nach und nach immer heftiger. Hilfe bietet erst der Epilog, in dem der Hausherr sich direkt an die Zuschauer wendet (nachdem er eigentlich gerade gestorben ist). In einer kleinen Rede entzaubert er das eben Gesehene als reine Fantasie, die er sich nach der Lektüre eines reisserischen Zeitungsartikels ausgemalt hat. In einem Interview sagte Kim, dass er den Schluss ganz bewusst hinzugefügt hat, um die lineare Chronologie des Films und jegliche Unterscheidung zwischen Realität und Fantasie zu brechen – Zensur spielte bei dieser Entscheidung offenbar keine Rolle. Eskalierende Sex- und Gewalt-Plots, die sich als Traum oder Trugbild entpuppen, hatte es schon in SCHATTEN (1923) von Arthur Robison oder in THE WOMAN IN THE WINDOW (1944) von Fritz Lang gegeben. Letzterer ist ein passender Vergleich: Lang inszenierte ein Jahr später fast die gleiche Geschichte mit den gleichen Schauspielern noch einmal, mit dem Unterschied, dass in SCARLET STREET die sex-and-crime-story endete, ohne dass sie als (innerfilmische) Fantasie aufgelöst wurde. Kim Ki-young ging einen ähnlichen Weg, als er 1970 HWANYEO ebenso ohne „Happy End“ filmte.



HWANYEO (WOMAN OF FIRE)
Republik Korea 1970
Regie: Kim Ki-young
Darsteller: Yoon Yeo-jeong (das Hausmädchen), Namkoong Won (der Hausherr), Jeon Gye-hyeon (die Hausherrin)

Auch in HWANYEO bricht Kim die Chronologie auf. Die Rahmenhandlung spielt in einem Seouler Polizeipräsidium, wo  die Todesumstände eines Mannes und seines Hausmädchens untersucht werden. Der Hauptteil des Films ist daher eine Rückblende (die an manchen Stellen eigene Rückblenden hat).

Das neue Hausmädchen und die Hühnerfarm
Das Hausmädchen in HWANYEO ist wieder ein Mädchen vom Lande, aber sie hat nun eine Vorgeschichte: sie ist schon zu Beginn eine Mörderin. Zusammen mit ihrer besten Freundin wird sie in ihrem Heimatdorf von zwei Schmieden vergewaltigt und tötet sie beide in Notwehr. Die beiden jungen Frauen fliehen nach Seoul, wo sie von einem schmierigen Arbeitsvermittler Jobs vermittelt bekommen. Die eine wird Tänzerin/Animateurin/Begleiterin (im Klartext: Prostituierte) in einer Bar. Die andere wird als Hausmädchen vermittelt. In dem Haus, in dem sie arbeitet, wird sie de facto als Sklavin gehalten: sie kriegt kein Gehalt, sondern nur Kost und Logis (jedoch auf eigenen Wunsch: die Hausherrin soll für sie irgendwann einen geeigneten Ehemann finden und sie verkuppeln – was ja auf einer gewissen Art und Weise auch passieren wird).

Der Hausherr komponiert Poplieder. Er hat offenbar ein kleines Alkoholproblem, lebt aber weitestgehend eine glückliche bürgerliche Existenz mit Frau, Tochter und Sohn. Anfänglich behandelt er das neue Hausmädchen mit Verachtung und Hohn: für ihn ist sie eine stinkende und vulgäre Bäuerin. Das ist insofern interessant, als dass sich das Haus in einem ländlich geprägten Vorort befindet (inwiefern gutsituierte Bewohner Seouls in den 1960er Jahren dazu neigten, in Suburbs zu ziehen, kann ich schwer sagen). Unmittelbar neben dem Haus steht die Hühnerfarm, die die Ehefrau betreibt, wobei angedeutet wird, dass sie mehr zur Haushaltskasse beiträgt als der Mann. Naturnah-bäuerlich ist das ganze allerdings nicht, sondern es ist eine Massenhaltung, die die Hausherrin mit einem sehr effizienten und kalten Geschäftssinn führt: Hühner, die ein gewisses Legequorum nicht erfüllen, werden sofort getötet und zu Grillhähnchen verarbeitet. Ein matching cut vom Füttern der Hühner im Stall zu einer Platte mit Hähnchen, die aus dem Kühlschrank geholt wird, macht diese Verwertungskette ganz deutlich. Doch die eiskalte Haltung hat die Hausherrin nicht nur gegenüber Hühnern, sondern auch gegenüber Menschen. Als sie für einige Tage mit den Kindern verreist und den Ehemann zurücklässt, weist sie das Hausmädchen an, aufdringliche Besucherinnen und potentielle Liebhaberinnen ihres Mannes rücksichtslos rauszuwerfen – oder falls nötig auch gleich zu töten (was sie eindeutig ohne Anflug von Ironie äußert). Später wird eine Szene aus dem ersten Teil variiert, als der Mann gestehen möchte, dass das Hausmädchen von ihm schwanger ist: er fragt seine Frau, ob es sie stören würde, wenn er jemanden ausrauben würde (nein), wenn er jemanden töten würde (nein) oder wenn er eine andere Frau schwängern würde (woraufhin sie mit ihm de facto bricht).

Vergewaltigung und eskalierende Affäre
Im Gegensatz HANYO kommt es in HWANYEO zunächst nicht zu einer „richtigen“ Affäre. Vielmehr vergewaltigt der Mann im alkoholischen Vollrausch das Hausmädchen (gleichwohl im Glauben, dass es sich um eine Arbeitskollegin auf Besuch handelt, die er sexuell bedrängt hat, jedoch geflüchtet ist) – die visuell verzerrten Bilder der beiden Schmiede, die auf ein glühendes Eisen hämmern und die Doppel-Vergewaltigung zu Beginn visualisieren, kommen hier wieder zum Einsatz. Für den Hausherren ist die Vergewaltigung des Hausmädchens nicht wirklich der Rede wert, und er möchte das ganze lieber unter den Tisch kehren. Das geht nicht so einfach, weil zum einen das Hausmädchen schwanger ist und zum anderen immer aggressiver zu einer richtigen Affäre drängt, die er gar nicht haben wollte.

HWANYEO fächert den Komplex um Schuld und Gewalt noch etwas mehr als im Film von 1960 auf. Die Hausherrin zwingt das Hausmädchen zur Abtreibung des Kindes, woraufhin diese kurz danach das Neugeborene des Hauses tötet. Wie in HANYO (wo sie allerdings den älteren Sohn tötet) vollzieht das Hausmädchen die grausame Logik, wonach sie dem Ehepaar ein Kind wegnimmt, nachdem ihr das Kind weggenommen wurde. Wie mit der Leiche des getöteten Kindes umgegangen wird, erfahren wir wie in HANYO auch hier nicht (nur, dass das ganze nach außen hin um jeden Preis vertuscht wird).

Doch ein weiterer Tötungsfall schweißt das Trio noch enger zusammen. Der schmierige Arbeitsvermittler, der von seinen Mädchen stets Geld oder Sex als Vermittlungsgebühr abpressen will, sucht die als Hausmädchen verkaufte junge Frau auf und versucht, sie zu vergewaltigen. Wie einst auf dem Land tötet sie ihren Vergewaltiger in Notwehr (mit einem roten Nachttopf!). Es folgt eine komplexe Arbeitsteilung im Bereich der Schuldbewältigung: Das Hausmädchen tötet den Angreifer, drapiert die Leiche so, dass der Hausherr denkt, er habe den Mord im Vollsuff selbst begangen, während wiederum die Hausherrin dann die Leiche beseitigt (wie es scheint auf eine besonders krasse und makabre Art und Weise). Schuld ist ansteckend. Und schweißt das Trio zu einer noch unheilvolleren Allianz zusammen.

Kunstvoller Einsatz von Farbe
in geometrischer Architektur
Stilistisch schließt sich HWANYEO in einigen Punkten an HANYO an. Die Kamerafahrten auf der Terrasse mit dem voyeuristischen Blick in das Innere, der permanente Regen... Doch die expressive Verzerrung der Bilder, die 1960 noch knapp kontrolliert wurden, wird 1970 vollkommen entfesselt. HANYO war sicherlich schon von geometrischen Formen gezeichnet, doch in HWANYEO sind harte, kantige, geometrische Formen geradezu hegemonial. Das Bildformat 2,35:1 ermöglicht einen noch komplexeren Bildaufbau und bietet mehr Chancen, die Bilder zu fragmentieren. Sie werden verfremdet, indem sich immer irgendetwas in den Vordergrund schiebt, oder etwas verdeckt, oder die Figuren nur in der Hälfte oder gar einem Drittel des Bildes sichtbar agieren können. Eine zu Fragmenten zerschlagene Welt.
Am auffallendsten ist natürlich das – schlichtweg fantastische! – Zusammenspiel aus Licht und Farbe. Emotionale Szenen werden stets in vollkommen unnatürliches Licht getaucht, in tiefem Blau und Rot, was die irreale, fieberhafte, irrsinnige Atmosphäre des Films steigert. HWAYNEO ist ein roter Film, ein Popart-Terror-Thriller. Einige Fans Kim Ki-youngs bezeichneten ihn wohl einmal als „Douglas Sirk auf Acid“.


HWANYEO ’82 (WOMAN OF FIRE ’82)
Republik Korea 1982
Regie: Kim Ki-young
Darsteller: Na Young-hee (?) (das Hausmädchen), Chon Moo-song (?) (der Hausherr), Kim Ji-mee (?) (die Hausherrin)

HANYO und HWANYEO waren expressionistische, surrealistische Fieberträume. HWANYEO ’82 markiert hingegen einen Einbruch von „Realismus“ in die Hausmädchen-Geschichte. Das tut dem Film allerdings nicht wirklich gut – um es mal vorsichtig auszudrücken... 

Geöffnete Räume, 80er-Jahre-Einrichtung
HWANYEO ’82 ist von den drei HANYO-Variationen die einzige, die sich tatsächlich ein wenig wie ein lustloses Remake anfühlt, in dem Elemente der früheren Filme zusammengeworfen werden, ohne, dass das irgendwie passt oder eine Eigendynamik entwickelt – wie eine Collage aus halbherzigen Zitaten. Diese Lustlosigkeit, dieser Mangel an Dynamik kann teilweise auch an der Laufzeit erkannt werden: mit 122 Minuten ist HWANYEO ’82 der längste „Hausmädchen“-Film, und er fühlt sich auch so an.

Am ehesten lässt sich HWANYEO ’82 als Versuchsanordnung zu verstehen: man kann sich vorstellen, dass Kim Ki-young mal austesten wollte, was passieren würde, wenn man die expressionistischen Elemente der Erzählung (man könnte auch sagen: den offenen Wahnsinn) zügelt und den Raum noch weiter öffnet (letzteres eine lineare Entwicklung in der Reihe – dazu mehr später). Das Resultat ist weitestgehend misslungen. Die Bilder sind flach. Das Haus sieht realer aus, aber eben auch weniger atmosphärisch, weniger klaustrophobisch: das ist nicht mehr der Vorhof der Hölle, sondern in der Tat nur ein biederes Suburbia-Haus. Die Farbgestaltung drückt nicht mehr den entrückten geistigen Zustand der Figuren aus, sondern eher ihren zweifelhaften Geschmack bei Fragen der Inneneinrichtung.

Gleichzeitig erscheint es so, als hätte sich Kim selbst wohl mit dem realistischen Look nicht wirklich wohl gefühlt: immer wieder (also eigentlich: erneut) „zerbricht“ er die Bilder durch Gläser, Gitter, nasse Spiegel und Feuer, was den Gesamteindruck des Films noch inkohärenter macht. Überhaupt will vieles nicht so recht zusammenpassen. Wie in HWANYEO vergewaltigt der Hausherr das Hausmädchen im Vollrausch, und zwar wenige Augenblicke, nachdem er zwei kleine Schlücke Reiswein getrunken hat. Auch Zuschauer, die das Jagen und Sammeln sogenannter Logiklöcher für kunstfeindliche und biedere Pedanterie halten, werden doch anmerken müssen, dass eine unpassende, und völlig angespannte Theatralik entsteht, wenn dieser Mann nach zwei Schlücken sich so verhält, als hätte er gerade stundenlang gezecht. Überhaupt spielt der Hausherr viel zu theatralisch auf für einen Film, der sich ansonsten nüchtern und gediegener präsentieren möchte.

"Zerbrochene" Bilder
Neben dem flachen Look der Bilder krankt HWANYEO ’82 generell an den eher schwachen Darstellern. Am überzeugendsten ist vielleicht die Hausherrin. Doch gerade das Hausmädchen dürfte die gravierendste Fehlbesetzung des Films sein – blass, ohne Eigenschaften, etwas lustlos Dialogsätze rezitierend. Bemerkenswert und interessant ist, dass HWANYEO ’82 die ältesten Hausherren der Reihe hat. Die Alterung der Hausherren-Figuren war bis dahin linear, und brach 2010 wieder ab.

Mit dem späteren HANYO teilt HWANYEO ’82 allerdings den Drang, mit dem Holzhammer zusätzliche Figuren einzuführen, die „funktional“ zu sein haben. Der „kollektive“ Mord aus HWANYEO wird auch 1982 variiert. Das Opfer ist ein Hühnerfarm-Mitarbeiter, der aus heiterem Himmel plötzlich auftaucht (vorher betrieb die Hausherrin ihre Hühnerfarm wie in HWANYEO offensichtlich alleine) und von der Hausherrin als passender Ehemann für das Hausmädchen rausgesucht wird: die Figur wird holprig eingeführt, um sofort danach fast ebenso holprig ermordet zu werden.

Es bliebe noch viel Schlechtes über HWANYEO ’82 zu sagen, etwa, dass die Musik sich als schwer erträgliches Synthie-Gequake entpuppt, aber im Grunde sollte man von diesem Film tatsächlich als misslungenes Experiment sprechen. 2010 hat HANYO einiges vom misslungenen Experiment übernommen. Doch zunächst einige Worte dazu, wer eigentlich hinter diesen bizarren Filmen steckt...



Kim Ki-young

Kim Ki-young wurde ungefähr 1919 in Seoul geboren. 1919 stand in seinem Pass, 1922 war nach eigener Aussage sein eigentliches Geburtsdatum. Er wuchs in Pyongyang auf und lebte auch eine Zeitlang in Japan, der damaligen Kolonialmacht über Korea. Hier lernte Kim fließend Japanisch lesen, schreiben und sprechen und sah in den Kinos der größeren Städte Filme Fritz Langs und Josef von Sternbergs, die ihn nachhaltig beeindruckten. An der Universität Seoul studierte Kim Medizin und machte seinen Abschluss als Hals-Nasen-Ohren-Arzt. In seiner Studienzeit interessierte er sich jedoch sehr für das Theater und gründete ein eigenes universitäres Ensemble, das vor allem klassische westliche Stücke aufführte. Die Hauptschauspielerin, die Studentin der Zahnmedizin Kim Yu-bong, wurde 1951 seine Ehefrau – die Ehe bestand bis zum tragischen und gemeinsamen Tod am 5. Februar 1998. Im Gegensatz zu ihrem Ehemann praktizierte Kim Yu-bong später ihren erlernten Beruf, und als erfolgreiche Zahnärztin unterstützte sie finanziell ihren Ehemann in mageren Zeiten und bezuschusste viele seiner Filme. Die Mäzenin soll angeblich regelmäßig nach der Sichtung von Kims Filmen in Tränen ausgebrochen sein und dabei gefragt haben, was er nur mit ihrem ganzen Geld angestellt habe. Dies belastete aber offensichtlich weder die Ehe noch ihre Bereitschaft, den Ehemann weiterhin finanziell und moralisch zu unterstützen. Ob sich die Situation der Ehepartner teilweise ironisch in den Filmen widerspiegelte? In HWANYEO und HWANYEO ’82 ist die Hausherrin, die einen „grundständigen“ Beruf ausübt, die Hauptverdienerin der Familie, während der künstlerisch tätige Hausherr offensichtlich verhältnismäßig wenig zur Haushaltskasse beitragen kann.

Nach seinem Uni-Abschluss jedenfalls begann Kim gar nicht erst, als Hals-Nasen-Ohren-Arzt zu arbeiten, sondern drehte im Auftrag der United States Information Agency antikommunistische Dokumentarfilme – der laufende Koreakrieg schuf einen „Bedarf“ an solchen Werken und Kim verdiente mehr Geld, als wenn er als Arzt praktiziert hätte. Er drehte im Auftrag der Amerikaner auch einen Spielfilm. Sein zweiter Spielfilm, das historische Melodrama YANGSANDO (YANGSAN PROVINCE), wurde von Kritikern als geschmacklos verschmäht, konnte aber beim Publikum gute Erfolge erzielen. 1956 gründete Kim die „Kim Ki-young Productions“ und drehte weiterhin Melodramen, nunmehr aber als Unabhängiger. Seine Filme standen wegen ihren vielen stilisierten Elementen in einem Gegensatz zum damals dominierenden Realismus im koreanischen Kino. Mit HANYO brach Kim 1960 definitiv mit jeglichem Realismus.

1960 war die „goldenste“ Zeit der „goldenen“ Jahre des koreanischen Kinos. Die sogenannte April-Revolution beendete in diesem Jahr die autoritäre Herrschaft des Präsidenten Rhee Syng-man und ebnete den Weg für die Zweite Republik. Diese führte zu einem offeneren, liberaleren Klima, wurde aber wiederum im Mai 1961 von einem Armeeputsch hinweggefegt. Während dieser kurzen liberalen Zeit sorgten zwei Filme für Sensation. Yu Hyun-moks OBALTAN (AIMLESS BULLET) prangerte in sozialrealistischer Weise und ästhetisch am italienischen Neorealismus orientiert die sozialen Missstände in Korea an und portraitierte eine Familie am Rande der Armut. Kims HANYO, ebenfalls ein großer Kinoerfolg in Korea, zeigte die Gesellschaft vielleicht auf noch viel trostlosere Weise, und demonstrierte zugleich eine Alternative zum im koreanischen Kino: Surrealismus und Expressionismus mit grotesk verzerrter Satire statt sozialem Realismus mit politisch-pädagogischem Bewusstsein. 

HANYO etablierte Kim Ki-young als Regisseur der Genre-Vermischungen, des Surrealismus, des expressionistischen Horrors, der sexuellen Obsessionen, des Grotesken. Auch nach dem Militärputsch 1961, der eine stärkere Kontrolle über die Filmindustrie brachte, inszenierte und produzierte Kim unabhängig und mit geringen Budgets bizarre und provokante Filme. Er drehte in vielen Genres: ein Melodrama über die Geschichte eines zwangsrekrutierten koreanischen Soldaten in der japanischen Armee (HYEONHAETANEUN ALGOITTA / THE SEA KNOWS, 1961), ein ländliches Drama über einen Bauern, der seine alte kranke Mutter zum Sterben in die Berge trägt (GORYEOJANG / BURYING OLD ALIVE, 1963 – eine Geschichte, die auch im japanischen Kino davor und danach verfilmt wurde), ein Rache-Thriller (ASPHALT, 1964), ein Film über die Liebe eines Haarfetischisten zu einer todkranken Frau (YEO / WOMAN, 1968).

In den 1970er und 1980er Jahren geriet Kim in immer größere Schwierigkeiten. Die Militärdiktatur übte eine stärkere Zensur gegen koreanische Kinofilme aus. BAN GEUM-RYEON / THE STORY OF PAN KUMYON, ein im alten China spielendes Eifersuchtsdrama, wurde 1975 verboten und wurde erst 1982 in einer um 40 Minuten zensierten Fassung freigegeben. Ein Jahr später wurde Kim von der Regierung gezwungen, einen antikommunistischen Film zu drehen ((HYEOLYUKAE / LOVE OF BLOOD RELATIONS). Mehreren Quellen zufolge „rächte“ sich der Regisseur, in dem er sich ganz auf den Bösewicht (eine nordkoreanische Spionin) konzentrierte und sie in eine verführerische, sexy femme fatale verwandelte. Größere Schwierigkeiten brachte die zunehmende Popularität des Fernsehens als Konkurrenz zum Kino und auch die Aufhebung von Importrestriktionen für westliche und vor allem US-Filme.

Kim, der meist auch als Drehbuchautor, Produzent und Cutter seiner Filme tätig war und sich stets persönlich in Fragen des Setdesigns involvierte, galt auch persönlich als Exzentriker. Angeblich schrieb er seine Drehbücher nicht zuhause, sondern mietete sich dafür in Billighotels in schäbigen Wohngegenden ein. Er verfasste sie in Japanisch, weil ihm die japanische Sprache als Schriftsprache wohl wesentlich lieber war als das Koreanische und dies ihm zugleich ermöglichte, den Inhalt vor den meisten seiner Mitarbeiter geheim zu halten. Seine Fähigkeit, aus geringen Budgets viel machen zu können, galt als unbestritten, wobei er mit dem Sparen bei sich selbst anfing: zu den Filmsets fuhr er stets im Bus, und nicht mit Chauffeur oder Taxi und kleidete sich stets etwas nachlässig.

Ende der 1980er und Anfang der 1990er inszenierte Kim seine Filme weitestgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit. Doch ab Mitte der 1990er Jahre wurde er nach und nach wieder entdeckt. Eine große Retrospektive in Korea wurde ihm beim Internationalen Filmfestival in Busan 1997 gewidmet. Im selben und darauffolgenden Jahr gingen seine Filme durch Festivalretrospektiven und Cinematheken auch im Ausland. 1998 sollte die erste Kim-Retrospektive außerhalb von Korea bei der Berlinale stattfinden und der Regisseur sollte als Ehrengast anreisen. Sie fand jedoch unerwartet posthum statt: Einige Tage vor der Reise starb Kim zusammen mit seiner Ehefrau bei einem Hausbrand, den wohl ein Kurzschluss ausgelöst hatte. Er war 78 Jahre alt. 

Ganz entscheidend bei der „Wiederentdeckung“ Kims war eine Garde jüngerer Regisseure, die seine Filme auf Video oder in abseitigen Kinos entdeckt hatten: Filmemacher wie Park Chan-wook (OLDBOY, SYMPATHY FOR LADY VENGEANCE, STOKER), Bong Joon-ho (THE HOST, MOTHER, SNOWPIERCER) und Kim Ki-duk (SAMARIA, HWAL, PIETÀ) erklärten Kim Ki-young zu einer Art heiligen Schutzpatron. Park Chan-wook nannte HANYO als den Film, der ihn am meisten beeinflusst hat, und es ist gar nicht so schwer, den Hauch des Klassikers in STOKER wieder zu entdecken. Zu den Kim-Verehrern gehört auch Im Sang-soo, der 2010 HANYO neu verfilmte – bzw. erneut variierte.


HANYO (THE HOUSEMAID)
Republik Korea 2010
Regie: Im Sang-soo
Darsteller: Jeon Do-yeon (das Hausmädchen), Lee Jung-jae (der Hausherr), Seo Woo (die Hausherrin), Yoon Yeo-jeong (die Gouvernante), Park Ji-young (die Mutter der Hausherrin)

Gleiche Geschichte, anderer Regisseur, neuer Film.

Riesige Räume 
Die auffallendste Änderung an HANYO besteht in der kompletten Öffnung des Raums. Der Raum wird sogar so weit geöffnet, dass er dadurch wieder zerstört wird. HANYO ist (ich weiß, psychiatrisch ist der Begriff ungenau) ein agoraphobischer Thriller, ein Film der riesigen Räume. Das Haus der Hausherren ist kein Haus mehr, sondern eine herrschaftliche Villa, die noch zusätzlich durch Wochenendhäuser „ergänzt“ wird. Die riesigen Räume verschlucken die Figuren. Sie sind auch so vielfältig, dass man sie selten wieder erkennen kann. Auch wiederkehrende Räume, wie etwas das Badezimmer der Herren, der Eingangsbereich oder das Klavierzimmer, werden aus inkonsistenten Perspektiven gefilmt. Egal, wo man gerade steht, man fühlt sich in diesem Labyrinth hoffnungslos verloren. Jede neue Szene bringt einen anderen Ort, den man nicht kennt – so verliert sich das Hausmädchen auch immer mehr, wie sie sich auch in den Intrigen der Hausherren verliert.

Diese Öffnung und gleichzeitige Zerstörung der Räume ist die originellste Erneuerung des alten Hausmädchen-Konzepts. Leider bleibt es nur intellektuell spannend, und geht leider nicht wirklich auf. So bleibt das Gefühl des Verlorenseins in der Weite weniger beklemmend als die klaustrophobische Kammerspiel-Atmosphäre in HANYO oder HWANYEO.

Wenn man Filme in „warm“ oder „kühl“ unterteilt, so markiert HANYO ebenfalls einen Bruch mit seinen Vorgängern. Kims Filme waren allesamt bis kurz vor dem Explodieren überhitzt. Ims HANYO hingegen ist nicht nur ein unterkühlter, sondern geradezu ein kalter Film. Das manifestiert sich auch in seiner Farbdramaturgie. Verwischte, entsättigte, monochrome Farben dominieren das Bild – fast wie ein kontrastarmer Schwarzweiß-Film. Diese Kälte ist auch ein Symptom der Distanz, die Im zu dem Geschehen und teilweise auch zu den Figuren aufbaut. Fast teilnahmslos wirkt in HANYO die Kamera – als diskreter Beobachter, nicht als teilnehmender Voyeur.

Hausherrin, Hausherr und Hausmädchen
HWANYEO ’82 legte den Grundstein dazu: HANYO 2010 versucht im Grunde, die gleiche Geschichte um das Hausmädchen rationaler, gediegener, bodenständiger, im Grunde „realistischer“ zu erzählen. Das Problem mit dieser Herangehensweise liegt auf der Hand: der Film wird zu einem sehr langsamen Melodrama (und zu keinem besonders guten). Der pure Wahnsinn, der in Kims Filmen herrschte, wird für ein wenig überzeugendes Showdown aufbewahrt, das wohl Kims Filmtitel von 1970 („Die Feuerfrau“) etwas zu wörtlich genommen hat. Der überaus bizarre, mit extremem Weitwinkelobjektiv gefilmte Epilog, der kaum an das Gesehene anknüpft, erscheint wesentlich interessanter. Graphisch ist HANYO etwas aufgesexter als Kims Filme, aber dafür erstaunlich unspektakulär. Die Verknüpfung von Sex, Wein-Fetischismus und nouveau-riche-Satire ist jedoch ein Glanzlicht!

Das weitere Problem taucht etwa in der Mitte des Films auf (und knüpft im Grunde an eine Schwäche aus HWANYEO ’82 an): es ist die Figur der manipulativen Mutter der Hausherrin. Man kann sie zwar als ganz nette Hitchcock-Hommage lesen, doch sie wirkt rasch wie das materialisierte Sprachrohr ihrer Tochter und ihres Schwiegersohns. Sollen die beiden Hausherren vielleicht absichtlich degradiert, ja geradezu entmündigt werden? Schwierig zu sagen. Richtig überzeugend ist diese urplötzlich und mit dem Holzhammer eingeführte Figur jedenfalls nicht.

Die manipulative Mutter: eine überflüssige Figur?
Eine weitere nette Hitchcock-Hommage ist sicherlich die Figur der älteren Gouvernante, die als Chefin des Dienstpersonals das Hausmädchen in die Gepflogenheiten des Hauses einführt – Mrs. Danvers lässt grüßen. Auch diese Figur wirkt wie die Mutter eher als Dämpfer, wenn es um die direkten Reibereien zwischen Hausherren und Hausmädchen geht, und es ist zu mutmaßen, ob die Rolle nicht speziell geschrieben wurde, damit Yoon Yeo-jeong, die Darstellerin des Hausmädchens 1970, eine Rolle spielen konnte.

Wo zu viele Figuren eingeführt werden, müssen andere wiederum vernachlässigt werden. Die kleine Tochter der Hausherren etwa lässt ein interessantes Potential erkennen, denn im Gegensatz zu Kims Filmen freundet sich das Hausmädchen regelrecht mit ihr an, ja die beiden werden fast schon zu Verbündeten – ein Aspekt, den der Film leider rasch liegen lässt und nicht weiter verfolgt.

Die vielleicht größte Schwäche von HANYO ist jedoch die eindeutige Sympathieverteilung, die er vornimmt. Aus Kims todbringendem Hausmädchen hat Im eine Art Märtyrer-Hausmädchen gemacht. Ein Opfer. Während Kims Filme – entgegen manch bizarrer Interpretation des Hausmädchens als Bösewicht – die Kategorien zwischen gut/böse, Opfer/Täter vollkommen auflöst, baut Im sie plakativ auf, und beraubt seinen Film, ja eigentlich das ganze Konzept der Hausmädchen-Geschichte, jeglicher Spannung, jeglicher Ambivalenz und jeglichen Unbehagens. Das gute, naive Hausmädchen gerät den Intrigen der verkommenen Hausherren, die auch noch reiche Bonzen sind, zum Opfer – ein Konzept, das sich nicht gerade als sehr tragfähig erweist.

Dennoch ist es völlig egal, wie man es dreht und wendet: die Sache, die man Ims Film als allerletztes vorwerfen könnte, ist, dass es sich um ein reizloses Eins-zu-eins-Remake handle. HANYO ist ein durch und durch eigenständiger Film, und seine Stärken und Schwächen sind fast komplett originär. Im hat Kims Filmen eine sehenswerte Variation hinzugefügt, die durchaus eigenständig für sich stehen kann.



Infos zur Verfügbarkeit der Filme

HANYO 1960
Von den 32 Filmen, die Kim Ki-young gedreht hat, sind lediglich 22 vollständig erhalten. Hinzukommt ein Filmfragment und ein Film ohne erhaltene Tonspur – die anderen acht sind verschollen. Für einen Regisseur, der seine Karriere Mitte der 1950er Jahre begonnen hat, scheint das etwas verwunderlich. Aber das hängt mit der besonders prekären Geschichte der Film-Konservation in Korea zusammen. Filme wurde in den 1950er bis 1970er Jahre auf teils skurrile (und aus cinephiler Sicht fürchterliche) Weise „wiederverwertet“: 35- und 16-mm-Kopien wurden in der Hutindustrie verarbeitet. Zelluloid gab den Hüten Glanz und Stabilität. Nebenbei wurde auch aus vielen Kopien Silber extrahiert. Die Folge ist, dass etwa 70 % aller koreanischen Filme vor 1960 als verschollen gelten. Erst seit Beginn der 1990er Jahre gibt es so etwas wie eine Pflege des Filmerbes in Korea.
Kim hatte HANYO mehrheitlich aus seinem eigenen Geld finanziert und bewahrte das Negativ zu Hause auf. Allerdings fehlten ihm aus heute wohl nicht mehr nachvollziehbaren Gründen zwei Rollen. Eine vollständige Kopie wurde Anfang der 1990er Jahre entdeckt, allerdings hatte sie überdimensionierte und schlecht eingepflegte englische Untertitel. Neben dem üblichen und starken Schmutz mussten auch diese Bild für Bild entfernt werden und die überdeckten Areale rekonstruiert werden. Die im Negativ nicht vorhandenen Szenen wurden so wieder vervollständigt. Die ungleichwertige Erhaltung sieht man dem Film heute an: über weite Strecken hat er eine sehr gute bis hervorragende Qualität, zwei etwas längere Passagen von knappen über 10 Minuten haben eine deutlich schlechtere Bild- und Tonqualität.
HANYO ist in dieser Restauration in einer koreanischen und französischen DVD-Edition sowie in der US-amerikanischen Criterion Collection erhältlich.

HWANYEO
Sehen kann man HWANYEO ganz einfach hier bei youtube! Und zwar völlig legal vor folgendem Hintergrund: das koreanische Filmarchiv betreibt eine eigene youtube-Seite, auf der es Dutzende seiner Filme zur freien Sichtung hochlädt. Einzige Barriere: man muss sich anmelden. Englische Untertitel sind stets vorhanden.
Von Kim Ki-young sind sieben Filme dort zu sehen.

HWANYEO ’82
Darunter auch HWANYEO ’82. Ein Blick jenseits der Kim Ki-young-Playlist in andere Filme dürfte sich natürlich auch lohnen!

HANYO (2010)
Das koreanische Filmarchiv postet auch Filme aus den 1990er Jahren, aber ich glaube, mit den 2000er Jahren ist auch Schluss.
HANYO ist aber auch nicht so tricky zu besorgen wie Kims Filme. Es gibt deutsche, britische, französische und US-amerikanische DVD- und Blu-ray-Editionen.

Ein Komet streift die Erde, und Dänen fliegen zum Mars

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HIMMELSKIBET (FLUG ZUM MARS, auch DAS HIMMELSSCHIFF)
Dänemark 1918
Regie: Holger-Madsen
Darsteller: Gunnar Tolnæs (Avanti Planetaros), Nicolai Neiiendam (Prof. Planetaros), Zanny Petersen (Corona Planetaros), Alf Blütecher (Dr. Krafft), Philip Bech (Weiser vom Mars), Lilly Jacobson (Marya), Svend Kornbeck (David Dane), Birger von Cotta-Schønberg (der Asiate), Frederik Jacobsen (Prof. Dubius)

VERDENS UNDERGANG (DAS ENDE DER WELT, auch DAS JÜNGSTE GERICHT)
Dänemark 1916
Regie: August Blom
Darsteller: Olaf Fønss (Frank Stoll), Ebba Thomsen (Dina West), Johanne Fritz-Petersen (Edith West), Alf Blütecher (Reymers), Carl Lauritzen (West), Frederik Jacobsen (Wanderprediger), Thorleif Lund (Flint), K. Zimmerman (Prof. Wissmann/Wisemann)

HIMMELSKIBET - Ein Ritter bei der Minne? Nein, ein Erdling und zwei Marsianer!
Diesmal geht es um zwei dänische Stummfilme aus dem Bereich der Phantastik, aus den 1910er Jahren, der Goldenen Zeit des dänischen Films. Damals war Dänemark neben Frankreich, Italien und den USA die führende Filmnation und stellte Deutschland in den Schatten. Größte Produktionsfirma war die 1906 gegründete Nordisk Films Kompagni, die immer noch existiert und als ältestes Studio der Welt gilt. VERDENS UNDERGANG und HIMMELSKIBET wurden ebenfalls von Nordisk produziert. 2005/2006 wurden beide Filme vom Dänischen Filminstitut restauriert und gemeinsam auf einer DVD herausgebracht.

HIMMELSKIBET - Raumschiff zum Mars

HIMMELSKIBET


Der abenteuerlustige Kapitän Avanti Planetaros ist gerade von einer langen Forschungsreise zurückgekehrt und sieht sich nach einer neuen Aufgabe um. Die findet er schnell im Observatorium seines Vaters, des Astronomen Professor Planetaros. So viele Geheimnisse, so viele unerforschte Welten! Man müsste da einfach mal hinfliegen, am besten zum Mars. Da trifft es sich gut, dass Avantis Freund Dr. Krafft ein begabter Wissenschaftler und Ingenieur ist. Er erklärt sich bereit, das benötigte Raumschiff zu bauen. Beflügelt wird sein Ehrgeiz auch dadurch, dass er ein Auge auf Avantis Schwester Corona geworfen hat und er zu Recht hofft, durch seinen Einsatz ihr Herz zu gewinnen. Nach zwei Jahren Konstruktions- und Bauzeit ist das Raumschiff "Excelsior" fertig. Nun ja, "Raumschiff" ... das Ding ist ein dickbäuchiges Flugzeug, mit Flügeln und einem Heckpropeller. Aber mit einer nicht näher erläuterten Erfindung schafft es Krafft, die nötige schwindelerregende Geschwindigkeit zu erreichen. Von innen erinnert das Gefährt an ein U-Boot, abgesehen davon, dass es Fenster gibt.

HIMMELSKIBET - Im Observatorium von Prof. Planetaros (Prof. Wissmann benützt übrigens das selbe);
der Mars (man beachte die berühmten Marskanäle); Position von Erde und Mars bei Abflug und Ankunft
Bei einer Versammlung der Wissenschaftlichen Gesellschaft in Kopenhagen wird das Projekt vorgestellt. Es erntet allgemeine Begeisterung, nur einer protestiert: Prof. Planetaros' Kollege Prof. Dubius. Er erklärt das Unterfangen für unmöglich, macht sich hämisch über Vater und Sohn Planetaros lustig und prophezeit den unvermeidlichen Tod der Besatzung. Doch der Miesepeter wird nicht weiter beachtet. Zusätzlich zu Avanti und Dr. Krafft, die die Bedienungsmannschaft der Excelsior bilden, wird noch eine Handvoll Passagiere ausgewählt, darunter der etwas ungehobelte Amerikaner David Dane und ein "Abgesandter des Ostens" (der von einem Dänen gespielt wird, so dass unklar ist, ob das ein Inder, Chinese oder sonstwas sein soll). Frauen sind an Bord zunächst nicht vorgesehen - Corona bleibt bei ihrem Vater.

HIMMELSKIBET - zu den Sternen!
Der Start klappt problemlos, aber auf dem mehrmonatigen Flug bricht Langeweile und Lagerkoller aus. Es kommt sogar zu einer Meuterei, angezettelt von David Dane, der sich als Alkoholiker entpuppt und der entsprechenden Stoff an Bord geschmuggelt hat. Gerade noch rechtzeitig, bevor es in der Excelsior zu einer Schießerei kommt, kommt man am Mars an, und die Wogen glätten sich. Der Mars ist - wie könnte es anders sein - bewohnt, und zwar von einem humanoiden Volk, weiß gewandet, pazifistisch und esoterisch angehaucht. Mit ihren fantasievollen Kostümen und Kopfbedeckungen wirken die Marsianer wie eine Mischung einiger echter oder mythischer irdischer Völker, von den alten Ägyptern (auf einigen Gewändern ist das Zeichen Anch zu erkennen) bis zur höfischen Welt des Mittelalters. Die Outfits sind nicht so bizarr wie die der Marsianer in Jakow Protasanows sowjetischem Klassiker AELITA (1924), wo sich Kostümbildnerin Alexandra Exter bis zum Äußersten austoben durfte, aber doch durchaus originell.

HIMMELSKIBET - das Innere der Excelsior
Sprecher der Marsbewohner ist der Älteste des Weisenrats, und er empfängt die Neuankömmlinge freundlich. Doch schnell kommt es zu kulturellen Missverständnissen. Um den vegetarischen Marsmenschen zu demonstrieren, dass man sich auch von Fleisch ernähren kann, schießt der forsche Avanti einen Vogel vom Himmel - ein Sakrileg. Als es dadurch zu einem kleinen Tumult kommt, wirft einer sogar eine Art Handgranate, wodurch ein Marsianer schwer verletzt wird. Jetzt herrscht endgültig dicke Luft, und die Besucher werden in eine Art Gerichtsgebäude gebracht. Wer aber eine strenge Aburteilung erwartet, sieht sich getäuscht. Vielmehr sollen die Frevler selbst über ihr Verhalten befinden. In einer Zeremonie, die von Marya, der Tochter des Ober-Weisen, geleitet wird, wird in einem Film die Vergangenheit des Mars gezeigt. Früher waren auch die Marsmenschen kriegerisch und gewalttätig (wobei die Kriegsparteien in dem Film etwas an Indianer oder Steinzeitmenschen und an römische Legionäre erinnern), doch dann fanden sie zu ihrer pazifistischen Gesellschaftsordnung. Die Erdlinge zeigen sich nun geläutert und bekennen ihr Unrecht, selbst der Rabauke Dane wird ganz zahm. Zum Zeichen, dass man ihnen vergibt und sie in die Mars-Gesellschaft aufnimmt, hängt man den Raumfahrern weiße Capes um. Um zu demonstrieren, wie fortschrittlich diese Mars-Justiz ist, wird in einer Doppelbelichtung ein verurteilter Verbrecher auf der Erde gezeigt, der in seine Kerkerzelle gesperrt wird.

HIMMELSKIBET - Marsianer
Die Erdlinge verbringen nun einige angenehme Wochen oder Monate auf dem Mars ohne besondere Vorkommnisse, abgesehen davon, dass sich Avanti und Marya ineinander verlieben. Doch schließlich wollen die meisten wieder zurück zur Erde, vor allem Dr. Krafft, der endlich Corona wiedersehen will. Avanti will zunächst auf dem Mars bei Marya bleiben, wird aber überzeugt, dass auch er zurück muss. So beschließt stattdessen Marya mit Billigung ihres Vaters, mit auf die Erde zu fliegen. Unterdessen wachsen auf der Erde die Zweifel, ob es die Raumfahrer wirklich geschafft haben. Prof. Planetaros wird vor Sorge krank, und Prof. Dubius tut sein Bestes, um ihm die Hoffnung zu nehmen und ihm Schuldgefühle einzureden. Auf dem Mars spürt der Weise, Maryas Vater, dass sein Leben zu Ende geht. In einer esoterischen Zeremonie verabschiedet er sich von seinem Volk und vom irdischen (Verzeihung: vom marsischen) Leben und wird dann in einem kleinen Boot auf eine Art überirdische bzw. übermarsische Insel entrückt, so wie König Artus, der im Mythos nach dem Ende seiner irdischen Existenz auf der Insel Avalon weiterlebte. Dann erfolgt der Start der Excelsior. Der Rückflug verläuft problemlos, nur beim Endanflug auf Kopenhagen gerät man in ein schweres Unwetter. Die Excelsior übersteht das Gewitter ohne Schaden, aber Prof. Dubius, der einen Berggipfel erklommen hat, um die Ankunft des Raumschiffs zu beobachten, wird zur Strafe für sein Lästermaul vom Blitz erschlagen. In der Villa der Familie Planetaros kommt es zum Wiedersehen. Dr. Krafft bekommt seine Corona, und Marya wird nicht nur als Avantis Verlobte empfangen, sondern auch als Botschafterin einer neuen, nämlich einer pazifistischen Gesellschaftsordnung.

HIMMELSKIBET - Marya mit ihrem Vater und mit Avanti Planetaros
HIMMELSKIBET ist nicht wirklich spannend oder dramatisch, aber er ist flüssig erzählt und durchaus unterhaltsam. Dass manches heute unfreiwillig komisch wirkt, sollte man dem Film gerne nachsehen. Was den Naivitätsfaktor bezüglich Raumfahrttechnik betrifft, ist er irgendwo zwischen Georges Méliès' LE VOYAGE DANS LA LUNE (1902), in dem die Protagonisten kurzerhand mit einer überdimensionalen Kanone zum Mond geschossen werden, und AELITA angesiedelt. In letzterem ist das Raumschiff nur kurz und nicht in voller Größe zu sehen, verfügt aber offensichtlich über einen Raketenantrieb. Von Fritz Langs FRAU IM MOND (1929) sind alle diese Filme raketentechnisch meilenweit entfernt, aber der hatte auch einen Hermann Oberth als Berater und natürlich viel mehr Geld zur Verfügung. Interessanter sind die gesellschaftspolitischen Vorstellungen, die man auf den roten Planeten projizierte. Während bei AELITA auf dem Mars eine Karikatur des Kapitalismus herrscht (die auch einige Elemente von METROPOLIS vorwegnimmt) und eine marsianische Oktoberrevolution provoziert (was sich am Ende alles als Fantasie des irdischen Protagonisten entpuppt), gibt es bei HIMMELSKIBET also eine pazifistische Utopie. Zeitgeschichtlicher Hintergrund dafür ist selbstverständlich der Erste Weltkrieg, der schon seit über drei Jahren tobte, als der Film gedreht wurde, und bei dem zumindest für militärische Laien noch kein Ende absehbar war. Auch im neutralen Dänemark war in weiten Kreisen die Friedenssehnsucht groß. Und nebenbei war der Krieg auch eine der Ursachen für den wirtschaflichen Bedeutungsverlust der dänischen Filmindustrie, der damals schon eingesetzt hatte.

VERDENS UNDERGANG - ein Komet am Himmel
Letztgenannter Aspekt ist nicht ganz an den Haaren herbeigezogen, denn das Drehbuch zu HIMMELSKIBET schrieben der Dichter und Schriftsteller Sophus Michaëlis und Ole Olsen, und letzterer war kein Anderer als der Gründer und bis zu seinem Ruhestand 1924 Chef von Nordisk. Aber vielleicht kam die Idee zum pazifistischen Stoff gar nicht von Olsen oder Michaëlis, denn wie man Wikipedia entnehmen kann, gibt es in der Handlung deutliche Parallelen zu dem 1910 bzw. 1914 erschienenen zweibändigen Roman "Die Weltensegler" des deutschen Chemikers, Arztes und Schriftstellers Albert Daiber. - Regisseur Holger-Madsen (1878-1943) hieß eigentlich Holger Madsen, und wegen der ungewöhnlichen Schreibweise, die er seinem Namen verpasst hatte, trug er den Spitznamen "Holger Bindestreg", also "Holger Bindestrich". Als Theaterdarsteller ausgebildet, versuchte er sich ab 1908 auch als Filmschauspieler und ab 1912 als Regisseur. Als Vertragsregisseur bei Nordisk inszenierte er in den 10er Jahren rund 80 Filme, dann, in den 20er Jahren, ein gutes Dutzend in Deutschland. In den 30er Jahren schließlich ging er zurück nach Dänemark und ließ seine Karriere mit drei Tonfilmen ausklingen. Schon 1914, noch vor Ausbruch des Kriegs, hatte Holger-Madsen mit NED MED VÅBNENE (DIE WAFFEN NIEDER!) nach dem Roman von Bertha von Suttner einen pazifistischen Film gedreht (das Drehbuch schrieb Carl Theodor Dreyer), und 1917 folgte mit PAX ÆTERNA ein weiterer Antikriegsfilm. Anscheinend war Holger-Madsen dem Thema Pazifismus also auch persönlich zugetan. - Sophus Michaëlis verarbeitete den Stoff von HIMMELSKIBET zu einem 1921 veröffentlichten kurzen Roman (ca. 200 Seiten) mit demselben Titel, der 1926 als "Das Himmelsschiff" auch auf Deutsch erschien. Die deutsche Ausgabe ist antiquarisch noch zu bekommen, und wer Dänisch beherrscht, kann den Roman auch kostenlos online lesen oder als Textdatei herunterladen (im Zeichensatz UTF-8). Wer auf wissenschaftlicher Ebene noch mehr über den Film und Michaëlis' Roman dazu erfahren will (und ein paar Euro übrig hat), kann in dieser über tausendseitigen Habilitationsschrift etwas darüber lesen. Und über Otto Rung, den Drehbuchautor von VERDENS UNDERGANG, erfährt man darin auch etwas.

VERDENS UNDERGANG - Reymers mit Edith West und auf See

VERDENS UNDERGANG


Ein kleines Bergwerksstädtchen an der Küste. Bergwerksbesitzer Frank Stoll ist zu einer Inspektionsvisite anwesend, und bei einem Tanzvergnügen läuft er Dina West über den Weg, der Tochter seines hiesigen Verwalters. Dina ist eigentlich mit dem etwas grobschlächtigen Minenarbeiter Flint verbandelt, aber der virile, selbstbewusste und gut betuchte Stoll fasziniert sie sofort, und auch Stoll findet Gefallen an Dina. Beim selben Tanzfest trifft Dinas jüngere Schwester Edith ihren Freund aus Kindertagen Reymers wieder, der gerade seine Ausbildung zum Seemann absolviert, und auch zwischen ihnen funkt es. Dina und Stoll entschließen sich zu einem gemeinsamen Leben, und weil sie dafür die Erlaubnis von Dinas sittenstrengem Vater nicht erhoffen können, bereiten sie Dinas Flucht vor. Der eifersüchtige Flint riecht Lunte, aber er kann die Abreise des Paars nicht verhindern. - Einige Jahre später. Dina und Stoll leben in der Hauptstadt. Stoll hat durch Börsengeschäfte seinen Reichtum noch beträchtlich vermehrt, und Dina hat wenig zu tun und langweilt sich etwas, ist aber ansonsten glücklich - die Ehe mit Stoll funktioniert. Reymers hat inzwischen seine Prüfungen abgelegt und ist jetzt Steuermann. Eine baldige Hochzeit mit Edith ist in Sicht, aber zunächst muss er auf seine erste größere Fahrt.

VERDENS UNDERGANG - Stoll im Stollen
Der Lauf der Dinge gerät aus der Ordnung, als Stolls Cousin, der Astronom Prof. Wissmann (in der rekonstruierten Fassung des Films wurde daraus Prof. Wisemann), eine Entdeckung macht: Ein unbekannter Komet rast auf die Erde zu! Als erste Nachrichten davon an die Öffentlichkeit dringen, kommt es an der Börse zu Panikverkäufen und die Kurse fallen ins Bodenlose. Stoll nutzt die Situation und kauft sämtliche Papiere auf, die er kriegen kann. Prof. Wissmann präsentiert seine Erkenntnisse der Astronomischen Vereinigung, und nach gründlicher Prüfung seiner Beobachtungen und Bahnberechnungen ist man sich einig: Der Komet wird in die Erdatmosphäre eindringen und schwere Verwüstungen anrichten, und gerade im Nordwesten Europas wird es besonders schlimm werden - hier wird kein Stein auf dem anderen bleiben. Doch um eine Panik zu verhindern, beschließt das Gremium, diese bittere Wahrheit zunächst unter Verschluss zu halten. Stoll jedoch nutzt seinen Draht zu Wissmann, um ihm die Information zu entlocken. Und dann setzt er mit Hilfe eines befreundeten Zeitungsherausgebers die Fehlinformation in die Welt, der Komet werde die Erde verfehlen. Wissmann schäumt vor Wut, aber er kann nichts machen - würde er an die Öffentlichkeit gehen, würde er sich selbst diskreditieren. Durch die vermeintliche Entwarnung steigen die Aktienkurse wieder auf Normalwerte, und Stoll hat mit einem Schlag sein Vermögen vervielfacht.

VERDENS UNDERGANG - das Bombardement beginnt
Doch wie soll es weitergehen? Stoll hat einen Plan. Im Bergwerksstädtchen, aus dem Dina stammt, besitzt er eine Zweitvilla, und darin führt ein Geheimgang in die Stollen seiner Bergwerke, wo er tief unter Tage die Katastrophe zu überstehen hofft. Kurz vor dem berechneten Zusammentreffen macht er sich mit Dina auf den Weg. Dinas erster Besuch in der Heimat nach ihrer Flucht verläuft unerfreulich. Der alte West, der seiner älteren Tochter nie vergeben hat, erleidet bei ihrem Anblick einen Herzanfall und stirbt kurz darauf. Und der immer noch grollende Flint kann nur mit Mühe davon abgehalten werden, über Stoll herzufallen. Pünktlich zum Kollisionstermin lädt Stoll seine reichen Freunde ein und feiert in der Villa eine dekadente Weltuntergangsparty, mit üppigem Bankett und einem "Sternenballett" mit Dina als Ausdruckstänzerin, während schon erste Meteorite niedergehen. Doch Ballett und Party werden jäh unterbrochen, aber nicht vom Kometen. Flint hat seine Kollegen angestachelt, sich von den Reichen zurückzuholen, was diese seit Jahrzehnten aus den Arbeitern herausgesaugt haben, und so macht sich ein mit Hacken und Gewehren bewaffneter Mob auf den Weg und stürmt Stolls Villa. Es kommt zu einer Schießerei, und Dina wird getroffen. Stoll flieht mit Dina in den Geheimgang, Flint hinterher. Im Dunkel eines Bergwerksstollens erliegt Dina ihrer Verletzung, und wenig später zeigt sich, dass Stolls Plan von vornherein zum Scheitern verurteilt war: Vom Kometen freigesetzte giftige Gase dringen in die Stollen, und Stoll erstickt ebenso wie Flint.

VERDENS UNDERGANG - Stoll auf seiner Weltuntergangsparty
Unterdessen hat sich der kosmische Beschuss zu einem Inferno gesteigert. Überall fallen glühende Gesteinsbrocken vom Himmel, überall brennt und qualmt es, und wie angekündigt bleibt kaum ein Stein auf dem anderen. Dann erhebt sich auch noch das Meer, wie es im Zwischentitel heißt - heute würde man sagen, es gibt einen Tsunami. Am nächsten Morgen ist das Bombardement vorbei, aber das Wasser steht an der Küste noch meterhoch und fließt nur langsam ab, und am trockenen Land gibt es nur noch trostlose rauchende Ruinen. Doch selbst in der größten Katastrophe gibt es noch einen Lichtblick: Edith und Reymers haben überlebt, und sie finden zueinander.

VERDENS UNDERGANG - Sternenballett mit Dina als Tänzerin
Man kann VERDENS UNDERGANG mit Fug und Recht als Katastrophenfilm bezeichnen. Sicher nicht der erste (es gab beispielsweise schon mindestens drei Versionen von DIE LETZTEN TAGE VON POMPEJI), aber doch ein früher Vertreter des Genres. Im direkten Vergleich zwischen HIMMELSKIBET und VERDENS UNDERGANG ist letzterer der bessere Film - es gibt hier keinen unfreiwilligen Humor, dafür echte Dramatik, das Spiel der Darsteller ist weitgehend naturalistisch und überzeugend (nur in der Schlussszene wird ordentlich auf die Pathos-Tube gedrückt), während bei HIMMELSKIBET das Spiel manchmal doch etwas exaltiert wirkt, und August Blom und seinem Kameramann Louis Larsen (derselbe wie bei HIMMELSKIBET) gelingen sehr schöne Bildkompositionen. Die Apokalypse ist über weite Strecken überzeugend gefilmt, und einige Bilder der halb verkohlten Ruinen wirken richtiggehend beklemmend. Nach Inspirationsquellen dafür mussten die Filmleute nicht lange suchen - es waren natürlich die Bilder der echten Schlachtfelder des Weltkriegs, der somit auch diesem Film seinen Stempel aufdrückte.

VERDENS UNDERGANG - Flut; Edith rettet sich auf das Dach ihres Elternhauses
Aber natürlich wurde VERDENS UNDERGANG von einem anderen Ereignis noch direkter inspiriert, nämlich vom Halleyschen Kometen und der durch ihn verursachten Panik. Zunächst erschien Anfang 1910, noch vor dem lange angekündigten Halley, völlig unerwartet der Johannesburger Komet, der noch heller (und vielleicht sogar der hellste Komet des 20. Jahrhunderts) war, und im April des Jahres wurde dann Halley, der Star unter den Kometen, für das bloße Auge sichtbar. Eine Kollision stand zwar nicht zu befürchten, aber während der Annäherungsphase hatten Astronomen in Halleys Schweif das mit der Blausäure verwandte Dicyan spektroskopisch nachgewiesen. Weil die Erde auf ihrer Bahn um die Sonne auch den Kometenschweif durchfliegen würde, äußerte der französische Astronom Camille Flammarion (der auch fantasievolle Theorien über die Marsbewohner vertrat und sich ausgiebig mit Parapsychologie beschäftigte) die Befürchtung, die Kometengase würden die Atmosphäre vergiften und die Erde zu einem lebensfeindlichen Ort machen. Andere Astronomen widersprachen sofort, aber die Sensationspresse griff das Thema begeistert auf. Natürlich ließ sich nicht jeder ins Bockshorn jagen, aber die Verkaufszahlen von Gasmasken, "Antikometenpillen" (die im Fall einer tatsächlichen Vergiftung natürlich völlig wirkungslos gewesen wären) und "Antikometenschirmen" erreichten ungeahnte Höhen. Doch der Kometenkern war auch bei seiner größten Annäherung an die Erde noch mehr als 50 mal so weit entfernt wie der Mond, und in den Weiten des Weltraums waren die Kometengase (an denen Dicyan ohnehin nur einen geringen Anteil hatte) so weit verdünnt, dass für die Erde nie eine Gefahr bestand. Als der Kometenschweif durchquert und nichts passiert war, war der Rummel schnell zu Ende, aber 1916 erinnerte man sich natürlich noch lebhaft daran.

VERDENS UNDERGANG - Edith in verbrannter Erde
August Blom (1869-1947) hatte einen ähnlichen Werdegang wie Holger-Madsen. Auch er war zunächst Theaterschauspieler, dann Filmschauspieler und schließlich Regisseur. Von 1910 bis 1925 war er wie Holger-Madsen einer der wichtigsten Hausregisseure bei Nordisk, danach ließ er den Regiestuhl hinter sich und lebte als Kinobetreiber. Johanne Fritz-Petersen, die Darstellerin der Edith West, war ab 1917 seine zweite Frau. - Die schon erwähnte DVD vom Dänischen Filminstitut hat Texttafeln, in denen dänische und englische Zwischentitel untereinander angeordnet sind, zusätzliche Untertitel sind nicht vorhanden. In Deutschland wird diese Scheibe in der Edition Filmmuseum vertrieben. Auf der Website des Dänischen Filminstituts kann man HIMMELSKIBET und VERDENS UNDERGANG kostenlos online ansehen (hinter "Filmklip" verbirgt sich jeweils der komplette Film), allerdings in mäßiger Bildqualität und ohne Ton, während auf der DVD das Bild gut ist und es eine Klavierbegleitung gibt.

VERDENS UNDERGANG - Neuanfang zu zweit

Was hat Woody Allen mit Henry Kissinger und Richard Nixon zu tun?

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Ganz einfach: Ersterer hat die beiden letzteren in einer Mockumentary für das amerikanische Fernsehen veräppelt.

MEN OF CRISIS: THE HARVEY WALLINGER STORY
USA 1971
Regie: Woody Allen
Darsteller: Woody Allen (Harvey Wallinger), Louise Lasser (Wallingers frühere Geliebte), Diane Keaton (Renata Wallinger), Richard M. Dixon (Richard M. Nixon) u.a.
Mit Archivaufnahmen von Richard M. Nixon, Hubert H. Humphrey, George C. Wallace, J. Edgar Hoover, Spiro T. Agnew, Melvin Laird, John N. Mitchell, Martha Mitchell u.a.

Wir sehen eine 25-minütige Folge der (fiktiven) Fernsehserie MEN OF CRISIS, die Personen des Zeitgeschehens vorstellt. Diesmal im Focus: Harvey Wallinger, ein einflussreicher Strippenzieher in der amerikanischen Politik, die Schlüsselfigur in der Nixon-Administration - ein bis zur Kenntlichkeit verfremdetes Portrait von Henry Kissinger (der damals noch nicht Außenminister, sondern Nixons Sicherheitsberater war). Ein Sprecher im Off mit markiger Stimme führt durch die Sendung.


Dr. Harvey Wallinger ist ein brillanter Intellektueller und Harvard-Absolvent (auch wenn er von seinem Jahrgang mit 95 Absolventen als 96st-bester abschnitt). Als Kind deutsch-jüdischer Einwanderer geboren, bahnt er sich von der John-Dillinger-Highschool (!) über Harvard und eine Rechtsanwaltskanzlei seinen Weg in die Politik. Sein Idol ist zunächst Joseph McCarthy. Wir erleben mit, wie Wallinger als Vorsitzender eines Ausschusses gegen kommunistische Umtriebe durch geschickte Fragen einen Zeugen soweit in die Enge treibt, dass der seine Mitgliedschaft in der subversiven Organisation Boy Scouts of America zugibt und sogar weitere Mitglieder benennt. Durch diese beeindruckende Leistung gewinnt Wallinger die Aufmerksamkeit des ebenfalls aufstrebenden Richard Nixon. Dessen Aufstieg zur Macht wird schon am Anfang des Film skizziert - mit echten Archivaufnahmen von einigen Schlüsselfiguren der politischen Szene der 60er und 70er Jahre: Am ausgiebigsten Nixon selbst, der demokratische Senator und Präsidentschaftskanditat Hubert Humphrey, der ebenfalls demokratische (aber erzreaktionäre und rassistische) Gouverneur von Alabama und Präsidentschaftskanditat George C. Wallace, FBI-Chef J. Edgar Hoover, Nixons Vizepräsident Spiro T. Agnew (der noch vor Watergate über einen eigenen Bestechungs- und Steuerskandal stolperte, weshalb nach Nixons Rücktritt nicht er, sondern Gerald Ford Präsident wurde), Nixons Verteidigungsminister Melvin Laird - wie der Off-Kommentator erklärt, hat Laird einen Plan zur Beendigung des Vietnam-Kriegs, der so kompliziert ist, dass nur zwei Leute auf der Welt ihn verstehen. Laird ist keiner der beiden. Schließlich noch Nixons Justizminister John N. Mitchell und seine extravagante Frau Martha. Mitchell war damals bereits für illegale Abhöraktionen bekannt, die er angeordnet hatte, und später stellte sich heraus, dass er tief im Watergate-Sumpf steckte. Der Intellektuelle Wallinger passt gut in dieses Team, denn Nixon und Agnew sind ja ebenfalls Intellektuelle, wie er in einem Interview sagt: "They occasionally read, and both men can write, you know, and they know all the numbers in sequence. Almost all the numbers."

Harvey Wallinger legt den Amtseid ab
Wir erfahren auch etwas über Wallingers Privatleben - eine frühere Geliebte, eine Nonne (!) und Wallingers geschiedene Frau geben Auskunft. Und Wallinger selbst bekennt im Interview, dass er Sex mag, aber nur amerikanischen Sex, keinesfalls unamerikanischen Sex. Und was ist amerikanischer Sex? "If you are ashamed of it, it's American sex. You know, it's important, if you feel guilt and shame, you know, otherwise I think sex without guilt is bad because it almost becomes pleasurable." Eines von Allens Lieblingsthemen ist hier also bereits vorhanden. - Die Archivaufnahmen sind sorgfältig ausgewählt und aus dem Zusammenhang gerissen, mit passenden anderen Aufnahmen gegengeschnitten (etwa eine Rede von Wallace mit einem Publikum, das komplett aus Mitgliedern des Ku-Klux-Klans besteht) und mit Kommentaren des Sprechers versehen, so dass der komplette Politikbetrieb ins Lächerliche gezogen wird. Die Bandbreite reicht dabei von scharfer Satire bis zu Kalauern. Doch manches muss von Allen gar nicht manipuliert werden, weil es sich ohnehin am Rand der Realsatire bewegt. Die Spielszenen sind geschickt mit dem Archivmaterial verschränkt - Allen übt hier schon ein bisschen für ZELIG. Neben den Allen-Regulars Louise Lasser und Diane Keaton ist Dan Frazer ein weiteres bekanntes Gesicht: Wenig später wird er als Theo Kojaks Chef McNeil auf den Bildschirmen zu sehen sein. Er hatte auch schon in Allens TAKE THE MONEY AND RUN und BANANAS mitgespielt, in MEN OF CRISIS ist er aber nur einige Sekunden zu sehen. Ebenfalls zu sehen ist der seinerzeit vielbeschäftigte Nixon-Lookalike Richard M. Dixon (natürlich hieß er nicht wirklich so).

Harvey Wallinger und sein Chef
MEN OF CRISIS: THE HARVEY WALLINGER STORY wurde Ende 1971 in kurzer Zeit geschrieben und gedreht, als Allen zwischen PLAY IT AGAIN, SAM und EVERYTHING YOU ALWAYS WANTED TO KNOW ABOUT SEX einige Wochen Zeit hatte. Er hätte im Februar 1972 im Sendernetzwerk PBS ausgestrahlt werden sollen, doch kurz vor dem Sendetermin bekamen die Verantwortlichen kalte Füße, und die Ausstrahlung wurde abgesetzt. Auch später wurde die HARVEY WALLINGER STORY nie gesendet, und Allens Entschluss, nur noch für das Kino zu arbeiten, wurde dadurch stark befördert. Nachdem der Film lange im Verborgenen schlummerte, tauchte 1997 eine etwas lädierte Kopie aus Privatbesitz auf und wurde an die beiden Häuser des Museum of Television & Radio in New York und Los Angeles übereignet, wo man den Film seitdem ansehen kann. MEN OF CRISIS: THE HARVEY WALLINGER STORY taucht gelegentlich auf YouTube auf - derzeit ist er gerade hier (mit italienischen Untertiteln) zu finden.

Hans räumt die Trümmer weg: Kurzbesprechung ...UND ÜBER UNS DER HIMMEL

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...UND ÜBER UNS DER HIMMEL
Deutschland 1947
Regie: Josef von Báky
Darsteller: Hans Albers (Hans Richter), Paul Edwin Roth (Werner Richter), Lotte Koch (Edith Schröder)


Hans kehrt nach dem Krieg in seine Heimat zurück und findet seine Wohnung stark beschädigt vor. Davon lässt er sich keineswegs unterkriegen und macht sich gleich an den Wiederaufbau. Er ist guter Dinge, denn einerseits wird ihm mitgeteilt, dass sein Sohn Werner bald ebenfalls zurückkehren wird, andererseits bandelt er mit der Kriegswitwe Edith an, die in der benachbarten Wohnung lebt. Lebensmittel bekommt Hans vom Schwarzmarkt, und rasch merkt er, dass er durch eigene Schiebergeschäfte wesentlich besser die Renovierung seiner Wohnung finanzieren kann. Sein Sohn Werner sieht das bei seiner Rückkehr gar nicht gerne – eigentlich „sieht“ er es zunächst nicht, denn er ist kurzzeitig aufgrund nervlicher Belastungen erblindet. Einerlei: rasch drängt Werner seinen Vater Hans dazu, die Schiebergeschäfte sein zu lassen und wieder seine Vorkriegsarbeit als Kranführer aufzunehmen...

...UND ÜBER UNS DER HIMMEL ist der erste deutsche Nachkriegsfilm, der unter Lizenz der US-amerikanischen Besatzungsmächte produziert wurde. Er gilt zugleich auch als der erste deutsche Starfilm nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Hans Albers, der schon in den 1910er Jahren seine Leinwandkarriere begonnen und sich besonders im Laufe der 1930er Jahre zum Star und Publikumsmagneten entwickelt hatte, feierte hier gewissermaßen seinen richtigen Nachkriegs-Comeback nach knapp über zwei Jahren Abwesenheit von der Leinwand – seinen letzter Auftritt hatte er in GROßE FREIHEIT NR. 7 (ein „Überläufer“: gedreht noch während des Kriegs, Premiere im September 1945). ...UND ÜBER UNS DER HIMMEL ist ganz und gar auf Albers zugeschnitten. Sein Charisma trägt den kompletten Film – dass jemand anders die Rolle des lebhaften, bodenständigen, charmanten und gewitzten Hans Richters spielen könnte, ist eigentlich undenkbar. Seine Darstellung wird gleichwohl ausgezeichnet von der dynamischen Inszenierung des ungarischen Regisseurs Josef von Báky unterstützt, der hier nach MÜNCHHAUSEN erneut mit dem Star zusammenarbeitete.

Das „Lexikon des Internationalen Films“ bezeichnet ...UND ÜBER UNS DER HIMMEL als „durch oberflächlichen Optimismus und schwülstige Wiederaufbau-Tendenz gekennzeichnet“. Dem negativen Ton dieser Einschätzung mag ich mich nicht anschließen – der Film und Albers machen einfach zu viel Spaß! –, aber sie enthält dennoch eine treffende Aussage. ...UND ÜBER UNS DER HIMMEL ist tatsächlich ein „optimistischer“ Film und er leistet alleine im Vorspannlied all das, wofür viele andere Trümmerfilme dieser Ära ihre ganze Laufzeit brauchen: den Übergang von der Larmoyanz zum puren Wiederaufbauoptimismus.

Es weht der Wind von Norden
Er weht uns hin und her
Was ist aus uns geworden
Ein Häufchen Sand am Meer
Der Sturm jagt das Sandkorn weiter
Dem unser Leben gleicht
Er fegt uns von der Leiter
Wir sind wie Staub, so leicht
Was soll denn werden, es muss doch weitergehen
Noch bleibt ja Hoffnung, für uns genug bestehen
Wir fangen alle von vorne an
Weil dieses Dasein auch schön sein kann
Der Wind weht von allen Seiten
Na lass den Wind doch wehen
Denn über uns der Himmel lässt uns nicht untergehen
Lässt und nicht untergehen

Von einer selbstmitleidsgetränkten Selbstbeschreibung als völlig hilflose Opfer unkontrollierbarer Kräfte („Er weht uns hin und her“) bis zum strahlend-naiven Appell an den Wiederaufbau („Wir fangen alle von vorne an“) in zwei Minuten! Eric Rentschler bezeichnete das Wegräumen der Trümmer und den bestimmten Gang in eine bessere Zukunft als „manifest destiny“ des Trümmerfilms. ...UND ÜBER UNS DER HIMMEL ist ein besonders schöner Beweis für diese These: so schwungvoll und lustig werden Trümmer in kaum einem anderen Film der Ära weggeräumt. In der Vergangenheit rumzustochern würde den Spaß am Wiederaufbau jedoch zu sehr verderben: sich etwa daran zu erinnern, dass die Trümmer die Folgen eines genozidalen Kriegs waren, der von Deutschland entfesselt wurde und schließlich teils nach Deutschland zurück... „wehte“. Ein junger Mann, der in der Nachbarschaft Hans‘ lebt, grübelt immer wieder über seine Vergangenheit als Soldat, bereut, dass er nur „Richtung halten, Stellung halten, Schnauze halten“ gelernt hat und nun im zivilen (Postnazi-?) Leben nichts kann. Dieses Grübeln bekommt ihm gar nicht gut, denn am Ende des Films erhängt er sich in einer Polizeizelle, in die er nach einer Schwarzmarktrazzia gekommen ist (das ganze passiert offscreen). Hans hingegen macht es richtig: wenn er sich schon an die Vergangenheit erinnert, dann nur an die schöne Zeit des privaten Glücks mit Ehefrau und Kleinsohn vor dem Krieg (vor der Nazizeit?).

„No past to hide, no guilt to process, no ghosts to slay“, so Robert R. Shandley in seinem Buch Rubble Films: German Cinema In The Shadow Of The Third Reichüber die Grundkonstellation von ...UND ÜBER UNS DER HIMMEL. Die einzige Schuld, die tatsächlich bewältigt werden muss, ist Hans‘ Beteiligung am Schwarzmarkt. Da wir hier von Hans Albers sprechen (es scheint kein Zufall zu sein, dass seine Persona dank des gemeinsamen Vornamens geradezu mit der Figur zusammenschmilzt), ist das alles nicht so schwierig: Hans hört einfach mit dem Schwarzhandel auf, übergibt seine Schwarzhandelkollegen bzw. nunmehr Ex-Schwarzhandelkollegen der Polizei und arbeitet fortan legal als ehrlicher Kranführer, während mit Edith eine nette Frau zu Hause glücklich sein kann, täglich am Herd auf seine Rückkehr warten zu können. So einfach kann Schuldbewältigung sein – und so vergnüglich verpackt.


...UND ÜBER UNS DER HIMMEL ist in Deutschland auf DVD erhältlich: Ton und Bild sind sehr gut.

Ein neuer Stummfilm von Orson Welles

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TOO MUCH JOHNSON
USA 1938/2013
Regie: Orson Welles
Darsteller: Joseph Cotten (Augustus Billings), Edgar Barrier (Leon Dathis), Arlene Francis (Mrs. Dathis), Virginia Nicolson (Leonore Faddish), Ruth Ford (Mrs. Billings), Mary Wickes (Mrs. Upton Batterson), vielleicht Orson Welles (Keystone Kop)

Ein Keystone Kop - aber wahrscheinlich nicht Orson Welles
Ein neuer Film von Orson Welles? Natürlich nicht wirklich, schließlich ist der Meister schon seit 1985 tot. Aber ein Film, der unvollendet blieb und nicht aufgeführt wurde, der lange als verloren galt und 2008 wundersamerweise wieder auftauchte, der letztes Jahr zum ersten Mal öffentlich vorgeführt wurde, und der neuerdings allgemein zugänglich ist. Ein Stummfilm ist TOO MUCH JOHNSON in zweierlei Hinsicht: Erstens wurde er ohne Tonspur aufgenommen, und zweitens imitiert er Hollywoods Slapstick-Komödien aus der Ära eines Mack Sennett. Schon in THE HEARTS OF AGE, seinem ersten Film (oder seinem zweiten, wenn man TWELFTH NIGHT von 1933 mitzählt, aber das ist nur eine mit völlig statischer Kamera abgefilmte Theaterprobe eines Stücks, das Welles inszeniert hatte), versuchte sich Welles auf ähnlichem Gebiet. Er inszenierte THE HEARTS OF AGE gemeinsam mit seinem Schulfreund William Vance 1934 anlässlich eines Schulfestes an der früheren Schule der beiden in Woodstock, Illinois (nicht zu verwechseln mit Woodstock, New York). Es handelt sich um eine kurze Parodie auf die surrealistischen Stummfilme von Buñuel/Dali und Jean Cocteau, mit Welles als einer Figur irgendwo zwischen Dr. Caligari und dem Joker. 1938 produzierte Welles das legendäre Hörspiel "The War of the Worlds" sowie eine ganze Reihe weiterer Hörspiele (die man alle hier herunterladen kann), und er wirkte als Regisseur, Schauspieler und in multipler sonstiger Funktion am Mercury Theatre, das er und John Houseman 1937 in New York gegründet hatten. Eines der Stücke, die 1938 auf dem Spielplan standen, war "Too Much Johnson", ein 1894 geschriebener Schwank von William Gillette (1853-1937), einem seinerzeit sehr bekannten und beliebten Schauspieler und Bühnenautor, der vor allem für seine Darstellung von Sherlock Holmes berühmt war. In "Too Much Johnson" wird Augustus Billings, ein New Yorker Playboy (der den falschen Namen Johnson benutzt), vom eifersüchtigen Ehemann seiner Geliebten bis nach Kuba (wo noch ein echter Johnson in die Handlung eingreift) verfolgt.

Joseph Cotten und Arlene Francis
Welles kam nun auf den Gedanken, die Aufführung mit einem dreiteiligen Film von ungefähr 40 Minuten Länge zu ergänzen: Die einzelnen Teile von 20, 10 und nochmal 10 Minuten sollten jeweils einen der drei Akte des Stücks einleiten. Die Idee war nicht neu - so entstand etwa René Clairs erster Film ENTR'ACTE (1924) als Pausenfüller für ein von Francis Picabia ausgestattetes Ballett, und 1923 drehte Sergej Eisenstein seinen ersten Kurzfilm GLUMOWS TAGEBUCH zur Anreicherung eines von ihm inszenierten Theaterstücks. Um die Aufführungen durch die Filmsequenzen nicht zu sehr aufzublähen, wurde im Gegenzug Gillettes Stück von Welles stark gekürzt (Welles schreckte auch nicht davor zurück, Shakespeare stark zu kürzen, da war das bei Gillette ein Klacks). Für den geplanten Film schrieb Paul Bowles eine Musik, die bei den Aufführungen live hätte gespielt werden sollen. Bowles ist zwar viel bekannter als Schriftsteller ("Himmel über der Wüste", verfilmt von Bertolucci), aber er war auch Komponist.

Slapstick auf den Dächern von New York
Die Darsteller in TOO MUCH JOHNSON kamen überwiegend vom Mercury Theatre und von Welles' Hörspiel-Truppe. Für etliche, darunter Joseph Cotten, war es der erste Filmauftritt, und einige, neben Cotten etwa Erskine Sanford, traten auch in späteren Welles-Filmen regelmäßig auf. Ebenfalls zur Besetzung gehörte Welles' erste Ehefrau Virginia Nicolson (manchmal auch "Nicholson" geschrieben), die auch schon in THE HEARTS OF AGE mitgespielt hatte. Welles selbst übernahm vielleicht die Rolle eines Keystone Kops (siehe Update). In zehn Tagen drehte Welles mit seinen Schauspielern ungefähr 7600 Meter Film (was über viereinhalb Stunden Laufzeit entspricht). Daraus schnitt er selbst in dem New Yorker Hotel, in dem er wohnte, mit einer Moviola eine Rohfassung von 66 Minuten Länge. Über diesen Zustand kam TOO MUCH JOHNSON jedoch nicht hinaus. Verschiedene Gründe könnten dazu beigetragen haben, dass er unvollendet blieb, aber über die Gewichtung herrscht Unklarheit. Nach einer Kurzversion von 1900 hatte 1919 Donald Crisp Gillettes Stück für Paramount verfilmt, und 1938 besaß Paramount die Filmrechte immer noch und ließ Welles angeblich über einen Anwalt ausrichten, dass er die Rechte nicht umsonst, sondern nur gegen eine beträchtliche Lizenzgebühr haben könne. Eine heuer durchgeführte ausgiebige Recherche in den Archiven von Paramount hat allerdings keine Belege für diese Version erbracht. Welles war damals anscheinend knapp bei Kasse, jedenfalls soll es Beschwerden von einigen der Schauspieler gegeben haben, dass sie ihre Gage unvollständig oder verspätet erhielten, und das Kopierwerk soll die bearbeiteten Filmrollen nur noch gegen Vorkasse herausgerückt haben. Die Inszenierung des Stücks hatte im August 1938 einen Probelauf in einem Theater in der Nähe von New Haven, Connecticut, und angeblich stellte sich heraus, dass dieses Theater überhaupt nicht für die Projektion von Filmen gerüstet war. Allerdings war das Theater ursprünglich ein Nickelodeon, was auch diese Version etwas zweifelhaft erscheinen lässt. Vielleicht lief Welles einfach nur die Zeit weg, weil er den Aufwand unterschätzt hatte, und weil er und ein Teil der Besetzung gleichzeitig noch mit der regelmäßigen Radio-Arbeit beschäftigt waren. Jedenfalls lief die Inszenierung in Connecticut ohne den Film (und damit auch ohne Bowles' Musik, die dieser etwas umarbeitete und 1939 separat veröffentlichte). Das ohne Film und in der gekürzten Form offenbar nur noch mäßig interessante Stück fiel bei Publikum und Kritik in Connecticut durch, und der eigentlich vorgesehene Lauf in New York wurde daraufhin abgesagt - und das war es dann mit TOO MUCH JOHNSON. Der erste Eintrag in der betrüblich langen Liste von Welles' unvollendeten Filmprojekten war geboren.

Virginia Nicolson (links) und Ruth Ford
Was danach mit dem 66-minütigen "Workprint" geschah, ist nicht bekannt. Welles entdeckte das Material Ende der 60er Jahre in der Villa bei Madrid, die er damals bewohnte, aber er konnte sich seiner Aussage nach nicht erinnern, ob es sich immer in seinem Besitz befunden hatte. Der Zustand der Filmrollen war laut Welles damals ausgezeichnet. Eine nachträgliche Veröffentlichung zog er nicht in Betracht, weil sie ihm ohne das Theaterstück als sinnlos erschien, aber er hatte die Idee, eine fertig geschnittene Fassung Joseph Cotten als Geschenk zu überlassen. Doch dazu kam es nicht mehr. Als Welles 1970 zu Dreharbeiten abwesend war, brannte die Villa aus, und der leicht entflammbare Nitrofilm löste sich in Rauch auf (so die offizielle Version - mehr dazu unten im Update). Wie jedermann einschließlich Welles selbst (oder doch nicht?) glaubte, war TOO MUCH JOHNSON damit endgültig verloren. Doch 2008 tauchte völlig unverhofft in einem Lagerhaus in Pordenone in Friaul (wo regelmäßig das bekannte Stummfilmfestival stattfindet) eine intakte Kopie auf. Zunächst kümmerten sich die in Pordenone ansässige Einrichtung Cinemazero und die Cineteca del Friuli darum, dann das George Eastman House in Rochester, New York. In einer international koordinierten Anstrengung dieser Institutionen und eines spezialisierten Filmlabors, unterstützt durch eine Geldspritze der amerikanischen National Film Preservation Foundation (die u.a. durch die verdienstvolle DVD-Reihe Treasures From American Film Archives hervorgetreten ist), wurde TOO MUCH JOHNSON sorgfältig restauriert. Im Oktober 2013 hatte der wiederauferstandene Film unter großem Publikumsandrang (es mussten zusätzliche Aufführungen anberaumt werden) seine Premiere beim Stummfilmfestival in Pordenone - welchen besseren Ort hätte es dafür geben können? Und seit zwei Wochen kann man TOO MUCH JOHNSON auf der Website der National Film Preservation Foundation legal, kostenlos und in guter Qualität herunterladen oder als Stream ansehen, und zwar gleich in zwei Versionen: der komplette 66-minütige Workprint (ca. 1 GB) und eine daraus erstellte 34-minütige Version (ca. 560 MB), die mit einigen erklärenden Zwischentiteln ergänzt wurde, und die vielleicht dem nahekommt, was sich Welles seinerzeit vorgestellt hatte. Wobei betont wird, dass das nur ein Versuch ist, und dass andere Versuche möglich und wünschenswert sind. Beide Versionen wurden mit einer neuen stummfilmgemäßen Klavierbegleitung von Michael D. Mortilla versehen.

Nochmal Cotten und Francis
Man sollte kein CITIZEN KANE 0.9 von TOO MUCH JOHNSON erwarten - natürlich nicht. Selbst wenn Welles den Film vollendet hätte, würde da zuviel fehlen, vom kongenialen Kameramann Gregg Toland bis zu den materiellen Möglichkeiten eines großen Hollywood-Studios. Und durch den vorgesehenen Einsatzzweck geht im zweiten und dritten Teil die inhaltliche Kohärenz doch etwas verloren - schließlich hätte ein Teil der Geschichte auf der Bühne erzählt werden sollen, und das können die Zwischentitel nur teilweise kompensieren. Doch TOO MUCH JOHNSON ist trotzdem eine interessante und unterhaltsame Talentprobe mit witzigen Ideen und gelungenem Slapstick. Auch ohne den überlebensgroßen Namen "Orson Welles" wäre er durchaus einen Blick wert.

UPDATE (11. September): In IMDb, Wikipedia und anderswo ist zu lesen, dass Welles in TOO MUCH JOHNSON eine Rolle als einer der Keystone Kopsübernommen hat, und ich hatte das zunächst so in den Artikel übernommen. Quelle für diese Behauptung scheint ein Interview zu sein, das Welles 1978 einem Frank Brady gab, und das in der Zeitschrift American Film erschien. Doch Welles ist bekannt dafür, dass man nicht alles glauben darf, was er in Interviews erzählte, und laut Auskunft der National Film Preservation Foundation glaubt Prof. Scott Simmon, der für die Foundation die 34-minütige Schnittfassung erstellte und die beiden Begleittexte auf den Download-Seiten schrieb, dass es sich dabei um ein falsches Gerücht handelt. Es könnte also sein, dass Welles gar nicht mitspielt.

In IMDb und Wikipedia wird Mrs. Billings' Mutter Mrs. Upton Battison geschrieben, in den Zwischentiteln dagegen Mrs. Upton Batterson. Letzteres ist richtig, wovon ich mich hierüberzeugt habe.

ZWEITES UPDATE: Wie der Welles-Experte Joseph McBride in diesem Artikel berichtet, hat sein spanischer Kollege Esteve Riambau in diesem August etwas Licht in die Frage gebracht, wie TOO MUCH JOHNSON überlebt haben könnte. Laut einem spanischen Zeitungsartikel von 1970 und Auskunft von Juan Cobos, der Welles' Regieassistent beim in Spanien gedrehten FALSTAFF (1965) war, gab es zwar ein Feuer in der Villa (die während einer längeren Abwesenheit von Welles von dem Schauspieler-Paar Robert Shaw und Mary Ure gemietet war), aber das war schnell gelöscht und betraf nur einen Raum, während die Filmrollen sicher im Keller lagerten. In seinen späteren Erzählungen hat Welles das Ausmaß des Feuers also stark übertrieben. Es scheint nun, dass Welles selbst, der 1969/70 einige Zeit in Rom arbeitete, die Filmrollen dorthin mitgenommen haben könnte (von wo sie später über Vicenza nach Pordenone kamen), sei es, um den Film fertig zu schneiden (vielleicht, um ihn Cotten zu schenken), sei es, um ihn vor neugierigen Filmhistorikern zu verbergen, die an der von ihm selbst lange verbreiteten Legende rüttelten, CITIZEN KANE sei sein erster Film gewesen (Welles war auch gar nicht froh, als McBride 1970 den lange verschollenen THE HEARTS OF AGE in einem Archiv aufstöberte). Welles könnte die Filmrollen in Rom zurückgelassen haben, als er etwas überstürzt abreiste, nachdem seine Affäre mit Oja Kodar bekannt wurde und ihm die Sensationspresse auf den Fersen war. Jedenfalls scheint Welles auch schon über TOO MUCH JOHNSON (wie über diverse andere Aspekte seines Lebens und Schaffens) ein Gespinst aus Legenden gestülpt zu haben, in dem sich auch seriöse Institutionen wie das George Eastman House und die National Film Preservation Foundation verfingen und deshalb teilweise falsche oder widersprüchliche Informationen verbreiten. Nach Rücksprache mit dem italienischen Filmhistoriker Paolo Cherchi Usai vom George Eastman House, der auch mit Pordenone verbunden ist, verlegt McBride die eigentliche Entdeckung und Identifizierung der Filmrollen auf Ende 2012. Das ist auch plausibler als eine Entdeckung schon 2008 (wie sie in den meisten Berichten behauptet wird), denn in diesem Fall hätte die Restaurierung nicht nur fünf Jahre gedauert, sondern auch ebenso lange geheim gehalten werden müssen (die Presse berichtete erst 2013 über die Wiederentdeckung). Nur langsam lichten sich die Nebel um TOO MUCH JOHNSON, und manches wird wohl für immer ein Mysterium bleiben.

Liebhaber und gehörnter Ehemann am Ende auf seltsame Weise vereint

Psychorama: Der subliminale Horror!

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MY WORLD DIES SCREAMING (auch TERROR IN THE HAUNTED HOUSE)
USA 1958
Regie: Harold Daniels
Darsteller: Cathy O'Donnell (Sheila Wayne Justin), Gerald Mohr (Philip Justin), William Ching (Mark Snell), John Qualen (Jonah), Barry Bernard (Dr. Forel)

Das unheimliche Haus
Die in der Schweiz lebende junge Amerikanerin Sheila Justin, gerade frisch verheiratet, wird regelmäßig von einem immer gleichen Albtraum ... huch, was war das? Da ist etwas im Bild aufgeflackert, was da offensichtlich nicht hingehört. Man konnte es nicht erkennen, aber da war etwas. Merkwürdig. Nochmal von vorn: Sheila wird also regelmäßig von einem Albtraum heimgesucht. Sie wird wie magisch von einem unheimlichen, verlassenen alten Haus angezogen. Sie kann sich nicht erinnern, das Haus tatsächlich schon einmal gesehen zu haben, aber sie hat es im Traum deutlich vor Augen, und es ist immer das selbe. Laut Schild war es früher von einer Familie Tierney bewohnt, aber jetzt steht es leer. Unter einem inneren Zwang geht Sheila in das Haus, die Treppe empor bis zum Dachboden, wo eine unsagbare Gefahr auf sie lauert ... und dann wacht sie schreiend auf. Nanu, es hat schon wieder geflackert. Sehr merkwürdig. Ein Psychiater, der Sheila in Hypnose versetzt, kann ihr nicht weiterhelfen. Aber vielleicht nützt es ihr ja, wenn sie wie geplant mit ihrem Mann Philip ins sonnige Florida zieht. Sheila hat seit ihrer Kindheit in einem Schweizer Sanatorium gelebt, aber jetzt ist sie körperlich gesund. Philip hat sie erst vor kurzem kennen- und liebengelernt.

Sheila und Philip
Doch in Florida wird alles noch schlimmer: Das Haus, das Philip schon vorab in einer einsamen Gegend gemietet hat, ist genau das Haus aus Sheilas Albtraum! Sie erstarrt in Panik und will sofort wieder weg, doch Philip weist das erstaunlich schroff zurück. Das Ehepaar trifft auf den verschrobenen alten Sonderling Jonah, der das Haus hütet, als einziger Mensch weit und breit, nur von einem unheimlichen weißen Hund begleitet. Jonah will die beiden vertreiben, doch Philip besteht darauf, das Haus gemietet zu haben. Er lässt sich schließlich doch von Sheila überreden, wieder abzureisen, doch welch Zufall, der Wagen springt nicht an. Im Motor fehlt ein Bauteil, offenbar gestohlen, während die beiden im Haus waren. Wer außer Jonah käme dafür in Frage? Doch später in der Nacht, als Sheila allein im Zimmer ist, entdeckt sie zufällig das fehlende Motorteil in Philips Koffer. Was führt er im Schilde? Noch eine Entdeckung macht sie in dieser Nacht: In einer Familienchronik liest sie, dass die Tierneys von einem Wahnsinn befallen waren, der sich von Generation zu Generation fortsetzte. Und als grausiger Höhepunkt hat der alte Großvater Tierney an einem Tag im Jahr 1939 auf dem Dachboden alle anwesenden Familienmitglieder mit einer Axt erschlagen, bevor er selbst tot zusammenbrach. Sheila dämmert langsam, dass sie schon als Kind an diesem Ort war, aber ihre Erinnerungen bleiben nebelhaft.

Man beachte die Ratte - oder ist es ein Opossum? - im Mund dieses Herrn
Am nächsten Morgen erscheint Mark Snell, der von Jonah verständigte jetzige Besitzer des Hauses. Er trifft zunächst auf Sheila, bestreitet, das Haus vermietet zu haben, und fordert die sofortige Abreise des Paars. Aber als Philip hinzukommt, erweist es sich, dass er und Mark sich schon lange kennen. Und Sheila erfährt zu ihrer Verblüffung, dass Philip gar nicht Justin heißt, sondern Tierney, und dass er der Enkel des wahnsinnigen Mörders ist. In der nächsten Nacht spitzen sich die Ereignisse wieder zu. Will Philip im Stil eines Jack Torrance in SHINING das Werk seines Großvaters fortsetzen und neue Axtmorde begehen? Oder ist er vielleicht nur ein Schurke, der seine Frau im Stil von GASLICHT und MITTERNACHTSSPITZEN in den Wahnsinn treiben will? Es sei hier nur verraten, dass es keine übernatürliche Erklärung für die Geschehnisse gibt. Der Alternativtitel TERROR IN THE HAUNTED HOUSE, den der Film anlässlich einer Video-Veröffentlichung 1987 verpasst bekam, ist also nicht nur äußerst einfallslos, sondern auch irreführend. Ach ja: Auch in Florida hat es immer wieder geflackert.

Der merkwürdige Jonah ...
Eine übernatürliche Auflösung der Geschichte hätte schlecht dazu gepasst, dass MY WORLD DIES SCREAMING auf den damals allerneuesten Erkenntnissen der Wissenschaft aufbaute. Nun ja, mehr oder weniger. 1957 veröffentlichte der amerikanische Publizist Vance Packard sein Buch The Hidden Persuaders (dt. Die geheimen Verführer), in dem er sich kritisch mit modernen Methoden der Werbung und Beeinflussung und insbesondere mit der subliminalen Werbung auseinandersetzte - also mit Werbung in Film und Fernsehen, die so kurzzeitig präsentiert wird, dass sie zwar vom Auge erfasst, aber nicht bewusst wahrgenommen wird. Dabei bezog sich Packard auf die "Iss-Popcorn-trink-Cola-Studie" des Werbefachmanns James Vicary, die in kürzester Zeit für weltweites Aufsehen sorgte. Danach soll die in Kinos für jeweils einige Sekundenbruchteile wiederholt in den Film eingeblendete Aufforderung, Popcorn und Cola zu bestellen, zu einer signifikanten Umsatzsteigerung der beiden Produkte geführt haben. Die allgemeine Aufregung um diese perfide Beeinflussungsmethode war groß. Vicarys Studie hatte allerdings einen klitzekleinen Schönheitsfehler: Sie existierte überhaupt nicht. Schon früh gab es Zweifel, und 1962 gab Vicary zu, dass er seine Ergebnisse frei erfunden hatte, um Werbung für sich und seine eigene Werbeagentur zu machen. Trotzdem gab es auch später noch Auseinandersetzungen um die subliminale Werbung, sowohl was die Wirksamkeit als auch was die ethische Vertretbarkeit betrifft.

... und sein unheimlicher Hund
1958 war der Hype noch auf dem Höhepunkt, und da blieb Hollywood nicht außen vor. Statt dem Zuschauer Kaufaufforderungen unterzujubeln, könnte man ihm ja auch Botschaften vermitteln, die die Wirkung des jeweiligen Films verstärken, beispielsweise einen Horrorfilm noch furchterregender machen. Es war keines der großen Studios, die diese aus heutiger Sicht eher dämliche Idee umsetzte, sondern eine Firma mit dem Namen Precon Process & Equipment Corporation, was wohl für preconscious processing (vorbewusste Verarbeitung) stehen sollte. MY WORLD DIES SCREAMING war der erste Film der Firma, und im Gegensatz zu den (vorgeblichen) Praktiken der Werbewirtschaft agierte man hier nicht im Geheimen, sondern hängte es an die große Glocke, was man da machte. Weil das mit einem griffigen Schlagwort am besten geht, erfand man dafür den Begriff "Psychorama", auch "Psycho-Rama" geschrieben. In der ursprünglichen Version von MY WORLD DIES SCREAMING wandte sich Hauptdarsteller Gerald Mohr vor und nach dem Film an das Publikum und erklärte, was da ablief. Dieser Vor- und Nachspann wurde bei der Neuveröffentlichung als TERROR IN THE HAUNTED HOUSE weggelassen, man kann sich aber eine ähnliche Einführung von Mohr zum Nachfolgefilm DATE WITH DEATH ansehen.

Gefälliges Spiel mit Licht und Schatten
Wie oben im Text schon angedeutet, sind die eingeblendeten Bilder und Texte in MY WORLD DIES SCREAMING nicht wirklich subliminal. Man erkennt zwar nicht, was es ist, aber auf YouTube (und wie man liest, auch auf DVD) bemerkt man sehr deutlich, dass da plötzlich etwas ist, was da nicht hingehört. Mag sein, dass es im Kino etwas weniger auffällig ist, aber für den bewussten Verstand wirklich unsichtbar ist es sicher auch dort nicht. Dazu müsste sich die Zeitspanne im unteren Millisekundenbereich bewegen, aber ein Kinobild dauert halt nun mal 1/24 Sekunde. Mit einem normalen Kinoprojektor geht das nicht schneller - man müsste zusätzlich spezielle Geräte einsetzen, sogenannte Tachistoskope. Aber das war natürlich nur in der Forschung, aber nicht im kommerziellen Kino-Einsatz tragbar. Auch aus einem anderen Grund war der Einsatz der Technik bei MY WORLD DIES SCREAMING eher unorthodox: Die eingeblendeten Bilder sind teilweise eher bescheuert als furchterregend - die hier präsentierten Beispiele sprechen für sich. Man fragt sich ohnehin, wie weit die Macher des Films überhaupt an die Wirkung ihrer unterschwelligen Bilder glaubten. Dass "Psychorama" eine Werbemasche war, ist klar, aber war es nur das? Oder war man bei Precon Process & Equipment von der Wirkung der "revolutionären Technik"überzeugt? Der Film selbst gibt darauf keine Antwort, aber die Firma entwickelte anscheinend auch Gerätschaften zur Umsetzung der Technik, und Hal Becker und Robert Corrigan, offenbar die Vordenker (und vielleicht Besitzer) von Precon Process & Equipment, veröffentlichten auch ein Buch zum Thema (Corrigan, R.E. / Becker, H.C.: Subliminal communication processes. Status and possibilities. New Orleans: Precon Process and Equipment Corp. 1958). Wie auch immer - die Masche lief sich schnell tot. 1959 produzierte die Firma noch den schon erwähnten Nachfolgefilm DATE WITH DEATH (wieder mit Harold Daniels als Regisseur und Gerald Mohr in der Hauptrolle, aber ohne Cathy O'Donnell), und das war es dann. Dennoch lebte die Idee gelegentlich wieder auf - man denke an den Penis in FIGHT CLUB.


Ich möchte MY WORLD DIES SCREAMING nicht schlechter machen, als er ist. Die Story ist nicht sehr originell, aber auch nicht wirklich schlecht, und Cathy O'Donnell und Gerald Mohr bieten in ihren Rollen durchaus ordentliche Leistungen. Mohr war ein grundsolider und umfassend gebildeter Schauspieler mit vielen Film- und später vor allem Fernsehrollen, und er war ein gefragter Radiosprecher mit mehr als 500 Auftritten. Seine Schauspielerlaufbahn begann er in New York in Orson Welles'Mercury Theatre (bei TOO MUCH JOHNSON hat er aber anscheinend nicht mitgespielt). Cathy O'Donnell hat weit weniger Rollen vorzuweisen, aber darunter befinden sich Hochkaräter wie THE BEST YEARS OF OUR LIVES von William Wyler (der kurz darauf ihr Schwager wurde), THEY LIVE BY NIGHT von Nicholas Ray, THE MAN FROM LARAMIE von Anthony Mann und als ihr letzter Kinofilm BEN HUR. Auch Regisseur Harold Daniels kann nur ein schmales Œuvre vorweisen, aber ohne für mich erkennbare Highlights (ich kenne aber außer MY WORLD DIES SCREAMING nichts davon). Ein Pluspunkt des Films ist die gelungene Kameraarbeit von Frederick E. West, der kompetent mit Licht und Schatten umgeht. Nichts Spektakuläres, nichts, was man nicht auch in vielen anderen Horror- (und älteren Noir-)Filmen sehen kann, aber gediegenes Handwerk. - Die 1987 auf Video veröffentlichte leicht gekürzte Fassung des Films gibt es auch auf DVD und auf YouTube.

Die Firma, die den Film auf Video herausbrachte, fügte subliminale Werbung
für sich selbst hinzu. Woher sie diese Idee nur hatten?

Die Rache des schwarzen Samurai

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VENGEANCE IS MINE aka DEATH FORCE aka FORCE OF DEATH aka FIGHTING MAD aka THE FORCE aka FIERCE („Death Force – Ein Mann wird zum Killer")
USA / Philippinen 1978
Regie: Cirio H. Santiago
Darsteller: James Iglehart (Doug Russell), Carmen Argenziano (Morelli), Leon Isaac Kennedy (McGee), Jayne Kennedy (Maria Russell)


Als Jim Jarmusch 1999 in GHOST DOG: THE WAY OF THE SAMURAI einen afroamerikanischen Samurai losschickte, um die Unterwelt einer US-Großstadt aufzumischen, klang das nach einem witzigen und originellen Konzept. Doch schwarze Samurais gab es schon länger. Im 16. Jahrhundert soll tatsächlich der afrikastämmige Diener eines italienischen Jesuiten, der Japan besuchte, in den Rang eines Samurai aufgestiegen sein und den Namen Yasuke angenommen haben. Einige Jahrhunderte später, um genauer zu sein in den 1970er Jahren, sprossen schwarze „Samurais“ geradezu aus dem Boden, als in einer der vielen Varianten von Exploitation-Crossovers Blaxploitation und Martial Arts Film zusammenfanden. THAT MAN BOLT (1973, mit Fred Williamson), BLACK BELT JONES (1974, mit dem Karateka Jim Kelly) und DEATH DIMENSION (1978, ebenso mit Jim Kelly) verbanden ostasiatische Kampfkunst-Action mit schwarzen Hauptfiguren, auch wenn es sich offenbar nicht um Samurais mit Schwertern handelte. Die Inhaltsangabe von BLACK SAMURAI (1977, wieder Jim Kelly) suggeriert nicht wirklich, dass der Titel wörtlich sein Versprechen einhält, hat aber in seinem imdb-Eintrag zumindest die Stichworte „samurai“, „sword fight“ und „katana sword“ gelistet.

Anders bei VENGEANCE IS MINE (der Film hat mit Imamura Shoheis ein Jahr später veröffentlichtem Film nichts zu tun. Auf die verwirrende Titelvielfalt komme ich noch zu sprechen – ich nutze einheitlich diesen Titel, weil meine Fassung ihn trägt), in dem tatsächlich ein schwarzer Samurai zum Schrecken der Unterwelt von Los Angeles wird. Doch wie kommt es dazu?

Drei (noch) fröhliche Veteranen nach dem Deal
Russell, Morelli und McGee haben zusammen in Vietnam gekämpft. Nun können die Soldaten nach Hause zurückkehren. Morelli und McGee träumen von einer Karriere als Ganoven, die schnelles Geld, Ruhm, Macht und Frauen verspricht. Russell hingegen will nur eins: zu seiner Ehefrau Maria zurückkehren und ein bürgerliches Leben führen. Doch zunächst werden die drei auf den Philippinen stationiert, wo sie sich ein kleines Taschengeld verdienen wollen. Sie wickeln einen kleinen Goldschmuggel-Deal mit einem zwielichtigen Mafioso ab – wo sie das Gold warum und wie gefunden haben, soll uns nicht weiter interessieren. Auf einem kleinen Kreuzer wollen nun die drei Veteranen mit viel Geld in der Tasche zurückkehren. Doch Morelli hat eine bessere Idee: wenn er und McGee ihren Kollegen Russell töten, bleibt mehr von der Beute für sie beide übrig – und mehr Einstiegskapital für ihre verbrecherischen Vorhaben, an denen Russell sich eh nicht beteiligen will. Gesagt getan! Morelli und McGee schnappen sich Russell, erstechen ihn, schneiden ihm die Kehle durch und schmeißen ihn ins Meer.

In Los Angeles zurück beginnen die beiden fiesen Armeeveteranen, sich in die Geschäfte der Unterwelt einzumischen. Sie beseitigen Konkurrenten durch Einschüchterungen, massive Zerstörungen und schließlich durch Mord. Derweilen wird Russell an den Strand einer fast einsamen Insel gespült. Zwei Japaner in abgerissenen Soldatenuniformen entdecken den für tot gehaltenen, aber nur schwerverletzten Mann, bringen ihn in ihre Höhlenunterkunft und pflegen ihn gesund. Als Russell wieder Bewusstsein erlangt, glaubt er seinen Augen kaum. Sugoro stellt sich als Oberst der Kaiserlich Japanischen Armee vor (die 1945 aufgelöst wurde). Ichikawa, ein einfacher Soldat, ist sein Diener. Beide landeten gegen Ende des Zweiten Weltkriegs auf der Insel, wurden aber nach der Kapitulation vergessen und leben seit etwa drei Jahrzehnten zivilisationsfern wie Robinsons. Wie kampfbereite Robinsons freilich: Sugoro ist überzeugt, dass der Zweite Weltkrieg noch in Gange ist.

Russell wird von zwei japanischen Soldaten gefunden
Morelli und McGee mischen die Unterwelt von L. A. auf
Während Russell auf der verlassenen Insel langsam wieder zu Kräften kommt, haben sich Morelli und McGee dank brachialster Gewalt einen führenden Platz in der kriminellen Welt Los Angeles erarbeitet. Konkurrenten werden weiterhin ermordet, doch die Geschäfte laufen mittlerweile so gut, dass einige – genauso wie die Polizei – auch einfach gekauft werden können. Und für McGee bleibt nun auch Zeit, um Maria Russell zu besuchen, sie über das Dahinscheiden ihres Mannes zu unterrichten und ihr dann auf äußerst penetrante Weise den Hof zu machen. So könnte es weiter gehen, doch Russell hat den Verrat nicht vergessen. Er lebt nun in einer interkulturellen und intergenerationellen Veteranen-WG und beginnt, sich für Sugoros Kampfkunstwissen zu interessieren. Dieser willigt ein, den Amerikaner zu unterrichten. In langen Tagen trainiert Russell genug hart, um schließlich von Sugoro zum Samurai ernennt zu werden und zwei Schwerter verliehen zu bekommen. Doch das löst nicht das Problem, dass Russell auf der Insel festsitzt.

Seine Ehefrau, die ihn für tot hält, verliert derweilen ihren Job als Nachtclubsängerin und findet auch keine andere Anstellungen – dem Zuschauer wird rasch klar, dass McGee, der als großer Boss die wichtigsten Nachtclubs von L. A. kontrolliert, Maria wohl auf eine schwarze Liste gesetzt hat, nur, um ihr dann „großzügig“ Arbeit anzubieten, wenn sie bloß „netter“ zu ihm wäre. Auf der weit entfernten tropischen Insel stirbt derweilen Ichikawa bei einem Unfall. Kurz danach landet eine Einheit der philippinischen Armee auf der Insel. Für Sugoro ist dies ein Grauen, für Russell eine große Chance – ersterer begeht Seppuku,  letzterer kann, mit zwei Samurai-Schwertern im Handgepäck, in die USA zurückkehren.

Russell "fragt" sich zu McGee und Morelli durch...
...und findet seine Familie wieder.
In L. A. angekommen betätigt sich Russell in zwei Richtungen. Er sucht einerseits seine Frau, die er vorerst nicht findet (sie musste – nunmehr arbeitslos – bei einer Freundin einziehen). Andererseits fragt er sich zu Morelli und McGee durch und metzelt dabei jeden Ganoven nieder, der ihm nicht freundlich genug antwortet. Dass kleine Gangster mit Schwerthieben verstümmelt aufgefunden werden, sorgt bald für Unruhe in der Unterwelt. Little Tokyo wird nunmehr – trotz Beschwichtigungen – argwöhnisch beobachtet. Geschäftsführer von Clubs und Restaurants, die Schutzgelder an Morelli und McGee bezahlen, beschweren sich, weil sie sich nicht mehr sicher fühlen. Als jemand von einem Schwarzen mit einem Schwert erzählt, dämmert es den beiden frisch gebackenen Gangsterbossen langsam, dass Russell von den Toten auferstanden und zurück gekommen ist, um sich zu rächen.

Dieser findet erst einmal seine Familie wieder und sieht zum ersten Mal überhaupt seinen Sohn. Eigentlich eine ideale Gelegenheit, um mit Maria und Nachwuchs aus der Stadt zu verschwinden. Doch Russell denkt nicht daran: es ist für ihn eine Frage der Ehre, seine beiden Fast-Mörder zu jagen und hinzurichten. Er drängt zur Eskalation: einer Begegnung mit Russells Schwert entkommt McGee mit einem Ohr weniger, während Morelli dabei seinen Kopf verliert. McGee entführt daraufhin Maria und ihren Sohn in seine mexikanische Fluchtvilla. Russell folgt ihm dorthin und richtet ihn und all seine Gehilfen mit dem Schwert. Gerächt will der schwarze Samurai mit seiner Frau und seinem Sohn in die Zukunft ziehen, wird jedoch von einem korrupten Polizisten in McGees und Morellis Dienst aus dem Hinterhalt erschossen.

Die lange Inhaltszusammenfassung macht es vielleicht klar: VENGEANCE IS MINE ist ein unheimlich dichter Film, der beeindruckend viele Elemente in sich vereint. Das Herz und die Seele des Film ist meiner Meinung nach die Sequenz, die ich der Anschaulichkeit halber als „interkultureller Buddymovie meets Veteranendrama im Robinsonade-Gewand“ bezeichnen würde. Hier finden sich verschiedene Personen wieder, die sich einander verstehen, gerade weil sie sich teilweise missverstehen. So murmelt Russell, noch an der Schwelle zum Tod, im Delirium immer wieder „those motherhumpers“. Ichikawa fragt seinen Offizier, was der Amerikaner sagt, und Sugoro meint, das sei ein Englisch, das er nicht verstehe. Als die beiden japanischen Soldaten den Vietnamveteranen fragen, wer ihn so schwer verletzt habe, weicht er unwillig aus und murmelt wieder etwas von „those motherhumpers“:
– (Sugoro) You said that in your sleep. What does that mean?
– (Russell) Nothing. Some friends of mine.
– (Ichikawa) They do that to you? They no friends. We your friends! We motherhumpers!
Spätestens hier wird klar, dass die drei Männer in Frieden auf der verlassenen Insel zusammenleben werden – auch wenn sie sich gegenseitig oft nicht verstehen.

Interkulturelle und intergenerationelle Veteranen-WG
Im weiteren Verlauf entpuppt sich besonders Sugoro als faszinierende und paradoxe Figur. Einerseits ist er ein typischer, bornierter Militär mit fast klischeehaften Zügen eines japanischen Imperialisten: „I‘m shogun here, I‘m the supreme commander of the island.“ sagt er an einer Stelle selbstherrlich, als Russell sich weigert, dessen Befehle zu befolgen. Er ist überzeugt, dass der Zweite Weltkrieg noch in Gange ist und tut Russells Hinweis, dass dem mittlerweile nicht so wäre, als amerikanische Propaganda ab. Zusammen mit dem gemeinen Soldaten Ichikawa hält der Oberst die verzerrte Karikatur einer Armeestruktur aufrecht: die allerletzte Einheit der Kaiserlich Japanischen Armee, verloren irgendwo auf einer kleinen philippinischen Insel. Dennoch ist er praktisch dazu verurteilt, wie ein Robinson außerhalb der Zivilisation und des Weltgeschehens zu leben. Das muss für ihn schmerzhaft sein, denn er ist offenbar auch ein kultivierter Mann, der sich teilweise weltoffen zeigt. Sein Englisch ist wesentlich besser als das von Ichikawa und immer wieder schwärmt er von amerikanischem Baseball und besonders von Joe DiMaggio (deutet das darauf hin, dass Sugoro einmal die USA besucht hat?). Russells Hinweis, dass der Baseballer jetzt Werbung für vollautomatische Kaffeemaschinen macht, versteht er nicht („What‘s wrong with coffee pots?“).

Sugoro weigert sich zunächst, Russell zu unterrichten: „It‘s no use to learn how to fight. Learn how to live.“ Außerdem sieht er, dass der Amerikaner nur die Schwertkampfkunst erlernen möchte, um sich zu rächen, während für den Japaner diese in erster Linie eben das ist: eine Kunst. Schließlich willigt er ein: aus Langeweile, aus Sympathie für den jungen Vietnamveteranen und wohl auch, weil er relativ sicher ist, dass nie jemand sie auf der Insel finden wird. Auch ein Punkt, in dem sich der Amerikaner und der Japaner uneinig sind. Und ein wunder Punkt Sugoros: nachdem er Russell kennen lernt, möchte er erst recht nicht entdeckt werden. Weil er sich eingestehen muss, dass der Krieg offenbar wirklich verloren ist und er somit Jahrzehnte lang in einer Blase lebte. Weil er zu sehr Angst vor dem Japan hat, das er entdecken könnte. Als sein Diener Ichikawa stirbt, erkennt er erst, was er an ihm hatte: der einzige Mensch, mit dem er in einem Zeitraum von Jahrzehnten gesprochen hatte. Lieber stirbt er auf der Insel, als sich der „neuen“ Welt draußen zu stellen.

Der Weltkriegsveteran als kampfbereiter Robinson
Sugoro ist auch deshalb ein faszinierender Charakter, weil mit ihm zwischen den Zeilen das Schicksal eines traumatisierten, verwirrten und von der Gesellschaft völlig entfremdeten Veteranen erzählt wird – und zwar explizit aus der Sicht eines japanischen Soldaten, der zudem auch größtenteils mitfühlend gezeichnet wird. VENGEANCE IS MINE kam im selben Jahr heraus wie COMING HOME und THE DEER HUNTER, also zwei Mainstreamfilmen, die das Schicksal von Vietnamveteranen verhandelten – was die US-philippinische Koproduktion implizit und symbolisch mittels eines verschanzten japanischen Soldaten macht.

VENGEANCE IS MINE erzählt auch, ich möchte fast sagen „nebenbei“ und „mit links“, eine klassische Geschichte vom Aufstieg und Fall einer Gangsterbande. Die beiden Heimkehrer Morelli und McGee erfüllen sich ihren eigenen amerikanischen Traum, indem sie mit rücksichtsloser Gewalt oder mittels Korruption alles niedermachen, was sich ihnen in den Weg stellt oder stellen könnte. Dabei ist es interessant, dass beide im Grunde schon bestraft werden, bevor das Schwert Russells sie richtet. Morelli ist stets gestresst, besorgt, unruhig und schließlich paranoid. Von Glamour des Paten-Lebens ist nichts zu spüren. Währenddessen hat McGee materiell alles, was er sich wünscht, kann aber die einzige Frau, die er wirklich haben möchte, nicht besitzen – nicht einmal mit Erpressung. Denn Marias Liebe zu ihrem Doug ist stärker.

Mit seinen starken schwarzen Figuren (Held, love interest, einer der Antagonisten) stellt sich VENGEANCE IS MINE teilweise in die Tradition der Blaxploitation-Filme der frühen 1970er Jahre. Doch interessanterweise ist er wenig selbstreferentiell. Schwarzsein wird im gesamten Film kaum wirklich thematisiert: weder in den philippinischen Szenen, noch auf der Insel, noch in den Teilen, die in L. A. spielen. Sugoro etwa verachtet am Anfang latent den Gestrandeten, aber nur deshalb, weil er US-Amerikaner ist. Schwarze, Weiße, Latinos – in L. A. bringt Russell ohne Unterschied jeden Gangster um, der sich ihm in den Weg stellt. Einen einzigen Hinweis gibt es am Anfang, als McGee zögert, einen „der seinen“ („of my own kind“) zu töten – aber meint er damit einen Schwarzen, oder einen Armeekameraden? Morelli antwortet ihm mit: „Don‘t give me that brother-shit. The only brother is the man on the dollar bill. And he ain‘t black.“ Deutlich markanter ist wohl die Tatsache, dass ganz am Ende ein weißer Polizist einen nur mit kalter Waffe bewaffneten Schwarzen aus der Ferne mit einem Gewehr hinrichtet. Es ist ein unglaublich starkes Schlussbild (festgehalten in einem freeze frame), das thematisch an das Ende von NIGHT OF THE LIVING DEAD erinnert. Hier stellt sich auch die Frage, ob das eben Gesehene nicht komplett in einer blasenartigen Parallelwelt spielte und dieses Finale eine Rückkehr in eine reale US-amerikanische Welt markiert, in der Schwarze am kürzeren Hebel saßen. Es könnte einiges darauf hin deuten, dass besonders philippinisch koproduzierte Exploitationfilme lockerer mit ihren schwarzen Figuren umgingen als rein US-amerikanische Blaxploitationfilme oder gar Mainstreamfilme: schließlich wurden sie mehrheitlich auf den Philippinen gedreht, mit philippinischen Filmemachern und philippinischen Drehteams in einer Umgebung, in der es keine US-amerikanische Realität gab.

Als Rachefilm ist VENGEANCE IS MINE in den ersten zwei Dritteln relativ generisch, entpuppt sich aber in der letzten halben Stunde als „gebrochen“ (was ihn vielleicht nicht so sehr von anderen Rache- und Vigilantenfilmen der Zeit abhebt, die oft wesentlich ambivalenter waren, als Zuschauer und Zensoren zugeben mochten). Der tiefere Sinn von Russells Rachefeldzug wird infrage gestellt, als er seine Frau und seinen Sohn wieder findet. Es folgt nämlich kurz darauf eine „happy family“-Montage in Zeitlupe, die einen Bruch zum vorher Gesehenen markiert und einen Neuanfang suggeriert, der dann aber nicht kommt. Warum bleibt Russell trotz des wieder gefundenen Glücks stur und setzt dieses mit seinem fortgesetzten Rachedurst in Gefahr? Warum geht er nicht mit seinen Liebsten einfach weg? „It‘s a matter of honor“ antwortet er, als ihn das Maria fragt. Dass er weiter an seinem Racheplan schmiedet, zeigt schlussendlich, dass er nicht wirklich verstanden hat, was Sugoro ihm auf der Insel sagte. „It‘s no use to learn how to fight. Learn how to live!“ sagte ihm der Japaner zunächst. „You never win combats in anger“ hörte Russell später vom Weltkriegsveteranen. Tatsächlich agiert Russell wie ein Amokläufer im Autopilotmodus, von Hass zerfressen und von Zorn kontrolliert – also im Grunde nicht so, wie ein Samurai handeln sollte. Dass er am Ende gewaltsam stirbt, scheint in diesem Licht eine bittere Zwangsläufigkeit zu haben – er wollte nicht leben, sondern kämpfen.

Problematische Ehe und Rachedurst
Wie sehr Russell innerlich von Rachedurst zerfressen wird, zeigt auf wunderbare Weise eine (Wende-)Szene kurz nach der Wiederzusammenführung der Familie. Er fährt mit Maria und seinem Sohn ans Meer. Alleine setzt er sich am Strand an den Rand eines Felsvorsprungs und meditiert – sein Schwert auf dem Schoß, ein tosendes Meer im Hintergrund: Gewaltbereitschaft und latente Unruhe in einem eindeutigen Bild vereint. Von Maria ist er abgeschnitten. Zunächst durch den Felsvorsprung. Dann, als sich das Ehepaar das Frame teilt, durch den Knauf des Schwerts, der das harmonische Bild zerstört. Die beiden sprechen zwar miteinander und im Dialog wird deutlich, dass es wohl ein Problem gibt. Doch im Grunde machen alleine nur die Bilder schon deutlich, wo das Problem liegt, und dass Russell nicht ruhen wird, bis Morelli und McGee durch seine Hand getötet wurden.

Diese Szene ist einer von mehreren Momenten, in denen Form und Inhalt vollkommen miteinander verschmelzen und nicht mehr zu unterscheiden sind. Grundsätzlich würde ich sagen, dass VENGEANCE IS MINE über weite Strecken relativ unauffällig, aber effizient und ökonomisch inszeniert ist. Aber das ist wohl nur ein Teil seiner formalen Brillanz. Regisseur Cirio H. Santiago, Kameramann Ricardo Remias und die Cutter Gervacio Santos und Robert E. Waters schaffen es in oft in wenigen Bildern, Figuren einzuführen, Situationen zu verdeutlichen und inhaltliche Zusammenhänge klar zu machen. Fast mühelos werden in der ersten Hälfte des Films Russells Heilung und sein Training zum Samurai, McGees und Morellis Aufstieg zu den Herren der Unterwelt von Los Angeles und Marias Trauer und sozialer Abstieg parallel erzählt. Was anderswo Stoff für drei ganze Filme ergeben würde, wird hier für den Zeitraum eines halben Films aufs Äußerste konzentriert. Exposition, Handlung, Figurencharakterisierung, Aufbau von Atmosphäre: in VENGEANCE IS MINE läuft dies oft alles gleichzeitig. Etwa in der dreieinhalbminütigen Szene im Nachtclub, in der Maria als Sängerin präsentiert wird:
1 ein matching cut zwischen der gleißenden, tropischen Sonne über Russells Kopf auf der Insel und dem Scheinwerfer im Nachtclub leitet die Szene ein und erstellt, trotz geographischer Distanz, eine Verbindung zwischen den beiden Liebenden her
2 das Lied, das Maria zum Besten gibt, erschafft den inhaltlichen Zusammenhang zur extradiegetischen Musik: sie singt nämlich das Titelthema
3 die Szene präsentiert einen zentralen Identitätspunkt Marias: sie ist eine talentierte und ambitionierte Sängerin, die auch ohne Ehemann selbstbewusst für ihren Lebensunterhalt sorgen kann
4 die Szene führt Marias beste Freundin als Figur ein (sie ist Kellnerin im Nachtclub)
5 die Szene führt eine Nebenfigur ein, die später als Freund von Marias bester Freundin erkenntlich wird und dann ein bisschen später auch als Handlanger McGees und Morellis
6 der Kreis wird geschlossen, als die Szene ausklingt, zu einem nachdenklichen Russell abblendet und die Titelmusik nur wieder extradiegetisch erklingt

Schwert- und Körperchoreografien
Zunächst wollte ich solche Szenen als „Pausen“, als „Kitsch-Kadenzen“ bezeichnen, in denen sich der Film Luft holt, um genüsslich in Kitsch zu schwelgen. Bei der Zweitsichtung wurde mir erst deutlich, wie zentral wichtig sie eigentlich sind. Gerade die Szenen, in denen Russell und Sugoro am Strand trainieren, sind auch purer „Action-Kitsch“ im Sinne des Actionkinos der 1970er und 1980er Jahre: delirierende Fetischisierungen der Einheit von Körper und Waffe. Doch sie machen im Laufe der Zeit eine Entwicklung durch: von den holprigen ersten Lektionen, in denen Sugoro Russell mit einem Schwertersatz aus Holz regelrecht den Hintern versohlt bis hin zu den gemeinsamen Schwertchoreographien, gefilmt in fließenden, musikalischen Montagen. Das ist mehr als eine Fetischisierung von Körper und Schwert bzw. von Geist und Schwert (was gemäß Sugoro wesentlich wichtiger ist). Es drückt auch die Verbundenheit der beiden Männer klarer aus als jeglicher Dialog es könnte. 

Vielleicht ist es mittlerweile deutlich geworden, aber es schadet nicht, es explizit zu sagen: ich halte VENGEANCE IS MINE für ein Meisterwerk, und wenn der Film bekannter und gleichzeitig verschmähter wäre, dann stünde dieser Beitrag wohl in meiner inoffiziellen Rubrik „Aufzeichnungen zu einem verkannten Meisterwerk“. Wer steht hinter dieser Perle des Exploitationkinos?

Regisseur Cirio H. Santiago wurde 1936 in Manila geboren, und zwar praktischerweise gleich in das Filmgeschäft hinein. Sein Vater, Ciriaco Santiago, war der Begründer einer der großen Filmproduktionsgesellschaften auf den Philippinen, der 1946 gegründeten „Premiere Productions“. Cirio Santiago übernahm später selbst den Vorsitz der Firma. Seine Karriere im Film begann er offenbar im zarten Alter von 19 Jahren als Drehbuchautor und Produzent, inszenierte dann aber auch rasch eigene Filme.
Ende der 1950er Jahre begann auch das Zeitalter des US-amerikanisch-philippinisch koproduzierten Exploitationfilms, der seine Hochphase in den 1970er Jahren erlebte. Im Inselstaat war es für amerikanische Produzenten (unter anderem zum Beispiel Roger Corman) billiger, Filme zu drehen. Die Philippinen verfügten auch über eine langjährige Filmtradition und über eine große Filmindustrie mit einem breiten Reservoir an erfahrenen und fähigen Handwerkern (zu denen Leute wie Cirio H. Santiago gehörten). Mit Imelda Marcos verfügte das nicht ganz lupenrein-demokratische Land über eine First Lady, die sich sehr für Film interessierte und ein bisschen was vom Geld, das sie nicht in die eigene Tasche steckte, der Filmindustrie zukommen ließ. Auch die philippinische Armee war, wenn sie nicht gerade die Bevölkerung zum Schutz vor Kommunisten terrorisierte, gerne bereit, gegen Bezahlung Ressourcen und Komparsen für Filme zur Verfügung zu stellen. Philippinische Filmemacher profitierten dabei von der Möglichkeit, Filme für einen ausländischen Markt zu produzieren und genossen dadurch größere Freiheiten (besonders im Bereich der Zensur) als bei Filmen für den Inlandsmarkt.
Zeremonielle Übergabe des Todesinstruments
In diesem Kontext arbeitete Cirio H. Santiago. In den 1970er Jahren inszenierte und produzierte er Dutzende Exploitationfilme, teilweise in Zusammenarbeit mit Roger Corman. Dazu gehörten „Women in Prison“-Filme (THE BIG DOLL HOUSE, THE BIG BIRD CAGE, WOMEN IN CAGES, HELL HOLE), zahllose Actionfilme mit oder ohne Martial Arts-Elementen (SAVAGE!, TNT JACKSON) und sogar einen Vampirsexfilm (VAMPIRE HOOKERS). In den 1980er Jahren drehte Santiago zahlreiche Vietnamkriegs- und Vietnamveteranen-Actioner, darunter 1988 einen Film mit dem klangvollen Namen THE EXPENDABLES.
2008 verstarb Santiago in Makati City – doch nicht, bevor die weltgrößte Recyclingtonne des Exploitationfilms, Quentin Tarantino, sich als Fan geoutet hatte. Pelle Felsch, der das Bookletessay zur weiter unten besprochenen deutschen DVD-Edition von VENGEANCE IS MINE geschrieben hat, weist auf die Parallelen in der Struktur von Santiagos Film und KILL BILL hin: „Verrat an der Freundschaft – Tod & Auferstehung – Ausbildung & Auftrag – Rache“. Die dramatische Übergabe des Schwerts an den Lehrling durch den Meister, die in VENGEANCE IS MINE an einem kargen Strand stattfindet, scheint Tarantino zu einer ähnlichen Szene in KILL BILL inspiriert zu haben. Auch in der deutschen Blogosphäre gibt es zumindest einen großen Fan: Sano Cestnik plädierte vor über vier Jahren bei „Eskalierende Träume“ in einer Besprechung von FINAL MISSION (1984) leidenschaftlich für mehr Cirio H. Santiago. Ein Aufruf, dem hier hiermit gefolgt bin.

Noch einige Worte zu den Darstellern: der charismatische James Iglehart spielte zunächst Nebenrollen in zwei Filmen Russ Meyers (BEYOND THE VALLEY OF THE DOLLS, THE SEVEN MINUTES), bevor er dann dem lockenden Ruf der Philippinen folgte und dort für Regisseur und Produzent Cirio H. Santiago die Hauptrolle in drei actionreichen Filmen spielte: SAVAGE!, BAMBOO GODS AND IRON MEN und eben VENGEANCE IS MINE. Dieser ist gemäß imdb auch sein letzter Film. Offenbar hat er sich danach aus dem Filmgeschäft zurückgezogen. Sein Sohn James Monroe Iglehart, der vierjährig auch in VENGEANCE IS MINE den Filmsohn spielt, ist später selbst Film- und vor allem Theaterschauspieler geworden.

Im Film Antagonisten, im wahren Leben Ehepartner:
Jayne Kennedy und Leon Isaac Kennedy
Leon Isaac Kennedy kommt aus dem Blaxploitation-Bereich und blieb auch in den 1980er Jahren dem B-Actionfilm treu. Anfang der 1990er Jahre stieg er aus dem Filmgeschäft aus. Irgendwann in dieser Zeit hat er wohl Jesus für sich entdeckt und betätigt sich heute als evangelistischer Prediger. Von 1970 bis 1982 war er mit Jayne Kennedy, geborene Jayne Harrison verheiratet. Auch sie, die Darstellerin der Maria, blieb dem Filmgeschäft nicht lange treu. 1970 wurde sie als erste Afroamerikanerin zur Miss Ohio gewählt und war im selben Jahr eine der Semifinalistinnen von Miss USA. Sie war wohl offenbar auch die erste Afroamerikanerin, die auf dem Cover des Playboy Magazine abgelichtet wurde. Kennedy spielte vor allem Nebenrollen im Fernsehen und zusammen mit ihrem Ehemann. Cirio H. Santiago kannte sie schon vor VENGEANCE IS MINE durch die Zusammenarbeit bei THE MUTHERS (1976) kennen, einem Film um eine Bande weiblicher Piraten, die sich undercover in ein Plantagengefängnis einschleusen lässt, um eine Kameradin zu befreien. Ihre Karriere bei Film und Fernsehen dünnt sich seit den 1980er Jahren aus, da sie sich vielfältigen Tätigkeiten wie dem Produzieren von Fitnessvideos und der Arbeit bei wohltätigen NGOs und christlichen Organisationen zuwandte.

Im Gegensatz zu seinen Kollegen ist Carmen Argenziano ein umtriebiger Schauspieler geblieben und hat seit seinem Filmdebüt 1969 über 200 Rollen gespielt. Er tauchte einige Male im Umfeld von Corman-produzierten, teilweise in den Philippinen gedrehten Filmen auf, trat aber ebenso in THE GODFATHER: PART II auf. Hauptsächlich spielte er und spielt er Nebenrollen in Fernsehserien, zuletzt in CSI: NY oder DR. HOUSE. Über den Kameramann Ricardo Remias lässt sich rasch in Erfahrung bringen, dass er zum festen Mitarbeiterstamm Cirio H. Santiagos gehörte und über 20 seiner Filme fotografierte.

Und wer sind die Darsteller Sugoros und Ichikawas? Hier ist es tatsächlich schwierig, Namen zuzuordnen. Der Abspann von VENGEANCE IS MINE erwähnt unter „also appearing“ nur noch die Namen der Nebendarsteller ohne Rollennamen (interessant zu sehen: Produzent Robert E. Waters hat mindestens drei Verwandte als Darsteller untergebracht). Im Vorspann werden außer den bekannten Darstellern noch erwähnt: Jose Mari Avellana (bei imdb Joe, nicht Jose), Joonie Gamboa (bei imdb Joonee), Leo Martinez, und ein „guest star“ Roberto Gonzalez (bei imdb überhaupt nicht erwähnt).

freeze frame im Moment des Todes

Hier ist nun der Ort, um noch einmal auf einen bizarren Fakt hinzuweisen: nämlich dass der besprochene Film keinen „richtigen“, oder zumindest keinen „festen“ Titel hat. DEATH FORCE ist gemäß der imdb der Originaltitel. Der Film lief jedoch, wie viele für Grindhouse-Auswertung produzierte Filme, eine zweite Runde Kino-Auswertung durch, dann offenbar mit dem Titel THE FORCE und FIGHTING MAD. Ein Filmplakat mit letzterem findet man bei imdb: witzig ist, dass Leon Isaac (ohne „Kennedy“) und Jayne Kennedy als Hauptrollen genannt werden. Das Plakat nimmt Bezug auf das Playboy-Cover mit Jayne und auf Leon Isaacs Rolle im Film PENITENTIARY, der im Dezember 1979 in den USA anlief. Wahrscheinlich dürfte also FIGHTING MAD der Titel für eine Neuauswertung des Films irgendwann 1980 gewesen sein. FORCE OF DEATH war offenbar der Titel des Films in Großbritannien. Pelle Felsch nennt im Booklet der deutschen DVD auch noch FIERCE als zusätzlichen Neuauswertungstitel in den USA. Gemäß Felsch ist VENGEANCE IS MINE eine komplette Neuschöpfung für die US-amerikanische DVD-Veröffentlichung des Films im September 2013, die erstmals die komplette 110-Minuten-Fassung enthielt. Allerdings scheint er sich zu irren, da das Cover der entsprechenden DVD eindeutig einen Film namens DEATH FORCE zeigt.
Erschwerend kommt hinzu: irgendwo zwischen 84 Minuten und 110 Minuten dauert VENGEANCE IS MINE aka DEATH FORCE aka FIGHTING MAD. Im September 1978 kam der Film in einer 96-minütigen Fassung in die US-amerikanischen Kinos. In Deutschland lief er, stark geschnitten (ob es sich um Gewaltzensur handelte, ist unklar) mit 84 Minuten Laufzeit im April 1982 an. Die 110-minütige Fassung wird teilweise als „director‘s cut“, teilweise als „extended cut“ bezeichnet: wo sie herkommt, ist allerdings unklar. War es eine Premierenfassung, die später (um)geschnitten wurde? Oder ist es die Rekonstruktion einer „imaginären“ Ur-Fassung? Ein zentraler Unterschied ist jedoch ganz sicher: die 110-minütige Fassung enthält als einzige die letzten paar Sekunden – also den Tod Russells durch Erschießung. Das heißt, dass alle kürzeren Fassungen mit einem „happy end“ aufhören.
Der Film ist wie gesagt als US-DVD im Doppelpack mit Santiagos VAMPIRE HOOKERS unter dem Titel DEATH FORCE in der integralen 110-Minuten-Fassung erhältlich. Auf der Website des Labels steht tatsächlich DEATH FORCE aka VENGEANCE IS MINE, wobei letzterer als „Originaltitel“ genannt wird.
In Deutschland ist der Film dieses Jahr beim Label Subkultur / Media Target als Nummer 2 der „Grindhouse Collection“ als DVD-Blu-ray-Dualedition veröffentlicht worden. Der Film liegt in einer relativ guten Qualität vor: manche Momente sind unscharf, etwas kontrastarm, und zumindest eine Rolle (knapp über 10 Minuten) hat einen gelben Laufstreifen in der Mitte. Trotzdem insgesamt gut. Als Bonus gibt es ein Booklet mit einem Essay von Pelle Felsch, der über Grindhousekino, Actionfilme, Männlichkeitskonstrukten in diesen, Cirio Santiago und die verschiedenen Fassungen des Films schreibt – sehr unterhaltsam, stellenweise sogar poetisch (eine Kostprobe: „Aktions-Kino, das Kino der Beschleunigung und abrupten Zersprenung: Die Quintessenz des bewegten Bildes. Der Karatekick, der Knochen splittern lässt. Das Projektil, das menschliches Fleisch penetriert. Der Car-Crash, der feste Materie seiner starren Form entreißt. Die Explosion, Vernichtung aller molekularen Ordnungen. Kino der Zerstörung. Kino der Befreiung“). Weniger unterhaltsam, sondern vielmehr ärgerlich ist der Bonusfilm: MACHETE MAIDENS UNLEASHED, eine Doku über die Geschichte des US-philippinischen Exploitationfilms. Besonders störend ist nicht nur der Stil dieses Machwerks (es ist nicht so sehr ein Dokumentarfilm als eher eine abendfüllende Interviewschnipsel-Montage), sondern auch die schiere Verachtung für sein Subjekt, das er von oben herab zur nostalgischen, aber lächerlichen Freakshow degradiert.

Wien noir mal zwei

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ABENTEUER IN WIEN (Österreich) bzw. GEFÄHRLICHES ABENTEUER (Deutschland)
Österreich/USA 1952
Regie: Emil-Edwin Reinert (als Emile Edwin Reinert)
Darsteller: Gustav Fröhlich (Toni Sponer), Cornell Borchers (Karin Manelli), Francis Lederer (als Franz Lederer, Claude Manelli), Inge Konradi (Marie), Egon von Jordan (Krüger), Hermann Erhardt (Ferdl Haintl), Adrienne Gessner (Anna Fraser), Manfred Inger (Polizeikommissär), Michael Kehlmann (Passfälscher), Hans Hagen (Dirigent)

STOLEN IDENTITY
Österreich/USA 1952
Regie: Emil-Edwin Reinert (ungenannt), Gunther von Fritsch (als Gunther Fritsch)
Dialogregie: Elizabeth Montagu
Darsteller: Donald Buka (Toni Sponer), Joan Camden (Karin Manelli), ansonsten wie ABENTEUER IN WIEN

Zweimal Toni und Karin - links ABENTEUER IN WIEN, rechts STOLEN IDENTITY
An einem Silvestertag in Wien kreuzen sich die Wege von vier Menschen, von denen bald einer tot und ein anderer sein Mörder sein wird. Der Amerikaner John Milton (in ABENTEUER IN WIEN, während er in STOLEN IDENTITY wie im Roman Jack Mortimer heißt) gibt nachmittags am Salzburger Bahnhof ein Telegramm auf, das in Wien schon sehnlichst erwartet wird. In Empfang genommen wird es von Frau Fraser, Haushälterin in der Villa des international gefeierten Pianisten Claude Manelli, für die eigentliche Adressatin, Manellis Frau Karin. Manelli ist ein eifersüchtiger, fast psychopathischer Kontrollfreak, der Karin in einem goldenen Käfig einsperrt, aus dem sie ausbrechen will. Wie man später im Film erfährt, hat er Karin nach einem früheren Fluchtversuch sogar kurz in ein Sanatorium gesteckt und entmündigen lassen, so dass er nun auch ihr Vormund und sie komplett von ihm abhängig ist. Ihre einzige Verbündete in Wien ist Frau Fraser, und mit ihrer Hilfe unternimmt sie einen neuen Fluchtversuch. John Milton ist ein alter Freund von ihr aus Jugendtagen, den sie zuletzt bei ihrer Hochzeit mit Claude gesehen hat, wo er ihr Trauzeuge war. Nun hat sie ihn in einem Brief um Hilfe gebeten, und er kündigt im Telegramm seine Ankunft am selben Abend an. Karin soll in dem Hotel, das er gebucht hat, auf ihn warten, und dann werden beide noch in der selben Nacht um 2:00 Uhr über Frankfurt in die USA fliegen, wo sie endlich frei sein wird. Der Zeitpunkt scheint günstig, denn Manelli steckt gerade in den Abschlussproben für ein Silvesterkonzert mit den Wiener Symphonikern. Aber auch er hat einen Helfer im Haus, nämlich seinen aalglatten Manager Krüger, für den die Karriere seines Chefs alles ist, was zählt. Krüger wartet schon auf Frau Fraser, nimmt ihr das Telegramm ab und überbringt es Manelli, der jetzt über die Absichten von Karin und Milton Bescheid weiß. Er konfrontiert Karin auf demütigende Weise mit seinem Wissen, fühlt sich jetzt sicher und fährt zu den letzten Proben und der anschließenden Vorstellung ins Konzerthaus. Dabei kollidiert er wegen seiner rücksichtslosen Fahrweise fast mit einem Taxi.

Krüger und Frau Fraser (alle Bilder aus ABENTEUER IN WIEN, wenn nicht anders angegeben)
Dessen Fahrer, Toni Sponer, ist der gebrochene Held des Films. Er ist ohne Papiere in Wien gestrandet und steht mit einem Bein im Gefängnis, weil er ohne Lizenz Taxi fährt. Der Wagen gehört dem älteren Ferdl Haintl, mit dem sich Toni die Schichten teilt. Bei dem sympathischen, aber etwas versoffenen Ferdl wohnt Toni auch inoffiziell zur Untermiete. Über seine Vorgeschichte erfährt man wenig. Er ist als Sohn eines Professors in einer Villa mit Park aufgewachsen und hat einen Teil seines Lebens in den USA verbracht, aber es bleibt offen, wie er in seine jetzige desolate Lage geraten ist. Man kann nur vermuten, dass es vielleicht irgendwie mit dem Krieg zusammenhängt. Jedenfalls ist er jetzt ein Mann ohne Zukunft. Immerhin kümmert sich die im selben Haus wohnende Marie um ihn, so dass er nicht ganz verlottert. - Nach dem Beinahe-Unfall mit Manelli wäre Tonis Schicht eigentlich zu Ende, und er wollte mit Marie Silvester feiern. Aber Ferdl, der jetzt dran wäre, ist sturzbetrunken, so dass Toni noch eine Schicht dranhängt. Und an seinem Standplatz am Westbahnhof steigt John Milton in das Taxi.

Claude Manelli
Nach der Konfrontation mit Claude hat sich Karin zum Schein in ihr Schicksal ergeben, aber sobald er aus dem Haus ist, steckt sie ihre Papiere ein und verlässt die Villa, während Frau Fraser Krüger ablenkt. Doch der bemerkt ihre Abwesenheit schnell und verständigt telefonisch den inzwischen im Konzerthaus befindlichen Manelli. Dieser zieht sich unter einem Vorwand in seine Garderobe zurück, schleicht sich davon und fährt mit seiner Limousine zum Bahnhof, um Milton abzupassen. Nachdem dieser in Tonis Taxi gestiegen ist, folgt Manelli dem Taxi, um auf eine Gelegenheit zu warten. Die ergibt sich, als sich Toni im Büro der Fluggesellschaft um Miltons Gepäck kümmert. Manelli steigt aus und erschießt mit seiner Pistole den im Taxi sitzenden Milton durch die Rückscheibe. Straßenbauarbeiten mit Presslufthammer bewirken, dass niemand etwas hört, und Toni bemerkt erst nach einer Weile, dass er mit einem Toten durch die Stadt fährt. Er will zunächst den Vorfall einem Verkehrspolizisten melden, doch der fordert ihn im Verkehrstrubel nur hektisch zum Weiterfahren auf. Danach betritt Toni eine Bar, um in der dortigen Telefonzelle die Polizei anzurufen, doch als man ihn nach seinem Namen fragt, legt er wieder auf. Und dann betrachtet er die Brieftasche des Toten und gerät ins Grübeln. Es sind nicht die Dollarnoten, die ihn faszinieren, sondern der amerikanische Reisepass, der ein neues Leben mit neuer Identität in den USA verheißt. Toni fasst einen schwerwiegenden Entschluss. Er entsorgt die Leiche an einem Kanal unter einer Eisenbahnbrücke, lässt von einem Passfälscher sein Konterfei in den Pass montieren und macht sich nach einem Zwischenstopp bei Marie auf zu Miltons Hotel, um das dort von der Fluggesellschft hinterlegte Flugticket abzuholen. Doch das Ticket ist noch nicht eingetroffen, so dass er in Miltons Zimmer wartet. Und dort wird er von Karin, die ihrerseits bereits im Hotel auf Milton gewartet hatte, überrascht und zur Rede gestellt. Toni kann nur hilflose Ausflüchte vorbringen, und Karin glaubt, er sei ein Mörder, den ihr Mann beauftragt habe, um Milton aus dem Weg zu räumen. Sie verständigt die Polizei, und Toni, der von den ganzen Hintergründen keine Ahnung hat, wird festgenommen, als er das Hotel verlässt.

Marie
Doch sein Verhör nimmt einen unerwarteten Verlauf. Karin behauptet, es handle sich um einen falschen John Milton, aber der Pass hält dem kritischen Blick des Polizeikommissärs stand, und um Licht in die Angelegenheit zu bringen, ruft dieser im Konzerthaus an, und Manelli bittet den Kommissär, mitsamt dem Beschuldigten zu ihm zu kommen. Eigentlich gegen die Vorschriften, aber der Kommissär ist ein Freund und Kenner klassischer Musik und ein Verehrer von Manelli, und er lässt sich um den Finger wickeln. So macht man sich also auf den Weg, und dann erklärt Manelli zu Tonis Verblüffung, er müsse sich entschuldigen, weil seine Frau unzurechnungsfähig sei und manchmal abstruse und völlig haltlose Anschuldigungen erfinde. Manellis Beweggrund ist klar: Wenn ein John Milton nach Österreich eingereist ist und jetzt ein John Milton auch wieder ausreist, dann ist ja nichts passiert, und niemand wird irgendwelche Fragen stellen. So wird Toni also überraschend wieder auf freien Fuß gesetzt, während Karin, die ihre Felle davonschwimmen sah, sich bereits wieder weggeschlichen hat. Toni macht sich abermals auf zum Hotel, muss aber zu seiner Bestürzung erfahren, dass die inzwischen eingetroffenen Tickets - das für Milton und das für Karin - beide gerade eben von Karin mitgenommen wurden. Sie will Toni damit unter Druck setzen, damit er ihr endlich erzählt, was mit dem echten Milton geschehen ist. Durch den Hotelboy lässt sie ihm ausrichten, wo er sie treffen kann, nämlich im "Kaiserpanorama", eine Art von 3D-Guckkasten-Schau, auch damals schon ein völlig antiquiertes Vergnügen. (Das Wiener Kaiserpanorama war eines der letzten, die noch existierten, und es schloss im Januar 1955 seine Pforten.) Der wie ein Kino abgedunkelte Ort wird von zwei alten Damen beaufsichtigt, die wie nicht mehr ganz von dieser Welt wirken (die eine, die an der Kasse sitzt, hat auch eine Katze auf der Schulter), was der ganzen Szene einen leicht surrealen Touch verleiht. Toni erzählt nun Karin alles, was er weiß, und bei ihrer Unterredung fassen die beiden langsam Vertrauen zueinander. Gemeinsam kommen sie zum Schluss, dass Manelli der Mörder sein muss.

Toni und Ferdl in ihrer Behausung
Weil noch genug Zeit bis zum Flug ist, treffen sich die beiden mit Marie in Haintls Wohnung zu einer kurzen improvisierten Silvesterfeier. Dabei gibt Marie etwas von ihren Träumen preis. Während es Toni jetzt in die Ferne zieht, wäre sie schon glücklich, wenn sie neue Vorhänge und ein neues Sofa hätte, um mit dem richtigen Mann darauf zu sitzen. Es ist recht offensichtlich, dass sie mit dem richtigen Mann Toni meint, aber sie sagt es nicht. Die kleine Feier wird jäh unterbrochen. Inzwischen war Haintl mit dem Taxi unterwegs, und gleich bei seiner ersten Fuhre hat sich eine Dame im von Toni nur notdürftig gereinigten Fahrgastraum ihren Pelz mit Blut besudelt. Sie zeigt es bei der Polizei an, die setzt Haintl unter Druck, und bald steht ein Mannschaftswagen mit einem ganzen Trupp Polizisten vor der Wohnung. Toni und Karin gelingt nur knapp die Flucht über den Dachboden, doch die Polizisten sind ihnen auf den Fersen. Zu Fuß fliehen sie durch enge Durchgänge, über steile Stiegen, in Gassen mit feuchtglänzendem Kopfsteinpflaster, und mitten durch auf den Straßen Silvester feiernde Passanten. Schließlich können sie die Verfolger abschütteln, und bei einer Rast in einem Keller und einer (vermutlich kriegsbedingten) Ruine kommen sie sich noch näher und beschließen, ihre Flucht auch weiterhin gemeinsam fortzusetzen.

Manelli in seiner Garderobe im Konzertsaal
Schließlich fahren sie mit dem Bus zum Flughafen und sind nun schon fast in Sicherheit. Weil aber Karin eine für die Einreise in die USA nötige Impfung fehlt, wird sie mit Toni in den Sanitätsraum gebeten. Doch dort wartet kein medizinisches Personal, sondern Manelli und Krüger. Während Manelli sein Konzert absolvierte, hatte Krüger auf der Suche nach Karin erfolglos telefonisch alle möglichen Hotels abgeklappert. Nach Manellis Rückkehr in die Villa setzte dieser alles auf eine Karte, indem er richtig vermutete, dass sie gemeinsam mit dem falschen Milton, also per Flugzeug fliehen würde. Jetzt stellt er Toni vor die Wahl: Entweder er besteigt unverzüglich und allein das bereits wartende Flugzeug, oder er wird gleich vom Kommissär, den er gegen Krügers Rat auch hinzugerufen hat, als der Mörder des echten Milton verhaftet. Weil jetzt auch Karin keine Chance mehr für sich sieht und ihn zur Abreise auffordert, eilt Toni zum Flugzeug, aber als er schon an der Gangway steht, überlegt er es sich anders. Er gibt dem Kommissär seine wahre Identität preis und beschuldigt Manelli des Mordes an Milton. Manelli bleibt zunächst gelassen und beschuldigt seinerseits Toni, selbst der Mörder zu sein. Aber als Toni behauptet, er habe im Koffer ein Foto von Manellis und Karins Hochzeit mit dem echten Milton als Trauzeugen darauf, verliert Manelli die Nerven und flüchtet zu Fuß über das Rollfeld, wird aber schnell von der Polizei ergriffen. Während die Polizei noch mit Manelli beschäftigt ist, haben Karin und Toni ein paar Augenblicke für sich. Toni wird für seine diversen Vergehen ins Gefängnis müssen, aber vermutlich nicht allzu lange, und Karin verspricht, auf ihn zu warten. Das davonfliegende Flugzeug bildet das letzte Bild des Films.

Vor dem Mord
ABENTEUER IN WIEN und sein englischsprachiger Zwilling STOLEN IDENTITY sind dicht strukturierte und flüssig erzählte Vertreter des Film noir. (Im Folgenden werde ich mit "ABENTEUER IN WIEN" immer das ganze Projekt mit beiden Filmen meinen, wenn es nicht um den direkten Vergleich der beiden Versionen geht.) Auch wenn gelegentlich der Zufall eine Rolle spielt - ausgerechnet an Silvester sorgt ausgerechnet vor dem Büro der Fluggesellschaft ein Rohrbruch für Straßenarbeiten -, greifen im Großen und Ganzen die Handlungselemente auf logische Weise ineinander und werden in überschaubarer Zeit (86 bzw. 84 Minuten) kurzweilig erzählt. ABENTEUER IN WIEN wurde oft mit THE THIRD MAN verglichen, aber man sollte diesen Vergleich nicht überstrapazieren, weil man ersterem Film damit nicht wirklich gerecht wird. Nicht nur, weil er gegen Carol Reeds Geniestreich fast zwangsläufig den Kürzeren zieht, sondern auch, weil es von vornherein auch genug Unterschiede zwischen den Filmen gibt. So spielt die zeitgeschichtliche Situation in ABENTEUER IN WIEN keine Rolle. Weder der Vier-Mächte-Status von Wien, der nicht nur in THE THIRD MAN, sondern auch in Leopold Lindtbergs DIE VIER IM JEEP von 1951 eine zentrale Rolle spielt, wird in ABENTEUER IN WIEN thematisiert, noch die auf sich warten lassende Entlassung Österreichs in die Unabhängigkeit (die erst 1955 erfolgte, und die 1952 Wolfgang Liebeneiners 1. APRIL 2000 inspirierte). Besatzungsbeamte oder -soldaten kommen nicht vor, die neben Milton in Erscheinung tretenden Ausländer sind Touristen, und die Polizei im Film ist rein österreichisch. Im Grunde könnte ABENTEUER IN WIEN in einer beliebigen mitteleuropäischen Großstadt spielen, denn die bekannten Sehenswürdigkeiten wie Stephansdom, Schloss Schönbrunn oder Riesenrad (das bekanntlich in THE THIRD MAN eine prominente Rolle spielt) kommen auch nicht vor. Da der Film weit überwiegend bei Dunkelheit spielt, hätte man ohnehin nicht viel davon gesehen. Es ist kein Touristen-Wien, das hier präsentiert wird, sondern ganz im Gegenteil ein unwirtliches, abweisendes Wien. - In den drei Jahren seit THE THIRD MAN hatte sich auch in städtebaulicher Hinsicht einiges geändert. Die oben erwähnte Ruine ist die einzige, die es in ABENTEUER IN WIEN zu sehen gibt, während es in THE THIRD MAN noch reichlich davon gab, und während Holly Martins noch im alten, im Krieg schwer lädierten und 1950 abgerissenen Westbahnhof in Wien eintraf, war es bei John Milton der 1951 eröffnete Neubau mit seiner funktionalen, von Neon erleuchteten Fassade. Auch das Büro der Fluggesellschaft ist von klaren Linien und Neonlicht geprägt.

Der neue Wiener Westbahnhof
Ein Film noir ist ABENTEUER IN WIEN nicht nur, weil es um Eifersucht, Freiheitsberaubung und Mord sowie - etwas abstrakter gesehen - um die Brüchigkeit der menschlichen Existenz geht, sondern er ist es vor allem in visueller Hinsicht. Das ist hauptsächlich das Verdienst von Kameramann Helmuth Ashley, der souverän mit Licht und Schatten umgeht. Vor allem bei den nächtlichen Außenaufnahmen erweist er sich amerikanischen Großmeistern des Film noir wie John Alton ebenbürtig, und bei diesen Aufnahmen - und hier wiederum vor allem bei Tonis und Karins Flucht vor der Polizei - gibt es auch am ehesten atmosphärische Anknüpfungspunkte an THE THIRD MAN. Der 1919 in Wien geborene Ashley absolvierte in den 30er Jahren in seiner Geburtsstadt eine Ausbildung zum Fotografen, und in den 50er Jahren wurde er in Österreich und Deutschland zum gefragten Kameramann mit Schwerpunkt auf Schwarzweiß-Filmen, wobei er von Komödien wie JETZT SCHLÄGT'S 13 und Melodramen wie EIN HERZ SPIELT FALSCHüber Krimis wie ALIBI und BANKTRESOR 713 bis zum Arztfilm mit Horror-Einschlag (ARZT OHNE GEWISSEN) viele Genres bediente. Ab 1960 verlegte sich Ashley auf die Regie, nach einigen Spielfilmen dann vorwiegend für das Fernsehen, und da insbesondere für den Krimi im ZDF: Nach drei Folgen von DER KOMMISSAR zusammen über 100 Folgen DERRICK und DER ALTE. Heute lebt Ashley in München.

Atmosphärische Nachtaufnahmen prägen den Film
Die Entstehungsgeschichte von ABENTEUER IN WIEN beginnt damit, dass zwei befreundete Geschäftspartner eine größere Menge Geld übrig hatten und nach einer Investitionsmöglichkeit suchten: Der Chemiker und Industrielle Dr. Werner Kreidl und Friederike Selahettin. Zu ihren Unternehmungen gehörte neben Fabriken auch eine Kinokette mit Spielstätten in Wien und Oberösterreich. Selahettin war die Mutter von Turhan Gilbert Selahattin Şahultavi (nach anderen Quellen Turhan Gilbert Selahettin Schultavey), besser bekannt als Turhan Bey (1922-2012). Unter diesem Namen machte der gut und leicht exotisch aussehende junge Mann, der mit seiner Mutter und Großmutter ins amerikanische Exil gegangen war, in den 40er Jahren eine steile Karriere in Hollywood, meist in Filmen von Warner Brothers oder Universal, in Krimis und Agentenfilmen ebenso wie in vier der farbenprächtigen Abenteuerfilme mit María Montez und Jon Hall. Doch 1950 war seine Karriere weitgehend vorbei (wobei es 1953 mit PRISONERS OF THE CASBAH noch einen Nachzügler gab), und er ging mit Mutter und Großmutter zurück nach Österreich, wo er sich als Fotograf betätigte und ins Management der Kinos im Familienbesitz einstieg. In den 90er Jahren hatte Turhan Bey dann noch einige Auftritte in Fernsehserien wie SEAQUEST DSV und BABYLON 5. - Mutter und Sohn Selahettin und Werner Kreidl beschlossen nun 1951, mit dem verfügbaren Geld einen Film zu produzieren. Zu diesem Zweck gründeten sie als österreichisch-amerikanische Firma die Trans-Globe Films Inc., denn sie hatten die ehrgeizige Idee, den Film für den deutsch-österreichischen und den amerikanischen Markt gleich in zwei Sprachversionen zu drehen. Bekanntlich war das in den frühen Jahren des Tonfilms eine häufige Vorgehensweise, aber für die 50er Jahre (zumal in Österreich) war es ungewöhnlich.

Deponierung der Leiche unter der Nordbahnbrücke
Vierte in der Führungsriege bei Trans-Globe war die amerikanische Schauspieleragentin Elizabeth Dickinson (1885-1975). Eine große Nummer in ihrem Metier war sie nicht, denn sie war nicht selbständig, sondern Angestellte beim Groß-Agenten Paul Kohner. Der gebürtige Österreicher Kohner vertrat viele deutschsprachige Emigranten, wodurch sich auch für Dickinson die entsprechenden Kontakte ergaben, die schließlich zu ihrer Involvierung bei Trans-Globe führten. Wenn man Ernest Roberts glauben darf, dann brachte Dickinson überhaupt kein eigenes Geld in das Projekt ein, sondern nur ihr selbstsicheres Auftreten. Roberts (eigentlich Ernst Adolf Robert Blau) hatte sich im Exil in Hollywood erfolglos als Schauspieler versucht (unter den Filmen, in denen er ungenannt auftrat, befinden sich immerhin Fritz Langs HANGMEN ALSO DIE! und Jacques Tourneurs BERLIN EXPRESS), und 1950 kehrte auch er nach Europa zurück und wurde Journalist. 1951/52 war er im Stab der Trans-Globe, und als er 1996 seinen autobiografischen Roman "Irrfahrten eines törichten Zeitgenossen" vorlegte, ging er darin auch auf die Entstehung von ABENTEUER IN WIEN ein. Über Elizabeth Dickinson hat er darin wenig Schmeichelhaftes zu sagen. Von Elizabeth Montagu (auf die ich weiter unten zurückkomme) wird Dickinson auch nicht sehr freundlich als "schamlos aufdringliche Lesbe" geschildert. - Als die Trans-Globe die österreichische Szene betrat, machte sie durch eine pompöse Ankündigungspolitik auf sich aufmerksam. Bei einem Empfang und in Mitteilungen an die Presse gab man sich als eine große amerikanische Firma aus, die nach dem ersten Film gleich mehrere weitere in internationalen Coproduktionen realisieren werde, u.a. mit keinen Geringeren als Douglas Sirk und William Dieterle als Regisseure. "Österreich - Sitz einer weltumfassenden amerikanischen Produktionsgesellschaft" lautete daraufhin die Schlagzeile eines Artikels in der Österreichischen Film und Kino Zeitung vom 1. Dezember 1951. Doch das war alles Schwindel. In Wirklichkeit hatte die Trans-Globe außer den beiden Versionen von ABENTEUER IN WIEN keine weiteren Filme in der Pipeline, und es sollte auch bei diesen bleiben.

Durchgang zu Tonis Wohnhaus
Weil die Trans-Globe als Neuankömmling im österreichischen Filmgeschäft dringend einen einheimischen Kooperationspartner brauchte, wurde (nach einem gescheiterten Versuch mit einer anderen Firma) eine Partnerschaft mit der Schönbrunn-Film von Ernest Müller eingegangen. Ernest (ursprünglich Ernst) Müller (1906-1962) war seit den frühen 30er Jahren in verschiedenen Funktionen bei Wiener Filmstudios tätig. Widersprüchliche Angaben habe ich darüber gefunden, was er während des österreichischen Anschlusses an Nazi-Deutschland gemacht hat. Nach Angaben von Armin Loacker im Buch vom Filmarchiv Austria (siehe unten) ging Müller als Geschäftsführer der von ihm mitgegründeten Rex-Film, Bloemer & Co. nach Berlin. Die Tatsache, dass er (nach dieser Version) vorwiegend Juden und politisch Verfolgte einstellte und sie so in einem gewissen Ausmaß vor dem Zugriff der Gestapo schützte, soll ihm nach dem Krieg das besondere Wohlwollen der Alliierten eingebracht haben. Laut Wikipedia dagegen verbrachte Müller die Jahre von 1938 bis 1945 im Exil in der Schweiz. Wie dem auch sein mag - Einigkeit herrscht jedenfalls darüber, dass Ernest Müller 1950 in Wien die Schönbrunn-Film gründete und innerhalb weniger Jahre zu einem der wichtigsten österreichischen Produzenten wurde. Dabei bewegte er sich vorwiegend in publikumsträchtigen seichten Gewässern - Heimatfilme, Komödien, Schmonzetten -, aber er produzierte auch so hochinteressante Filme wie WIENERINNEN und DER ROTE RAUSCH. Dabei war Müller alles andere als ein Mäzen, der künstlerisch ambitionierte Regisseure subventionierte - in einem Brief an Werner Kreidl umriss er seine Prinzipien einmal mit "größte Sparsamkeit und rationellstes Arbeiten". Aber man muss ihm zugute halten, dass er auch extravagante Projekte in Erwägung zog, und bei für ihn günstiger Gewinnprognose auch umsetzte. Als die Trans-Globe einige Personalentscheidungen ohne Rücksprache mit Müller traf und Honorare bewilligte, die (seiner Meinung nach) zu hoch waren, wollte er aus dem gemeinsamen Projekt wieder aussteigen. Er konnte zum Bleiben bewogen werden, ließ sich jedoch als Gegenleistung einen Passus in den Kooperationsvertrag schreiben, der seinen finanziellen Einsatz deckelte und ihn von Verlusten freistellte, so dass er im Fall eines Flops schlechtestenfalls mit plus/minus Null dastehen würde. Das war ein weiser Schachzug, wie sich noch zeigen sollte.

Toni als Milton in dessen Hotelzimmer
ABENTEUER IN WIEN basiert auf dem 1933 erschienenen Roman "Ich war Jack Mortimer" des österreichischen Schriftstellers Alexander Lernet-Holenia (1897-1976). Wie bereits erwähnt, wurde der Name des Mordopfers in STOLEN IDENTITY beibehalten, in ABENTEUER IN WIEN dagegen in John Milton geändert. Bereits 1935 wurde der Roman von Carl Froelich als ICH WAR JACK MORTIMER verfilmt, mit Adolf Wohlbrück, Eugen Klöpfer und Sybille Schmitz in den Hauptrollen, und Michael Kehlmann (auf den ich gleich zurückkomme) legte 1961 mit JACK MORTIMER eine TV-Fassung für den WDR vor (in der von der 1952er Besetzung Manfred Inger wieder dabei war). Später entstanden in Österreich und Frankreich auch zwei Hörspiele nach dem Stoff. - Mehrere Versionen erlebte das Drehbuch zu ABENTEUER IN WIEN. Zunächst wurden als Autor für die amerikanische Fassung ein Robert Hill - der weder davor noch danach sonderlich in Erscheinung getreten ist - und für die deutschsprachige Fassung Johannes Mario Simmel engagiert, damals noch ein aufstrebender Journalist, Schriftsteller und Drehbuchautor. Simmel hatte seine ersten Romane bereits veröffentlicht, aber sein Durchbruch kam erst 1960 mit "Es muss nicht immer Kaviar sein". Doch Hill kam mit dem Stoff nicht so recht zu Rande, und sein Buch wurde verworfen. Simmel als Schnellschreiber dagegen legte nach wenigen Tagen ein Script vor, das sich laut Ernest Roberts "gut, spannend und flüssig" las, letztlich aber auch abgelehnt wurde.

Fahrt vom Polizeirevier ins Konzerthaus
Deshalb wurde Robert Thoeren (den Elizabeth Dickinson aus Hollywood kannte) als neuer Drehbuchautor engagiert. Thoeren (ursprünglich Robert Thorsch, 1903-1957), in Brünn (heute Brno) geboren, wurde zunächst Schauspieler in Deutschland, emigrierte 1933 nach Frankreich und 1938 weiter in die USA. Im Exil wurde er ein routinierter und durchaus erfolgreicher Drehbuchautor. Seinen größten Erfolg erlebte der 1951 nach Deutschland zurückgekehrte und 1957 tödlich verunglückte Thoeren nicht mehr: Das Drehbuch zu FANFARE D'AMOUR (1935), das er zusammen mit einem Michael Logan geschrieben hatte, wurde zur Vorlage für SOME LIKE IT HOT (natürlich mit einigen Änderungen und Ergänzungen durch Wilder und I.A.L. Diamond). Zuvor hatte schon Kurt Hoffmann mit FANFAREN DER LIEBE ein Remake vorgelegt. - Thoeren ist der Hauptautor des Drehbuchs von ABENTEUER IN WIEN und STOLEN IDENTITY (die beiden Bücher sind bis auf die Sprache praktisch identisch), ihm nachgeordnet als weisungsgebundene Zuarbeiter waren Franz (von) Tassié und Michael Kehlmann. Tassié (1903-1990) war ein angesehener Journalist (er war ab Herbst 1945 im Vorstand des Verbands demokratischer Schriftsteller und Journalisten Österreichs), der hin und wieder auch Drehbücher verfasste. Kehlmann (1927-2005) hingegen war damals Schauspieler und Kabarettist (er stand u.a. mit Helmut Qualtinger auf der Bühne). In ABENTEUER IN WIEN spielte er den Passfälscher, und seine Mitarbeit am Drehbuch war sein erster Versuch in diesem Metier. Er fand ab 1953 seine Berufung als in Deutschland ebenso wie in Österreich arbeitender Fernsehregisseur, daneben auch als Theaterregisseur. Zu seinen Spezialitäten zählten gediegene Literaturverfilmungen wie der Zweiteiler RADETZKYMARSCH (1965), aber auch Krimis. Wie schon erwähnt, drehte er 1961 auch eine TV-Fassung des Mortimer-Stoffs. Neben dem Trio Thoeren/Tassié/Kehlmann arbeitete auch noch Emil-Edwin Reinert am Drehbuch mit, nachdem er als Regisseur engagiert worden war. - Der Realität zum Trotz wird in STOLEN IDENTITY Robert Hill als alleiniger Autor des Drehbuchs genannt, obwohl er wenig oder nichts dazu beigetragen hatte, in ABENTEUER IN WIEN dagegen werden Tassié und Kehlmann gleichberechtigt aufgeführt. Robert Thoeren, der eigentliche Autor, wird in keiner der beiden Versionen in den Credits erwähnt.

Ein Passfälscher - nur in STOLEN IDENTITY mit Hut
Die Filmmusik zu ABENTEUER IN WIEN schrieb der gebürtige Niederländer Richard Hageman (1882-1966). Der Pianist, Dirigent und Komponist Hageman emigrierte 1906 in die USA, wo er mit renommierten Orchestern arbeitete. Seit 1938 war er auch für Hollywood tätig. Bekannt wurde Hageman vor allem durch seine Zusammenarbeit mit John Ford, für den er einige seiner bekanntesten Western vertonte. Der Niederösterreicher Hans Hagen, der Hagemans Musik für den Film instrumentierte, spielt auch den Dirigenten der Wiener Symphoniker, der das Konzert mit Manelli einstudiert. - Wenn in den 30er Jahren ein Film in mehreren Sprachversionen gedreht wurde, dann wurde das oft so organisiert, dass ein Hauptregisseur engagiert wurde, der die primäre Version des Films komplett inszenierte, aber auch bei den Alternativversionen für die Mise en Scène zuständig war, und ihm untergeordnet gab es für jede der alternativen Sprachen einen eigenen Dialogregisseur (auch bei Filmen mit nur einer Version, aber verschiedensprachigen Darstellern gibt es gelegentlich zusätzliche Dialogregisseure). Bei ABENTEUER IN WIEN sollte das auch so gehandhabt werden. Als Regisseur für beide Fassungen wurde zunächst Gunther von Fritsch und als zusätzliche Dialogregisseurin für STOLEN IDENTITY Elizabeth Montagu engagiert. Die aus altem englischem Adel stammende Elizabeth Montagu (nach ihrer Heirat 1962 Elizabeth Varley, 1909-2002, nicht zu verwechseln mit einer anderen Elizabeth Montagu) führte ein äußerst abwechslungsreiches Leben. In einer Online-Notiz über ihre 2003 posthum erschienenen Memoiren "Honourable Rebel" heißt es: "Actress, fashion model, musician, journalist, war-time ambulance driver, spy, film writer, dialogue director and librettist, this is the long-awaited memoir of Beaulieu's reluctant debutante who exchanged a life of privilege for a colourful career in war-torn Europe." Das "spy" bezieht sich auf ihre Tätigkeit für den britischen Geheimdienst während des Zweiten Weltkriegs, und zwar in der Schweiz als Mitarbeiterin von Elizabeth Wiskemann. In der Schweiz lernte sie auch Lazar Wechsler kennen, einen der wichtigsten Schweizer Filmproduzenten. Durch ihn bekam sie 1945 eine Chance als Co-Autorin und Regieassistentin bei Leopoldt Lindtbergs DIE LETZTE CHANCE, darauf folgten Engagements als Dialogregisseurin in Filmen von Julien Duvivier, Alexander Korda und anderen Regisseuren, und sogar als Co-Regisseurin bei Lindtbergs DIE VIER IM JEEP (der wie DIE LETZTE CHANCE von Wechsler produziert wurde). Als 1951 DIE VIER IM JEEP gedreht wurde, kannte sie Wien schon: 1948 hatte sie Graham Greene beraten, als der vor Ort für sein Drehbuch zu THE THIRD MAN recherchierte, und bei den Dreharbeiten war sie auch Carol Reeds Beraterin. Nach ABENTEUER IN WIEN war Montagu noch bei drei weiteren Filmen Dialogregisseurin, darunter ES GESCHAH AM HELLICHTEN TAG, der auch wieder von Wechsler (zusammen mit Atze Brauner) produziert wurde. Montagus oben zitierte Bemerkung über Elizabeth Dickinson steht in ihren Memoiren.

Der Polizeikommissär (links), Krüger
Gunther (ursprünglich Günther) von Fritsch (1906-1988), in Pula im damals österreichisch-ungarischen (heute kroatischen) Istrien als Sohn eines Marineoffiziers geboren, besuchte nach seiner Matura in Wien die École Technique de Photographie et Cinématographie in Paris, und zwar gemeinsam mit Fred Zinnemann, mit dem er befreundet blieb. Beide gingen dann in die USA, und weil von Fritsch in seinem eigentlichen Metier als Kameramann wegen der Gewerkschaftsbestimmungen in Hollywood nicht arbeiten konnte, wurde er zunächst Regieassistent (gemeinsam mit Zinnemann 1930/31 bei zwei Filmen von Berthold Viertel) und Cutter (z.B. bei Zinnemanns erster amerikanischer Regie, dem in Mexiko gedrehten REDES). Als Regisseur drehte von Fritsch seit 1936 kurze Dokumentar- und Reisefilme. Seine Versuche, als Spielfilmregisseur Fuß zu fassen, waren dagegen von wenig Erfolg gekrönt. 1944 wurde er als Regisseur von THE CURSE OF THE CAT PEOPLE verpflichtet, einem Sequel zu Jacques Tourneurs Klassiker CAT PEOPLE, aber nach 18 Drehtagen wurde er durch Robert Wise ersetzt. So blieb das Musical CIGARETTE GIRL von 1947 seine einzige Spielfilmregie in alleiniger Verantwortung. Nach seinem glücklosen Ausflug nach Wien realisierte von Fritsch, wieder in den USA, etliche Folgen von Fernsehserien wie FLASH GORDON und angeblich 77 SUNSET STRIP (letzteres wird von der IMDb aber nicht bestätigt). - Gunther von Fritsch war mit Elizabeth Dickinson befreundet, und er wurde also zunächst als Regisseur für beide Versionen von ABENTEUER IN WIEN verpflichtet. Aber bald kamen Zweifel auf, ob er der komplexen Aufgabe, zwei Filme parallel zu inszenieren, gewachsen sein würde. So lehnte er einige frühe Drehbuchentwürfe ab, konnte das aber weder begründen noch Verbesserungsvorschläge machen. Deshalb wurde noch im November 1951 Emil-Edwin Reinert als weiterer Regisseur engagiert. Reinert sollte für die deutschsprachige Version zuständig sein, von Fritsch nur noch für die englischsprachige.

Die Flucht zu Fuß beginnt
Emil-Edwin Reinert (1903-1953) wurde in der Kleinstadt Rawa-Ruska in einer damals östereichisch-ungarischen und heute ukrainischen Ecke von Galizien geboren. Durch die politische Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg wurde er polnischer Staatsbürger. 1926 ging Reinert nach Frankreich, studierte in Grenoble und wurde Elektro- und Toningenieur, wodurch er schließlich zum Film kam - Regisseure wie Alexander Korda und Louis Mercanton engagierten ihn als Tontechniker (eine Victoria Mercanton war in den 40er Jahren Cutterin bei fünf von Reinerts Filmen - vielleicht eine Verwandte von Louis Mercanton). Ab 1932 drehte Reinert in Frankreich Kurzfilme, 1936 inszenierte er in England seinen ersten Spielfilm TREACHERY ON THE HIGH SEAS. Wieder zurück in Frankreich, drehte er LE DANUBE BLEU mit verschiedener Besetzung gleich zweimal hintereinander, weil die erste Version bei einem Brand im Entwicklungslabor zerstört wurde. Als der Film erschien, war Frankreich schon im Krieg und Reinert Soldat, und zwar, weil er noch polnischer Bürger war, in der polnischen Exil-Armee in Frankreich. 1940 wurde er verwundet und geriet in Gefangenschaft, konnte aber mit anderen Gefangenen fliehen und sich in die Schweiz durchschlagen, wo er interniert wurde. Die Internierung dauerte bis Kriegsende im Mai 1945, scheint aber nicht besonders streng gewesen zu sein, denn 1941 wirkte er als eine Art Supervisor bei DER DOPPELTE MATTHIAS UND SEINE TÖCHTER, der vom eher als Schauspieler bekannten Sigfrit Steiner inszeniert wurde.

Emil-Edwin Reinert, links 1948, rechts 1950 bei Dreharbeiten in Paris
(Fotos: aus Reinerts Nachlass, jetzt Public Domain)
Nach seiner Hochzeit mit einer Schweizer Violinistin kehrte Reinert nach Frankreich zurück, wurde französischer Staatsbürger, und seine produktivste Zeit begann: Von 1946 bis zu seinem Tod drehte er 12 Spielfilme - oder 14, wenn man ABENTEUER IN WIEN/STOLEN IDENTITY und den ebenfalls in zwei Sprachversionen entstandenen L'AIGUILLE ROUGE/VERTRÄUMTE TAGE (1951) jeweils als zwei Filme zählt. Außerdem war Reinert an dem als internationale Coproduktion realisierten Episodenfilm A TALE OF FIVE CITIES beteiligt. Darin reist ein unter Gedächtnisverlust leidender Brite, den es in die USA verschlagen hat, in fünf europäische Metropolen, um seiner eigenen Identität auf die Spur zu kommen. Reinert inszenierte das Pariser Segment, während Wolfgang Staudte für Berlin und Géza von Cziffra für Wien zustandig waren (sowie die mir unbekannten Romolo Marcellini für Rom und Tully Montgomery für London). ABENTEUER IN WIEN war nicht Reinerts erste Arbeit in Wien - hier hatte er 1951 schon hintereinander WIENER WALZER (mit Marte Harell und Adolf Wohlbrück in den Hauptrollen) und MARIA THERESIA (mit Paula Wessely in der Titelrolle) gedreht. Zu Reinerts mehrfachen Mitarbeitern in der Phase ab 1946 zählten neben der schon erwähnten Victoria Mercanton der russisch-jüdische Emigrant Jacques Companéez als Drehbuchautor (auch an Jean Renoirs LES BAS-FONDS (NACHTASYL) und Jacques Beckers CASQUE D'OR (GOLDHELM) beteiligt) sowie der aus Ungarn stammende Filmkomponist Joe Hajos. Hajos war auch als Komponist für ABENTEUER IN WIEN im Gespräch und wurde bereits von der Trans-Globe kontaktiert, aber dann erhielt doch Richard Hageman den Zuschlag.

Die Flucht geht weiter
Es arbeiteten nun also Reinert und Gunther von Fritsch parallel im Grunde am selben Film, und das ging nicht lange gut. Es kam zu Konflikten, und von Fritsch zog dabei den Kürzeren - vielleicht, weil Reinert künstlerisch überzeugender, auf jeden Fall aber, weil er durchsetzungsfähiger war. Nach weniger als der Hälfte der Drehzeit wurde daraus die Konsequenz gezogen, und von Fritsch wurde mehr oder weniger abgesetzt. Reinert war jetzt auch für die Regie von STOLEN IDENTITY zuständig, und von Fritsch war zwar noch bei den Dreharbeiten anwesend, hatte aber nichts mehr zu sagen. Die Credits für STOLEN IDENTITY bekam dennoch von Fritsch allein, Reinert blieb ungenannt. Trotzdem muss das für von Fritsch eine ziemlich frustrierende Erfahrung gewesen sein. Er hatte sich wohl von dem ambitionierten Projekt seinen Durchbruch als Spielfilmregisseur erhofft, aber unter den gegebenen Bedingungen konnte das nicht gelingen. Obendrein erhielt er auch noch viel weniger Honorar als Reinert: Von Fritsch bekam 45.000 Schilling plus wöchentliche Spesen von 1.500 Schilling, Reinert dagegen 25.000 Schweizer Franken plus 60.000 Schilling, was zusammen über 180.000 Schilling entsprach. Für Reinert brachte ABENTEUER IN WIEN aber auch kein uneingeschränktes Glück. Es war sein letztes Werk, und es wurde sogar behauptet, es habe ihn das Leben gekostet. Im Buch zum Film ist nämlich zu lesen, er sei bei den Dreharbeiten von einer Kameraplattform gestürzt und habe sich schwer verletzt, er habe den Film zwar noch vollenden können, sei aber im Jahr darauf an den Spätfolgen der Verletzung gestorben. In Wirklichkeit starb Reinert aber an Nierenkrebs, wie sein Sohn Jean-Michel Reinert auf Nachfrage bestätigt hat. Den Unfall gab es zwar, er war aber wohl doch nicht so dramatisch. Möglicherweise erfuhr Reinert erst durch die Untersuchungen nach dem Unfall von seiner Erkrankung. Auf jeden Fall kehrte er nach seinen drei Wiener Filmprojekten nach Frankreich zurück, wo er im Oktober 1953 starb.

Das einfache, langsam denkende Publikum


Die Drehbücher der beiden Fassungen waren, wie schon erwähnt, praktisch identisch, und das gilt weitgehend auch für die Szenenfolgen der beiden fertigen Filme. Mal ist in der einen und mal in der anderen Fassung eine Einstellung etwas länger, aber die grundsätzliche Abfolge ist gleich. Die wenigen nennenswerten Unterschiede beruhen nicht auf dem Buch oder der Inszenierung, sondern auf dem Schnitt. Das betrifft vor allem eine Szene, die sich nur in STOLEN IDENTITY findet: Nachdem Toni seinen Anruf bei der Polizei abgebrochen hat, verlässt er die Bar, doch auf der Straße patrouilliert gerade ein Streifenpolizist, der ihn ins Auge fasst. Deshalb geht Toni noch einmal in die Bar, um Zeit zu gewinnen. Dort wird er von einem betrunkenen amerikanischen Touristen angesprochen, der ihm ungefragt erklärt, man müsse in jedem Land die einheimischen Spezialitäten goutieren: In Frankreich etwa Cognac, Champagner und Mädchen, in Italien Spaghetti, Chianti und Mädchen, in Amerika Steaks, Waschmaschinen (sein Geschäft) und Mädchen, und in Österreich Wiener Schnitzel, Gebäck und ... nein, nicht Mädchen, wie man jetzt als Zuschauer erwartet, sondern Walzer. Und dann wird Toni zu einem Walzer mit der Freundin des Amerikaners genötigt. Diese schöne Szene wurde in ABENTEUER IN WIEN auf "Anregung" (das heißt auf Befehl) des deutschen Verleihs, der Herzog-Film GmbH in München, herausgeschnitten. Nach Ansicht einer Rohfassung fasste die Herzog-Film ihre "Anregungen" in einem Brief an die Schönbrunn-Film im Mai 1952 in 16 Punkten zusammen, die, soweit ersichtlich, auch alle umgesetzt wurden. Als Beispiel sei der Absatz zitiert, der die Bar-Szene betrifft:
[...]
Im einzelnen möchten wir u.a. Folgendes (leider nur unter dem Eindruck einer einmaligen Besichtigung stehend) zur Diskussion stellen:
[...]
7.) Die Szene mit den Amerikanern in der Bar kann wegfallen, zumal dadurch ein Tempogewinn entsteht. Toni Sponer kann gleich im Anschluß an das Telefongespräch das Lokal verlassen und draussen an seinem Wagen den betrunkenen Fahrgast finden und abfahren.
[...]
Wir bitten Sie um Beachtung unserer Anregungen, die auf diesem Wege übermitteln zu müssen, wir sehr bedauern. Wir sind überzeugt, daß durch sorgfältige Arbeit in Schnitt und Synchronisation die Wirkung des Filmes noch sehr gesteigert werden wird.

Wir begrüssen Sie und zeichnen mit vorzüglicher Hochachtung!
HERZOG-FILM GMBH.
(Unterschrift)
In diesem Brief findet sich übrigens auch der folgende schöne Satz: "Es muß dafür Sorge getragen werden, daß das einfache, langsam denkende Publikum die Handlung vollständig versteht und nicht Fehlschlüsse zieht und auf diese Weise verärgert ist und unbefriedigt bleibt."

Feuchtes Kopfsteinpflaster
Ein augenfälliger Unterschied zwischen ABENTEUER IN WIEN und STOLEN IDENTITY gründet nicht im Schnitt oder der Inszenierung: Donald Buka war 18 Jahre jünger als Gustav Fröhlich, und das sieht man auch. So wirkt Bukas Toni Sponer dynamischer als der von Fröhlich, aber Fröhlich ist viel glaubwürdiger als jemand, der seine letzte Chance ergreifen will - Buka traut man eigentlich noch viele Chancen zu. In der Handlung wurde der Altersunterschied übrigens reduziert: Der eine Toni ist 40, der andere 32. Joan Camden und Cornell Borchers dagegen waren im Alter nur vier Jahre auseinander, und sie sahen sich hier auch recht ähnlich. Camden hatte ein schmaleres Gesicht, aber die Statur war ähnlich und Frisur und Haarfarbe praktisch identisch. - Joan Camden (1929-2000) hatte vor STOLEN IDENTITY nur einen Filmauftritt, nämlich die weibliche Hauptrolle im semidokumentarischen Mafia-Krimi THE CAPTIVE CITY (STADT IM WÜRGEGRIFF) von Robert Wise. Nach ihrem Ausflug nach Wien folgten nur noch Nebenrollen in vier weiteren Spielfilmen, daneben hatte sie ungefähr 40 Auftritte in Fernsehserien. Donald Buka (1920-2009) kam in seiner immerhin deutlich länger dauernden Karriere seit 1943 auch nur auf neun Spielfilme, fast immer Nebenrollen, und zwar vor STOLEN IDENTITY mehrere Gangsterrollen hintereinander, so dass er nun froh war, auch einmal einen positiven Charakter darstellen zu dürfen. Daneben spielte auch er in Fernsehserien sowie am Theater. Camden und Buka waren also keine Stars - ganz im Gegenteil, auch in den USA waren sie 1952 ziemlich unbekannt. Es war Elizabeth Dickinsons Entscheidung, für diese Rollen keine klangvollen Namen zu verpflichten. - Cornell Borchers' (1925-2014) Karriere war ähnlich kurz wie die von Camden - sie dauerte von 1949 bis 1959 -, aber ungleich erfolgreicher. Nachdem sie von Arthur Maria Rabenalt zum Film geholt worden war, spielte sie nicht nur in deutschen und österreichischen, sondern durchaus erfolgreich auch in einem englischen (sie gewann dafür einen BAFTA Award) und mehreren Hollywoodfilmen, neben Stars wie Montgomery Clift (THE BIG LIFT, 1950), Rock Hudson (NEVER SAY GOODBYE, 1956) und Errol Flynn (ISTANBUL, 1957). Nach ABENTEUER IN WIEN spielte Borchers gleich nochmal mit Gustav Fröhlich, nämlich in HAUS DES LEBENS, und Fröhlich war ihr Regisseur in DIE LÜGE von 1950 (beide Filme gelten aber als ziemlich schlecht). Borchers' letzter Film war ARZT OHNE GEWISSEN (mit Helmuth Ashley an der Kamera), dann zog sie sich freiwillig ins Privatleben zurück.

Identische Einstellungen (links ABENTEUER IN WIEN, rechts STOLEN IDENTITY)
Gustav Fröhlich und Francis Lederer wurden noch im deutschen Stummfilm groß. Fröhlich (1902-1987) war seit 1922 beim Film, seine bekannteste Rolle war natürlich die in METROPOLIS. In den 30er Jahren blieb Fröhlich gefragt als jugendlicher Held und Liebhaber, aber nach dem Zweiten Weltkrieg ging es mit seiner Karriere etwas bergab. Doch 1951 spielte er neben Hildegard Knef die Hauptrolle in DIE SÜNDERIN, und der Skandal, der um diesen Film entfacht wurde, brachte auch Fröhlich wieder in die Schlagzeilen (wobei etwas unterging, dass er darin eine durchaus ansehnliche Leistung bot). Übrigens wurde auch DIE SÜNDERIN von der Herzog-Film verliehen, und man muss der Firma hoch anrechnen, dass sie sich von kirchlichen und politischen Kreisen nicht einschüchtern ließ, sondern den Film offensiv durchsetzte. Fröhlich drehte seinen letzten Kinofilm 1960, danach folgten noch einige Fernsehrollen. Parallel zu seiner Filmkarriere, und auch nach deren Ende, spielte er regelmäßig Theater. - Franz oder František Lederer (1899-2000) wuchs zweisprachig bei Prag auf. Nach Jahren am Theater kam er 1928 zum Film. Seine größte Stummfilmrolle war die an der Seite von Louise Brooks in DIE BÜCHSE DER PANDORA von G.W. Pabst. Über den Umweg von Bühnenengagements in London und (ab 1932) am Broadway gelang ihm der Sprung nach Hollywood, wo er sich (nun als Francis Lederer) fest etablieren konnte. 1939 wurde er amerikanischer Staatsbürger. Der Durchbruch zum ganz großen Star (den Irving Thalberg mit ihm vorhatte) gelang zwar nicht, aber Lederer spielte von 1934 bis 1959 in ungefähr 25 Hollywoodfilmen, ab 1948 auch in Fernsehfilmen, und daneben auch weiterhin am Theater. Lederer, der eine große und luxuriöse Ranch nordwestlich von Los Angeles bewohnte, betätigte sich auch erfolgreich als Immobilienmakler, übte verschiedene ehrenamtliche Positionen aus und wirkte bis ins hohe Alter als Schauspiellehrer.

Durchgänge und Stiegen
Die Grundstimmung von ABENTEUER IN WIEN ist zwar gedrückt, für eine kleine humoristische Einlage sorgt aber der Kabarettist Karl Farkas als gestresster Ober in der Bar, in der Toni telefoniert. Farkas' regelmäßiger Bühnenpartner Ernst Waldbrunn steht zwar auf einer internen Besetzungsliste, taucht aber im Film nicht auf. Fritz Eckhardt, damals auch noch eher als Bühnendarsteller und Kabarettist bekannt, spielt den Nachtportier in John Miltons Hotel. Hier konnte er sich schon mal auf seine spätere Serienhauptrolle in HALLO - HOTEL SACHER ... PORTIER! einstimmen und auch schon eine Spur Schmäh einbringen. An ungewohnter Stelle in den Credits scheint Nadja Tiller auf: Die zweifache Miss Austria hatte 1952 ihre Bühnen- und Filmlaufbahn bereits begonnen, aber in ABENTEUER IN WIEN spielt sie nicht mit, sondern sie war (gemeinsam mit einem Dr. Leo Bei) für die Kostüme verantwortlich.

Karl Farkas als Ober
Nicht wenige der Beteiligten an ABENTEUER IN WIEN stammten aus Österreich (bzw. aus dem Gebiet des seinerzeitigen Österreich-Ungarn), waren während der Zeit des Nationalsozialismus (oder auch schon vorher) emigriert, und nun wieder vorübergehend oder dauerhaft in Österreich versammelt: Vielleicht (oder vielleicht auch nicht) Ernest Müller, auf jeden Fall aber Turhan Bey und Friederike Selahettin, Reinert, von Fritsch, Robert Thoeren, Ernest Roberts; von den Darstellern Adrienne Gessner (die spätere Burgtheater-Doyenne war mit ihrem Mann Ernst Lothar in die USA emigriert; am Broadway spielte sie u.a. mit Marlon Brando), Francis Lederer, Manfred Inger, Karl Farkas und Franz Marischka (er spielt einen Passkontrolleur am Flughafen) - ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Angesichts dieser Häufung ist ABENTEUER IN WIEN schon als "Remigrantenfilm" bezeichnet worden. Im Buch vom Filmarchiv Austria wird die Sinnhaftigkeit dieses Begriffs aber bestritten, und Turhan Bey konnte im Interview 2005 nichts damit anfangen. Fest steht, dass es kein gezieltes Programm gab, vorwiegend Remigranten zu beschäftigen. Die österreichischen Darsteller mit Sprechrollen wurden nicht nur nach ihrer Eignung für die Rolle ausgesucht, sondern sie mussten auch ausreichende Englischkenntnisse vorweisen, um in beiden Versionen auftreten zu können. Dazu war es aber nicht nötig, im englischen oder amerikanischen Exil gewesen zu sein - in mittlerweile fast sieben Jahren Besatzungszeit konnte man auch in Österreich Englisch gelernt haben. Die frühere politische Einstellung der Betreffenden spielte auch keine Rolle. Neben Gegnern und Verfolgten des Nazi-Regimes konnten auch ehemals stramme Nazis wie Trude Marlen (sie spielt die Frau, die ihren Pelz mit Blut beschmutzt) bei ABENTEUER IN WIEN unterkommen. Gustav Fröhlich konnte man auch keine Regime-Ferne nachsagen. Trotzdem: In Anbetracht der Häufung entsprechender Lebensläufe, mag sie auch eher zufällig zustande gekommen sein, scheint mir die Bezeichnung "Remigrantenfilm" für ABENTEUER IN WIEN nicht ganz abwegig zu sein.

Eine Ruine - die einzige im Film
ABENTEUER IN WIEN lief (unter dem deutschen Verleihtitel GEFÄHRLICHES ABENTEUER) im August 1952 in der BRD an, in Österreich einen Monat später. STOLEN IDENTITY kam in den USA erst 1953 heraus. Die Reaktionen der österreichischen und deutschen Filmfachpresse waren weitgehend positiv, die in der allgemeinen Presse dagegen durchwachsen - neben Zustimmung gab es auch viel Ablehnung. Die im oben verlinkten Artikel über den "Remigrantenfilm" erhobene Behauptung, der Film sei komplett durchgefallen, hält aber der Realität nicht stand. Allgemein wurde Ashleys Kameraarbeit gelobt, oft auch die Leistungen der Schauspieler. In vielen Kritiken wurde - zuungunsten von ABENTEUER IN WIEN - der Vergleich zu THE THIRD MAN gezogen, aber wie oben schon ausgeführt, konnte das kein geeigneter Vergleichsmaßstab sein. STOLEN IDENTITY wurde von der amerikanischen Kritik offenbar kaum beachtet, aber immerhin ist eine verhalten wohlwollende Kritik in Varietyüberliefert.

Rast auf der Flucht
Aufgrund der mehrfachen Anläufe mit dem Drehbuch und eines schlampig erstellten Drehplans (was vor allem die Außenaufnahmen betraf) war es immer wieder zu Vezögerungen und dadurch zu starken Kostenüberschreitungen gekommen. Friederike Selahettin und Werner Kreidl verkauften sogar eines ihrer Kinos, um die gestiegenen Kosten zu decken. Für den schlechten Drehplan war Friedrich Erban verantwortlich, der offizielle Produktionsleiter, der diese Funktion aber kaum ausfüllte. Stattdessen nahm Carl Szokoll diese Pflichten wahr, der am Ende auch die Credits dafür erhielt. Die genauen Besucherzahlen von ABENTEUER IN WIEN sind nicht bekannt, aber übermäßig hoch waren sie wohl nicht - vielleicht auch, weil für eine ordentliche Werbekampagne kein Geld mehr da war. Jedenfalls konnten die Herstellungskosten nicht hereingespielt werden. Auch STOLEN IDENTITY war wohl kein Erfolg beim Publikum beschieden. Elizabeth Dickinson machte aber trotzdem einen guten Schnitt - jedenfalls, wenn man Ernest Roberts glauben darf. Da sich Ernest Müller, wie oben erwähnt, vertraglich abgesichert hatte, blieb der Verlust an Turhan Bey und seiner Mutter und an Werner Kreidl hängen. Ernest Roberts schreibt dazu in "Irrfahrten eines törichten Zeitgenossen" nicht ohne eine gewisse Häme: "Mit sicherem Instinkt rochen sämtliche alten Filmhasen Wiens, dass an dem Ding was zu kassieren war. Ganz Film-Wien stieß sich gesund daran, ausgenommen die beiden Produzenten, die allerdings niemand bedauerte. [...] Die Präsidentin [Dickinson] von ›Outer Space‹ veranstaltete noch eine illustre Abschiedsparty im ›Sacher‹ auf Kosten der Wiener, an der Hunderte teilnahmen, nahm das Negativ der englischen Version unter ihren rechten Arm, die Krokodilledertasche - inzwischen prall gefüllt - unter den linken und flog, hochzufrieden mit sich und ihren bewundernswerten Manipulationen gen ›Outer Space‹. [...] Ihre Mäzene dagegen gingen leer aus, sie sahen keinen Profit, weder die deutsche noch die englische Version reüssierte."

Am Flughafen Schwechat
ABENTEUER IN WIEN geriet schnell in weitgehende Vergessenheit. In Büchern zur österreichischen Filmgeschichte kam er höchstens als Randnotiz vor. Das änderte sich erst in den 90er Jahren. 1993 wurde ABENTEUER IN WIEN im Rahmen einer Retrospektive mit dem Titel "Aufbruch ins Ungewisse - österreichische Filmschaffende in der Emigration" bei der Viennale (in Anwesenheit von Lederer) gezeigt. 2005 erschienen beim Filmarchiv Austria beide Versionen des Films zusammen auf einer DVD (STOLEN IDENTITY ohne Untertitel). Beigelegt ist das schon mehrfach erwähnte Buch mit dem Titel "Austrian Noir". Auf ca. 180 Seiten beleuchten sechs österreichische und deutsche Autoren in acht Beiträgen verschiedene Aspekte des Films. Für den Teil, der sich mit der Produktionsgeschichte beschäftigt, wurden Turhan Bey, Helmuth Ashley und Wolfgang Glück (der eine kleine Rolle spielt und als Regie-Volontär hospitierte) interviewt, und es wurden Verträge, Korrespondenz und sonstige Unterlagen aus dem Nachlass der Schönbrunn-Film ausgewertet. In Deutschland wird dieses schöne Set in der Edition Filmmuseum vertrieben. ABENTEUER IN WIEN allein ist auch auf einer DVD der "Edition Der Standard" erhältlich.

Francis Lederer, Joan Camden und Emil-Edwin Reinert bei den Dreharbeiten
(Foto aus Reinerts Nachlass, jetzt Public Domain)

Der deutsche Expressionismus geht nach Hollywood

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THE CAT AND THE CANARY („Spuk im Schloss“)
USA 1927
Regie: Paul Leni
Darsteller: Laura La Plante (Annabelle West), Creighton Hale (Paul Jones), Flora Finch (Tante Susan), Tully Marshall (der Anwalt Roger Crosby), Martha Mattox (Mammy Pleasant, die gruselige Haushälterin), Forrest Stanley (Charles Wilder)

Cyrus West ist alt, reich und exzentrisch – und vielleicht etwas verrückt? Jedenfalls hinterlegt er ein Testament, das erst 20 Jahre nach seinem Tod geöffnet werden soll. Als diese Zeit verstrichen ist, versammeln sich die potentiellen Erben im großen Landhaus des Verstorbenen: die Neffen Harry Blythe, Charles Wilder und Paul Jones, die Schwester Susan Sillsby mit ihrer Tochter Cecily Young, und die Nichte Annabelle West. Dort werden sie von Cyrus Wests Anwalt Roger Crosby und der gruseligen Haushälterin Mammy Pleasant empfangen. Das Testament wird verlesen, und als alleiniger Erbe des West‘schen Vermögens wird der entfernteste Verwandte mit dem Namen „West“ bestimmt – also die junge Annabelle. Diese Bestimmung gilt nur unter der Bedingung, dass die geistige Gesundheit des Erbes festgestellt werden kann. Falls der Erbe verrückt sei, falle das Vermögen an eine genannte Person in einem zweiten Testament. Klingt einfach und schlüssig? Ist es auch... bis plötzlich der Anwalt mit dem zweiten Testament auf mysteriöse Weise verschwindet... und der Wachmann einer nahegelegenen Psychiatrie von einem entflohenen Patienten berichtet, der sich für eine Katze hält und gerne Mitmenschen wie Mäuse zerfleischt... das beunruhigt alle Anwesenden, aber besonders die sensible Annabelle wird nervlich stark belastet. Daraufhin hoffen Teile ihrer Verwandtschaft glühend darauf, dass sie ob der Ereignisse verrückt werden möge.

Paul Lenis THE CAT AND THE CANARY ist die erste Filmadaption eines Theaterstücks aus dem Jahre 1922. Der Autor John Willard wollte ursprünglich auf keinen Fall die Rechte an seinem Werk einem Hollywoodstudio verleihen, da er befürchtete, dass Filmzuschauer, die das Ende kannten, keine Lust mehr auf das Theaterstück hätten. Willard gab schließlich dem Drängen des Universal-Chefs Carl Laemmle nach. Nach Lenis Verfilmung folgten noch die erste Tonfilmadaption THE CAT CREEPS (1930), dessen spanischsprachige Version LA VOLUNTAD DEL MUERTO im gleichen Jahr, das enorm erfolgreiche THE CAT AND THE CANARY von 1939 mit Bob Hope und Paulette Goddard, der schwedische Fernsehfilm KATTEN OCH KANARIEFÅGELN von 1961, und schließlich 1978 eine britische, gleichnamige Adaption mit unter anderem Honor Blackman und Edward Fox.

Stilbildend wirkte Lenis THE CAT AND THE CANARY als Vorläufer des „haunted house“-Horrorfilms: einige meist untereinander unbekannte Leute finden sich für eine Nacht in einer (vielleicht?) spukenden Villa aus meist pekuniären Gründen ein, und nach und nach verschwinden einige von ihnen. Ein Szenario, das vielleicht in HOUSE ON HAUNTED HILL von 1959 seinen besten Ausdruck fand (zumindest musste ich bei der Sichtung immer wieder an Castles Film denken). THE CAT AND THE CANARY war auch ein früher Vertreter jener Horrorfilme, für die das Universal-Studio im Laufe der nächsten Jahrzehnte geradezu ikonisch stehen würde (als erste Universal-Horrorfilme gelten DR. JEKYLL AND MR. HYDE sowie der verschollene THE WEREWOLF von jeweils 1913).

Lenis Film ist aber auch dafür bekannt, dass er der Tendenz folgte, humorvolle und komödiantische Elemente in das Horrorgenre einzubringen. Mehr als der schwarze Humor, den man bei einem solchen Stoff eigentlich erwarten würde, entsteht die Komik vor allen Dingen durch die Figur des Paul Jones: außer der Alleinerbin Annabelle ist er der einzige aus der West-Verwandtschaft, der nicht vollkommen geldfixiert ist. Der junge, etwas pummelige Mann ist vielmehr in Annabelle verliebt (dass sie wohl seine Cousine ersten Grades ist, steht auf einem anderen Blatt), und gebärt sich als äußerst nervöser und ängstlicher Mensch. Es dann vor allem die sehr exaltierte Darstellung Creighton Hales in Kombination mit teils überstrapazierten Zwischentiteln, die für Komik sorgen soll. Inwiefern dies gelungen ist, sei dahingestellt. Ich persönlich fand einige der Witze ganz lustig, viele andere eher bemüht und deplatziert..

Der Reiz von THE CAT AND THE CANARY liegt freilich auch im visuellen Bereich. Besonders beeindruckend ist Gilbert Warrentons Fotografie mit der expressiven chiaroscuro-Lichtsetzung, die meisterhaft ein „state of art“ der entfesselten Kamera präsentiert. Diese verwandelt sich in einigen Momenten regelrecht in eine Protagonistin: zu Beginn des Films irrt sie durch die langen Gänge des gruseligen Landhauses und „blickt“ nervös suchend, geradezu manisch durch die Umgebung. Das wird zwar damit erklärt, dass es sich um den Geist Wests handeln könnte, aber wir wissen, dass es in diesem Film keine richtigen Geister gibt. Daher würde ich dezidiert dafür plädieren, es als „point of view“ der Kamera zu sehen: die Kamera hat sich vom Stativ befreit, und befreit sich auch von der Verpflichtung, die Filmhandlung zu bebildern. Edgar Ulmer verwendet in einer Szene diese „autonome“ Kamera 1934 in THE BLACK CAT und bei Dario Argento wurde sie quasi zu einem Markenzeichen. Von Lenis THE CAT AND THE CANARY zum Giallo der 1970er ist es übrigens gar nicht so weit: zu Beginn legt eine unbekannte Person mit schwarzen Handschuhen einen Brief in den Cyrus Wests Safe. Ein sehr frühes Proto-Giallo-Motiv, gefilmt mit Handkamera. In Spannungs- und Terrormomenten fährt die Kamera mit hoher Geschwindigkeit frontal in Richtung der schreienden Gesichter: in einem mitteleuropäischen Genrefilm der 1960er oder 1970er Jahre wäre das wohl mittels eines Reisszooms gemacht worden. In einer weiteren denkwürdigen Szene nimmt die Kamera die Perspektive eines Portraits ein, der von der Wand herunterfällt – abgebildet ist Cyrus West. Wir sehen also die überraschte und erschrockene Erbgemeinschaft durch die Augen des Portrait-West (den „point-of-view“ eines scheinbar „beseelten“ Gemäldes nutzte später Max Ophüls auch außerhalb eines  Horrorkontexts in LA SIGNORA DI TUTTI).

Auch mit einigen recht gelungenen Spezialeffekten kann THE CAT AND THE CANARY aufwarten. Erwähnt sei hier die effektvoll eingesetzte Mehrfachbelichtung, als der alte und gebrechliche Cyrus West in einer Art Delirium durch ein Dekor überdimensionierter Medizinflaschen torkelt und dabei von riesigen Katzen gejagt wird (was der Geschichte den Titel verleiht: er fühlt sich von seinen geldgierigen Verwandten so bedrängt wie ein Kanarienvogel von einer Katze). Des weiteren spielt der Film auch an spannenden Stellen mit seinen Zwischentiteln: diese „zittern“ dann wie eine Spiegelung auf einer bewegten Wasseroberfläche (bzw. eben wie die angsterfüllten Protagonisten).

Überhaupt ist THE CAT AND THE CANARY ein extrem „filmischer“ Film. Davon, dass er eine Bühnenadaption ist, findet sich bis auf den einheitlichen Schauplatz keine Spur. Wie toll er inszeniert ist, konnte man in einigen wenigen Augenblicken auch noch 2014 in einer öffentlichen Kinovorführung merken. Ich saß also am Abend des 26. Oktobers dieses Jahres im Weimarer Lichthaus, und der rekordverdächtig gefüllte Saal erreichte bisweilen den Gelächterpegel, den man eher in einer Keaton-Vorführung erwarten würde: eine relativ große Fraktion des Publikums lachte immer wieder über das manierierte und expressive Spiel der Darsteller, und besonders laut bei Stellen, die gemeinhin als „goofs“ bezeichnet werden (Schauspieler laufen mit Kerzenleuchtern herum und schleifen leicht bemerkbar Elektrokabel am Boden hinter sich her). Als jedoch eine in der Wand versteckte Tür aufging und Roger Crosbys Leiche völlig unerwartet auftauchte und zu Boden fiel, lachte tatsächlich niemand – vielmehr ging sogar eine kollektive Schnappatmung durch den Saal. Dieser tolle filmische Schock war effizient und modern genug inszeniert, um auch jene heutigen Zuschauer zu schockieren, die mit einem recht beachtlichen Maß an Zynismus an alte Filme herangehen. Wie dieser Schock 1927 gewirkt haben muss? „Must have scared the shit out them“ würde man auf Englisch dann wohl sagen.

THE CAT AND THE CANARY gehört auch zur Geschichte des deutschen Expressionismus, der nach Hollywood geht: personell, ästhetisch – und intertextuell. Auf mindestens zwei große Klassiker des deutschen Expressionismus (also in Deutschland) spielt Lenis Film an. Zum einen taucht mitten im Chaos aus verschwundenen und ermordeten Personen scheinbar aus dem Nichts eine besonders skurrile Figur auf: es ist der Arzt, der gemäß Testament die geistige Gesundheit des designierten Erben bestätigen soll. Diese Figur, gespielt vom gebürtigen Texaner Lucien Littlefield, sieht fast genauso aus wie Werner Krauß‘ Titelfigur aus DAS CABINET DES DR. CALIGARI: eine Erscheinung, die mindestens so beunruhigend ist wie die gruselige Haushälterin – Annabelle ist bei der Untersuchung entsprechend nervös und verhält sich dann auch nicht so, dass man ihr 100%-ig geistige Gesundheit bescheinigen könnte. Einige Augenblicke vorher hatte sie sich schlafen gelegt. Doch ihre nächtliche Ruhe wurde gestört, als eine haarige Hand mit langen spitzen Fingern anfing, über ihr Gesicht zu huschen: eine schöne Hommage an die ikonische Szene in NOSFERATU, in der Graf Orloks Hand als Schatten über Ellens Körper huscht und ihr Herz (bzw. ihren Busen) ergreift. Die erotische Aufladung fehlt bei THE CAT AND THE CANARY: hier greift die Hand nach Annabelles wertvoller Halskette.

Diese Verbindung ist natürlich kein Zufall, denn mit Paul Leni folgte ein weiterer Vertreter des deutschen expressionistischen Film dem Ruf in die USA (Leni und NOSFERATU-Regisseur Friedrich Wilhelm Murnau drehten jeweils etwa zeitgleich ihren Hollywood-Einstand, und SUNRISE: A SONG OF TWO HUMANS hatte seine US-Premiere exakt zwei Wochen nach THE CAT AND THE CANARY). Leni, 1885 in Stuttgart geboren, war von Haus aus Maler, und kam wie viele Stummfilmkünstler vom Theater her, wo er Bühnenbilder konzipierte, zum Kino. Hier machte er sich besonders als Setdesigner einen Namen, und arbeitete mit Regisseuren wie Joe May, Ernst Lubitsch, Max Mack, Ewald André Dupont, Alexander Korda und Michael Kertész (später Michael Curtiz) zusammen. Seinen ersten Film als Regisseur drehte Leni schon 1916, doch zu besonderer Aufmerksamkeit gelangte 1923 DAS WACHSFIGURENKABINETT. Dieser Film hat nicht nur Sergei Eisenstein bei der Darstellung Ivans des Schrecklichen im Zustand des Wahnsinns inspiriert, sondern ist wohl auch der Grund dafür, dass Universal-Chef Carl Laemmle den gebürtigen Stuttgarter nach Hollywood einlud.

THE CAT AND THE CANARY lief in den USA sehr erfolgreich, und lockte auch in Deutschland, Österreich, Frankreich und Italien die Zuschauer massenhaft ins Kino. Während in der neuen Welt der Film auch von den Filmkritikern wohlwollend bis begeistert aufgenommen wurde, waren die Besprechungen in der deutschen Fachpresse eher ambivalent. Willy Haas, seines Zeichens nicht nur Filmkritiker beim „Film-Kurier“, sondern auch Drehbuchautor für Murnau (DER BRENNENDE ACKER) und Georg Wilhelm Pabst (u. a. für DIE FREUDLOSE GASSE), vergiftete ein großes Lob mit ätzendem Spott:

„Interessant, spannend, direkt kriminalpsychologisch fesselnd ist für mich an dieser Sache eigentlich nur eines: wieso das feinste, ästhetisch differenzierteste, gepflegteste, bis zum Snobismus raffinierteste Talent des deutschen Films, Paul Leni, ausgerechnet mit solchem Kriminalkitsch in Hollywood debütiert; warum er sich mit einer Versessenheit, einer leidenschaftlichen, gequälten, skrupulösen Hingabe, die man jeder Einstellung, jedem Ausschnitt, jeder der unendlich originell und skurril erdachten Dekorationen, jeder der zauberhaften Licht- und Schattenwirkungen, jedem Photographietrick, jedem Möbelstück, jeder Schauspielermaske ansieht – warum er sich mit dieser unersättlichen, gierigen, maßlosen Arbeitsfuries ausgerechnet in einen solchen Kriminalkitsch hineinkniet?“ 
Es ist wohl nicht völlig abwegig, in diesem Zitat eine gewisse (wohlweislich selektive) Schmähung von Genrefilmen herauszulesen, die gerade auch in Deutschland bis heute nachwirkt. Inwiefern auch ein dezidierter Antiamerikanismus in Willy Haas‘ Aussage mitschwingt, muss unklar bleiben (Haas verbrachte in der Nazi-Ära sein Exil in der Tschechoslowakei und dann in Indien, nicht in den USA – aber das muss nichts heissen, denn die meisten Emigranten haben ihre Aufenthaltsorte natürlich eher nach pragmatischen Möglichkeiten als nach Vorlieben ausgesucht).
Was man in Deutschland über seinen US-Einstand dachte, musste Leni aber nicht weiter kümmern, denn in den Staaten drehte er weiter Filme für Universal. THE CHINESE PARROT gilt heute als verschollen und war der zweite Film um den chinesischen Detektiven Charlie Chan – eine Reihe, die überaus erfolgreich sein würde. In THE MAN WHO LAUGHS, der Verfilmung eines Romans von Victor Hugo, demonstrierte Leni wieder sein Gespür für die Kombination aus Groteskem, Horrorelementen und expressionistischer Gestaltung. Die Geschichte um einen Mann mit einer Verstümmelung, die sein Gesicht zu einem permanenten Grinsen entstellt, kam weniger gut an als THE CAT AND THE CANARY: es wurde unter anderem das „zu deutsch“ aussehende Setting bemängelt. Der Film beeinflusste später aber so unterschiedliche Regisseure wie Sergio Corbucci und Brian De Palma, und die Ikonografie seiner von Conrad Veidt gespielten Titelfigur inspirierte wahrscheinlich maßgeblich die zwölf Jahre später geschaffene Figur des Jokers. Mit THE LAST WARNING sollte 1929 an den Erfolg von THE CAT AND THE CANARY angeknüpft werden: eine ähnliche Mystery-Handlung wurde vom Landhaus in ein Theater verlegt.

Paul Leni hatte sich in nicht einmal zwei Jahren als der Horrorspezialist von Universal schlechthin etabliert. Ende der 1920er Jahre kaufte das Studio die Rechte an der Verfilmung von Bram Stokers Roman „Dracula“ bei den Erben des Autoren (und vermied so vorsorglich Copyright-Probleme, die bei NOSFERATU nach dem Dreh entstanden waren). Offenbar war wohl geplant, dass Leni die Regie übernehmen würde, und der Deutsche Conrad Veidt, der schon die Titelfigur von THE MAN WHO LAUGHS gespielt hatte, sollte den titelgebenden Blutsauger spielen. Doch der Regisseur starb im September 1929 mit gerade einmal 44 Jahren unerwartet an einer Blutvergiftung, und das „Dracula“-Projekt wurde später in anderer personeller Besetzung realisiert (mit Karl Freund an der Kamera, also ebenfalls unter maßgeblicher mitteleuropäischer Beteiligung mit expressionistischem Hintergrund). Leni verstarb mitten in einer vielversprechenden Karriere viel zu früh: ein Schicksal, das ein wenig dem Friedrich Wilhelm Murnaus ähnelt.


Zur Überlieferung von THE CAT AND THE CANARY

Das Negativ von THE CAT AND THE CANARY (bzw. die zwei Negative: eins für die US-Kopien, eins für die ausländischen Kopien) wurde in den 1930er Jahren vom Universal-Studio vernichtet: ein Schicksal, das in dieser Zeit auch viele andere Universal-Stummfilme betraf. Archiviert wurden lediglich 16mm-Kopien.
In den 2000er Jahren wurde der Film zwei Mal restauriert. Einmal 2003 durch das Filmmuseum München anhand einer unvollständigen niederländischen 35mm-Nitrokopie, deren fehlenden Teile (und die Zwischentitel) aus einer vollständigen 16mm-Kopie im Blowup-Verfahren ergänzt wurden. Das bedeutet, dass die Momente, die der 16mm-Kopie entnommen sind, in verhältnismäßig schlechterer Qualität und leicht unscharf sind (was man z. B. auch aus der 2010er-Restauration von METROPOLIS kennt). 2004 restaurierte die britische Gesellschaft Photoplay Productions THE CAT AND THE CANARY auf Basis einer unvollständigen dänischen Nitrokopie, deren fehlende Teile ebenfalls mit einer 16mm-Kopie ergänzt wurden. Diese zwei Restaurationen beruhen auf Nitrokopien, die jeweils aus einem der beiden Negative gezogen wurden. Welche Kopie welchem Negativ zugeordnet werden kann, ist heute nicht mehr nachvollziehbar.
Die Photoplay-Restauration ist auf einer DVD von Kino in den USA veröffentlicht worden. THE CAT AND THE CANARY ist in den Vereinigten Staaten gemeinfrei, so dass hier teilweise auch ziemlich ramschige Editionen, teils aus fragmentarischen 8mm-Kopien gezogen, im Umlauf sind. Es gibt auch eine spanische DVD-Edition, die den Film einmal in einer viragierten, unrestaurierten Fassung und einmal in einer restaurierten Sepiafassung enthält – beide offenbar mit unterschiedlichen Laufzeiten –, aber um welche Restauration es sich bei der Sepiafassung handelt, kann ich nicht sagen (vermutlich um die Photoplay-Version). In Frankreich gibt es seit just einigen Tagen den Film ebenfalls auf DVD: ob restauriert oder nicht, ist schwer zu sagen, aber auf jeden Fall offenbar in einer falschen und viel zu langsamen Abspielgeschwindigkeit (wohl irgendetwas bei 18 oder sogar nur 16 Bildern pro Sekunde statt den originalen 24). Eine „edizione restaurata“ gibt es in Italien zu erwerben, aber auch hier ist unklar, in welcher Fassung (auch hier wahrscheinlich die Photoplay-Version).
Alles ziemlich verwirrend und unklar, nicht wahr? Stummfilme und ihre Überlieferung sind eben oft eine komplizierte Angelegenheit. Ich meinerseits habe am 26. Oktober im Weimarer Lichthaus-Kino eine 35mm-Kopie aus dem Münchner Filmmuseum in besagter Münchener Restaurierung gesehen. Dies verdankten die Zuschauer dem Einsatz (und den guten Beziehungen) des Weimarer Stummfilmpianisten Richard Siedhoff, denn das Filmmuseum München leiht seine Kopien eigentlich nicht an reguläre Kinos. Siedhoff, der den direkten Vergleich mit der Photoplay-Restaurierung hat, schätzt die Münchener Fassung von THE CAT AND THE CANARY als die bildqualitativ bessere Restaurierungsversion ein. Meiner Einschätzung nach schwankte die Bildqualität irgendwo zwischen „relativ gut“ und „mittelmäßig“ (abgesehen von „geht gerade so“-Momenten bei den deutlich sichtbaren 16mm-Inserts). Kurz: andere restaurierte Stummfilme sehen (nicht zuletzt auch dank besserer Überlieferung) wesentlich klarer aus. Die Münchener Fassung hat es wahrscheinlich nicht auf DVD geschafft, sondern allerhöchstens zu einer arte-Ausstrahlung im Januar 2006.
Diese Besprechung hat keine Screenshots, weil sie im wesentlichen auf meiner Sichtung im Kino beruht. Auf die Kürze war eine DVD nicht zu besorgen (zumal ich völlig unschlüssig bin, welche Edition ich nehmen sollte). Screenshots aus Fassungen bei youtube kamen aufgrund der miserablen Bildqualität der dort vorhandenen Versionen nicht in Frage.

Großstadt-Kammermusik

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Großstadt-Kammermusik? Was ist das nun wieder? Dasselbe wie eine Großstadtsinfonie, nur in kleinerer Form. Das Genre der Großstadtsinfonie (oder, je nach Geschmack, Großstadtsymphonie, engl. city symphony) hat seinen Namen von Walther Ruttmanns BERLIN - DIE SINFONIE DER GROSSTADT (1927), von dem auch ungefähr ein halbes Dutzend anderer Schreibweisen existieren. Der Film zeichnet den Verlauf eines beliebigen Werktags in Berlin nach, ohne individuelle Charaktere - die Stadt selbst und ihre anonymen Bewohner sind die Hauptdarsteller, in fast vollständig dokumentarischen Aufnahmen, zu einem beträchtlichen Teil mit versteckter Kamera gedreht (zwei oder drei Szenen, darunter der Selbstmord einer Frau, wurden aber von Ruttmann inszeniert). Dazu die bewegungs- und schnittsynchrone Originalmusik von Edmund Meisel, die den Film erst zu einer "Sinfonie" machte. Das Prinzip, dem Lauf eines Tages vom Morgengrauen bis in die Abend- oder Nachtstunden hinein zu folgen, wurde auch von anderen Filmen dieses Genres verwendet, wobei Ruttmanns BERLIN nicht der erste Vertreter war. Schon 1921/22 entwickelte László Moholy-Nagy, damals in Berlin und wenig später für einige Jahre als Lehrer am Bauhaus, konkrete Pläne für einen solchen Film mit dem Titel DYNAMIK DER GROSS-STADT, unter Mitarbeit des mit ihm befreundeten Carl Koch (Ehemann und enger Mitarbeiter von Lotte Reiniger sowie Freund und Mitarbeiter von Jean Renoir, siehe dazu hier im letzten Absatz). Doch Moholy-Nagy und Koch bekamen das Geld dafür nicht zusammen. In seinem 1925 erschienenen Buch "MALEREI FOTOGRAFIE FILM" (das auch eine Art Storyboard des Films enthält) schreibt Moholy-Nagy:
Wir [er und Koch] sind leider bis heute nicht dazu gekommen; sein Film-Institut hatte kein Geld dafür. Größere Gesellschaften wie die UFA wagten damals das Risiko des bizarr Erscheinenden nicht; andere Filmleute haben "trotz der guten Idee die Handlung [Hervorhebung im Buch] darin nicht gefunden" und darum die Verfilmung abgelehnt. [...]

Der Film "Dynamik der Groß-Stadt" will weder lehren, noch moralisieren, noch erzählen; er möchte visuell, nur visuell wirken. Die Elemente des Visuellen stehen hier nicht unbedingt in logischer Bindung miteinander; trotzdem schließen sie sich durch ihre fotografisch-visuellen Relationen zu einem lebendigen Zusammenhang raumzeitlicher Ereignisse zusammen und schalten den Zuschauer aktiv in die Stadtdynamik ein. [...]

Ziel des Filmes: Ausnutzung der Apparatur, eigene optische Aktion, optische Tempogliederung, - statt literarischer, theatralischer Handlung: Dynamik des Optischen. Viel Bewegung, mitunter bis zur Brutalität gesteigert. Die Verbindung der einzelnen, "logisch" nicht zusammengehörenden Teile erfolgt entweder optisch, z.B. mittels Durchdringung oder durch horizontale oder vertikale Streifung der Einzelbilder (um sie einander ähnlich zu machen ), durch Blende (indem man z.B. ein Bild mit einer Irisblende schließt und das nächste aus einer gleichen Irisblende hervortreten läßt) oder durch gemeinsame Bewegung sonst verschiedener Objekte, oder durch assoziative Bindungen.
Zumindest auf dem Papier sind hier schon Elemente der Großstadtsinfonien vorweggenommen, und in der 1927 erschienenen zweiten Auflage des Buchs merkt Moholy-Nagy an, dass Ruttmanns soeben herausgekommener BERLIN "ähnliche Bestrebungen" wie sein eigenes Projekt verfolge. - Als erste tatsächlich gedrehte Großstadtsinfonie wird meist RIEN QUE LES HEURES bezeichnet, den der vorwiegend in Frankreich und England arbeitende Brasilianer Alberto Cavalcanti 1926 in Paris drehte. 1928 bekam Paris mit ÉTUDES SUR PARIS von André Sauvage einen weiteren Film aus diesem Bereich spendiert, und schon im Jahr zuvor, ungefähr zeitgleich mit Ruttmann, inszenierte der Kameramann Michail Kaufman (der Bruder von Dsiga Wertow und Boris Kaufman) gemeinsam mit einem Ilja Kopalin MOSKAU. Weitere Filme, die man zumindest ansatzweise als Großstadtsinfonien bezeichnen kann, entstanden etwa in Sao Paolo und anderswo. Als zweiter und letzter Höhepunkt des Genres nach BERLIN gilt DER MANN MIT DER KAMERA, den Dsiga Wertow (mit Michail Kaufman an der Kamera) 1929 inszenierte. Allerdings ist dieser Film keiner bestimmten Stadt gewidmet, sondern er wurde in mindestens drei verschiedenen Städten gedreht. - In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war New York City zweifellos die Metropole schlechthin, aber ausgerechnet dort entstand merkwürdigerweise keine echte Großstadtsinfonie. Was es aber gab, war eine ganze Reihe von kleineren Filmen, die das eine oder andere charakteristische Element aufwiesen, die nicht individuelle Charaktere (seien sie real oder fiktiv) in den Mittelpunkt rückten, sondern die Architektur, die Verkehrsmittel, die Bevölkerung als anonyme Masse - eben keine Großstadtsinfonien, sondern Großstadt-Kammermusik. Mal stand der dokumentarische Blick im Vordergrund (ohne dass es sich um Dokumentarfilme im engeren Sinn handelte), mal eine lyrische Stimmung oder formale Experimente. Was nun folgt, ist eine natürlich unvollständige und subjektive Auswahl. Die ersten vier Beispiele entstanden als Stummfilme und sind hier mit modernen Soundtracks versehen.



MANHATTA (auch NEW YORK THE MAGNIFICENT)
USA 1921
Regie: Charles Sheeler und Paul Strand

Nein, da fehlt kein N - der Titel lautet wirklich so.



Charles Sheeler (1883-1965) war ein Maler (in einem "präzisionistischen" Stil) und Fotograf, Paul Strand (1890-1976) ein Fotograf und dokumentarischer Kameramann. Er arbeitete nicht nur für Wochenschauen, sondern er war auch Mitglied in den linken Filmkooperativen Nykino und Frontier Films, die aus der 1930 gegründeten Workers' Film and Photo League hervorgegangen waren. Für Sheeler dagegen war MANHATTA der einzige Ausflug zum Film. Die poetischen Texte der Zwischentitel stammen von Walt Whitman. MANHATTA wurde ungeachtet seiner Kürze gelegentlich als erste Großstadtsinfonie überhaupt bezeichnet. Egal wie man dazu steht - ein wichtiger Vorläufer war er in jedem Fall.



TWENTY-FOUR DOLLAR ISLAND
USA 1927
Regie: Robert Flaherty



TWENTY-FOUR DOLLAR ISLAND ist offensichtlich von MANHATTA beeinflusst - nicht nur einige Einstellungen, auch das ganze Konzept ist recht ähnlich. Robert J. Flaherty (1884-1951) wird oft als Vater des Dokumentarfilms bezeichnet. Zwar gab es auch schon vor ihm Dokumentarfilme, auch in seinem Spezialgebiet, dem Ethno-Dokumentarfilm (etwa IN THE LAND OF THE HEAD HUNTERS aka IN THE LAND OF THE WAR CANOES von Edward Sheriff Curtis, 1914), aber mit seinem Erstling NANOOK OF THE NORTH (1922) trug er maßgeblich dazu bei, den Dokumentarfilm als eigenständiges Genre zu etablieren. Obwohl er vor allem, wie gerade erwähnt, mit Ethno-Filmen assoziiert wird, filmte er auch die moderne industrielle Welt (nach TWENTY-FOUR DOLLAR ISLAND z.B. - in Zusammenarbeit mit John Grierson - INDUSTRIAL BRITAIN.



SKYSCRAPER SYMPHONY
USA 1929
Regie: Robert Florey



Hier also doch noch eine "Symphonie", zumindest dem Titel nach. Der Franzose Robert Florey (1900-1979) ging 1921 in die USA und landete bald in Hollywood. Nach Jahren als Regieassistent bei Studios wie Fox und MGM wurde er in den späten 20er Jahren zu einem Grenzgänger zwischen dem amerikanischen Independent- und Avantgardefilm einerseits und Hollywood andererseits. Auf der Independent-Seite inszenierte er - in Zusammenarbeit mit Leuten wie Slavko Vorkapich, Gregg Toland oder William Cameron Menzies - den grandiosen THE LIFE AND DEATH OF 9413, A HOLLYWOOD EXTRA, den komplett expressionistischen THE LOVE OF ZERO, den leider verschollenen JOHANN THE COFFINMAKER, und eben die SKYSCRAPER SYMPHONY. Auf der kommerziellem Seite drehte er (zusammen mit einem Joseph Santley) den Marx-Brothers-Film THE COCOANUTS. Danach war er an den Vorbereitungen zu FRANKENSTEIN beteiligt und sogar als Regisseur im Gespräch. Als James Whale den Zuschlag erhielt, durfte Florey zum Ausgleich mit Bela Lugosi die Poe-Verfilmung MURDERS IN THE RUE MORGUE machen. Dieser ebenfalls stark vom Expressionismus beeinflusste Film geriet im Gegensatz zu FRANKENSTEIN zu keinem überragenden Erfolg, und Florey blieb der große Durchbruch versagt. So schlug er schließlich eine Karriere als zuverlässiger B-Film-Regisseur und ab den 50er Jahren als Fernsehregisseur ein.



A BRONX MORNING
USA 1931
Regie: Jay Leyda



Hier nun ein "privaterer" Film, der sich auf ein Stadtviertel beschränkt und näher an den Menschen dran ist als die drei vorherigen Filme. Dass Leydas Blick auch vor dem Rinnstein und Mülltonnen nicht Halt macht, erinnert etwas an den 1930 entstandenen À RROPOS DE NICE (APROPOS NIZZA) von Jean Vigo (Regie) und Boris Kaufman (Kamera). Ob Leyda den kannte, weiß ich aber nicht. Jay Leyda (1910-1988) kam aus einem ähnlichen Umfeld wie Paul Strand: Er war ziemlich weit links und Mitglied der Workers' Film and Photo League und von Frontier Films. A BRONX MORNING war sein einziger Film in alleiniger Regie (1937 inszenierte er gemeinsam mit Elia Kazan, damals am Group Theatre, und zwei Kollegen von Frontier Films seinen zweiten und letzten Film). Nach A BRONX MORNING ging Leyda nach Moskau, um an der staatlichen Filmhochschule WGIK zu studieren, wo er sich mit Sergej Eisenstein befreundete. Leyda war an den Dreharbeiten zu Eisensteins DIE BESHIN-WIESE beteiligt, der aber von den stalinistischen Filmbürokraten abgebrochen wurde und unvollendet blieb. Leyda entwickelte sich zu einem profunden Kenner des sowjetischen und später auch des chinesischen Films und schrieb für den englischen Sprachraum bahnbrechende Bücher darüber. Nach längeren Aufenthalten in England, China und der DDR kehrte er um 1970 endgültig in die USA zurück, wo er als Dozent für Film an verschiedenen Hochschulen wirkte. Neben seinen filmhistorischen Aktivitäten publizierte er auch Bücher über Herman Melville, Emily Dickinson, Modest Mussorgski und Sergej Rachmaninow.



3rd AVE. EL
USA 1955
Regie: Carson Davidson



Die Third Avenue El von Manhattan in die Bronx war eine der New Yorker Hochbahnen, die in unzähligen Filmen und Fernsehsendungen zu sehen sind. 1955 stellte sie in Manhattan den Betrieb ein (in der Bronx erst 1973), und aus diesem Anlass wurde sie noch mehrfach im Film festgehalten - außer in 3rd AVE. EL beispielsweise auch in THE WONDER RING und GNIR REDNOW. Carson "Kit" Davidson ist ein vielfach ausgezeichneter, aber wenig bekannter Regisseur. Die Welt des Films hat er längst hinter sich gelassen, stattdessen arbeitet er seit vielen Jahren im Feld der Medizinpublizistik. Nachdem er sich in jungen Jahren als Neuankömmling in New York vom Tellerwäscher zum Mädchen für alles in einer Filmfirma gesteigert hatte (was man hier in seinen eigenen Worten nachlesen kann), drehte er 3rd AVE. EL mit einer geborgten Kamera in Eigeninitiative und versuchte zunächst vergeblich, einen Verleih dafür zu finden, bis ein "verrückter Russe", der ein Kino besaß, als letzter auf Davidsons Liste ein Einsehen hatte und den Film monatelang als Vorfilm zeigte. Es hat sich gelohnt, vor allem für Davidson, denn 3rd AVE. EL wurde für den Oscar nominiert und gewann diverse Preise. Die Musik stammt von Haydn, Solistin ist die polnisch-jüdische Cembalistin und Pianistin Wanda Landowska, die 1941 von Frankreich in die USA geflüchtet war. Sie mochte eigentlich überhaupt keine Filme, aber mit 200 Dollar konnte sie überzeugt werden, Davidson die Rechte zu überlassen. Neben der Fahrt mit der Hochbahn bilden die Versuche, eine verlorene Münze zu bergen, eine Klammer des Films. Damit stellte sich Davidson (vermutlich unbewusst) auch in die Tradition des deutschen "Querschnittfilms" der 20er Jahre, etwa DIE ABENTEUER EINES ZEHNMARKSCHEINES von Berthold Viertel, wodurch auch ein Anknüpfungspunkt zu Ruttmanns BERLIN besteht. - Carson Davidson war zwar hauptsächlich auf dem Gebiet des Dokumentar- und Industriefilms tätig, aber mit HELP, MY SNOWMAN'S BURNING DOWN gelang ihm auch ein witziger Ausflug in den Surrealismus. Auch dieser Film war für den Oscar nominiert, und er gewann über ein Dutzend Preise, darunter einen in Cannes. Weitere Filme von Davidson findet man bei archive.org und YouTube. - Die Bilder aus 3rd AVE. EL wurden für mindestens zwei Musikvideos verwendet, siehe hier und hier.



Den nächsten Film sehen wir gleich zweimal, mit zwei verschiedenen Soundtracks.

BRIDGES-GO-ROUND
USA 1958
Regie: Shirley Clarke



Shirley Clarke (1919-1997) ist vor allem für ihre in einem dokumentarischen Stil inszenierten Spielfilme THE CONNECTION und THE COOL WORLD bekannt, die vom Geist des Direct Cinema beeinflusst sind (Clarke hatte zuvor auch mit Richard Leacock und D.A. Pennebaker gearbeitet), ohne wirklich dokumentarisch zu sein (es ist alles penibel durchinszeniert), sowie für den Portraitfilm PORTRAIT OF JASON über einen exaltierten schwulen schwarzen New Yorker. Doch schon mit BRIDGES-GO-ROUND hat sie eine markante Duftmarke hinterlassen. Clarke konnte und wollte sich nicht zwischen den beiden Soundtracks entscheiden und erklärte kurzerhand beide für offiziell, und schon beim Erscheinen des Films wurde er meist mit beiden Tonspuren hintereinander zweimal gespielt. Teo Macero, von dem die jazzige Musik stammt, war ein Saxophonist, Komponist, Arrangeur und Plattenproduzent (lange Jahre bei Columbia Records). Louis und Bebe Barron, die den elektronischen Soundtrack beisteuerten, gehörten in den USA zu den Pionieren elektronischer Musik- und Geräuschproduktion. Die bekannteste Hervorbringung des Ehepaars war der Soundtrack zum SciFi-Klassiker FORBIDDEN PLANET (1956) von Fred M. Wilcox. Wegen kleinlicher Regularien durften sie seinerzeit nicht als "Komponisten" dieses Films bezeichnet werden, weshalb ihnen auch die sonst mögliche Nominierung für einen Oscar versagt blieb.



GO! GO! GO!
USA 1962-64
Regie: Marie Menken



New York, der Schauplatz urbaner Beschleunigung, im Zeitraffer - eigentlich eine naheliegende Idee, aber man muss sie auch erst einmal so ansprechend umsetzen wie Marie Menken (1909-1970). Da ich in nächster Zeit auf Menken zurückkommen will, soll es das erst einmal gewesen sein.

(Übrigens hat schon 1901 Frederick S. Armitage den Abriss eines New Yorker Theaters im Zeitraffer gefilmt. Er klebte eine rückwärts laufende Kopie und den vorwärts laufenden Film aneinander, so dass das Gebäude scheinbar emporwuchs und dann wieder verschwand, oder andersrum - die Kinobesitzer konnten sich das aussuchen.)

UPDATE:

Ich vergaß zu erwähnen, dass alle Filme außer 3rd AVE. EL auch auf DVD erhältlich sind (zumindest ist mir für letzteren keine DVD bekannt). Die ersten vier Filme meiner Auswahl (und außerdem der kurze Film von Frederick S. Armitage) befinden sich alle im 7-DVD-Set "Unseen Cinema. Early American Avant-Garde Film 1894-1941", das ich hier schon mit drei Beispielen vorgestellt hatte. MANHATTA findet man auch im 2-DVD-Set "Avant-Garde - Experimental Cinema of the 1920s &'30s" (inzwischen out of print und nur noch zu Spekulantenpreisen erhältlich), SKYSCRAPER SYMPHONY und A BRONX MORNING auch in der Box "More Treasures from American Film Archives, 1894-1931". BRIDGES-GO-ROUND und GO! GO! GO! finden sich im 2-DVD-Set "Treasures IV: American Avant-Garde Film, 1947-1986".

Ein verprügeltes Gesicht, Edgar Ulmers Geist und Steven Seagal

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GUTSHOT STRAIGHT
USA 2014
Regie: Justin Steele
Darsteller: George Eads (Jack Daniel), Stephan Lang (Duffy), AnnaLynne McCord (May), Ted Levine (Lewis), Vinnie Jones (Carl), Steven Seagal (Paulie Trunks)



Auf dem Cover der deutschen DVD von GUTSHOT STRAIGHT sieht man Steven Seagal, der offensichtlich gerade frisch von einem Photoshop-Termin kommt und mit einer Pistole auf irgendetwas außerhalb des Bilds zielt. Unter ihm zielen auch drei weitere Gestalten (die übrigens im Film überhaupt nicht auftauchen) auf irgendwelche unbekannten Ziele. Alles klar, ein typischer Seagal-Actioner, denkt man sich: er spielt mal wieder einen Ex-CIA-Ex-Irgendetwas-Typen mit einem Hang zu ostasiatischer Mystik, der stinkesauer ist, weil Böswatze seiner Frau/seiner Tochter/seinem Buddy etwas schlimmes angetan haben und der jetzt noch schlimmere Sachen mit besagten Böswatzen anstellen wird.

Doch im Prolog wird zunächst ein Typ mit einem zerschlagenen Gesicht zu Seagal geführt, der in Patenmanier gemütlich hinter einem Büroschreibtisch sitzt. Er hantiert mit einer riesigen, phallischen Zigarre herum, spricht mit einer Stimme, die Batman wie eine zwölfjährige Sopranchoristin klingen lässt und auf dem Kopf trägt er etwas, das wie ein besonders aufwendiges Toupet aussieht (oder wie ein totes pelziges Tier). Nach einigen strengen Worten und der salbungsvoll vorgetragenen Frage, ob er denn sein Freund sei, bietet er dem Typen mit dem zerschlagenen Gesicht eine Pistole an. Vorspann. Und was für ein Vorspann: als würden wir uns in einem James-Bond-Film befinden. Popart-Credits der Extraklasse, die die schlechtesten unter den 007-Vorspännen qualitativ bei weitem übertrifft und mit einem tollen Song unterlegt ist. Dann folgt eine Szene in einem Casino in Las Vegas. Jack, der Typ, der im (chronologisch späteren) Prolog mit zerschlagenem Gesicht Trübsal geblasen hat, stolziert mit breitem Lächeln auf seinem makellosen Gesicht durch die Spielhalle, plaudert freundlich mit einem Croupier, setzt sich dann an einen Pokertisch und provoziert eine schwarze Spielerin so lange mit einem rassistischen Witz, bis er gewinnt...

Die ersten paar Minuten von GUTSHOT STRAIGHT sind eine ziemlich „schlechte“ Vorbereitung auf das, was schlussendlich folgt: kein Seagal-Actioner, kein Pseudo-Bond-Film, und auch kein Casino- & Zockerfilm, sondern eine Perle von einem fiesen kleinen neo noir. Ein neo noir, der sich nicht an der glamourösen Seite des klassischen noirs orientiert, mit ihren klassischen Schönheiten Lauren Bacall und Rita Hayworth sowie ihren kernigen Helden Humphrey Bogart und Robert Mitchum, die in luxuriösen Bars und Nachtclubs ihren Intrigen nachgingen, sondern am schäbigen poverty-row-noir mit seinen wirklich kaputten Randexistenzen und seinen schmierigen Cafés. GUTSHOT STRAIGHT erinnert aus mehreren Gründen bisweilen an Edgar Ulmers DETOUR. 

Aber der Reihe nach... Jack mag am Anfang die ganze Zeit lächeln, aber das ist nur ein Abwehrmechanismus. Im Casino wird er von einem mysteriösen Mann angesprochen, der ihm seine Visitenkarte gibt, ihm dann irgendetwas von Geld und Möglichkeiten erzählt und dem notorischen Spieler sogar anbietet, ihn bei einem Pokertisch mit großen Einsätzen auf Pump einzukaufen. Jack schickt den Mann zum Teufel – und als er zu Hause ankommt, wird er erst einmal von Typen verprügelt, denen er noch Geld schuldet. Die Schläger machen unwiderruflich klar, dass sie bald für den Restbetrag vorbeikommen werden (zumal einer von ihnen vom markanten Vinnie Jones gespielt wird). Das restliche Geld will Jack bei seiner Bank anpumpen, doch trotz Anflirtens der jungen Bänkerin wird er mit Nachdruck weggeschickt.

Jack in misslicher, Duffy in hedonistischer Position
Drinks im Stripclub, Anbahnung von Poolsex mit Voyeur
So ruft Jack den mysteriösen Fremden aus dem Casino doch noch an, um sich wegen der „Möglichkeiten“ zu erkundigen. Ein Termin in einem schummerigen Stripclub wird vereinbart, wo beide sich beschnuppern. Duffy, der Fremde, scheint ziemlich reich zu sein, spendiert sämtliche Drinks, und verliert zwei Wetten an Jack (er soll mit vier 50-Dollar-Scheinen eine Bierflasche öffnen und diese danach mit bloßen Händen zerschlagen). Nach Ladenschluss nimmt Duffy Jack in sein Haus mit und bietet ihm dort eine ganz große Wette an: 10.000 Dollar, wenn Jack mit seiner Ehefrau schläft – und 20.000, wenn er dabei zugucken darf. Für Jack ist das – so attraktiv er Duffys Ehefrau gleich beim ersten Anblick offenbar findet – etwas zu viel. Doch als er sich davon machen möchte, schlägt Duffy ihn K. O. Als Jack wieder aufwacht, ist nur noch seine Ehefrau im Haus, und dann bahnt sich zwischen den beiden doch etwas im Pool an. Plötzlich steht der reiche Exzentriker daneben, eine Tasche voll Geld in der Hand. Das nimmt Jack nun wieder alle Lust, aber als er wiederholt gehen möchte, kommt es zu einem Gerangel zwischen den beiden Männern. Duffy fällt unglücklich, bricht sich das Genick und ist tot.

Lewis "erkennt" Jack
Femme fatale May
Während Jack in Panik auszubrechen droht, nimmt die Ehefrau die Gesamtsituation mit großer Gelassenheit und sogar einer gewissen Freude auf, warnt Jack jedoch davor, die Polizei zu benachrichtigen: er wisse ja nicht, was für ein Mensch Duffy wirklich gewesen sei. In einer Nacht- und Morgengrauen-Aktion wird die Leiche erst einmal beseitigt. Am nächsten Morgen fühlt sich für Jack alles wie ein entfernter Alptraum an, doch das Erwachen kommt jäh: er hat sein Portemonnaie in Duffys Villa vergessen und muss dieses wieder beschaffen. Als er vor dem Hauseingang rumschleicht, grüßt ihn plötzlich ein Mann, namens Lewis. Es ist Duffys Bruder, der sich rasch an Jack von einer vergangenen Pokernacht erinnert und ihn freundlich in Duffys Haus bittet. Mit einem Lächeln im Gesicht macht Lewis immer wieder versteckte Anspielungen darauf, dass er wohl ahne, dass irgendetwas komisches vorgefallen ist.
Das nächste Treffen zwischen Jack und Lewis in einem Casino verläuft noch unerfreulicher. Denn nun erklärt ihm Lewis, dass er sehr wohl wisse, dass Jack Duffy getötet hat. Er sei aber bereit, die Sache zu vergessen und Jack und seine Tochter (der Spieler hat eine Frau und eine Tochter, von denen er getrennt und entfremdet lebt) am Leben zu lassen, unter einer Bedingung: Jack soll Duffys Ehefrau ermorden. Einfacher gesagt als getan, denn nun fühlt sich Jack erst recht zu ihr, May, angezogen. Da es ihm aber auch um das Leben seiner Tochter geht, sucht er den großen Kredithai Paulie auf, um ihn um Ratschlag und eine Pistole zu bitten. Paulie gibt sie ihm mit dem Tipp, sie Lewis nutzen zu lassen. Beim Showdown schließlich prügelt Jack Duffys Bruder nieder. May nimmt Paulies Waffe und will damit Jack töten. Die präparierte Pistole explodiert aber und schießt nach hinten, direkt in Mays Gesicht. Und als Lewis wieder aufwacht und sich erneut auf Jack stürzt, taucht Paulie mit seinen Schlägern auf, erschießt Lewis und spricht das Urteil über Jack: er solle Duffys Geld nehmen und für immer aus Las Vegas verschwinden. Nachdem er die Geldtasche bei seiner Ex-Frau und seiner Tochter deponiert hat, macht Jack genau das: ohne Geld, mit nur einem klapprigen Auto und einem geschundenen Gesicht fährt er weg.

Ein glanzloser Antiheld, der in eine sexuell aufgeladene, gewalttätige Intrige voller wunderlicher und absurder Wendungen gerät. Zwielichtige Gestalten und eine femme fatale, deren Vertrauenswürdigkeit stets auf der Kippe steht, weil überall Verrat lauert. GUTSHOT STRAIGHT ist ein fast schon puristischer neo noir. Doch was hat es mit dem DETOUR-Vergleich auf sich?

Jack Daniel erscheint wie eine Wiedergeburt von Al Roberts, dem glücklosen Protagonisten von DETOUR und der wahrscheinlich miserabelsten Figur, die der klassische film noir hervorgebracht hat: ein Loser, der selbst im heruntergekommensten Café der ganzen Stadt noch seine Würde verliert und angepöbelt wird. Sicher: Jack ist kein gescheiterter Künstler wie Al, sondern nur ein gescheiterter Pokerspieler. Und im Gegensatz zu Al scheint er zumindest eine halbwegs bürgerliche Vergangenheit zu haben, mit Ehefrau, Tochter und bescheidenem, aber solidem Eigenheim. Der tiefe Masochismus jedoch, der Al kennzeichnete, fehlt ihm. Doch auch Jack kann seine Würde nur in Scherben mit sich herumtragen: Paulies Schläger lachen ihn aus, Paulie selbst behandelt ihn wie einen kleinen Lausbub, bei seiner Bank kriegt er quasi Hausverbot, und die Bartenders der schummerigsten Stripclubs behandeln ihn von oben herab.


Das zerschlagene Gesicht mit den ganzen Blutergüssen trägt Jack durch den ganzen Film (hinzu kommt über die meiste Laufzeit auch ein T-Shirt mit blutverschmiertem Kragen), und auch wenn man die Ursache dafür sieht, nämlich die Tracht Prügel zu Beginn, erscheinen diese Zeichen eher ein existentieller Bestandteil seiner Person zu sein als die Folge eines Ereignisses. Das erinnert ein wenig an den permanenten Schweißfilm auf Al Roberts Gesicht: kein Zeichen der Temperaturverhältnisse oder irgendeiner Anstrengung, sondern Ausdruck existentieller Verzweiflung. Blutergüsse und Schweiß – Jack Daniel und Al Roberts tragen die Essenz ihres Daseins sichtbar im Gesicht.

Mit DETOUR verbindet GUTSHOT STRAIGHT sicherlich auch einige Versatzstücke des Plots: ein Mann tötet aus Versehen einen anderen Mann und wird dann von jemandem erpresst, der genau das weiß (gleichwohl die blasse AnnaLynne McCord nicht annähernd an Ann Savage rankommt). Doch mehr als alles hat der Film von 2014 ein ähnliches „Feeling“ wie der Klassiker aus dem Jahre 1945: es ist das „Feeling“ eines B-Films, der er es schafft, zu etwas größerem zu werden, weil er seine eigenen Begrenzungen umarmt.

Trotzdem ist und bleibt GUTSHOT STRAIGHT ein Original. Seine narrative Struktur ist von einer erstaunlichen Klarheit: nach A folgt B, dann C... Doch er lässt die einzelnen Plotpoints als reine Zeichen stehen, gibt ihnen keine Erklärungen, reduziert alles auf das reine Skelett. Dabei nimmt er radikal Jack Daniels Perspektive ein und als Zuschauer verfügen wir nur über seinen Wissensstand (teils sogar noch weniger). So stolpern wir wie er durch diese einfache, aber doch bizarre Geschichte: warum Duffy ausgerechnet ihn für seine sexuelle Fantasien auswählt, warum Lewis May töten will, was nun das genaue Verhältnis zwischen Duffy, Lewis und May ist, warum ausgerechnet er ein Blutbad zu verantworten hat und dann hinter sich lassen muss – Jack wird es nie erfahren. Besonders unklar ist, warum offenbar jeder seinen Namen kennt: Duffy nennt ihn Jack, bevor er sich vorstellen kann, Lewis tut es genau so, ja gegen Ende spricht ihn gar irgendein Türsteher vor einem Pokerspielzimmer einfach so mit Jack an. Alle haben einen Informationsvorsprung vor Jack. Dies erklärt wohl auch die für einen film noir untypische Rauminszenierung (trotz der sehr expressiven Bildgestaltung). Die meisten Einstellungen sind Nah- und Halbnaheinstellungen mit extrem geringer Tiefenschärfe. Selbst einige der Establishing Shots scheinen mit einem Teleobjektiv aufgenommen worden zu sein: die meiste Zeit bewegt sich Jack durch eine Welt, die wie verschleiert wirkt und in der nichts auch nur annähernd deutlich zu erkennen ist. Die Schleier lüften sich auch am Ende nicht – und die zwei weiteren Toten erklären auch nichts weiteres. In Zeiten, in denen Mainstream-Sehgewohnheiten doch stark auf langwierige (Über)erklärungen ausgerichtet sind, wirkt GUTSHOT STRAIGHT erstaunlich frisch.

Was ist aber nun mit Steven Seagal und Vinnie Jones, die schließlich, zumindest auf dem Cover der deutschen DVD, die Credits anführen? Seagal tritt nur kurz im Prolog auf und wird in den Anfangs-Credits nicht erwähnt. Gegen Ende wird die Prologszene  mit leicht alternativen Einstellungen  wiederholt, und dann taucht Seagal ganz am Schluss während des Showdowns auf. Zusammengerechnet kommt wohl nicht einmal fünf Minuten Screentime zusammen. Ein reines Cameo also, der zudem wie ein absurder Fremdkörper wirkt. Denn Seagal teilt sich kein einziges Frame mit dem Hauptdarsteller George Eads: Ihr Dialog ist in Schuss-Gegenschuss-Aufnahmen aufgelöst. Jacks Hinterkopf, wenn man Paulie frontal sieht, dürfte wahrscheinlich einem Double gehören. Auch im Showdown wird Eads wahrscheinlich von einem Stand-in gespielt, wenn Seagal im Bild zu sehen ist. Kurz: mit dem legendären Actionstar wurden wahrscheinlich irgendwelche halbwegs passenden Szenen gedreht, die dann in GUTSHOT STRAIGHT reingeschnitten wurden. Das würde in einem anderen Kontext lächerlich wirken (und irgendwie ist es ja auch lächerlich), fügt sich aber hier ganz gut in einen Zustand der permanenten Verwirrung und Dissoziation ein, den der Protagonist erlebt. Aber vielleicht hat es auch einen Sinn: Seagal ist am Ende der deus ex machina, der die ganze Geschichte abbricht und ihr einen Schlusspunkt setzt. Seine Paulie-Figur sowie ihre funktionierenden wie auch präparierten Pistolen sind gewissermaßen der materialisierte, wiederauferstandene Geist des schicksalhaften Telefonkabels von DETOUR.

Sehr unglücklich ist natürlich, dass dieser „Pseudo-Seagal-Film“ wie ein echter Seagal-Actioner vermarktet wird. Es gibt in GUTSHOT STRAIGHT keine Action, keine Actionfigur, keine Actionfilmgeschichte. Auch als „einfacher“ Thriller funktioniert der Film kaum, weil er eben vor allem von einer noir-Atmosphäre lebt, die sich nicht in erster Linie durch klassische Spannung auszeichnet. Leider dürfte der Film also einige Mühe haben, ein Publikum zu finden – zumal als direct-to-video-Produktion.


GUTSHOT STRAIGHT ist als DVD in Deutschland und in den USA erhältlich, ab März nächsten Jahres auch in Großbritannien. Außer mangelnden Untertiteln und einem etwas penetranten, chemischen Plastik-Geruch spricht allerdings nichts gegen die deutsche DVD.

Keaton paranoid

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Es gibt über Alfred Hitchcock die schöne Anekdote, wonach sein Vater ihn einmal als kleines Kind für eine Viertelstunde von einem befreundeten Polizisten in eine Häftlingszelle einsperren ließ – ein traumatisches Erlebnis, das Hitchcocks lebenslange Furcht vor der Polizei inspiriert haben soll und maßgeblich das Motiv des von der Ordnungsmacht unschuldig Verfolgten prägte. Doch vielleicht hat Hitch in seinen frühen Zwanzigern einfach nur Buster Keatons Kurzfilme THE GOAT und COPS im Kino gesehen?
In beiden Filmen geht es um einen unschuldigen Mann (gespielt von Keaton selbst), der von der Polizei für Verbrechen verfolgt wird, die er nicht, oder zumindest nicht bewusst begangen hat. Das ganze wird mit den Mitteln der Slapstick-Komödie verhandelt, und gerade dadurch nehmen diese Verfolgungen aberwitzige und groteske Züge an – und ähneln schließlich gar einer paranoiden Fantasie mit latent düsteren und morbiden Komponenten.


THE GOAT
USA 1921
Regie: Buster Keaton, Malcolm St. Clair
Darsteller: Buster Keaton (der verfolgte Mann), Joe Roberts (der Polizist), Virginia Fox (die Tochter des Polizisten), Malcolm St. Clair (Dead Shot Dan)


Ein offenbar bedürftiger Mann (nennen wir ihn im Folgenden der Einfachheit halber Buster) steht in der Schlange einer Armenspeisung. Aufgrund von für den Zuschauer lustigen und für ihn eher betrüblichen Zufällen und Missgeschicken geht er leer aus. Er geht weiter seines Wegs und bleibt am vergitterten Fenster einer Polizeistation stehen, wo der Verbrecher Dead Shot Dan gerade zwecks polizeilicher Registrierung fotografiert wird. Dieser erblickt Buster hinter sich und reagiert blitzschnell: er bückt sich kurz, löst die Kamera aus und fotografiert damit Buster – wenige Augenblicke später flüchtet Dead Shot Dan aus dem Polizeigewahrsam. Buster geht derweilen nichts ahnend weiter und beobachtet einen Passanten, der ein Hufeisen findet, ihn wegwirft und kurz darauf eine Brieftasche voller Geld auf dem Gehweg entdeckt. Offenbar eine gute Idee: Buster will es dem Glücklichen gleich tun, hebt das Hufeisen auf, wirft es weg – und dieses landet mitten im Gesicht eines Streifenpolizisten. Dieser, offenbar mehr gedemütigt als wirklich verletzt, beginnt Buster zu verfolgen. Rasch gesellen sich andere Ordnungshüter zu der Jagd. Zwischendurch beschützt Buster tatkräftig eine junge Frau und ihren Hund vor einem Passanten, der über die Leine gestolpert ist und dann gegenüber der Dame grob wurde.

Schließlich gelingt Buster die Flucht in eine andere Stadt, wo mittlerweile das Foto des flüchtenden Dead Shot Dan in allen Zeitungen zu sehen ist – wohlgemerkt das falsche Bild, auf dem eben Buster in einem suggestiven Dekor zu sehen ist. Der Gesuchte sieht schließlich selbst ein gigantisches Fahndungsplakat mit seinem Konterfei, und wird sofort von schweren Gewissensbissen geplagt: er befürchtet, den Mann, der die junge Frau mit dem Hund belästigt hat, getötet zu haben (in Wirklichkeit war dieser nur für wenige Sekunden K.O.). Panisch rennt er vor dieser Vision davon und kracht in einen dicken Mann, der sich als Polizist entpuppt. Einige fiese Jungs planen genau in diesem Moment einen Anschlag auf den kräftigen Ordnungshüter, und am Ende sieht das ganze natürlich so aus, als hätte Buster versucht, den Polizisten zu töten. Nun wird er wegen leichter Verletzung eines Polizisten, Mord und versuchtem Polizistenmord gesucht – wobei er in letzteren beiden Punkten unschuldig ist. Durch Zufall trifft er auf die junge Frau mit dem Hund, die ihn freundlich zum Essen bei ihren Eltern einlädt. Die Mutter ist erfreut, der Vater kommt später hinzu – und entpuppt sich, natürlich, als der dicke und große Polizist von vorhin. Eine Verfolgungsjagd durch das Treppenhaus und die Aufzüge des Gebäudes folgt, die Buster für sich entscheiden kann, bevor er dann die junge Frau zur Hochzeit wegtragen kann.

Polizisten überall!
Die massive Verfolgung, die Buster Keatons Held durchzustehen hat, ist geradezu grotesk überzeichnet. Die Polizisten sind schier überall! Hinter jeder Straßenecke scheint sich ein Ordnungshüter zu verstecken, der nur auf Buster aufzulauern scheint – oder in den Buster einfach gleich mit voller Laufgeschwindigkeit reinkracht. Ein Fluchtmanöver, bei dem sich der Verfolgte an ein fahrendes Auto ranhängt (bei Keaton natürlich wortwörtlich), endet damit, dass er vor den Füßen eines Polizisten abgeladen wird. Eine Gruppe von Verfolgern wird der agile Mann dadurch los, dass er sie in einen Umzugstransporter lockt und einsperrt – nur, damit die Polizisten wenig später vor seinen Füßen abgeladen werden (erneut: wortwörtlich). Der einzige Schutzort, den Buster aufsuchen kann (die Wohnung der jungen Frau mit dem Hund), entpuppt sich als Höhle des Löwen. Und während der wilden Verfolgung durch das Treppenhaus sucht Buster Zuflucht in einer fremden Wohnung: dort wartet ein Polizist, der gerade seine Pistole reinigt (wohl, damit sie noch besser schussbereit ist), während die Zeitung mit Dead Shot Dans (also Busters) Fahndungsfoto auf einem Tisch neben ihm ausgebreitet ist. Kurz: Buster gerät in eine alptraumhafte Welt, die scheinbar fast nur von Polizisten bewohnt ist, die es auf ihn abgesehen haben. Dieses paranoide Universum wird noch bedrohlicher, als man ihn seiner Wahrnehmung nach sogar umzubringen gedenkt (Buster landet, mit einem weißen Tuch überdeckt, auf einer Krankenhausbahre in den Vorraum eines OP-Saals und ein Handwerker, der gerade irgendetwas an den Fensterläden repariert, lädt seine „bedrohlichen“ Gerätschaften kurz auf ihn ab). Dieser ganze Alptraum wird am Ende deus-ex-machina-artig aufgelöst, als Buster den Polizisten mit dem Aufzug durch die Decke des Gebäudes herausschießt – es hatte sich herausgestellt, dass nicht der Aufzug die Etagenanzeige kontrolliert, sondern umgekehrt der Zeiger der Etagenanzeige den Aufzug bewegt. Eine typische und sehr poetische Keaton-Idee.

Rasende Lokomotive, ruhiger Keaton
Das paranoide Verfolgungsszenario ist in eine erquickliche Anzahl dichter visueller Gags eingebaut, die mit ihrem Erfindungsreichtum, ihrem Gespür für Raum und Timing alle demonstrieren, dass Keaton schon 1921 auf dem Höhepunkt seiner Könnerschaft stand. THE GOAT dauert nur knapp 20 Minuten, und dennoch ist es kaum möglich, alle ausführlich zu nennen.
Die Faszination mit Autos und Zügen, also mit schnellen (und gefährlichen) Fortbewegungsmitteln, genießt Keaton in vollen Zügen. Das betrifft nicht nur die vorhin erwähnte Szene, in der er sich an ein Auto ranhängt und weggeschleift wird, sondern auch eine andere Autoflucht, die deutlich misslingt: Buster springt auf den Ersatzreifen am Heck eines Autos, das gerade wegfahren will – doch das Auto fährt ohne ihn weg, denn der vermeintliche Ersatzreifen ist in Wirklichkeit ein zum Werbeschild für eine nahegelegene Autowerkstatt umfunktionierter Reifen auf einem Ständer.
Auf einer richtig großen Kinoleinwand sicher sehr beeindruckend ist die Fahrt eines Zuges, der frontal in Richtung Kamera rast und kurz vor „Aufprall“ eine Vollbremsung macht, während Buster mit regloser Mine vorne auf der Lokomotive sitzt. An anderer Stelle lässt Keaton eine Lokomotive mit vielen Zügen auf Straßenbahnschienen durch eine belebte Innenstadt rasen, womit er seine Verfolger für kurze Zeit abschneidet.
Geradezu genial ist das Timing in der Wohnung der jungen Frau mit dem Hund: Buster wähnt sich in Sicherheit, setzt sich an ein Ende der Tafel und beginnt mit dem kleinen Hund zu spielen, während hinter seinem Rücken sein Verfolger erscheint, sich an das andere Ende der gedeckten Tafel setzt und beide erst nach dem Tischgebet merken, wem sie gegenüber sitzen. Wie Buster kurz darauf aus der Wohnung flüchtet, obwohl der Polizist die Wohnungstür abgeschlossen und sich davor aufgebaut hat, ist allerreinste Keaton-Akrobatik (und dürfte für beide Beteiligte nicht ganz ungefährlich gewesen sein).
Der Höhepunkt von THE GOAT ist dann die wilde Verfolgungsjagd durch das Gebäude, in dem Treppen, ein Aufzug, ein Aufzugschacht und eine Telefonkabine die Grundlage eines minutiös choreografierten Balletts bilden.



COPS
USA 1922
Regie: Buster Keaton, Edward F. Cline
Darsteller: Buster Keaton (der verfolgte Mann), Joe Roberts (ein Polizist), Virginia Fox (die Tochter des Bürgermeisters)


Die narrative Grundidee von THE GOAT (Unschuldiger wird von Polizisten verfolgt) wird in COPS, der nicht ganz ein Jahr später herauskam, in einer radikalisierten, zugespitzten und kompromissloseren Variante präsentiert.

Ein Mann (er ist ohne Namen, aber wir können ihn zwecks Anschaulichkeit gerne Buster nennen) erhält von seiner Verlobten ein Ultimatum: sie wird ihn erst heiraten, wenn er ein erfolgreicher Geschäftsmann geworden ist. Betrübt geht Buster auf die Straße und sieht, wie ein Passant seine Brieftasche verliert. Hilfsbereit hebt er sie auf, um sie zurückzugeben, doch der große und kräftige Mann reagiert grob und stößt den ehrlichen Finder zurück. Er ruft sich ein Taxi und stolpert beim Einsteigen. Buster will ihm schon wieder helfen, und erneut reagiert der griesgrämige Mann mit brachialer Grobheit. Als das Taxi weggefahren ist, sehen wir, dass Buster sich zwischenzeitlich doch anders entschieden hat und dem Mann das Geld nun doch geklaut hat (was wir ihm als Zuschauer nicht wirklich verübeln können). Durch ein geschicktes Manöver stiehlt ihm Buster dann auch noch das Taxi, und frustriert bleibt der Bestohlene zurück – sein Jackett rutscht etwas zur Seite und enthüllt eine Polizeiplakette.
Mit dem relativ dicken Bündel Geld zahlt Buster das Taxi. Dies sieht ein zwielichtiger Mann, stellt sich vor einem großen Haufen Hausrat auf dem Bürgersteig und weint Buster so lange etwas vor, bis er ihm den Hausrat abkauft. Der erpresste Verlobte möchte nun „seinen“ Hausrat wiederverkaufen, um zu zeigen, dass er ein guter Geschäftsmann ist. Doch der Hausrat gehört einer Familie, die umzieht, und ihm natürlich den Hausrat überlässt, als er mit einem eben frisch besorgten Pferd und einer Kutsche erscheint – weil sie ihm mit einem Umzugsarbeiter verwechselt. Nun trottet die Kutsche vor sich her. Buster hat zur Verkehrssicherheit eine Apparatur aufgebaut, die an den Seiten hinausschnellt, um den Richtungswechsel anzuzeigen. Beim nächsten Wendemanöver bekommt natürlich ein Verkehrspolizist eins auf die Nase.
Ein wenig später gerät Buster mit seiner beladenen Pferdekutsche in eine Polizistenparade. Etwas zerstreut merkt er das überhaupt nicht, und glaubt sogar, dass die Akklamationen der Tribünen am Straßenrand ihm gelten. Derweilen hat sich ein Anarchist auf einem nahegelegenen Dach postiert, zündet eine Bombe an und wirft sie in die Parade. Die Bombe landet neben Buster auf den Kutschensitz, der die brennende Lunte als Feuerzeug für eine Zigarette nutzt und gedankenabwesend danach die Bombe hinter sich wirft – direkt in die paradierenden Polizisten. Panik bricht aus. Alle Anwesenden haben nur gesehen, dass der Kutschenfahrer eine Bombe geworfen hat, und nun sind alle Polizisten der Stadt hinter Buster her. Zu Dutzenden, ja zu Hunderten verfolgen sie den vermeintlichen Terroristen. Der hemdsärmlige Mann, der eigentlich mit seiner Familie umzieht, macht sich derweilen auf die Suche nach dem Umzugsarbeiter – und zieht dafür seine Polizistenuniform wieder an. Über viele Umwege, unter anderem über eine auf einer Palisade balancierende Leiter, gelingt es Buster, der Polizei zu entkommen. Als Polizist getarnt begegnet er auf der Straße seiner Verlobten, die erkennt, dass er offenbar kein erfolgreicher Geschäftsmann geworden ist, ihn mit Verachtung anschnaubt und dann pikiert wegläuft. Daraufhin ergibt sich Buster resigniert dem mittlerweile rasenden Polizistenmob und geht in den sicheren Tod.

Aberdutzende Polizisten!
COPS beginnt langsamer als THE GOAT, baut aber im letzten Drittel ein Showdown auf, das zumindest in der schieren Menge der Komparsen den Vorgängerfilm in den Schatten stellt. Doch man könnte es auch als langsames Crescendo sehen. Busters teils bewusste, teils unbewusste Gesetzüberschreitungen bauen sich nach und nach auf. Es fängt damit an, dass er einen Polizisten beklaut: allerdings ohne Wissen, dass es sich um einen Ordnungshüter handelt, sondern eher als eine kleine Rache gegen einen Mann, der ihn als „Dank“ für seine Hilfsbereitschaft grob herumschubst. Weiter geht es damit, dass er den Hausrat eines Polizisten „stiehlt“, allerdings völlig unbewusst: denn Buster ist auf einen Betrüger reingefallen (und dass der hemdsärmlige Mann ein Polizist ist, erfahren wir erst später). Schließlich schlägt Buster einen Polizisten zwei mal mit seinem improvisierten Kutschen-Blinker und wirft eine Bombe auf eine Polizistenparade – beides ebenfalls völlig unbewusst. Ihm passiert das selbe wie in THE GOAT: er ist der falsche Mann zur falschen Zeit am falschen Ort unter den falschen Umständen und gerät als Unschuldiger durch eine Verkettung scheinbar harmloser Situationen in einen Alptraum aus rasender Verfolgung.

Ein potenzierter Alptraum: um die Ecke lauert nicht mehr ein Polizist oder wenn es hochkommt zwei bis vier, sondern Aberdutzende, gar Hunderte – eine Massenchoreographie des Schreckens. Ja, des Terrors. COPS endet damit, dass ein im Grunde unschuldiger Mann von einem tobenden Mob (off screen) erschlagen wird. Gleichwohl Keaton in seinem Werk neben surrealistischen und poetischen auch immer wieder schwarzhumorige Elemente einbaute, findet sich hier die wohl morbideste und makaberste Filmwendung seiner Karriere. Auch sein COLLEGE von 1927 endete mit einem Grabsteinbild, dem allerdings kein gewaltsamer Tod vorausging. Die zugespitzte paranoide Welt voller Polizisten findet ihren Höhepunkt, als Buster selbst zum Polizisten wird (als Tarnung). Die Paranoia wendet sich gegen ihn, und es scheint hier auf bittere Weise folgerichtig, dass die Erlösung nur durch den Tod kommen kann.

Neben dem Motiv des unschuldig Verfolgten enthält COPS wie auch THE GOAT (aber auch andere Keaton-Filme wie z. B. CONVICT 13), in zugespitzter Weise das „proto-Hitchcock‘ianische“ Motiv des multiplen Identitätstausches (bzw. „proto-Lang‘ianisch“, wenn man bedenkt, dass Hitch von Fritz Lang beeinflusst wurde – und in diesem Sinne ist es wieder „post-Feuillade‘isch“). Es gibt wohl kaum eine Figur in COPS mit fester Identitätszuschreibung, denn alle Akteure fallen auf Identitätsverwechslungen ein. Der unglückliche Verlobte wird aus Rache zum Taschendieb, dann zum neureichen Herr und Betrugsopfer, später zum Umzugshelfer, schließlich zum Terroristen, um als Polizist und schließlich Opfer eines Mobs zu enden. Eine tödlich endende „große“ Eskalation der Identitätsverwechslungen, der sich in „kleinere“ Verwechslungseskalationen aufsplittet. Rein legal etwa „stiehlt“ Buster das Pferd und die Kutsche: er übersieht, dass das Verkaufsschild zum Pferd mit der Kutsche eigentlich ein Herrenjackett vor einem naheliegenden Bekleidungsgeschäft betraf, und drückt dem vermeintlichen Kutscher die fünf Dollar in die Hand – doch dieser war eigentlich nur ein zufällig dort sitzender Mann, der nun das unerwartete Geld nutzt, um gleich eben erwähntes Jackett zu kaufen (Buster wird ein „guter Geschäftsmann“ – von seinen „Geschäften“ profitieren aber eben nur andere).

Buster im Knast? Na... doch nicht!
Die schiere Dichte an visuellen Gags, die THE GOAT zwischendurch fast explodieren lassen, erreicht COPS zwar nicht, aber auch dieser Film enthält immer noch genug große Keaton-Momente. Das beginnt natürlich mit den ersten Bildern, die Buster in trübseliger Stimmung hinter Gittern zeigt, während eine junge Frau vor den Gittern auf ihn einredet. Das sieht aus, als erhielte ein Gefangener Knastbesuch. Doch ein Schnitt offenbart, dass dies kein Gefängnis ist, sondern das Gittereingangstor eines Hauses (womit gewissermaßen die darauf folgenden Verwechslungen, Wahrnehmungslücken und Identitätsstörungen schon vorweggenommen werden). Diesen Moment kann man sicher auch als kleine Insider-Anspielung auf THE GOAT sehen, in dem ebenfalls ein Bild Busters hinter Gittern zu sehen ist, das eigentlich „falsch“ ist.
Ein besonders bizarrer Gag, den man wohl in gallizistischem Amerikanisch wohl „risqué“ nennen würde und der ein Jahrzehnt später unter der Herrschaft des Joseph Breen nicht mehr möglich gewesen wäre, arbeitet wieder mit einer Identitätsverwechslung. Das Kutschenpferd, das Buster „gekauft“ hat, fängt an zu bocken, und der „falsche Umzugshelfer“ erblickt in der Nähe ein Schild mit der Aufschrift „Dr. Smith, goat gland specialist“. Eine indirekte Anspielung auf THE GOAT? Buster hält auf jeden Fall den besagten Smith für einen Tierarzt (wenn der schon was mit Ziegendrüsen macht). In Wirklichkeit wütete in den 1920er ein Scharlatan namens John Brinkley, der mit der Transplantation von Ziegendrüsen männliche Schwäche (also Impotenz) heilen wollte. Das klingt alles witziger, als es in Wirklichkeit ist, denn nach diesen Operationen starben offenbar zahlreiche Patienten an Infektionen. Jedenfalls bringt Buster sein bockiges („schwaches“) Pferd zu besagtem Dr. Smith. Als er herauskommt, ist das Tier tatsächlich wesentlich belebter, ja sogar so quicklebendig, dass er schwer zu kontrollieren ist. Buster selbst hält kurz inne, scheint zu überlegen, kehrt dann zu Dr. Smith ohne das Pferd zurück – um seinen liegengebliebenen, charakteristischen pork-pie-Hut zu holen. Eine kleine zusätzliche Notiz zu den John Brinkley und seinen Ziegendrüsen, die sogar die Filmindustrie beeinflussten: „goat gland“ ist auch die Bezeichnung für Filme aus den Jahren 1927 bis 1929, die als Stummfilme gedreht wurden, und in denen nach Fertigstellung noch Tonpassagen eingefügt wurden (ein Beispiel wäre etwa Hitchcocks Tonversion von BLACKMAIL).
Ein wie ich finde sehr typischer, poetischer Keaton-Moment folgt in der Interaktion Busters mit „seinem“ Pferd. Das Tier verhält sich im Allgemeinen recht schwierig, und so kramt Buster ein Elektrogerät aus dem Hausrat hervor, setzt dem Pferd Kopfhörer auf, dreht die Kurbel des Fernsprechers und sagt seine Befehle in den mit den Kopfhörern verbundenen Sprachtrichter hinein: das Pferd reagiert darauf williger als auf „direkte“ Sprachbefehle.
Akrobatischer Höhepunkt von COPS ist natürlich die Leiter-Szene. Buster klettert eine lange Leiter hoch, die an einer Palisade angelehnt ist. Die Leiter ist etwa doppelt so hoch wie besagte Palisade, kippelt daher rasch von einer Seite auf die andere, bis sie irgendwann im Gleichgewicht balanciert, als sich ein Polizist gegenüber Buster an sie ranhängt. Von beiden Seiten eilen Polizisten heran, die mit der Leiter ein „Tau-Ziehen“ um Buster veranstalten, der nach Gleichgewicht suchend sogar Rückwärtsrollen machen muss. Schließlich wird er weggeschleudert – und landet natürlich auf direkt auf den von Joe Roberts dargestellten Polizisten.


Dies war nun die letzte Filmbesprechung bei „Whoknows Presents“ in diesem Jahr. Anfang Januar folgt mein persönlicher Rückblick auf das Filmjahr 2014. Und 2015 kommen dann neue Besprechungen von Manfred und mir.

Doch bis dahin wünsche ich all unseren Lesern frohe Weihnachten...


...und einen guten Rutsch ins neue Jahr!

Ein rothaariger Engel, erregte Leuchttürme und lästige Audiokommentare: 2014 in einem persönlichen Rückblick

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Und erneut ein Jahr voller Filme rum!

2014 bin ich wesentlich seltener ins Kino gegangen als in den beiden vergangenen Jahren. Das hat mehrere Gründe. Da wären zum einen temporäre finanzielle Engpässe, die einige Zeit lang meine Hemmschwelle für Kinobesuche etwas erhöhten. Zum anderen zog mich das Programm über recht lange Zeiträume nicht wirklich an: oft wochenlang blockierten deutscher Historien-Klamauk, französische FN-Werbespots (vulgo: Sommerkomödien), Curry-Duft und Indiewood-Stangenware die Kinos, die ich gemeinhin frequentiere. Einige potentiell interessante Filme kamen in Mitteldeutschland natürlich niemals an, oder ihre wenigen OmU-Vorführungen wurden in „praktische“ Frühnachmittagsvorstellungen verbannt.
Auch habe ich dieses Jahr kein Filmfestival besucht, oder zumindest kein „richtiges“: die Weimarer Asienfilmtage Taiwan–Japan im Lichthaus-Kino, offenbar eine einmalige Veranstaltung der Medienfakultät der Bauhaus-Uni, waren eher klein aufgestellt, wenngleich höchst sympathisch– ein kleiner filmischer Event-Höhepunkt des Jahres 2014. Des weiteren habe ich dieses Jahr nur sehr wenige aktuelle Filme in Lichtspielhäusern geschaut (16, im Gegensatz zu 42 im Jahr 2012 und 58 Stück 2013). Dafür vermehrt Aufführungen älterer Filme, darunter neun Keaton-, sieben Chaplin- und zwei Murnau-Filme.
Etwas unangenehm fiel mir auf, dass zumindest in meinem cinematographischen Einzugsgebiet (Mittelthüringen) die Kinokultur in den Vorführsälen selbst zunehmend verfällt. Damit meine ich nicht Popcorn-werfende Teenager in Multiplex-Kinos, sondern das, wie es so schön heißt, gepflegte, gesetzte und gutbürgerliche Publikum im Programmkino. Betont lautstark geäußerte Empörungen über die Gewalt zu DAS FINSTERE TAL, dümmliches Dauerkichern zu SANSHO DAYU und zu THE CAT AND THE CANARY, zornig gezischte Tiraden über diese miesen und manipulierenden Kommunisten zu KONEC SANKT-PETERBURGA, süffisant vorgetragene Versicherungen, was für ein dämlicher Käse das doch alles sei, zu JAWS und ein praktisch permanenter Flüsterteppich zu MAGIC IN THE MOONLIGHT. Der Audiokommentar trägt seinen Siegeszug in den Kinosaal. Schade.

Zwei aktuelle Filmtitel sind gerade gefallen – eine gute Gelegenheit, um nun also das Kino- bzw. Filmjahr 2014 Revue passieren zu lassen:


Die Top-10 2014

Unter ihnen befinden sich zwei direct-to-video-Produktionen: wirklich im Kino gesehen habe ich von der Liste nur zweieinhalb (IDA und DAS FINSTERE TAL – ALL IS LOST letztes Jahr in der Kino-Sneak, 2014 selbst nur auf DVD), den Rest auf DVD sowie über Presse-Screener und -Streamings.
Die ersten drei Filme teilen sich gleichrangig den Spitzenplatz und werden der Einfachheit halber alphabetisch aufgeführt.

1 ALL IS LOST (J. C. Chandor, USA 2013)
Wie ein guter Bourbon ohne Eis in einer Welt voller überkandidelter Mixgetränke. Ein puristischer Film ohne Dialoge, der wunderbar demonstriert, wie sehr sich ästhetische Wagnisse lohnen können.
(mehr meiner Gedanken zu diesem Film hier)

– IDA (Paweł Pawlikowski, Polen / Dänemark / Frankreich / UK 2013)
Teils Holocaust-Drama, teils Anklage gegen Antisemitismus, teils Hommage an die Polnische Neue Welle. Es ist jedoch der Entwurf eines Polens als universelle Jazz-Utopie, die diesen Film zu einer wahren Perle werden lässt.
(mehr zu diesem schönen Film in strengen Schwarzweißbildern habe ich hier auf diesem Blog schon geschrieben)

– PHOENIX (Christian Petzold, Deutschland 2014)
Die (nicht ganz) neue Mode des deutschen Jammerns über deutsche Opfer im Zweiten Weltkrieg wird in diesem wunderbaren Neo-Trümmerfilm auf wuchtige und befreiende Weise zerschlagen. Petzold will hier alles haben (Hitchcock- und film-noir-Hommage, großes Melodrama zum Mitfühlen, Identitätsspiel zum Mitdenken, delikat sublimierter Sadiconazista-Schocker) und kriegt auch alles – besonders eine Nina Hoss, die noch nie so gut war! Das Niveau, auf dem Diskussionen über diesen Film teilweise geführt werden (in etwa: „unrealistisch, natürlich würde er seine Frau wieder erkennen“), ist schier zum Verzweifeln. Beängstigend, aber in einem solchen Klima nicht wirklich verwunderlich, dass währenddessen revanchistische Historienpornos à la DER ÖNTERGANG dumm und dämlich gefeiert werden.
(mehr meiner fast grenzenlosen Begeisterung zu PHOENIX gibt es hier zu lesen)

4 SNOWPIERCER (Bong Joon-ho, Republik Korea / Tschechische Republik / USA / Frankreich 2013)
Die, ähm... „Gesellschaftskritik“ ist ungefähr so subtil und intellektuell ausgereift wie in METROPOLIS, doch die schiere Wucht der Bilder hat es auch in SNOWPIERCER wirklich in sich. Aus vielen wunderbaren Einzelszenen (das Sushi-Dinner, die Neujahrsschießerei, die Schulstunde etc.) und der großen Dynamik des brutal reduzierten Raumes entsteht etwas, das die relativ kleine Summe seiner Prämisse bei weitem sprengt.

5 DAS FINSTERE TAL (Andreas Prochaska, Österreich / Deutschland 2014)
Ein klassischer Western in einem unklassischen Setting. Das Genre ist einfach nicht tot zu kriegen – und das ist auch gut so.

6 POMPEII (Paul W. S. Anderson, Kanada / Deutschland / USA 2014)
Ein Fresko im wahrsten Sinne: kein „fotografischer“, sondern ein durch und durch „malerischer“ Film, der seine wunderbare Geschichte über eine paradoxe und unmögliche Männerfreundschaft sowie über eine gesellschaftlich zum Scheitern verurteilte Liebe über Klassengrenzen hinweg mit glasklarer und knochenharter Action, überlebensgroßem Melodrama und einer kleinen Prise Muskel-, Schweiß- und Lederoutfit-Fetisch flankiert. Auch ein humanistischer Film über den Kampf gegen das unumgängliche Schicksal.

7 THE WOLF OF WALL STREET (Martin Scorsese, USA 2013)
„Der Film eines freien Mannes“ – mit diesen Worten verteidigte einst Roberto Rossellini Chaplins A KING IN NEW YORK (den ich zugegeben selber schier fürchterlich finde). Auch THE WOLF OF WALL STREET fühlt sich wie der Film eines freien Mannes an, eines Meisters, der niemandem noch etwas schuldig ist und sich herausnimmt, ein monströses, massloses und dreistündiges Sleaze-Epos im Paul-Verhoeven-Autopilot-Modus herauszuhauen! Nicht nur wegen des Sex‘n‘Drugs-Inhalts Scorseses bislang vielleicht gewagtester Film, sondern auch, weil eine moralische „Lehre“ ausbleibt: die strafende oder milde Hand Gottes (bzw. Scorseses als dessen Stellvertreter auf dem Regiestuhl) erschlägt und erlöst hier niemanden. Ist dies eine Wende Scorseses zu reineren, „intellektuelleren“ Filmen?

8 GUTSHOT STRAIGHT (Justin Steele, USA 2014)
Direct-to-video, die Erste: Der wiedergeborene poverty-row-noir im direct-to-video- und Pseudo-Seagal-Actioner-Schafspelz.
(zu diesem hervorragenden neo-noir habe ich mich schon vor kurzem hier auf diesem Blog ausführlicher geäußert)

9 ENEMIES CLOSER (Peter Hyams, USA / UK 2013)
Direct-to-video, die Zweite: minimalistischer und aufs wesentlichste reduzierter Actionfilm mit beinhart inszenierten Kämpfen, der das maximale aus seiner simplen Prämisse zieht (ein paar Männer jagen sich nachts durch einen Wald). Schier grandios spielt Jean-Claude Van Damme als exzentrischer Bösewicht mit Wuschelfrisur und veganem Ernährungsplan auf: der Mann wird langsam aber sicher zu einem Schauspiel-Auteur.
(mehr meiner Gedanken zu diesem Film hier)

10 NEED FOR SPEED (Scott Waugh, USA / Philippinen / Irland / UK 2014)
Eigentlich ein völlig generischer Carsploitation-Film nach Schema F, dem statt 132 Minuten nur 90 Minuten Laufzeit mehr als gut getan hätten. Seine Stärken (mitreissende Verfolgungsjagden mit wenig CGI, Verzicht auf die „bro‘ness“-Dämlichkeit und stumpfsinnigen Familienparolen der FAST & FURIOUS-Filme) wären dann etwas deutlicher gewesen. Wirklich interessant ist sein deutliches Angebot, die Protagonisten als sozial gestörte und überverwöhnte Mittelstandsgören zu sehen. Fast nicht zu glauben und in einem solchen Mainstream-Film geradezu ungeheuerlich sind die Bilder gebrochener Männlichkeit am Schluss: der „Held“ liegt auf dem Boden, schaut zu einem phallisch geformten und von einem Zaun eingehegten Leuchtturm hoch, und beginnt zu weinen.
(mehr zu dieser bizarren Mischung aus Carsploitation und Momenten des Irrsinns gibt es aus meiner Feder hier zu lesen)

Für lobens- und erwähnenswert halte ich außerdem noch die bittersüß-sauere und melancholische Meditation über Liebe und Einsamkeit POLIZEIRUF 110: MORGENGRAUEN, die humorig-haarige, aber ernstgemeinte Variante des provinziellen Cop-Actioners WOLFCOP, die schauererregende Mockumentary THE SACRAMENT, den kurzweiligen Action-Klamauker bzw. Klamauk-Actioner BADGES OF FURY / BU ER SHEN TAN sowie den furiosen und explosiven THE RAID 2: BERANDAL.

Jetzt zu den weniger erfreulichen Filmen des Jahres...


Die Flop-10 2014

Den Spitzenplatz der Schande belegen vier Machwerke, die ich nicht nur als Filme für misslungen halte, sondern auch als zutiefst unethisch empfinde, weil sie ihren dezidierten Antihumanismus nicht offen ausstellen und zu ihm stehen, sondern narrativ und ästhetisch zu verschleiern versuchen. Geordnet sind sie nach absteigendem Grad persönlicher Empörung.

1 MATAR A UN HOMBRE (Alejandro Fernández Almendras, Chile / Frankreich 2014)
Wie paradox: ein Film, der das Vigilanten-Genre offenbar ausgerechnet in den Köpfen jener Leute rehabilitiert, die Michael Winner für den Stellvertreter Satans auf Erden hielten. Wo der Brite jedoch seine Filme eindeutig als delirierende Genre-Fantasien oder gar als dunkle Reise in die Gemütszustände eines Psychopathen konzipierte, hat Fernández ein auf „Arthouse“ getrimmtes Produkt geschaffen, das mit seinen penetranten Realismusstrategien gerne als Sozialdrama wahrgenommen werden möchte – und somit bereitwillig oder mindestens billigend in Kauf nehmend eine gefährliche, reaktionäre Gewaltfantasie salontauglich macht. Paul Kersey würde diesen Film lieben.

– FINDING VIVIAN MAIER (John Maloof, Charlie Siskel, USA 2013)
Mit John Maloof hat die geniale Straßenfotografin Vivian Maier einen denkbar schlechten Verwalter ihres Erbes „gefunden“. Der stets etwas zu selbstgefällig grinsende Kulturwissenschaftler will mit seinem Film hauptsächlich demonstrieren, wie cool er selbst ist, und was eine komische Frau Vivian Maier doch war: Kunstfotos schießen und dann nicht veröffentlichen? So was machen doch nur verrückte Freaks! Eine Meinung, die er sich dann in endlosen „talking heads“-Montagen von den ehemaligen Arbeitgebern und Schutzbefohlenen Maiers bestätigen lässt. Dabei erfahren wir mehr über selbstgerechte Klassenressentiments (neu)reicher Amerikaner als über Vivian Maiers Werk, das die Macher offenbar so oder so nicht interessiert. Arrogant, kunstfeindlich, borniert und mit einem repressiven Menschen- und Gesellschaftsbild ausgestattet.

– EINMAL HANS MIT SCHARFER SOßE (Buket Alakuş, Deutschland 2013)
Ein Pseudo-Multikulti-Machwerk, das in seinem schlichten Verständnis der Welt im Prinzip ganz gut zum CSU- oder AfD-Stammtisch passen würde. Das Politische ist privat, Gesellschaft gibt es eh nicht und das Ethnische determiniert alles: Kosmopoliten sind in diesem Universum entweder Vollidioten oder gestörte Neurotiker (ein Minirock um die Hüften, ein anatolisches Dorf im Hinterkopf). Als Beweis dafür, warum 35mm-Film billige Pixelwolken haushoch schlägt, ist der Film allerdings wunderbar.

– NEBRASKA (Alexander Payne, USA 2013)
Alexander Payne, Gallionsfigur und führender Zyniker des „Indiewood“-Kinos der falschen Gefühle um die immergleichen „schrulligen“ Figuren und dysfunktionalen Familien, präsentiert hier sein bisher „ultimatives“ Produkt. Humor gibt es wieder einmal nur, indem Figuren bloß gestellt (alte-Menschen-Witze) oder hochnäsig von oben herab behandelt werden (Redneck-Karikaturen im bequemen Selbstvergewisserungs-Modus) – und über die Frauenfiguren reden wir mal lieber nicht. Die billigdigitalen Bilder in Dunkelgrau-Hellgrau schreien zwar lauthals „Ich bin Kunst, nimm mich gefälligst wichtig!“, sind aber einfach nur hässlich.

der Rest – eher zufällig angeordnet

5 KVINDEN I BURET (Mikkel Nørgaard, Dänemark / Deutschland / Schweden 2013)
Der bemüht wuchtige deutsche Verleihtitel „Erbarmen“ bläst diesen miesen Krimi zu einer Dimension auf, die ihn noch lächerlicher erscheinen lässt. Pappfigürchen aus abgestandenen Klischees werden durch die to-do-Liste einer Schwedenkrimi-Karikatur gejagt – und zwischendurch gibt es kleine torture-porn-Einlagen gegen das Einschlafen.
(mehr „Begeisterung“ meinerseits gibt es hier zu lesen)

6 ENEMY (Denis Villeneuve, Kanada / Spanien 2013)
Gelbblenden sahen schon bei Soderbergh (und besonders MAGIC MIKE) so aus, als würde der Film durch eine Urinprobe hindurch fotografiert werden. Aber im Grunde passt das auch zu einem Werk, das die Bedrohungssituation seiner Prämisse (läuft ein Doppelgänger durch die Gegend) lediglich behauptet und dem Zuschauer mit laut tönender Musik, krampfhaften Grotesk-Elementen und besagter Gelbblende einhämmern möchte.

7 MAPS TO THE STARS (David Cronenberg, Kanada / USA / Deutschland / Frankreich 2014)
Kasperletheater mit Kasperlefiguren, die im öden Schuss-Gegenschuss-Modus Expositions-Dialoge mit pseudoklugem Name-Dropping von sich geben. Mia Wasikowska runzelt ein bisschen die Stirn, Juliane Moore kann nur „hysterisch“ oder „katatonisch“ und John Cusack sieht aus, als würde er sehnsüchtig von seiner nächsten Rolle in einem kernigen DTV-Actionfilm träumen. Wahrscheinlich war MAPS TO THE STARS gerade aufgrund meiner Erwartungen und Hoffnungen die größte Enttäuschung des Jahres: der tolle COSMOPOLIS hatte nach der fürchterlichen Viggo-Mortensen-Trilogie schließlich einen neuen Aufschwung in Cronenbergs Karriere angekündigt. Stattdessen gibt es einen Film, der sich für mich ein bisschen wie Robert Aldrichs THE BIG KNIFE angefühlt hat, nur halt mit mehr als nur einem Handlungsort. Wir können nur hoffen, dass es mit dem nächsten Cronenberg-Film mehr in Richtung WHAT EVER HAPPENED TO BABY JANE? geht?

8 LE WEEK-END (Roger Michell, UK / Frankreich 2013)
Ein älteres britisches Ehepaar, das eine gute Steilvorlage für müde Witzchen über ältere Menschen abgibt, wird gelangweilt durch ein Klischee-Paris und durch eine Beziehungskrise mit Streit, Wiederannäherung dank „verrückter“ Streiche, neuer Krise und Wiederversöhnung gejagt. Jean-Luc Godard würde sich wohl die Augen aus dem Kopf reissen, wenn er die plumpe Hommage an ihn in diesem „Qualitätsfilm“ sähe.
(für meine etwas ausführlichere Abkanzelung dieser öden RomCom siehe hier)

9 MILLIONEN (Fabian Möhrke, Deutschland 2013)
Ein langweiliger Angestellter knackt den Jackpot und entdeckt dann, dass viel Geld nicht viel glücklich macht – oder: die Karikatur eines TV-Drämchens, das einen auf „gesellschaftlich relevant“ macht. Diesen Film direkt im Anschluss an den wunderbaren TENEBRE zu gucken, hat ihn natürlich nicht besser aussehen lassen.

À propos Dario Argento...

10 DRACULA 3D (Dario Argento, Italien / Frankreich / Spanien 2012)
Argento hat offensichtlich keine Lust mehr, Filme zu drehen, tut es aber dennoch – aus Gewohnheit oder weil er sich trotzig weigert, seine wohlverdiente Rente anzutreten. Statt kunstvoller Beleuchtung und barocker Gewalteffekte gibt es gelangweilt zusammengezimmerte Computerbilder. Trotz anderweitiger Behauptungen waren die Schauspielleistungen in seinen 1970er- und 1980er-Filmen immer recht gut. Hier jedoch ödet sich Thomas Kretschmann mit soviel Charisma wie der Protagonist von MILLIONEN durch die Titelrolle, während Rutger Hauer wohl beim Drehen an seinen Gehaltscheck, oder an die Zeit mit Paul Verhoeven oder an lustige Katzenbilder, sicherlich aber nicht an seine Van-Helsing-Rolle dachte. Dem ganzen setzt Unax Ugalde als Jonathan Harker die Krone auf: wie ein betrunkener Pausenclown grimmassiert er unkontrolliert vor sich hin, als wären die ganzen hölzernen Dialoge, an die er sich offenbar nur mühsam erinnert, so schrecklich lustig. Aber DRACULA 3D ist als filmischer Totalunfall nicht lustig, sondern furchtbar traurig.

Damit die Traurigkeit nicht Überhand nimmt, folgt nun das Herzstück meines cinematographischen Rückblicks auf das Jahr 2014. 


2014: mein persönlicher Kanon filmischer Entdeckungen

52 Filme für 52 Wochen.
Wie bei den vorherigen Listen kann ich mich auch hier nicht für nur einen Spitzenplatz entscheiden. Ich liste daher die ersten drei in der Reihenfolge der Sichtung.

1 KNIGHTRIDERS (George A. Romero, USA 1981)
Die politischen und sozial-ökonomischen Anliegen der Zombiefilme wird hier mit einer Gruppe von Mittelalterschaustellern auf Motorrädern noch radikalisiert – zu einem berührenden, humanistischen Film, der fast keinen Plot, aber dafür einen wunderbaren Flow hat.

– VENGEANCE IS MINE aka DEATH FORCE (Cirio H. Santiago, USA / Philippinen 1978)
Der ultimative Beweis für die enorme filmische und emotionale Kraft, die Exploitation-Kino haben kann.
(wesentlich mehr Worte zu diesem cinematographischen Schatz verfasste ich unlängst schon auf diesem Blog)

– THE WANDERERS (Philip Kaufman, USA 1979)
It was The Wanderers against the world... and the world never had a chance! Ich auch nicht...

4 PROFONDO ROSSO – italienische Integralfassung (Dario Argento, Italien 1975)
Nicht nur ein toller Film über „falsches“ Sehen und getrübte Erinnerung, sondern auch ein faszinierendes Spiel mit Geschlechterrollen. Mit einem tollen David Hemmings als Marcus, der nicht nur einen Mörder sucht, sondern auch seine Identität als Mann. Und die Musik, oh die Musik!

5 AN ANGEL AT MY TABLE (Jane Campion, Neuseeland / Australien / UK 1990)
Künstler-Biopics erzählen von ihren Subjekten oft mit dem Charme eines tabellarischen Lebenslaufes. Campion und Kerry Fox‘ Augen erzählen jedoch wirklich vom Leben, vom kreativen Schaffen und überhaupt von der Erfahrung entfremdeten Menschseins. Identifikation mit Filmfiguren ist so eine Sache, aber Kerry Fox' Janet Frame ist mir sehr ins Herz gewachsen.

6 KARLA (Hermann Zschoche, Deutsche Demokratische Republik 1965/1990)
Noch nie schien die Möglichkeit, von einem verlorenen Provinzkaff in ein noch verloreneres Provinzkaff zu ziehen, so befreiend.

7 SPETTERS (Paul Verhoeven, Niederlande 1980)
Begehren zwischen Motocross-Rennstrecke, Frittenbude und Bett. Verhoeven zeigt sich als melancholischer (wenngleich etwas verzweifelter) Humanist, der seinen Figuren viel mehr Brüche zumutet als die Moralapostel, die ihn niederschrie(b)en. Die heftigen Reaktionen auf diesen Film formten seinen Entschluss, in die USA zu gehen – in der Hoffnung, dort ohne Eklats arbeiten zu können... nun ja...

8 DERNIER DOMICILE CONNU (José Giovanni, Frankreich / Italien 1970)
Ein Film über eine frustrierende Vermisstensuche, die sich unendlich im Kreis dreht. Er enthält nicht nur die vielleicht brutalste, körperlichste und schmerzhafteste Faustkampfszene, die je auf Zelluloid gebannt wurde, sondern auch ein unendlich trauriges Ende: Inspektor Leonetti fährt nach getaner Arbeit niedergeschlagen und einsam nach Hause zurück. Die Musik verfolgt mich bis heute.

9 WIND ACROSS THE EVERGLADES (Nicholas Ray / Budd Schulberg, USA 1958)
Der wohl erste Backwood-Film und Öko-Thriller überhaupt. Das wüste Kollektivbesäufnis bringt das angespannte Vibrieren, das die ganzen Sumpfbilder prägt, schließlich zum Platzen.

10 JOSHUU 701-GÔ: SASORI (Itō Shunya, Japan 1972)
Kabuki meets Hollywood-Musical meets women-in-prison-Exploitation: eine wilde, wilde, wilde Achterbahnfahrt. Wie japanische Genre-Filme der 1970er das Cinemascope nutzen, um ihre Bilder teils komplett zu kippen (Fukasaku macht es auch), verblüfft mich immer wieder.

11 A FAREWELL TO ARMS (Frank Borzage, USA 1932)
Mein erster und bisher einziger Borzage, aber spontan würde ich sagen, dass er der bessere Sternberg ist, wenn es um malerische Lichtsetzung geht.

12 MAN WITHOUT A STAR (King Vidor, USA 1955)
Fast schon avantgardistisch in seinem völligen Verzicht auf jeglichen Plot: der Film lebt nur für jeden kleinen Moment, aber das mit Haut und Haaren. Kirk Douglas in der absoluten Blüte seiner Schauspielkunst ist dabei natürlich eine große Hilfe: er spielt einen Cowboy, der nach dem nächsten Stück Leben sucht, um sich daran zu laben. Ein steifer Drink, ein Banjo, eine schöne Frau – bloß kein Stacheldraht (LONELY ARE THE BRAVE war das passende inoffizielle Sequel).

13 WILD RIVER (Elia Kazan, USA 1960)
Ein wilder Strom, in der Tat! Würde aufgrund seiner Thematik mit WIND ACROSS THE EVERGLADES sicher ein tolles Double-Feature geben – oder mit Kazans anderem Meisterwerk SPLENDOR IN THE GRASS.

14 HANYO (Kim Ki-young, Republik Korea 1960)
Lust, Mord, nasse Fenster und purer Irrsinn.
(mehr aus meiner Feder zu diesem Wunderwerk, seinen Variationen und seinem Macher hier auf diesem Blog)

15 THE HITCHER (Robert Harmon, USA 1986)
Ob je ein Serienmörder im Film so zärtlich guckte wie Rutger Hauer?

16 BASIC INSTINCT (Paul Verhoeven, USA / Frankreich 1992)
Neo-noir im Kater-Modus: das Licht zu hell, die Luft zu schwül, das ganze Ambiente zu schmierig, die Musik zu prollig (aber irgendwie geil) und die Menschen machen und sagen komische, verwirrende Sachen.

17 IM STAUB DER STERNE (Gottfried Kolditz, Deutsche Demokratische Republik 1976)
Wüster, psychedelischer SciFi-Camp mit Kosmonauten und Marsianern auf Acid und in ledernen Fetischklamotten, die sie bisweilen ausziehen, um besser tanzen zu können – und das „made in GDR“.

18 HIROSHIMA MON AMOUR (Alain Resnais, Frankreich / Japan 1959)
Hat über Film und das Filmemachen wesentlich mehr zu sagen als über Hiroshima und die deutsche Besatzung in Frankreich – worüber wiederum er mehr zu sagen hat als die meisten anderen Filme.

19 CHEMIE UND LIEBE (Arthur Maria Rabenalt, Deutschland–SBZ 1948)
Screwball- und Industriespionagekomödie, die bisweilen so aussieht, als hätten sich Fritz Lang (diese assoziativen Bild-Ton-Überlappungen), Max Ophüls (diese ballettartigen Plansequenzen) und Sergej Eisenstein (diese furiosen Montagen) um den Regiestuhl geprügelt. Ein Blick auf AM ABEND NACH DER OPER zeigt dennoch, dass der biografisch problematische Rabenalt offenbar von Haus aus ein begnadeter Formalist war.

20 SATURDAY NIGHT FEVER (John Badham, USA 1977)
New Hollywood goes disco? Nein, eher Disco goes New Hollywood. Ein erstaunlich düsterer Film. Deshalb wirken die kleinen Portionen Fröhlichkeit wie Oasen in einer Wüste.

21 VERFÜHRUNG AM MEER (Jovan Živanović, Bundesrepublik Deutschland / Jugoslawien 1963)
Der erotischste Film, den ich dieses Jahr gesehen habe. Živanović verbindet mit den Mitteln der Neuen Jugoslawischen Welle die verführerische Elke Sommer, Peter van Eyck und die Landschaft der verlassenen Adriainsel so konzise zu einer untrennbaren Einheit, bis schließlich sogar die Wellen und das Steingeröll schwüle Erotik ausstrahlen.

22 INHIBITION (Paolo Poeti, Italien 1976)
Ich habe diesen Film etwas müde und leicht angetrunken gesehen: ideal, denn dann ist man ihm komplett ausgeliefert. Italo-Sleaze, der den Geist der völlig freien Form atmet, und jegliche Spur eines Handlungsfaden links liegen lässt. Stattdessen gleitet die Kamera durch Blicke und macht Liebe mit den Figuren. Und wer würde bei einem solchen Soundtrack nicht dahinschmelzen.

23 BUG (William Friedkin, USA / Deutschland 2006)
Ein Kollege bezeichnete Friedkin einst in einer sehr schönen Besprechung als begnadeten Formalisten, dem mit den Maßstäben des Erzählkinos nicht beizukommen sei. BUG ist in diesem Sinne ein archetypischer Friedkin-Film: Theaterverfilmungs-Kammerspiel als irrsinniger Höllentrip.

24 EMPEROR OF THE NORTH POLE (Robert Aldrich, USA 1973)
Als bizarrer Actionfilm über den verbitterten Herrschaftskampf um einen Zug richtig toll. Aber bei Aldrich gibt es immer noch viel mehr zu entdecken, wie bei diesen beiden schönen Reviews hier und hier zu lesen ist.

25 ZWARTBOEK (Paul Verhoeven, Niederlande / Deutschland / UK / Belgien 2006)
Jeder hat seine Gründe, sagte einst Renoir. Stimmt, sagt Verhoeven, aber sie sind oft nicht besonders schön.

26 L‘UOMO, L‘ORGOGLIO, LA VENDETTA (Luigi Bazzoni, Italien / Bundesrepublik 
Deutschland 1967)
„Carmen“, erzählt als Italowestern, in dem wilde Reisszooms, Unschärfen und elliptische Schnitte von der stürmischen Leidenschaft zwischen José (Franco Nero) und Carmen (Tina Aumont) künden.
(ein bisschen mehr von mir zu diesem Film und überhaupt zu Franco Nero hier)

27 KONEC SANKT-PETERBURGA (Vsevolod Pudovkin / Michail Doller, UdSSR 1927)
Weniger bombastisch, blockig und monumental als Eisenstein. Wesentlich freier atmend.

28 DONOVAN‘S REEF (John Ford, USA 1963)
Die Südsee als radikale soziale Utopie – und als ein unexotischer, weil völlig familiärer Ort. Das „exotische Fremde“ ist vielmehr die „zivilisierte“ Puritanerin aus Boston.
(Kluge Worte von Hans Schmid zu diesem so entspannenden wie entspannten und intelligenten Spätwerk Fords gibt es hier)

29 MATINEE (Joe Dante, USA 1993)
Rock‘n‘Roll kann Leben retten, sang einst Lou Reed. Und Film rettet die Menschheit vor der atomaren Apokalypse.

30 PARIS, TEXAS (Wim Wenders, Bundesrepublik Deutschland / Frankreich / UK / USA 1984)
Ein Acid-Western, der sich zum Acid-Roadmovie, dann zum Acid-Melodrama wandelt.

31 YOIDORE TENHSI (Kurosawa Akira, Japan 1948)
Wenn in China ein Sack Reis umfällt, macht sich gemeinhin Desinteresse breit. Wenn in Japan ein Topf mit weißer Farbe umkippt, ist das schon eine ganz andere Geschichte.

32 DER ROTE RAUSCH (Wolfgang Schleif, Bundesrepublik Deutschland 1962)
Im Grunde eine Art strukturelles Sequel zu Fritz Langs M: ein Triebmörder wird mit einer Gesellschaft am Rande der kollektiven Lynchhysterie konfrontiert. Da dies nun aber ein Nachkriegsfilm ist, entpuppt er sich zugleich als bittere, verklausulierte Abrechnung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und ihren Mördern.

33 OPERA (Dario Argento, Italien 1987)
Argento soll nicht mit Schauspielern umgehen können? Die Hauptdarstellerin, die Kamera, ist doch göttlich. Der Rabenflug Argentos schlägt meiner Meinung nach den Hummelflug Rimski-Korsakows – aber das ist natürlich eher metaphorisch als wörtlich zu verstehen.

34 FROM BEYOND (Stuart Gordon, USA 1986)
Splatter-Kammerspiel vom Feinsten.
(mehr Worte von mir zu diesem Film, den ich RE-ANIMATOR vorziehe, hier)

35 BLOOD SIMPLE (Joel Coen / Ethan Coen, USA 1984)
Vielleicht hat mich die wunderschöne und kuschelige Wärme einer 35mm-Kopie in exzellentem Zustand (Leihgabe eines Wiener Filmclubs!) einfach nur überwältigt. Oder die Tatsache, dass der Film eben nicht originell ist, sondern schlicht nur perfekt getimetes noir-feeling bietet – mit einem Schuss Giallo am Ende.

36 SKIDOO (Otto Preminger, USA 1968)
Gilt gemeinhin als DER „baddie“ in der Preminger-Filmografie. Warum? Wie kann man bloß einen Film mit einer herrlichen Frau-in-der-Wohnung-verstecken-Szene, einer Mülltonnen-Ballett- und Song-Einlage auf LSD und komplett gesungenen End-Credits schlecht finden? Zumal derartig perfekt von einem Altmeister inszeniert.

37 DE NÅEDE FÆRGEN (Carl Theodor Dreyer, Dänemark 1948)
Carl Theodor Dreyer – Godfather of Biker Exploitation Movie!
(wem diese Erklärung zu wenig gibt und mehr über Dreyer erfahren möchte, sei auf diesen blogeigenen Artikel Manfreds verwiesen)

38 TREMORS (Ron Underwood, USA 1990)
Fred Ward, Kevin Bacon und Monsterwürmer – was braucht man denn mehr?

39 TIM FRAZER JAGT DEN GEHEIMNISVOLLEN MR. X (Ernst Hofbauer, Österreich / Belgien 1964)
Wallace-Abklatsch als inspirierter Reigen des Irrsinns.
(mehr Worte von mir zu diesem Film hier auf diesem Blog)

40 COONSKIN (Ralph Bakshi, USA 1975)
Some Like It Hotter!

41 IREZUMI (Masumura Yasuzō, Japan 1966)
„Ich habe gerade einen fürchterlichen, blutrünstigen japanischen Film gesehen“ – beklagte sich eine Ko-Zuschauerin nach der Vorführung ihrem Gesprächspartner am Mobiltelefon gegenüber. Ich hab was anderes gesehen: eine große Tragödie der fatalen Schicksalsschläge (bzw. einen japanischen noir im Gewand eines Kostümfilms).

42 VICKY CRISTINA BARCELONA (Woody Allen, USA / Spanien 2008)
Woody Allens formalistischster Film. Pedantische Off-Erzähler-Exposition und krampfhaft abgearbeiteter Plot wechseln sich mit luftig-leichter Atmosphäre und rauschhaftem Schwelgen ab – das Schwanken der Figuren zwischen lebensweltlichen Hemmungen und emotionaler Befreiung wird so nicht diskursiv, sondern formell greifbar.

43 LE GENOU DE CLAIRE (Eric Rohmer, Frankreich 1970)
Nach einem fürchterlichen Start mit LA COLLECTIONNEUSE verstehe ich (mich mit) Rohmer immer besser.

44 TENSPEED & BROWN SHOE (diverse Regisseure, USA 1980)
Ein witziges und frisches Spiel mit den Klischees des Trickbetrüger- und hard-boiled-Genres. Unglaublich, dass diese schöne TV-Serie mit Ben Vereen und Jeff Goldblum so rasch abgesetzt wurde.

45 DER VERZAUBERTE TAG (Peter Pewas, Deutschland 1943/1947/1951)
Poetischer Realismus made in Third Reich: ein Film, der den Nazis zu zärtlich war – und den späteren Beschützern von Jugend, Tugend und Vaterland ebenso.

46 THE LIMITS OF CONTROL (Jim Jarmusch, USA / Japan 2009)
Der ultimative Lackmustest für Jarmusch‘isten, der nur noch aus Rhythmus, Musik, ritualisierten Gesten und Details besteht.

47 THE WARRIORS (Walter Hill, USA 1979)
Extrem kompakt, reduziert, quasi abstrakt, auch ein bisschen kalt – fast wie eine Versuchsanordnung. Aber so ein Chemiebaukasten übt nicht umsonst große Faszination aus (besonders, wenn er in die Luft geht).

48 THE STUNT MAN (Richard Rush, USA 1980)
Die Achterbahnfahrt aus Slapstick-Komödie, Paranoia-Thriller, Film-im-Film-Film und Melodrama ist schön. Doch das Sahnehäubchen ist Peter O‘Toole als dandyhafter Halbgott-Regisseur, der durch sein Set schwebend mit Zuckerbrot und Peitsche um sich schlägt.

49 LIMONÁDOVÝ JOE ANEB KONSKÁ OPERA (Oldřich Lipský, ČSSR 1964)
Ein Slapstick-Western in Cinemascope und in gelb-viragiertem Schwarzweiss aus einem Land, das zwölf Jahre zuvor noch im stalinistischem Ausnahmezustand war: die bizarrsten Überraschungen kommen so oft aus dem Osten!

50 DE FEM BENSPÆND (Jørgen Leth / Lars von Trier, Dänemark / Schweiz / Belgien / Frankreich 2003)
Als Gedankenspiel über die Befreiung von Kunst durch ihre radikale Beschränkung wohl wesentlich fruchtbarer als das Dogma-Manifest.

51 LIEBE ’47 (Wolfgang Liebeneiner, Deutschland–britische Besatzungszone 1949)
Ausgerechnet einer der größten Nazi-Mitläufer wirft Zuschauern, die an Selbstvergewisserung à la IN JENEN TAGEN gewöhnt waren, die Kriegsbegeisterung und die ganz realen Nazis ins Gesicht.

52 UN DRÔLE DE PAROISSIEN (Jean-Pierre Mocky, Frankreich 1963)
Faszinierend, wie Mocky seinen eigentlich heuchlerischen Protagonisten (adelig, aber verarmt, klaut professionell Geld aus Spendenboxen in Kirchen) zum Helden und zum Kämpfer gegen die Symptome einer Existenz macht, deren Problematik er aus lebensweltlicher Beschränktheit nicht erkennt.

Wozu ich meine freie Zeit im Jahr 2014 unter anderem auch genutzt habe: mehr oder minder berühmte Film-Franchises nachholen, die bisher noch nicht gesehen hatte (bis auf den ersten DIE HARD alles Erstsichtungen).


Berühmte Filmreihen – nachgeholt

DIE HARD

– DIE HARD (John McTiernan, USA 1988)
Zum vierten oder fünften Mal gesehen: immer noch unschlagbar gut.

– DIE HARD 2 (Renny Harlin, USA 1990)
Ein netter Actionfilm, nicht mehr und auch nicht weniger. Ihm fehlt auf der einen Seite das ruhige Erzählen des ersten Teils in seiner schönen Exposition (oder besser gesagt: seinem „Aufwärmen“) und andererseits dessen Dringlichkeit.
(für eine alternative Sicht siehe diese schöne, leidenschaftliche Verteidigung eines Renny-Harlin-Fans)

– DIE HARD: WITH A VENGEANCE (John McTiernan, USA 1995)
McTiernans effektvolle Regie knüpft fast wieder an die Qualität des ersten Teils an, und es war wieder mal Zeit für einen Bösewicht mit deutschem Akzent.

– LIVE FREE OR DIE HARD (Len Wiseman, USA / UK 2007)
Zweifelsohne die größte Überraschung bei meinem kleinen DIE HARD-Durchgang! Alles an ihm schrie „seelenloses Sequel zum Zuschauer-Abmelken“, und Wiseman war im Hinterkopf als der Regisseur abgespeichert, der genau letzteres beim fürchterlichen und inkompetent inszenierten TOTAL RECALL-Remake gemacht hat. Stattdessen trägt McClane seine analoge Badass‘igkeit erfolgreich in das Internetzeitalter hinüber und kämpft sich durch erstaunlich gut inszenierte Actionsetpieces hindurch.

– A GOOD DAY TO DIE HARD (John Moore, USA 2013)
Allerdings immer ein schlechter Tag, um diesen Mist zu gucken!


STAR WARS

– STAR WARS (George Lucas, USA 1977)
Der Western.
Lucas verbeugt sich vor Kurosawa und Ford, und zweifelsohne sind der erste Teil und besonders die Szenen in der intergalaktischen Frontier-Stadt schier großartig. Toll auch, wie Chewie Han Solos griechischer Chor und externalisierter Gefühlshaushalt in einem ist. Geruch und Weichheit seines Fells sind fast spürbar, wie überhaupt der Film größtenteils sehr sinnlich und taktil ist.

– THE EMPIRE STRIKES BACK (Irvin Kershner, USA 1980)
Der Universal-Gothic-Film.
Warum so viele Fans ausgerechnet diesen Teil als den stärksten der Reihe sehen, ist mir ein Rätsel. Das erste Drittel ist ein Expositionsklotz, in dem die Figuren fast eine Dreiviertelstunde lang „Hallo, hier bin ich wieder“ rufen. Dann kommen wir endlich bei Yoda an, dessen Lebensumgebung einem Universal-Studioset aus den 1930er nachempfunden zu sein scheint: dunkler Wald, viel Nebel, herrlich atmosphärisch.

– RETURN OF THE JEDI (Richard Marquand, USA 1983)
Der Troma-Exploiter.
Jabbas Höhle mit dem unförmigen Gastgeber, der überdrehten Atmosphäre des Irrsinns, dem wüsten Dekor und der latenten Gewalt sieht wie die intergalaktische Partnerstadt von Tromaville aus. Die Handlung und die Ästhetik passen sich an: fast totaler Kontrollverlust, bei dem das Auftauchen der Ewoks nicht wirklich Abhilfe schafft – und irgendwie ist das ganz sympathisch. Der Höhepunkt der Reihe!


THE LORD OF THE RINGS

Mit den Erwartungen oder den Nicht-Erwartungen ist das so eine Sache... Wirkliches Interesse an der Mittelerde-Saga an sich hatte ich noch nie. Die Neugier auf die Frage, warum denn so viele Menschen von „Meisterwerk“ und „größte Filme aller Zeiten“ und anderen Superlativen sprechen (und zwar in aller Regel so, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt), war verhältnismäßig sogar größer. Ein guter Freund, der mich immer wieder bei Treffen und Telefonaten mit Hinweisen auf diese Franchise nervte und mir unterstellte, ich hätte von Filmen ja überhaupt keine Ahnung, wenn ich „Herr der Ringe“ nicht kenne, hat mit seiner Penetranz irgendwann das Fass zum Überlaufen gebracht: Scheiben raus aus der Stadtbücherei, rein in den Player!

– THE FELLOWSHIP OF THE RINGS (Peter Jackson, USA / Neuseeland 2001)
Ein Vokuhila mit Grinsegesicht und ein blütenreiner Held brechen zu lustigen Abenteuern auf. Bleiben als interessante Charaktere nur Sméagol (war der überhaupt im ersten Teil? – für mich verschwimmt das irgendwie alles) und Boromir: die beiden einzigen zwei Figuren, bei denen nicht beim ersten Anblick schon klar ist, worauf die hinauslaufen. Leider ist Sméagol ein Pixelklumpen, und Boromir stirbt, bevor er überhaupt für so etwas wie einen Konflikt sorgen kann...

– THE TWO TOWERS (Peter Jackson, USA / Neuseeland 2002)
Boromir ist tot und Peter Jackson schindet noch mehr Zeit, indem er die „und was im letzten Teil passierte“-Erklärungen auswalzt. Sam stellt sich langsam aber sicher als der eigentlich treibende Protagonist heraus – und wie er Vokuhila immer als „Frodo-Sir“ bezeichnet, ist schon ziemlich gruselig. Gruseliger als der Pixelklumpen, der die beiden begleitet.

– THE RETURN OF THE KING (Peter Jackson, USA / Neuseeland 2003)
Sméagol ist der eigentliche tragische Held der Reihe. Die einseitige Rezeption seiner Gollum-Dimension macht deutlich, wie stark viele Fans auf simple Eindeutigkeiten setzen – wofür Peter Jackson im Grunde nichts kann. Einige Bilder zu Beginn dieses Teils deuten darauf hin, wie Sméagol, gespielt von einem richtigen Schauspieler in Makeup, hätte aussehen können: nämlich richtig interessant. Stattdessen gibt es Pixelklumpen (dafür wiederum kann Jackson etwas). Und Lauftzeitschinden in wahrhaftig epischer Dimension. Die Tendenz, auch wirklich alles zu Tode erklären zu müssen, wird im Schluckauf-Ende noch einmal richtig deutlich.

Ich will jetzt die „Herr der Ringe“-Reihe nicht als Prototyp eines neuen seelenlosen Blockbuster-Kinos verdammen. Mir hat sie aber jedenfalls jenseits einiger vereinzelt netter Momente kaum etwas Positives gegeben, dafür aber viel Ödnis in einer Gesamtlaufzeit, die eigentlich für sechs Filme reicht. Als Exploitation-Filmemacher im Low-Budget-Bereich und zärtlich-humoristischer Poet des „New Queer Cinema“ ist mir Peter Jackson jedenfalls lieber.
Besagtem Freund geht es übrigens gut. Und er belästigt mich nun seltener mit Mittelerde, seitdem er weiß, dass ich die Filme gesehen habe. Alles gut.


PLANET OF THE APES

Nur noch schwache Bilder von irgendetwas mit „Planet der Affen“, das über den Bildschirm im Wohnzimmer meines Großonkels flatterte. Es war vermutlich eine Episode der TV-Serie. Nun also (mindestens 20 Jahre später) die klassische Franchise komplett.

– PLANET OF THE APES (Franklin J. Schaffner, USA 1968)
Stimmt: das erste Drittel wirkt stellenweise fast schon verspielt-experimentell. Und die irre Parodie einer HUAC-Sitzung (Autor Michael Wilson war in den 1950er Jahren „geschwarzlistet“) zeigt das Potential von Filmen, die sich gegenüber ihren literarischen Vorlagen Freiheiten nehmen.

– BENEATH THE PLANET OF THE APES (Ted Post, USA 1970)
Ausbrechende Illusionsfeuer und telepathische Atombombensektierer: sympathischer Quatsch, kurzweilig und effizient inszeniert.

– ESCAPE FROM THE PLANET OF THE APES (Don Taylor, USA 1971)
Die Affen entdecken eine Zivilisation, die wir aus heutiger Sicht als Museum der 1970er betrachten können, zumindest von der Mode und der Musik her. Der daraus entstehende Kulturclash macht diesen Teil zum wohl zweitbesten der Reihe, zumal die Figuren Cornelius und Zira die größte emotionale Fallhöhe entwickeln, die in der Franchise überhaupt zu sehen ist.

– CONQUEST OF THE PLANET OF THE APES (J. Lee Thompson, USA 1972)
Die Atmosphäre der bedrückenden, latent gewalttätigen Dystopie ist das Highlight dieses Films, der dramaturgisch jedoch arg auf die Schnauze fällt (eine zweite Sichtung würde sich allerdings vielleicht anbieten?).

– BATTLE FOR THE PLANET OF THE APES (J. Lee Thomspon, USA 1973)
Das Problem ist nicht, dass alles albern oder stumpfsinnig generisch ist, sondern dass sich alles egal anfühlt.
TAKEN

Franchise-Nachholen als Vorbereitung zur Pressevorführung:

– TAKEN (Pierre Morel, Frankreich / USA / UK 2008)
Eine amerikanophile französische Aneignung des Rache-Actionfilms, die man problemlos geradlinig sehen kann (ein Ex-Geheimdienstler sucht nach seiner von albanischen Mafiosi entführten Tochter). Oder auch doppelbödig: ein frustrierter Mann, der als Familienvater vollkommen versagt hat und im Grunde ein ziemlich armes Würstchen ist, geht mit der ganzen Arroganz US-amerikanischer Interventionswut in die Fremde, um seine Vorurteile auszuleben und seine Gewaltimpulse abzureagieren.

– TAKEN 2 (Olivier Megaton, Frankreich 2012)
Das Doppelbödige des ersten Teils wird zu einem reinen Plot-Element (wer rächt die Geschädigten des Rächers?), und der Film selbst zu einem straighten Actioner umgewandelt, der zumindest ab und zu das Niveau halbwegs ansehnlicher direct-to-video-Stangenware erreicht.

– TAKEN 3 (Olivier Megaton, Frankreich 2015)
Direct-to-video-Stangenware, unteres Niveau. Forest Whitaker ödet sich durch den Film, aber Liam Neeson scheint immer noch Spaß zu haben, was das ganze zumindest vor dem kompletten Absaufen rettet – zumal bei einer solch verwackelt-zerhäckselten und inkompetenten Actioninszenierung. Ein vierter Teil ist zu befürchten.


Da wir gerade bei Filmen in Plural sind: zum Abschluss meines Rückblicks ein kleines Angebot an ausprobierten und als sehenswert empfundenen Double-Features:


Tolle Double-Features, ausprobiert 2014: 10 Vorschläge

Una lunga serata gialla dei piaceri e della morte
– SETTE NOTE IN NERO (Lucio Fulci, Italien 1977)
– 7, HYDEN PARK: LA CASA MALEDETTA (Alberto De Martino, Italien 1985)

Fremde Länder, fremde Fauna
– THE THIEF OF BAGDAD (Raoul Walsh, USA 1924)
– TREMORS (Ron Underwood, USA 1990)

Spitz, scharf und saftig: ein Exploit-evening
– THE DRILLER KILLER (Abel Ferrara, USA 1979)
– EMMANUELLE (Just Jaeckin, Frankreich 1974)

Western: (k)ein US-amerikanisches Genre
– FUK SAU / VENGEANCE (Johnnie To, Hong Kong / Frankreich 2009)
– IL MERCENARIO (Sergio Corbucci, Italien / Spanien 1968)

Gefangen im Tropenparadies
– HEAVEN KNOWS, MR. ALLISON (John Huston, USA 1957)
– THE BIG BIRD CAGE (Jack Hill, USA / Philippinen 1972)

Fluchten aus der mentalen Provinz 
– LES PETITES FUGUES (Yves Yersin, Schweiz / Frankreich 1979)
– COMING OUT (Heiner Carow, Deutsche Demokratische Republik 1989)

Daddy, mommy, issues
– KISEI JUI – SUZUNE: GENESIS (Kaneda Ryu, Japan 2011)
– PSYCHO (Alfred Hitchcock, USA 1960)

Erzählungen aus dem Gefängnis
– UN CONDAMNÉ À MORT S‘EST ÉCHAPPÉ (Robert Bresson, Frankreich 1956)
– LIK WONG / STORY OF RICKY (Lam Ngai Kai, Hong Kong / Japan 1991)

Maritime Entspannungen
– MOBY DICK (John Huston, USA 1956)
– LES VACANCES DE MONSIEUR HULOT (Jacques Tati, Frankreich 1953)

Zart, hart, Mann, Frau, Liebe, Kampf
– EMPEROR OF THE NORTH POLE (Robert Aldrich, USA 1973)
– HEAVENLY CREATURES (Peter Jackson, Neuseeland / Deutschland 1994)

So... nach diesem Rückblick sind die Sinne für 2015 geschärft. Auf viele spannende Filme im neuen Jahr!

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