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Ein Werwolf in der Pampa

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NAZARENO CRUZ Y EL LOBO (NAZARENO CRUZ AND THE WOLF)
Argentinien 1975
Regie: Leonardo Favio
Darsteller: Juan José Camero (Nazareno Cruz), Marina Magali (Griselda), Alfredo Alcón (Teufel), Lautaro Murúa (Sebastian), Nora Cullen (Lechiguana), Juanita Lara (Fidelia), Elcira Olivera Garcés (Damiana), Yolanda Mayorani (Patentante des Teufels)


Während ein heftiges Gewitter tobt, stößt die alte Lechiguana, eine Art wohlwollende Hexe oder Schamanin, eine schreckliche Warnung aus: Jeremías, der schon sechs Söhne hat, müsse unbedingt eine erneute Schwangerschaft seiner Frau Damiana verhindern. Denn falls das siebte Kind auch wieder ein Sohn ist, wird er bei Vollmond unweigerlich zum Werwolf. Der Ausdruck, den sie für "Werwolf" benutzt, ist nicht hombre lobo oder licántropo, was man im europäischen Spanisch erwarten würde (der stilbildende THE WOLF MAN mit Lon Chaney Jr. von 1941 heißt auf Spanisch EL HOMBRE LOBO), sondern lobizón - die argentinische Schreibweise eines Wesens aus der Mythologie der indigenen Sprach- und Kulturgruppe Guaraní, das aus der Verschmelzung eines einheimischen Fabelwesens mit europäischen Werwolfmotiven hervorgegangen ist. So weist der Film schon nach wenigen Sekunden darauf hin, dass hier nicht einfach der Werwolfstoff mit seinen üblichen Zutaten (die zu einem beträchtlichen Teil gar nicht der europäischen Mythologie entstammen, sondern von Curt Siodmak, dem Drehbuchautor von THE WOLF MAN, erfunden wurden) von Hollywood nach Argentinien verpflanzt wurde, sondern dass auf einheimische volkstümliche Sagenstoffe zurückgegriffen wird. Weitere solche spezifisch argentinischen Elemente werden folgen.

Lechiguana (rechts unten ihr gar nicht toter Mann)
Lechiguanas Warnung verhallt ohne Wirkung - Damiana ist bereits schwanger. So hofft jeder, dass das Kind ein Mädchen wird, doch natürlich wird es ein Junge. Um das Schlimmste abzuwenden, wird Lechiguana die Patentante des Jungen, und er erhält besonders "heilige" Vornamen - Nazareno und Cruz (Nazarener = Synonym für Jesus, Cruz = Kreuz). Nazareno Cruz wird seinen Vater und seine sechs Brüder nie kennenlernen - beim Versuch, eine Rinderherde durch einen Fluss zu treiben, ertrinken alle noch vor Nazarenos Geburt in den Fluten. Zunächst scheint alles gutzugehen - Nazareno wächst ohne besondere Vorkommnisse zu einem allseits beliebten jungen Mann heran. Doch der Fluch seiner Geburt ist nicht aufgehoben - er tritt aber erst in Kraft, sobald sich Nazareno zum ersten Mal verliebt. Die Prophezeiung von einst ist in der Gemeinschaft nicht vergessen, aber Nazareno selbst weiß am wenigsten davon. Wenn in seiner Gegenwart Anspielungen oder Witze über Wölfe gemacht werden, weiß er nicht, was er damit anfangen soll.

Nazareno und Griselda, als für sie die Welt noch in Ordnung ist
Eines Tages trifft er bei einem Fest die schöne blonde Griselda. Bei beiden ist es Liebe auf den ersten Blick - und damit nimmt das Verhängnis seinen Lauf. Schon bei ihrem ersten Tanz werden sie von einem Fremden in nobler Gaucho-Kleidung düster angestarrt. Und kurz darauf - am Tag vor Vollmond - begegnet Nazareno dem Fremden scheinbar zufällig auf freiem Feld. Dieser eröffnet Nazareno, dass seine Verwandlung in einen Werwolf unmittelbar bevorsteht. Nazareno lacht darüber, doch der Fremde macht klar, dass er es ernst meint. Und er macht ein Angebot: Wenn Nazareno der Liebe für immer abschwört, wird er seinem Schicksal entkommen, und als Bonus verspricht ihm der Fremde unermessliche Reichtümer. Doch Nazareno entscheidet sich für seine Liebe. Als Zuschauer hat man längst begriffen, dass der Fremde nur der Teufel persönlich sein kann, aber der etwas schlichte Nazareno braucht deutlich länger, bis er darauf kommt. Hier zeigt sich ein weiteres einheimisches Element: Der Teufel wird mandinga genannt, eine in Argentinien und Chile verbreitete Bezeichnung für den Teufel in Menschengestalt, der sich so unerkannt unter die Menschen mischen kann, um seine bösen Werke leichter zu verrichten. Doch wie sich im weiteren Verlauf des Films zeigt, ist dieser Teufel gar nicht so böse - mehr darüber gleich.

Der Teufel und seine Patentante
Die Vollmondnacht bricht an, und es kommt, wie es kommen muss. Nazareno in der Gestalt eines Wolfs nähert sich einer Schafherde. Vielleicht hätte er nur ein paar Schafe gerissen und die Hirtenhunde getötet, doch ein Schäfer stellt sich ihm in den Weg und muss dran glauben. Weil die alte Prophezeiung noch präsent ist, ist der Schuldige von vornherein bekannt, und so macht sich ein Mob auf die Suche nach Nazareno, um ihn zu töten. Die Führung übernimmt ausgerechnet Griseldas Vater Sebastian (in IMDb und Wikipedia wird er aus unerfindlichen Gründen Julián genannt, er heißt aber wirklich Sebastian). Sowohl Damiana als auch Griselda versuchen vergeblich, ihn zurückzuhalten. Es kommt zu einer nächtlichen Treibjagd, doch die scheitert zunächst, weil Kugeln aus Blei verwendet werden, und ein Werwolf nur mit solchen aus Silber verwundet werden kann (eine von Siodmaks Erfindungen, die hier übernommen wurde).

Sebastian und Damiana
Als Nazareno, wieder in Menschengestalt, am nächsten Morgen irgendwo in der Pampa aufwacht, springt ihn ein Huhn frontal an, wodurch er rücklings in ein Erdloch stürzt, das sich zu einer Höhle und dann zu einer labyrinthischen Unterwelt weitet. Das Huhn verwandelt sich in eine Greisin: die Patentante des Teufels - eine ähnliche Figur wie "des Teufels Großmutter" in einigen europäischen Märchen, und eine ebenso schrille Erscheinung wie Lechiguana. In schneller Folge nimmt sie verschiedene Tiergestalten an, und Nazareno weiß nicht, wie ihm geschieht. Der Ort ist eine Art Vorhölle, in der Anhänger des Teufels und solche, die es werden wollen, ausgebildet und geprüft werden. Der Name für solche Orte ist salamanca - vielleicht nach der spanischen Stadt, an deren alter Universität der Teufel persönlich Vorlesungen gehalten haben soll (andere Version hier). Mandinga selbst tritt auf und führt Nazareno durch dieses unterirdische Reich, das wirkt wie von Hieronymus Bosch erdacht. Mit seiner Patentante spricht der Teufel in Quechua (eine im Andenraum weit verbreitete Sprachfamilie).

In der Unterwelt
In dieser Unterwelt kommen sich die beiden unterschiedlichen Protagonisten auf unerwartete Weise näher. Schon bei einer früheren Begegnung hatte Nazarenos Frage, wie es ist, einen Sohn zu haben, den Teufel etwas aus der Fassung gebracht. Nun greift er selbst das Thema wieder auf: Er konnte die Frage nicht beantworten, weil er keinen Sohn haben kann, weil er aber auch selbst nie Sohn gewesen ist. Er wurde von "ihm" (gemeint ist Gott) sozusagen durch Willensakt in die Welt gesetzt, um seine Aufgabe als Unheilsbringer zu erfüllen, und es wird deutlich, dass Mandinga unter dieser einsamen Position leidet. Wie er Nazareno jetzt erklärt, war das Angebot, die Liebe gegen Reichtum einzutauschen, eine Prüfung, die Nazareno glänzend bestanden hat. Zwar sei sein baldiger Tod unausweichlich, aber dann werde er nicht in der Hölle, sondern bei "ihm" landen. Und dann äußert der Teufel eine erstaunliche Bitte: Weil er selbst nie zu "ihm" vordringen kann, soll Nazareno dort ein gutes Wort für ihn einlegen. Ähnlich wie Fritz Langs "müder Tod" ist er nämlich des Unheils und der Boshaftigkeit überdrüssig. Er sehnt sich nach Erlösung, um auf die "gute Seite" zu wechseln. Mandinga erweist sich hier als unerwartet komplexer und tragischer Charakter, der Nazareno jetzt auf Augenhöhe gegenübersteht.

Feuer ...
Mit Nazareno wieder in die Oberwelt entlassen, strebt die Geschichte ihrem Ende entgegen. Inzwischen wurden Kugeln aus Silber gegossen, und in der nächsten Nacht kommt es wieder zur Treibjagd. Nazareno hält sich versteckt, und Griselda ist bei ihm, aber man spürt sie auf. Sowohl Griselda, die sich schützend vor ihn stellt, als auch Nazareno werden von den Kugeln getroffen, und am Ende liegen beide im Gras und sehen aus wie Adam und Eva, schlafend im Paradies. Und Mandingas Stimme ruft Nazareno hinterher, er solle nicht vergessen, für ihn zu sprechen.

... und Wasser
NAZARENO CRUZ Y EL LOBO weicht nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch von den meisten Werwolffilmen ab. Während Leonardo Favio bei CRÓNICA DE UN NIÑO SOLO Abstand von Sentimentalität und Dramatik hielt, drückt er hier ganz im Gegenteil voll auf die Tube. Vor allem die beiden nächtlichen Treibjagden sind ganz große Oper. Auch in musikalischer Hinsicht: Hier kommt Verdis "Rigoletto" zum Einsatz. Wirklich aus dem Rahmen fällt das aber nicht - im Gegensatz zu einigen ausgedehnten gemeinsamen Szenen von Nazareno und Griselda. Bei ihrer ersten Begegnung und ihrem ersten Tanz werden sie stark stilisiert in Szene gesetzt: Extreme Großaufnahmen, teilweise in Zeitlupe mit im Wind wehenden Haaren, und Überlagerung mit den Flammen eines Feuers durch Mehrfachbelichtung. Musikalisch unterlegt ist das mit dem Instrumental (präziser: Chor-Vokalise) "Soleado" des italienischen Daniel Sentacruz Ensemble, veröffentlicht 1974. Der ungemein populäre Titel zog viele Coverversionen nach sich, beispielsweise "Tränen lügen nicht" von Michael Holm (mit der Parodie "Dänen lügen nicht" von Otto Waalkes) und als Weihnachtslied "When a Child Is Born" (u.a. Johnny Mathis, Bing Crosby, Boney M). Direkt im Anschluss daran wird "Soleado" gleich nochmal gespielt, und Nazareno und Griselda lieben sich dazu an und in einem Fluss, einschließlich Unterwasser-Aufnahme. In einer weiteren Szene liegen die beiden wild knutschend in einem flachen Flussbett, untermalt von einem Instrumental, das immerhin nicht ganz so dick aufträgt wie "Soleado" - aber immer noch dick genug (da dieses Stück im Gegensatz zu "Rigoletto" und "Soleado" nicht im Vorspann erwähnt wird, dürfte es sich um eine Eigenkomposition von Favios Tonsetzer Juan José García Caffi handeln). Ganz am Schluss, als Nazareno mit Griselda in den Armen getroffen niedersinkt, kommt "Soleado" noch einmal zum Einsatz (und auch hier beginnt die Kamera zu delirieren). Diese Sequenzen und insbesondere die fast schon exzessive Verwendung des Schmachtfetzens "Soleado" entwickeln einen gewissen Kitsch- und Sleaze-Faktor, der an italienische Genrefilme der 60er und 70er Jahre denken lässt.

Ein gewisser Sleaze-Faktor
Ein weiteres auffälliges Merkmal von NAZARENO CRUZ Y EL LOBO sind Tiere, die immer wieder ohne offensichtlichen Bezug zur Handlung in Großaufnahme gezeigt werden. Hier eine Kröte, da eine Eidechse, dort eine Schlange, dazu die Geräuschkulisse der Pampa mit zirpenden Grillen etc. Und immer wieder in Zeitlupe aufstiebende Vögel. Aber sind es wirklich nur Tiere, die da zu sehen sind? Es könnten auch des Teufels Patentante oder der Teufel selbst sein ... Es wurde bisweilen vorgebracht, NAZARENO CRUZ Y EL LOBO sei stilistisch uneinheitlich, insbesondere die erwähnten Szenen mit Nazareno und Griselda würden nicht zum sehr schön und solide gefilmten Rest des Films passen. Ich sehe das aber nicht so. Wenn man von diesem Film so etwas wie Realität erwartet (in dem Sinn, dass der Horror aus dem Einbruch des Irrealen in die Realität erwächst), dann wirken diese Szenen in der Tat befremdlich. Doch an NAZARENO CRUZ Y EL LOBO ist eigentlich von vornherein nichts real - obwohl (oder gerade weil) ein Erzähler aus dem Off am Anfang behauptet, dies sei die "wahrste Geschichte der Welt", die der Teufel dem Großvater des Erzählers und dieser ihm selbst erzählt habe, und die er nun uns, den Zuschauern, erzählen wird. Das alles ist von Anfang an ein irreales Trugbild, eine Phantasmagorie. Das zeigt sich etwa an Lechiguana und den Personen in ihrem Umfeld. In ihrer bizarren Behausung (eine Art Wohnhöhle) liegt ihr Mann seit 40 Jahren im Bett und ist drapiert wie ein aufgebahrter Toter, obwohl ihm eigentlich nichts fehlt (wie sie zumindest behauptet). Noch rätselhafter ist Lechiguanas Enkelin Fidelia. Als Lechiguana am Anfang ihre Warnung ausstößt, sagt Fidelia dazu einen morbiden Kinderreim auf, der als Omen für das kommende Unheil dienen kann. Und dann, rund 20 Jahre nach dem Prolog, sagt sie den Reim immer noch auf, und sie ist nicht älter (oder zumindest nicht größer) geworden. Eine vollkommen mysteriöse Figur. Das alles wirkt wie ein Fiebertraumgebilde, und da passen stilistische Exzesse bestens hinein. Puristische Horrorfans mögen das aber anders sehen und die eine oder andere Szene nicht goutieren.

Fidelia
Das Drehbuch zu NAZARENO CRUZ Y EL LOBO schrieben Favio und sein Bruder Zuhair Jury nach der Vorlage eines Radio-Hörspiels von einem Juan Carlos Chiappe. Als der Film 1975 herauskam, brach er alle Kassenrekorde für einheimische Filme, und er ist mit 3,4 Mio. Zusehern immer noch der erfolgreichste argentinische Film aller bisherigen Zeiten (Favios Gaucho-Drama JUAN MOREIRA liegt mit 2,4 Mio. auch noch gut im Rennen). Er gewann auch drei Preise bei einem Festival in Panama, war in Moskau im Wettbewerb und wurde als argentinischer Beitrag zum Oscar für den besten fremdsprachigen Film nominiert (allerdings nicht für die Endrunde akzeptiert). - Nora González Pozzi, Gründerin und Leiterin des Estudio de Comedias Musicales in der argentinischen Großstadt Rosario sowie Präsidentin der Fundación Rosario Arte & Cultura, schrieb vor einigen Jahren eine Musical-Version von NAZARENO CRUZ Y EL LOBO, die erfolgreich im dortigen Teatro El Círculo aufgeführt wurde (hier die offizielle Website). Als besonderer Clou wurde Film-Nazareno Juan José Camero für das Ensemble verpflichtet. - NAZARENO CRUZ Y EL LOBO ist auf einer argentinischen DVD ohne fremdsprachige Untertitel erschienen. Englische Untertitel gibt es auf einschlägigen Websites zum Download.

Große Oper und das Ende

Vier Hausmädchen

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Eine junge Frau aus einfachen Verhältnissen wird als Hausmädchen in einer Familie aus einer gehobeneren Schicht eingestellt. Sie soll in erster Linie die hochschwangere Herrin des Hauses bei heimischen Arbeiten entlasten. Als es jedoch zwischen dem Hausherren und dem Hausmädchen zu einem Verhältnis kommt und letzteres schwanger wird, beginnen die Leidenschaften hochzukochen.

Eine einfache Geschichte, die in vier Filmen variiert wird. Drei von ihnen inszenierte Kim Ki-young, einer der großen Außenseiter und Exzentriker des koreanischen Kinos von den 1960er bis 1980er Jahren. Das Konzept, eigene Filme mit fast der selben Geschichte zu variieren, war keineswegs neu. Howard Hawks drehte 1959 RIO BRAVO: 1966 und 1970 folgten die Variationen EL DORADO und RIO LOBO. Ein wesentlich passenderer Vergleich mit Kims „Hausmädchen-Trilogie“ sind jedoch Fritz Langs WOMAN IN THE WINDOW (1944) und SCARLET STREET (1945). 2010 drehte Im Sang-soo einen Film, der gemeinhin als Remake bezeichnet wurde – den Begriff Variation halte ich für fruchtbarer. Aber der Reihe nach...


HANYO (THE HOUSEMAID)
Republik Korea 1960
Regie: Kim Ki-young
Darsteller: Lee Eun-shim (das Hausmädchen), Kim Jin-kyu (der Hausherr), Ju Jeung-ryu (die Hausherrin)

HANYO präsentiert uns zu Beginn eine Familie wie aus dem Bilderbuch: Vater, Mutter, Tochter, Sohn. Sie leben in scheinbarer Harmonie: von einer kleinen Wohnung sind sie in ein kleines zweistöckiges Haus umgezogen. Die Frau ist hochschwanger, und engagiert deshalb ein Hausmädchen, um bei den häuslichen Arbeiten auszuhelfen. Doch schon bevor die todbringende Haushaltshilfe ankommt, wird deutlich, dass irgendetwas nicht stimmt. Die rasende Kamera und die dissonante Musik (im Vorspann) sind erste Hinweise, aber auch kleine gewalttätige Ausbrüche machen deutlich: das Hausmädchen wird keine intakte Familie zerstören, sondern einer Gruppe von bereits gestörten Menschen den Spiegel vors Gesicht halten.

Rattengift und voyeuristischer Blick
Die immer wieder suggerierte Deutung von HANYO sieht das Hausmädchen schlimmstenfalls als Monster, bestenfalls als Bösewicht. Wer genau hinschaut, wird merken, dass Sympathien und Antipathien nicht eindeutig verteilt sind und Kim es sich selbst und dem Zuschauer alles andere als einfach macht.

Der Hausherr etwa ist als Musiklehrer für Fabrikarbeiterinnen angestellt. Die Unterrichtung, so sehr er immer mal einen kleinen Witz auf den Lippen trägt, versteht er auch immer als Akt der sozialen Unterwerfung. Er sieht die Arbeiterinnen als minderwertig an und hat auch keine Angst, ihnen gegenüber handgreiflich zu werden – oder eine von ihnen bei der Fabrikverwaltung zu denunzieren, für einen Liebesbrief, der offensichtlich eher verliebt-schwärmerisch als aggressiv sexuell ist (HANYO wird danach eine Art Versuchsanordnung aufbauen, die indirekt dem Hausherrn ins Gesicht sagt „Fühlst du dich von diesem harmlosen Zettel bedroht? Warte erst mal ab, was das Hausmädchen mit dir anstellen wird!“).
Den Klassenunterschied zu den Arbeiterinnen und dem Hausmädchen markiert der Hausherr auch sehr deutlich, indem er sie systematisch mit „du“ anspricht, während die jungen Frauen ihn immer siezen (so durchgehend in den verfügbaren französischen und deutschen Untertiteln). Die koreanische Sprache kennt wohl sechs verschiedene Honorativ-Formen, von denen drei geläufig sind – und offenbar zwei Formen des Duzens. Das widerspiegelt die Bedeutung, die soziale Hierarchien im Koreanischen haben, und es ist zu vermuten, dass der Film damit in der gegenseitigen Anrede der Figuren bewusst spielt (mangels Kenntnis der koreanischen Sprache mag ich da keine tiefer gehenden Interpretationen vorlegen).
Auch zuhause, als Hausherr, offenbart der Musiklehrer schnell seine dunkle Seite. Er ist herrisch, latent gewalttätig, und gebiert sich offen grausam gegenüber seiner gehbehinderten Tochter (er lässt sie kaltblütig auf der Treppe stürzen mit der Begründung, dass sie eben mehr trainieren müsse) und seinem Sohn (als dieser einer kleinen Bitte nicht sofort nachgeht, reißt er ihm ein Spielzeug aus der Hand und droht damit, es zu zerstören). 

Doch das bedeutet nicht, dass in HANYO die Kinder unschuldig sind. Der Junge hänselt immer wieder seine Schwester, die nur langsam auf Krücken gehen kann. Das Mädchen hingegen hat die sozialen Klassenambitionen ihrer Eltern gut internalisiert, und begegnet dem neuen Hausmädchen mit Verachtung, Misstrauen, sehr schnell gar mit Paranoia – noch bevor es dafür nur den geringsten Anlass gibt. So erscheint das Hausmädchen schlussendlich als selbst-erfüllende Prophezeiung der Ängste, die die Mittelklasse-Familie plagen.

Die Ehefrau und Hausherrin hingegen lebt in einer materialistischen Blase und hängt einem recht pervertiertem Bild von Familie nach: ihrer Meinung nach ist die größte Bedrohung für die Familienwerte Sex – während Raub oder gar Mord völlig in Ordnung gehen, solange man sie richtig vertuschen kann.

Nasse Fenster und Lust
Das Hausmädchen hingegen, absolut wunderbar von Lee Eun-shim dargestellt (meiner Meinung nach die beste Hausmädchen-Darstellerin aller vier Filme), bleibt in vielem ein Geheimnis. Man weiß nur, dass sie vom Land kommt. Es gibt zu Beginn Anzeichen dafür, dass sie geistig etwas zurückgeblieben ist, was sich als Trugschluss entpuppt. Psychisch labil mag sie sein, aber auf eigene Weise ist sie auch eine eiskalte Rationalistin, die zumindest im Rahmen ihrer eigenen Logik konsequent handelt – wenngleich mörderisch und selbstzerstörerisch. Sicher ist, dass sie eine proaktive Figur ist: in den beiden folgenden Filmvariationen wird das Hausmädchen vom Hausherren vergewaltigt und in der Variation von 2010 von ihm verführt – der HANYO von 1960 ist so der einzige Film der Reihe, in der das Hausmädchen aktiv den Hausherren verführt.

HANYO kann als bitterböse Satire auf eine rein materialistische Aufsteiger-Mentalität gedeutet werden. Die Familie, in die das Hausmädchen gerät, steigt, wenn man so will, von der niedrigen Mittelklasse in die mittlere Mittelklasse auf und umgibt sich gerne mit Statussymbolen. Dazu gehört das Klavier im Wohnzimmer ebenso wie das Fernsehgerät (das ähnliche fetischisierende Äußerungen auslöst wie in Douglas Sirks Melodrama ALL THAT HEAVEN ALLOWS). Das Mädchen vom Lande nehmen diese Mittelschichtsangehörigen letztendlich völlig irrational als Bedrohung für ihren sozialen Status an und haben durchaus keine Hemmungen, einen „Klassenkampf von oben“ gegen sozioökonomisch Niedrigstehende zu entfesseln.
Sehr bemerkenswert ist, dass in HANYO die Hausherren KEINE Reichen sind, sondern tatsächlich aufsteigende Mittelschicht. Das ändert sich im Laufe der Hausmädchen-Filme: die Hausherren werden stetig wohlhabender, das Haus immer größer – bis sie schließlich in HANYO (2010) Multimillionäre sind. Die materialistischen Ängste der Hausherren werden aber nirgendwo so deutlich wie in HANYO (1960): der Aufstieg ist frisch, die Abwehrmechanismen gegenüber Arbeiterschichten sind wesentlich lebendiger. Und das Hausmädchen kann ihre Rolle als brutale Strafe wesentlich wirkungsmächtiger entfalten. HANYO kann als bitterböse Satire über seelenlosen Materialismus gelesen werden, auch wenn er natürlich in erster Linie ein psychosexueller Thriller ist und bleibt (und – in Hollywood-Begriffen – Hitchcock oder vielleicht besser Nicholas Ray näher steht als sagen wir Stanley Kramer).

HANYO ist stilistisch äußerst bemerkenswert. Die „establishing shots“ bei den Szenenübergängen sind dynamisch, gar teilweise verwirrend schnell geschnitten, aber der Film ist vor allem für seine eleganten Plansequenzen bekannt, gefilmt entlang der Terrasse des Hauses mit Blick in das Innere der Räume: ein aufdringlicher, bedrängender, voyeuristischer Blick, der dem aufdringlichen, bedrängenden und voyeuristischen Charakter des Hausmädchens entspricht.
Im Inneren herrscht Bedrängung: die Familie mag in einem zweistöckigen Haus wohnen, das wesentlich größer ist als die vorherige Wohnung, aber die Räume sind trotzdem eng. Oder werden stets eng gefilmt. Etwa aus dem Inneren eines Küchenschranks, wo die Flasche Rattengift lagert, die wie ein Damoklesschwert über die Geschichte hängt. Das Haus ist außerdem voller Flügeltüren: immer wieder werden sie zugeschoben, meist vor der Nase einer anderen Figur. Es ist eine Geste, die sich im Verlauf des Films immer wiederholt und stetig deutlicher macht, dass jegliche Kommunikation im Hause immer mehr zusammenbricht und zunehmend von Zorn, Raserei und Wahnsinn überlagert wird. Die bedrückende Geräuschkulisse fördert die Enge der Räume noch mehr: ein penetrant gespieltes Klavier (verschiedene Motive, ob gerade der Hausherr spielt oder das Hausmädchen manisch dissonante Akkorde reinhackt), das permanente Rattern der Nähmaschine, draußen der tobende Regen – ein nervenzerrendes Sounddesign, das die Spannung des Films bis kurz vor der Explosion steigert.

Drastische Bilder
Kim erschafft in HANYO immer wieder extreme, brutale, drastische Bilder voller psychischer und physischer Grausamkeit, die in einem Film von 1960 schier erstaunlich sind (und das ist das Jahr, in dem PSYCHO und PEEPING TOM herauskamen): permanente Morddrohungen, kaltblütiger Mord, Selbstverletzung... Das Hausmädchen beginnt in einer Szene, die Tochter des Hauses unter Zwang zu füttern: sie stopft sie regelrecht mit Reis (der Film lässt in diesem Moment offen, ob der Reis nicht möglicherweise vergiftet ist). Diese Szene mag in ihrer emotionalen Grausamkeit etwas subtiler sein als der Mord am Sohn des Hauses, oder der Versuch des Hausherren, das Hausmädchen mit bloßen Händen zu erwürgen – sie zeugt aber vom großen Talent Kims, eine Atmosphäre der permanenten Bedrohung, Beklemmung und des Unbehagens zu schaffen. Sexualität wird, dem Entstehungsjahr entsprechend, größtenteils eher bedeckt inszeniert: ein Gewitterblitz, das in einen Baum einschlägt, muss dann eben als Ersatz für eine richtige Sexszene herhalten. Dennoch beginnt in einer Art Akt sexueller Selbstunterwerfung das Hausmädchen an einer Stelle, die nackten Beine des Hausherrn im Morgenmantel frenetisch zu küssen.

Falls diese Ausführungen alle etwas unaufgeräumt klingen, hängt das damit zusammen, dass in HANYO nur schwer eine Ordnung reinzubringen ist: alle rasenden Emotionen überlagern sich nach und nach immer heftiger. Hilfe bietet erst der Epilog, in dem der Hausherr sich direkt an die Zuschauer wendet (nachdem er eigentlich gerade gestorben ist). In einer kleinen Rede entzaubert er das eben Gesehene als reine Fantasie, die er sich nach der Lektüre eines reisserischen Zeitungsartikels ausgemalt hat. In einem Interview sagte Kim, dass er den Schluss ganz bewusst hinzugefügt hat, um die lineare Chronologie des Films und jegliche Unterscheidung zwischen Realität und Fantasie zu brechen – Zensur spielte bei dieser Entscheidung offenbar keine Rolle. Eskalierende Sex- und Gewalt-Plots, die sich als Traum oder Trugbild entpuppen, hatte es schon in SCHATTEN (1923) von Arthur Robison oder in THE WOMAN IN THE WINDOW (1944) von Fritz Lang gegeben. Letzterer ist ein passender Vergleich: Lang inszenierte ein Jahr später fast die gleiche Geschichte mit den gleichen Schauspielern noch einmal, mit dem Unterschied, dass in SCARLET STREET die sex-and-crime-story endete, ohne dass sie als (innerfilmische) Fantasie aufgelöst wurde. Kim Ki-young ging einen ähnlichen Weg, als er 1970 HWANYEO ebenso ohne „Happy End“ filmte.



HWANYEO (WOMAN OF FIRE)
Republik Korea 1970
Regie: Kim Ki-young
Darsteller: Yoon Yeo-jeong (das Hausmädchen), Namkoong Won (der Hausherr), Jeon Gye-hyeon (die Hausherrin)

Auch in HWANYEO bricht Kim die Chronologie auf. Die Rahmenhandlung spielt in einem Seouler Polizeipräsidium, wo  die Todesumstände eines Mannes und seines Hausmädchens untersucht werden. Der Hauptteil des Films ist daher eine Rückblende (die an manchen Stellen eigene Rückblenden hat).

Das neue Hausmädchen und die Hühnerfarm
Das Hausmädchen in HWANYEO ist wieder ein Mädchen vom Lande, aber sie hat nun eine Vorgeschichte: sie ist schon zu Beginn eine Mörderin. Zusammen mit ihrer besten Freundin wird sie in ihrem Heimatdorf von zwei Schmieden vergewaltigt und tötet sie beide in Notwehr. Die beiden jungen Frauen fliehen nach Seoul, wo sie von einem schmierigen Arbeitsvermittler Jobs vermittelt bekommen. Die eine wird Tänzerin/Animateurin/Begleiterin (im Klartext: Prostituierte) in einer Bar. Die andere wird als Hausmädchen vermittelt. In dem Haus, in dem sie arbeitet, wird sie de facto als Sklavin gehalten: sie kriegt kein Gehalt, sondern nur Kost und Logis (jedoch auf eigenen Wunsch: die Hausherrin soll für sie irgendwann einen geeigneten Ehemann finden und sie verkuppeln – was ja auf einer gewissen Art und Weise auch passieren wird).

Der Hausherr komponiert Poplieder. Er hat offenbar ein kleines Alkoholproblem, lebt aber weitestgehend eine glückliche bürgerliche Existenz mit Frau, Tochter und Sohn. Anfänglich behandelt er das neue Hausmädchen mit Verachtung und Hohn: für ihn ist sie eine stinkende und vulgäre Bäuerin. Das ist insofern interessant, als dass sich das Haus in einem ländlich geprägten Vorort befindet (inwiefern gutsituierte Bewohner Seouls in den 1960er Jahren dazu neigten, in Suburbs zu ziehen, kann ich schwer sagen). Unmittelbar neben dem Haus steht die Hühnerfarm, die die Ehefrau betreibt, wobei angedeutet wird, dass sie mehr zur Haushaltskasse beiträgt als der Mann. Naturnah-bäuerlich ist das ganze allerdings nicht, sondern es ist eine Massenhaltung, die die Hausherrin mit einem sehr effizienten und kalten Geschäftssinn führt: Hühner, die ein gewisses Legequorum nicht erfüllen, werden sofort getötet und zu Grillhähnchen verarbeitet. Ein matching cut vom Füttern der Hühner im Stall zu einer Platte mit Hähnchen, die aus dem Kühlschrank geholt wird, macht diese Verwertungskette ganz deutlich. Doch die eiskalte Haltung hat die Hausherrin nicht nur gegenüber Hühnern, sondern auch gegenüber Menschen. Als sie für einige Tage mit den Kindern verreist und den Ehemann zurücklässt, weist sie das Hausmädchen an, aufdringliche Besucherinnen und potentielle Liebhaberinnen ihres Mannes rücksichtslos rauszuwerfen – oder falls nötig auch gleich zu töten (was sie eindeutig ohne Anflug von Ironie äußert). Später wird eine Szene aus dem ersten Teil variiert, als der Mann gestehen möchte, dass das Hausmädchen von ihm schwanger ist: er fragt seine Frau, ob es sie stören würde, wenn er jemanden ausrauben würde (nein), wenn er jemanden töten würde (nein) oder wenn er eine andere Frau schwängern würde (woraufhin sie mit ihm de facto bricht).

Vergewaltigung und eskalierende Affäre
Im Gegensatz HANYO kommt es in HWANYEO zunächst nicht zu einer „richtigen“ Affäre. Vielmehr vergewaltigt der Mann im alkoholischen Vollrausch das Hausmädchen (gleichwohl im Glauben, dass es sich um eine Arbeitskollegin auf Besuch handelt, die er sexuell bedrängt hat, jedoch geflüchtet ist) – die visuell verzerrten Bilder der beiden Schmiede, die auf ein glühendes Eisen hämmern und die Doppel-Vergewaltigung zu Beginn visualisieren, kommen hier wieder zum Einsatz. Für den Hausherren ist die Vergewaltigung des Hausmädchens nicht wirklich der Rede wert, und er möchte das ganze lieber unter den Tisch kehren. Das geht nicht so einfach, weil zum einen das Hausmädchen schwanger ist und zum anderen immer aggressiver zu einer richtigen Affäre drängt, die er gar nicht haben wollte.

HWANYEO fächert den Komplex um Schuld und Gewalt noch etwas mehr als im Film von 1960 auf. Die Hausherrin zwingt das Hausmädchen zur Abtreibung des Kindes, woraufhin diese kurz danach das Neugeborene des Hauses tötet. Wie in HANYO (wo sie allerdings den älteren Sohn tötet) vollzieht das Hausmädchen die grausame Logik, wonach sie dem Ehepaar ein Kind wegnimmt, nachdem ihr das Kind weggenommen wurde. Wie mit der Leiche des getöteten Kindes umgegangen wird, erfahren wir wie in HANYO auch hier nicht (nur, dass das ganze nach außen hin um jeden Preis vertuscht wird).

Doch ein weiterer Tötungsfall schweißt das Trio noch enger zusammen. Der schmierige Arbeitsvermittler, der von seinen Mädchen stets Geld oder Sex als Vermittlungsgebühr abpressen will, sucht die als Hausmädchen verkaufte junge Frau auf und versucht, sie zu vergewaltigen. Wie einst auf dem Land tötet sie ihren Vergewaltiger in Notwehr (mit einem roten Nachttopf!). Es folgt eine komplexe Arbeitsteilung im Bereich der Schuldbewältigung: Das Hausmädchen tötet den Angreifer, drapiert die Leiche so, dass der Hausherr denkt, er habe den Mord im Vollsuff selbst begangen, während wiederum die Hausherrin dann die Leiche beseitigt (wie es scheint auf eine besonders krasse und makabre Art und Weise). Schuld ist ansteckend. Und schweißt das Trio zu einer noch unheilvolleren Allianz zusammen.

Kunstvoller Einsatz von Farbe
in geometrischer Architektur
Stilistisch schließt sich HWANYEO in einigen Punkten an HANYO an. Die Kamerafahrten auf der Terrasse mit dem voyeuristischen Blick in das Innere, der permanente Regen... Doch die expressive Verzerrung der Bilder, die 1960 noch knapp kontrolliert wurden, wird 1970 vollkommen entfesselt. HANYO war sicherlich schon von geometrischen Formen gezeichnet, doch in HWANYEO sind harte, kantige, geometrische Formen geradezu hegemonial. Das Bildformat 2,35:1 ermöglicht einen noch komplexeren Bildaufbau und bietet mehr Chancen, die Bilder zu fragmentieren. Sie werden verfremdet, indem sich immer irgendetwas in den Vordergrund schiebt, oder etwas verdeckt, oder die Figuren nur in der Hälfte oder gar einem Drittel des Bildes sichtbar agieren können. Eine zu Fragmenten zerschlagene Welt.
Am auffallendsten ist natürlich das – schlichtweg fantastische! – Zusammenspiel aus Licht und Farbe. Emotionale Szenen werden stets in vollkommen unnatürliches Licht getaucht, in tiefem Blau und Rot, was die irreale, fieberhafte, irrsinnige Atmosphäre des Films steigert. HWAYNEO ist ein roter Film, ein Popart-Terror-Thriller. Einige Fans Kim Ki-youngs bezeichneten ihn wohl einmal als „Douglas Sirk auf Acid“.


HWANYEO ’82 (WOMAN OF FIRE ’82)
Republik Korea 1982
Regie: Kim Ki-young
Darsteller: Na Young-hee (?) (das Hausmädchen), Chon Moo-song (?) (der Hausherr), Kim Ji-mee (?) (die Hausherrin)

HANYO und HWANYEO waren expressionistische, surrealistische Fieberträume. HWANYEO ’82 markiert hingegen einen Einbruch von „Realismus“ in die Hausmädchen-Geschichte. Das tut dem Film allerdings nicht wirklich gut – um es mal vorsichtig auszudrücken... 

Geöffnete Räume, 80er-Jahre-Einrichtung
HWANYEO ’82 ist von den drei HANYO-Variationen die einzige, die sich tatsächlich ein wenig wie ein lustloses Remake anfühlt, in dem Elemente der früheren Filme zusammengeworfen werden, ohne, dass das irgendwie passt oder eine Eigendynamik entwickelt – wie eine Collage aus halbherzigen Zitaten. Diese Lustlosigkeit, dieser Mangel an Dynamik kann teilweise auch an der Laufzeit erkannt werden: mit 122 Minuten ist HWANYEO ’82 der längste „Hausmädchen“-Film, und er fühlt sich auch so an.

Am ehesten lässt sich HWANYEO ’82 als Versuchsanordnung zu verstehen: man kann sich vorstellen, dass Kim Ki-young mal austesten wollte, was passieren würde, wenn man die expressionistischen Elemente der Erzählung (man könnte auch sagen: den offenen Wahnsinn) zügelt und den Raum noch weiter öffnet (letzteres eine lineare Entwicklung in der Reihe – dazu mehr später). Das Resultat ist weitestgehend misslungen. Die Bilder sind flach. Das Haus sieht realer aus, aber eben auch weniger atmosphärisch, weniger klaustrophobisch: das ist nicht mehr der Vorhof der Hölle, sondern in der Tat nur ein biederes Suburbia-Haus. Die Farbgestaltung drückt nicht mehr den entrückten geistigen Zustand der Figuren aus, sondern eher ihren zweifelhaften Geschmack bei Fragen der Inneneinrichtung.

Gleichzeitig erscheint es so, als hätte sich Kim selbst wohl mit dem realistischen Look nicht wirklich wohl gefühlt: immer wieder (also eigentlich: erneut) „zerbricht“ er die Bilder durch Gläser, Gitter, nasse Spiegel und Feuer, was den Gesamteindruck des Films noch inkohärenter macht. Überhaupt will vieles nicht so recht zusammenpassen. Wie in HWANYEO vergewaltigt der Hausherr das Hausmädchen im Vollrausch, und zwar wenige Augenblicke, nachdem er zwei kleine Schlücke Reiswein getrunken hat. Auch Zuschauer, die das Jagen und Sammeln sogenannter Logiklöcher für kunstfeindliche und biedere Pedanterie halten, werden doch anmerken müssen, dass eine unpassende, und völlig angespannte Theatralik entsteht, wenn dieser Mann nach zwei Schlücken sich so verhält, als hätte er gerade stundenlang gezecht. Überhaupt spielt der Hausherr viel zu theatralisch auf für einen Film, der sich ansonsten nüchtern und gediegener präsentieren möchte.

"Zerbrochene" Bilder
Neben dem flachen Look der Bilder krankt HWANYEO ’82 generell an den eher schwachen Darstellern. Am überzeugendsten ist vielleicht die Hausherrin. Doch gerade das Hausmädchen dürfte die gravierendste Fehlbesetzung des Films sein – blass, ohne Eigenschaften, etwas lustlos Dialogsätze rezitierend. Bemerkenswert und interessant ist, dass HWANYEO ’82 die ältesten Hausherren der Reihe hat. Die Alterung der Hausherren-Figuren war bis dahin linear, und brach 2010 wieder ab.

Mit dem späteren HANYO teilt HWANYEO ’82 allerdings den Drang, mit dem Holzhammer zusätzliche Figuren einzuführen, die „funktional“ zu sein haben. Der „kollektive“ Mord aus HWANYEO wird auch 1982 variiert. Das Opfer ist ein Hühnerfarm-Mitarbeiter, der aus heiterem Himmel plötzlich auftaucht (vorher betrieb die Hausherrin ihre Hühnerfarm wie in HWANYEO offensichtlich alleine) und von der Hausherrin als passender Ehemann für das Hausmädchen rausgesucht wird: die Figur wird holprig eingeführt, um sofort danach fast ebenso holprig ermordet zu werden.

Es bliebe noch viel Schlechtes über HWANYEO ’82 zu sagen, etwa, dass die Musik sich als schwer erträgliches Synthie-Gequake entpuppt, aber im Grunde sollte man von diesem Film tatsächlich als misslungenes Experiment sprechen. 2010 hat HANYO einiges vom misslungenen Experiment übernommen. Doch zunächst einige Worte dazu, wer eigentlich hinter diesen bizarren Filmen steckt...



Kim Ki-young

Kim Ki-young wurde ungefähr 1919 in Seoul geboren. 1919 stand in seinem Pass, 1922 war nach eigener Aussage sein eigentliches Geburtsdatum. Er wuchs in Pyongyang auf und lebte auch eine Zeitlang in Japan, der damaligen Kolonialmacht über Korea. Hier lernte Kim fließend Japanisch lesen, schreiben und sprechen und sah in den Kinos der größeren Städte Filme Fritz Langs und Josef von Sternbergs, die ihn nachhaltig beeindruckten. An der Universität Seoul studierte Kim Medizin und machte seinen Abschluss als Hals-Nasen-Ohren-Arzt. In seiner Studienzeit interessierte er sich jedoch sehr für das Theater und gründete ein eigenes universitäres Ensemble, das vor allem klassische westliche Stücke aufführte. Die Hauptschauspielerin, die Studentin der Zahnmedizin Kim Yu-bong, wurde 1951 seine Ehefrau – die Ehe bestand bis zum tragischen und gemeinsamen Tod am 5. Februar 1998. Im Gegensatz zu ihrem Ehemann praktizierte Kim Yu-bong später ihren erlernten Beruf, und als erfolgreiche Zahnärztin unterstützte sie finanziell ihren Ehemann in mageren Zeiten und bezuschusste viele seiner Filme. Die Mäzenin soll angeblich regelmäßig nach der Sichtung von Kims Filmen in Tränen ausgebrochen sein und dabei gefragt haben, was er nur mit ihrem ganzen Geld angestellt habe. Dies belastete aber offensichtlich weder die Ehe noch ihre Bereitschaft, den Ehemann weiterhin finanziell und moralisch zu unterstützen. Ob sich die Situation der Ehepartner teilweise ironisch in den Filmen widerspiegelte? In HWANYEO und HWANYEO ’82 ist die Hausherrin, die einen „grundständigen“ Beruf ausübt, die Hauptverdienerin der Familie, während der künstlerisch tätige Hausherr offensichtlich verhältnismäßig wenig zur Haushaltskasse beitragen kann.

Nach seinem Uni-Abschluss jedenfalls begann Kim gar nicht erst, als Hals-Nasen-Ohren-Arzt zu arbeiten, sondern drehte im Auftrag der United States Information Agency antikommunistische Dokumentarfilme – der laufende Koreakrieg schuf einen „Bedarf“ an solchen Werken und Kim verdiente mehr Geld, als wenn er als Arzt praktiziert hätte. Er drehte im Auftrag der Amerikaner auch einen Spielfilm. Sein zweiter Spielfilm, das historische Melodrama YANGSANDO (YANGSAN PROVINCE), wurde von Kritikern als geschmacklos verschmäht, konnte aber beim Publikum gute Erfolge erzielen. 1956 gründete Kim die „Kim Ki-young Productions“ und drehte weiterhin Melodramen, nunmehr aber als Unabhängiger. Seine Filme standen wegen ihren vielen stilisierten Elementen in einem Gegensatz zum damals dominierenden Realismus im koreanischen Kino. Mit HANYO brach Kim 1960 definitiv mit jeglichem Realismus.

1960 war die „goldenste“ Zeit der „goldenen“ Jahre des koreanischen Kinos. Die sogenannte April-Revolution beendete in diesem Jahr die autoritäre Herrschaft des Präsidenten Rhee Syng-man und ebnete den Weg für die Zweite Republik. Diese führte zu einem offeneren, liberaleren Klima, wurde aber wiederum im Mai 1961 von einem Armeeputsch hinweggefegt. Während dieser kurzen liberalen Zeit sorgten zwei Filme für Sensation. Yu Hyun-moks OBALTAN (AIMLESS BULLET) prangerte in sozialrealistischer Weise und ästhetisch am italienischen Neorealismus orientiert die sozialen Missstände in Korea an und portraitierte eine Familie am Rande der Armut. Kims HANYO, ebenfalls ein großer Kinoerfolg in Korea, zeigte die Gesellschaft vielleicht auf noch viel trostlosere Weise, und demonstrierte zugleich eine Alternative zum im koreanischen Kino: Surrealismus und Expressionismus mit grotesk verzerrter Satire statt sozialem Realismus mit politisch-pädagogischem Bewusstsein. 

HANYO etablierte Kim Ki-young als Regisseur der Genre-Vermischungen, des Surrealismus, des expressionistischen Horrors, der sexuellen Obsessionen, des Grotesken. Auch nach dem Militärputsch 1961, der eine stärkere Kontrolle über die Filmindustrie brachte, inszenierte und produzierte Kim unabhängig und mit geringen Budgets bizarre und provokante Filme. Er drehte in vielen Genres: ein Melodrama über die Geschichte eines zwangsrekrutierten koreanischen Soldaten in der japanischen Armee (HYEONHAETANEUN ALGOITTA / THE SEA KNOWS, 1961), ein ländliches Drama über einen Bauern, der seine alte kranke Mutter zum Sterben in die Berge trägt (GORYEOJANG / BURYING OLD ALIVE, 1963 – eine Geschichte, die auch im japanischen Kino davor und danach verfilmt wurde), ein Rache-Thriller (ASPHALT, 1964), ein Film über die Liebe eines Haarfetischisten zu einer todkranken Frau (YEO / WOMAN, 1968).

In den 1970er und 1980er Jahren geriet Kim in immer größere Schwierigkeiten. Die Militärdiktatur übte eine stärkere Zensur gegen koreanische Kinofilme aus. BAN GEUM-RYEON / THE STORY OF PAN KUMYON, ein im alten China spielendes Eifersuchtsdrama, wurde 1975 verboten und wurde erst 1982 in einer um 40 Minuten zensierten Fassung freigegeben. Ein Jahr später wurde Kim von der Regierung gezwungen, einen antikommunistischen Film zu drehen ((HYEOLYUKAE / LOVE OF BLOOD RELATIONS). Mehreren Quellen zufolge „rächte“ sich der Regisseur, in dem er sich ganz auf den Bösewicht (eine nordkoreanische Spionin) konzentrierte und sie in eine verführerische, sexy femme fatale verwandelte. Größere Schwierigkeiten brachte die zunehmende Popularität des Fernsehens als Konkurrenz zum Kino und auch die Aufhebung von Importrestriktionen für westliche und vor allem US-Filme.

Kim, der meist auch als Drehbuchautor, Produzent und Cutter seiner Filme tätig war und sich stets persönlich in Fragen des Setdesigns involvierte, galt auch persönlich als Exzentriker. Angeblich schrieb er seine Drehbücher nicht zuhause, sondern mietete sich dafür in Billighotels in schäbigen Wohngegenden ein. Er verfasste sie in Japanisch, weil ihm die japanische Sprache als Schriftsprache wohl wesentlich lieber war als das Koreanische und dies ihm zugleich ermöglichte, den Inhalt vor den meisten seiner Mitarbeiter geheim zu halten. Seine Fähigkeit, aus geringen Budgets viel machen zu können, galt als unbestritten, wobei er mit dem Sparen bei sich selbst anfing: zu den Filmsets fuhr er stets im Bus, und nicht mit Chauffeur oder Taxi und kleidete sich stets etwas nachlässig.

Ende der 1980er und Anfang der 1990er inszenierte Kim seine Filme weitestgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit. Doch ab Mitte der 1990er Jahre wurde er nach und nach wieder entdeckt. Eine große Retrospektive in Korea wurde ihm beim Internationalen Filmfestival in Busan 1997 gewidmet. Im selben und darauffolgenden Jahr gingen seine Filme durch Festivalretrospektiven und Cinematheken auch im Ausland. 1998 sollte die erste Kim-Retrospektive außerhalb von Korea bei der Berlinale stattfinden und der Regisseur sollte als Ehrengast anreisen. Sie fand jedoch unerwartet posthum statt: Einige Tage vor der Reise starb Kim zusammen mit seiner Ehefrau bei einem Hausbrand, den wohl ein Kurzschluss ausgelöst hatte. Er war 78 Jahre alt. 

Ganz entscheidend bei der „Wiederentdeckung“ Kims war eine Garde jüngerer Regisseure, die seine Filme auf Video oder in abseitigen Kinos entdeckt hatten: Filmemacher wie Park Chan-wook (OLDBOY, SYMPATHY FOR LADY VENGEANCE, STOKER), Bong Joon-ho (THE HOST, MOTHER, SNOWPIERCER) und Kim Ki-duk (SAMARIA, HWAL, PIETÀ) erklärten Kim Ki-young zu einer Art heiligen Schutzpatron. Park Chan-wook nannte HANYO als den Film, der ihn am meisten beeinflusst hat, und es ist gar nicht so schwer, den Hauch des Klassikers in STOKER wieder zu entdecken. Zu den Kim-Verehrern gehört auch Im Sang-soo, der 2010 HANYO neu verfilmte – bzw. erneut variierte.


HANYO (THE HOUSEMAID)
Republik Korea 2010
Regie: Im Sang-soo
Darsteller: Jeon Do-yeon (das Hausmädchen), Lee Jung-jae (der Hausherr), Seo Woo (die Hausherrin), Yoon Yeo-jeong (die Gouvernante), Park Ji-young (die Mutter der Hausherrin)

Gleiche Geschichte, anderer Regisseur, neuer Film.

Riesige Räume 
Die auffallendste Änderung an HANYO besteht in der kompletten Öffnung des Raums. Der Raum wird sogar so weit geöffnet, dass er dadurch wieder zerstört wird. HANYO ist (ich weiß, psychiatrisch ist der Begriff ungenau) ein agoraphobischer Thriller, ein Film der riesigen Räume. Das Haus der Hausherren ist kein Haus mehr, sondern eine herrschaftliche Villa, die noch zusätzlich durch Wochenendhäuser „ergänzt“ wird. Die riesigen Räume verschlucken die Figuren. Sie sind auch so vielfältig, dass man sie selten wieder erkennen kann. Auch wiederkehrende Räume, wie etwas das Badezimmer der Herren, der Eingangsbereich oder das Klavierzimmer, werden aus inkonsistenten Perspektiven gefilmt. Egal, wo man gerade steht, man fühlt sich in diesem Labyrinth hoffnungslos verloren. Jede neue Szene bringt einen anderen Ort, den man nicht kennt – so verliert sich das Hausmädchen auch immer mehr, wie sie sich auch in den Intrigen der Hausherren verliert.

Diese Öffnung und gleichzeitige Zerstörung der Räume ist die originellste Erneuerung des alten Hausmädchen-Konzepts. Leider bleibt es nur intellektuell spannend, und geht leider nicht wirklich auf. So bleibt das Gefühl des Verlorenseins in der Weite weniger beklemmend als die klaustrophobische Kammerspiel-Atmosphäre in HANYO oder HWANYEO.

Wenn man Filme in „warm“ oder „kühl“ unterteilt, so markiert HANYO ebenfalls einen Bruch mit seinen Vorgängern. Kims Filme waren allesamt bis kurz vor dem Explodieren überhitzt. Ims HANYO hingegen ist nicht nur ein unterkühlter, sondern geradezu ein kalter Film. Das manifestiert sich auch in seiner Farbdramaturgie. Verwischte, entsättigte, monochrome Farben dominieren das Bild – fast wie ein kontrastarmer Schwarzweiß-Film. Diese Kälte ist auch ein Symptom der Distanz, die Im zu dem Geschehen und teilweise auch zu den Figuren aufbaut. Fast teilnahmslos wirkt in HANYO die Kamera – als diskreter Beobachter, nicht als teilnehmender Voyeur.

Hausherrin, Hausherr und Hausmädchen
HWANYEO ’82 legte den Grundstein dazu: HANYO 2010 versucht im Grunde, die gleiche Geschichte um das Hausmädchen rationaler, gediegener, bodenständiger, im Grunde „realistischer“ zu erzählen. Das Problem mit dieser Herangehensweise liegt auf der Hand: der Film wird zu einem sehr langsamen Melodrama (und zu keinem besonders guten). Der pure Wahnsinn, der in Kims Filmen herrschte, wird für ein wenig überzeugendes Showdown aufbewahrt, das wohl Kims Filmtitel von 1970 („Die Feuerfrau“) etwas zu wörtlich genommen hat. Der überaus bizarre, mit extremem Weitwinkelobjektiv gefilmte Epilog, der kaum an das Gesehene anknüpft, erscheint wesentlich interessanter. Graphisch ist HANYO etwas aufgesexter als Kims Filme, aber dafür erstaunlich unspektakulär. Die Verknüpfung von Sex, Wein-Fetischismus und nouveau-riche-Satire ist jedoch ein Glanzlicht!

Das weitere Problem taucht etwa in der Mitte des Films auf (und knüpft im Grunde an eine Schwäche aus HWANYEO ’82 an): es ist die Figur der manipulativen Mutter der Hausherrin. Man kann sie zwar als ganz nette Hitchcock-Hommage lesen, doch sie wirkt rasch wie das materialisierte Sprachrohr ihrer Tochter und ihres Schwiegersohns. Sollen die beiden Hausherren vielleicht absichtlich degradiert, ja geradezu entmündigt werden? Schwierig zu sagen. Richtig überzeugend ist diese urplötzlich und mit dem Holzhammer eingeführte Figur jedenfalls nicht.

Die manipulative Mutter: eine überflüssige Figur?
Eine weitere nette Hitchcock-Hommage ist sicherlich die Figur der älteren Gouvernante, die als Chefin des Dienstpersonals das Hausmädchen in die Gepflogenheiten des Hauses einführt – Mrs. Danvers lässt grüßen. Auch diese Figur wirkt wie die Mutter eher als Dämpfer, wenn es um die direkten Reibereien zwischen Hausherren und Hausmädchen geht, und es ist zu mutmaßen, ob die Rolle nicht speziell geschrieben wurde, damit Yoon Yeo-jeong, die Darstellerin des Hausmädchens 1970, eine Rolle spielen konnte.

Wo zu viele Figuren eingeführt werden, müssen andere wiederum vernachlässigt werden. Die kleine Tochter der Hausherren etwa lässt ein interessantes Potential erkennen, denn im Gegensatz zu Kims Filmen freundet sich das Hausmädchen regelrecht mit ihr an, ja die beiden werden fast schon zu Verbündeten – ein Aspekt, den der Film leider rasch liegen lässt und nicht weiter verfolgt.

Die vielleicht größte Schwäche von HANYO ist jedoch die eindeutige Sympathieverteilung, die er vornimmt. Aus Kims todbringendem Hausmädchen hat Im eine Art Märtyrer-Hausmädchen gemacht. Ein Opfer. Während Kims Filme – entgegen manch bizarrer Interpretation des Hausmädchens als Bösewicht – die Kategorien zwischen gut/böse, Opfer/Täter vollkommen auflöst, baut Im sie plakativ auf, und beraubt seinen Film, ja eigentlich das ganze Konzept der Hausmädchen-Geschichte, jeglicher Spannung, jeglicher Ambivalenz und jeglichen Unbehagens. Das gute, naive Hausmädchen gerät den Intrigen der verkommenen Hausherren, die auch noch reiche Bonzen sind, zum Opfer – ein Konzept, das sich nicht gerade als sehr tragfähig erweist.

Dennoch ist es völlig egal, wie man es dreht und wendet: die Sache, die man Ims Film als allerletztes vorwerfen könnte, ist, dass es sich um ein reizloses Eins-zu-eins-Remake handle. HANYO ist ein durch und durch eigenständiger Film, und seine Stärken und Schwächen sind fast komplett originär. Im hat Kims Filmen eine sehenswerte Variation hinzugefügt, die durchaus eigenständig für sich stehen kann.



Infos zur Verfügbarkeit der Filme

HANYO 1960
Von den 32 Filmen, die Kim Ki-young gedreht hat, sind lediglich 22 vollständig erhalten. Hinzukommt ein Filmfragment und ein Film ohne erhaltene Tonspur – die anderen acht sind verschollen. Für einen Regisseur, der seine Karriere Mitte der 1950er Jahre begonnen hat, scheint das etwas verwunderlich. Aber das hängt mit der besonders prekären Geschichte der Film-Konservation in Korea zusammen. Filme wurde in den 1950er bis 1970er Jahre auf teils skurrile (und aus cinephiler Sicht fürchterliche) Weise „wiederverwertet“: 35- und 16-mm-Kopien wurden in der Hutindustrie verarbeitet. Zelluloid gab den Hüten Glanz und Stabilität. Nebenbei wurde auch aus vielen Kopien Silber extrahiert. Die Folge ist, dass etwa 70 % aller koreanischen Filme vor 1960 als verschollen gelten. Erst seit Beginn der 1990er Jahre gibt es so etwas wie eine Pflege des Filmerbes in Korea.
Kim hatte HANYO mehrheitlich aus seinem eigenen Geld finanziert und bewahrte das Negativ zu Hause auf. Allerdings fehlten ihm aus heute wohl nicht mehr nachvollziehbaren Gründen zwei Rollen. Eine vollständige Kopie wurde Anfang der 1990er Jahre entdeckt, allerdings hatte sie überdimensionierte und schlecht eingepflegte englische Untertitel. Neben dem üblichen und starken Schmutz mussten auch diese Bild für Bild entfernt werden und die überdeckten Areale rekonstruiert werden. Die im Negativ nicht vorhandenen Szenen wurden so wieder vervollständigt. Die ungleichwertige Erhaltung sieht man dem Film heute an: über weite Strecken hat er eine sehr gute bis hervorragende Qualität, zwei etwas längere Passagen von knappen über 10 Minuten haben eine deutlich schlechtere Bild- und Tonqualität.
HANYO ist in dieser Restauration in einer koreanischen und französischen DVD-Edition sowie in der US-amerikanischen Criterion Collection erhältlich.

HWANYEO
Sehen kann man HWANYEO ganz einfach hier bei youtube! Und zwar völlig legal vor folgendem Hintergrund: das koreanische Filmarchiv betreibt eine eigene youtube-Seite, auf der es Dutzende seiner Filme zur freien Sichtung hochlädt. Einzige Barriere: man muss sich anmelden. Englische Untertitel sind stets vorhanden.
Von Kim Ki-young sind sieben Filme dort zu sehen.

HWANYEO ’82
Darunter auch HWANYEO ’82. Ein Blick jenseits der Kim Ki-young-Playlist in andere Filme dürfte sich natürlich auch lohnen!

HANYO (2010)
Das koreanische Filmarchiv postet auch Filme aus den 1990er Jahren, aber ich glaube, mit den 2000er Jahren ist auch Schluss.
HANYO ist aber auch nicht so tricky zu besorgen wie Kims Filme. Es gibt deutsche, britische, französische und US-amerikanische DVD- und Blu-ray-Editionen.

Ein Komet streift die Erde, und Dänen fliegen zum Mars

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HIMMELSKIBET (FLUG ZUM MARS, auch DAS HIMMELSSCHIFF)
Dänemark 1918
Regie: Holger-Madsen
Darsteller: Gunnar Tolnæs (Avanti Planetaros), Nicolai Neiiendam (Prof. Planetaros), Zanny Petersen (Corona Planetaros), Alf Blütecher (Dr. Krafft), Philip Bech (Weiser vom Mars), Lilly Jacobson (Marya), Svend Kornbeck (David Dane), Birger von Cotta-Schønberg (der Asiate), Frederik Jacobsen (Prof. Dubius)

VERDENS UNDERGANG (DAS ENDE DER WELT, auch DAS JÜNGSTE GERICHT)
Dänemark 1916
Regie: August Blom
Darsteller: Olaf Fønss (Frank Stoll), Ebba Thomsen (Dina West), Johanne Fritz-Petersen (Edith West), Alf Blütecher (Reymers), Carl Lauritzen (West), Frederik Jacobsen (Wanderprediger), Thorleif Lund (Flint), K. Zimmerman (Prof. Wissmann/Wisemann)

HIMMELSKIBET - Ein Ritter bei der Minne? Nein, ein Erdling und zwei Marsianer!
Diesmal geht es um zwei dänische Stummfilme aus dem Bereich der Phantastik, aus den 1910er Jahren, der Goldenen Zeit des dänischen Films. Damals war Dänemark neben Frankreich, Italien und den USA die führende Filmnation und stellte Deutschland in den Schatten. Größte Produktionsfirma war die 1906 gegründete Nordisk Films Kompagni, die immer noch existiert und als ältestes Studio der Welt gilt. VERDENS UNDERGANG und HIMMELSKIBET wurden ebenfalls von Nordisk produziert. 2005/2006 wurden beide Filme vom Dänischen Filminstitut restauriert und gemeinsam auf einer DVD herausgebracht.

HIMMELSKIBET - Raumschiff zum Mars

HIMMELSKIBET


Der abenteuerlustige Kapitän Avanti Planetaros ist gerade von einer langen Forschungsreise zurückgekehrt und sieht sich nach einer neuen Aufgabe um. Die findet er schnell im Observatorium seines Vaters, des Astronomen Professor Planetaros. So viele Geheimnisse, so viele unerforschte Welten! Man müsste da einfach mal hinfliegen, am besten zum Mars. Da trifft es sich gut, dass Avantis Freund Dr. Krafft ein begabter Wissenschaftler und Ingenieur ist. Er erklärt sich bereit, das benötigte Raumschiff zu bauen. Beflügelt wird sein Ehrgeiz auch dadurch, dass er ein Auge auf Avantis Schwester Corona geworfen hat und er zu Recht hofft, durch seinen Einsatz ihr Herz zu gewinnen. Nach zwei Jahren Konstruktions- und Bauzeit ist das Raumschiff "Excelsior" fertig. Nun ja, "Raumschiff" ... das Ding ist ein dickbäuchiges Flugzeug, mit Flügeln und einem Heckpropeller. Aber mit einer nicht näher erläuterten Erfindung schafft es Krafft, die nötige schwindelerregende Geschwindigkeit zu erreichen. Von innen erinnert das Gefährt an ein U-Boot, abgesehen davon, dass es Fenster gibt.

HIMMELSKIBET - Im Observatorium von Prof. Planetaros (Prof. Wissmann benützt übrigens das selbe);
der Mars (man beachte die berühmten Marskanäle); Position von Erde und Mars bei Abflug und Ankunft
Bei einer Versammlung der Wissenschaftlichen Gesellschaft in Kopenhagen wird das Projekt vorgestellt. Es erntet allgemeine Begeisterung, nur einer protestiert: Prof. Planetaros' Kollege Prof. Dubius. Er erklärt das Unterfangen für unmöglich, macht sich hämisch über Vater und Sohn Planetaros lustig und prophezeit den unvermeidlichen Tod der Besatzung. Doch der Miesepeter wird nicht weiter beachtet. Zusätzlich zu Avanti und Dr. Krafft, die die Bedienungsmannschaft der Excelsior bilden, wird noch eine Handvoll Passagiere ausgewählt, darunter der etwas ungehobelte Amerikaner David Dane und ein "Abgesandter des Ostens" (der von einem Dänen gespielt wird, so dass unklar ist, ob das ein Inder, Chinese oder sonstwas sein soll). Frauen sind an Bord zunächst nicht vorgesehen - Corona bleibt bei ihrem Vater.

HIMMELSKIBET - zu den Sternen!
Der Start klappt problemlos, aber auf dem mehrmonatigen Flug bricht Langeweile und Lagerkoller aus. Es kommt sogar zu einer Meuterei, angezettelt von David Dane, der sich als Alkoholiker entpuppt und der entsprechenden Stoff an Bord geschmuggelt hat. Gerade noch rechtzeitig, bevor es in der Excelsior zu einer Schießerei kommt, kommt man am Mars an, und die Wogen glätten sich. Der Mars ist - wie könnte es anders sein - bewohnt, und zwar von einem humanoiden Volk, weiß gewandet, pazifistisch und esoterisch angehaucht. Mit ihren fantasievollen Kostümen und Kopfbedeckungen wirken die Marsianer wie eine Mischung einiger echter oder mythischer irdischer Völker, von den alten Ägyptern (auf einigen Gewändern ist das Zeichen Anch zu erkennen) bis zur höfischen Welt des Mittelalters. Die Outfits sind nicht so bizarr wie die der Marsianer in Jakow Protasanows sowjetischem Klassiker AELITA (1924), wo sich Kostümbildnerin Alexandra Exter bis zum Äußersten austoben durfte, aber doch durchaus originell.

HIMMELSKIBET - das Innere der Excelsior
Sprecher der Marsbewohner ist der Älteste des Weisenrats, und er empfängt die Neuankömmlinge freundlich. Doch schnell kommt es zu kulturellen Missverständnissen. Um den vegetarischen Marsmenschen zu demonstrieren, dass man sich auch von Fleisch ernähren kann, schießt der forsche Avanti einen Vogel vom Himmel - ein Sakrileg. Als es dadurch zu einem kleinen Tumult kommt, wirft einer sogar eine Art Handgranate, wodurch ein Marsianer schwer verletzt wird. Jetzt herrscht endgültig dicke Luft, und die Besucher werden in eine Art Gerichtsgebäude gebracht. Wer aber eine strenge Aburteilung erwartet, sieht sich getäuscht. Vielmehr sollen die Frevler selbst über ihr Verhalten befinden. In einer Zeremonie, die von Marya, der Tochter des Ober-Weisen, geleitet wird, wird in einem Film die Vergangenheit des Mars gezeigt. Früher waren auch die Marsmenschen kriegerisch und gewalttätig (wobei die Kriegsparteien in dem Film etwas an Indianer oder Steinzeitmenschen und an römische Legionäre erinnern), doch dann fanden sie zu ihrer pazifistischen Gesellschaftsordnung. Die Erdlinge zeigen sich nun geläutert und bekennen ihr Unrecht, selbst der Rabauke Dane wird ganz zahm. Zum Zeichen, dass man ihnen vergibt und sie in die Mars-Gesellschaft aufnimmt, hängt man den Raumfahrern weiße Capes um. Um zu demonstrieren, wie fortschrittlich diese Mars-Justiz ist, wird in einer Doppelbelichtung ein verurteilter Verbrecher auf der Erde gezeigt, der in seine Kerkerzelle gesperrt wird.

HIMMELSKIBET - Marsianer
Die Erdlinge verbringen nun einige angenehme Wochen oder Monate auf dem Mars ohne besondere Vorkommnisse, abgesehen davon, dass sich Avanti und Marya ineinander verlieben. Doch schließlich wollen die meisten wieder zurück zur Erde, vor allem Dr. Krafft, der endlich Corona wiedersehen will. Avanti will zunächst auf dem Mars bei Marya bleiben, wird aber überzeugt, dass auch er zurück muss. So beschließt stattdessen Marya mit Billigung ihres Vaters, mit auf die Erde zu fliegen. Unterdessen wachsen auf der Erde die Zweifel, ob es die Raumfahrer wirklich geschafft haben. Prof. Planetaros wird vor Sorge krank, und Prof. Dubius tut sein Bestes, um ihm die Hoffnung zu nehmen und ihm Schuldgefühle einzureden. Auf dem Mars spürt der Weise, Maryas Vater, dass sein Leben zu Ende geht. In einer esoterischen Zeremonie verabschiedet er sich von seinem Volk und vom irdischen (Verzeihung: vom marsischen) Leben und wird dann in einem kleinen Boot auf eine Art überirdische bzw. übermarsische Insel entrückt, so wie König Artus, der im Mythos nach dem Ende seiner irdischen Existenz auf der Insel Avalon weiterlebte. Dann erfolgt der Start der Excelsior. Der Rückflug verläuft problemlos, nur beim Endanflug auf Kopenhagen gerät man in ein schweres Unwetter. Die Excelsior übersteht das Gewitter ohne Schaden, aber Prof. Dubius, der einen Berggipfel erklommen hat, um die Ankunft des Raumschiffs zu beobachten, wird zur Strafe für sein Lästermaul vom Blitz erschlagen. In der Villa der Familie Planetaros kommt es zum Wiedersehen. Dr. Krafft bekommt seine Corona, und Marya wird nicht nur als Avantis Verlobte empfangen, sondern auch als Botschafterin einer neuen, nämlich einer pazifistischen Gesellschaftsordnung.

HIMMELSKIBET - Marya mit ihrem Vater und mit Avanti Planetaros
HIMMELSKIBET ist nicht wirklich spannend oder dramatisch, aber er ist flüssig erzählt und durchaus unterhaltsam. Dass manches heute unfreiwillig komisch wirkt, sollte man dem Film gerne nachsehen. Was den Naivitätsfaktor bezüglich Raumfahrttechnik betrifft, ist er irgendwo zwischen Georges Méliès' LE VOYAGE DANS LA LUNE (1902), in dem die Protagonisten kurzerhand mit einer überdimensionalen Kanone zum Mond geschossen werden, und AELITA angesiedelt. In letzterem ist das Raumschiff nur kurz und nicht in voller Größe zu sehen, verfügt aber offensichtlich über einen Raketenantrieb. Von Fritz Langs FRAU IM MOND (1929) sind alle diese Filme raketentechnisch meilenweit entfernt, aber der hatte auch einen Hermann Oberth als Berater und natürlich viel mehr Geld zur Verfügung. Interessanter sind die gesellschaftspolitischen Vorstellungen, die man auf den roten Planeten projizierte. Während bei AELITA auf dem Mars eine Karikatur des Kapitalismus herrscht (die auch einige Elemente von METROPOLIS vorwegnimmt) und eine marsianische Oktoberrevolution provoziert (was sich am Ende alles als Fantasie des irdischen Protagonisten entpuppt), gibt es bei HIMMELSKIBET also eine pazifistische Utopie. Zeitgeschichtlicher Hintergrund dafür ist selbstverständlich der Erste Weltkrieg, der schon seit über drei Jahren tobte, als der Film gedreht wurde, und bei dem zumindest für militärische Laien noch kein Ende absehbar war. Auch im neutralen Dänemark war in weiten Kreisen die Friedenssehnsucht groß. Und nebenbei war der Krieg auch eine der Ursachen für den wirtschaflichen Bedeutungsverlust der dänischen Filmindustrie, der damals schon eingesetzt hatte.

VERDENS UNDERGANG - ein Komet am Himmel
Letztgenannter Aspekt ist nicht ganz an den Haaren herbeigezogen, denn das Drehbuch zu HIMMELSKIBET schrieben der Dichter und Schriftsteller Sophus Michaëlis und Ole Olsen, und letzterer war kein Anderer als der Gründer und bis zu seinem Ruhestand 1924 Chef von Nordisk. Aber vielleicht kam die Idee zum pazifistischen Stoff gar nicht von Olsen oder Michaëlis, denn wie man Wikipedia entnehmen kann, gibt es in der Handlung deutliche Parallelen zu dem 1910 bzw. 1914 erschienenen zweibändigen Roman "Die Weltensegler" des deutschen Chemikers, Arztes und Schriftstellers Albert Daiber. - Regisseur Holger-Madsen (1878-1943) hieß eigentlich Holger Madsen, und wegen der ungewöhnlichen Schreibweise, die er seinem Namen verpasst hatte, trug er den Spitznamen "Holger Bindestreg", also "Holger Bindestrich". Als Theaterdarsteller ausgebildet, versuchte er sich ab 1908 auch als Filmschauspieler und ab 1912 als Regisseur. Als Vertragsregisseur bei Nordisk inszenierte er in den 10er Jahren rund 80 Filme, dann, in den 20er Jahren, ein gutes Dutzend in Deutschland. In den 30er Jahren schließlich ging er zurück nach Dänemark und ließ seine Karriere mit drei Tonfilmen ausklingen. Schon 1914, noch vor Ausbruch des Kriegs, hatte Holger-Madsen mit NED MED VÅBNENE (DIE WAFFEN NIEDER!) nach dem Roman von Bertha von Suttner einen pazifistischen Film gedreht (das Drehbuch schrieb Carl Theodor Dreyer), und 1917 folgte mit PAX ÆTERNA ein weiterer Antikriegsfilm. Anscheinend war Holger-Madsen dem Thema Pazifismus also auch persönlich zugetan. - Sophus Michaëlis verarbeitete den Stoff von HIMMELSKIBET zu einem 1921 veröffentlichten kurzen Roman (ca. 200 Seiten) mit demselben Titel, der 1926 als "Das Himmelsschiff" auch auf Deutsch erschien. Die deutsche Ausgabe ist antiquarisch noch zu bekommen, und wer Dänisch beherrscht, kann den Roman auch kostenlos online lesen oder als Textdatei herunterladen (im Zeichensatz UTF-8). Wer auf wissenschaftlicher Ebene noch mehr über den Film und Michaëlis' Roman dazu erfahren will (und ein paar Euro übrig hat), kann in dieser über tausendseitigen Habilitationsschrift etwas darüber lesen. Und über Otto Rung, den Drehbuchautor von VERDENS UNDERGANG, erfährt man darin auch etwas.

VERDENS UNDERGANG - Reymers mit Edith West und auf See

VERDENS UNDERGANG


Ein kleines Bergwerksstädtchen an der Küste. Bergwerksbesitzer Frank Stoll ist zu einer Inspektionsvisite anwesend, und bei einem Tanzvergnügen läuft er Dina West über den Weg, der Tochter seines hiesigen Verwalters. Dina ist eigentlich mit dem etwas grobschlächtigen Minenarbeiter Flint verbandelt, aber der virile, selbstbewusste und gut betuchte Stoll fasziniert sie sofort, und auch Stoll findet Gefallen an Dina. Beim selben Tanzfest trifft Dinas jüngere Schwester Edith ihren Freund aus Kindertagen Reymers wieder, der gerade seine Ausbildung zum Seemann absolviert, und auch zwischen ihnen funkt es. Dina und Stoll entschließen sich zu einem gemeinsamen Leben, und weil sie dafür die Erlaubnis von Dinas sittenstrengem Vater nicht erhoffen können, bereiten sie Dinas Flucht vor. Der eifersüchtige Flint riecht Lunte, aber er kann die Abreise des Paars nicht verhindern. - Einige Jahre später. Dina und Stoll leben in der Hauptstadt. Stoll hat durch Börsengeschäfte seinen Reichtum noch beträchtlich vermehrt, und Dina hat wenig zu tun und langweilt sich etwas, ist aber ansonsten glücklich - die Ehe mit Stoll funktioniert. Reymers hat inzwischen seine Prüfungen abgelegt und ist jetzt Steuermann. Eine baldige Hochzeit mit Edith ist in Sicht, aber zunächst muss er auf seine erste größere Fahrt.

VERDENS UNDERGANG - Stoll im Stollen
Der Lauf der Dinge gerät aus der Ordnung, als Stolls Cousin, der Astronom Prof. Wissmann (in der rekonstruierten Fassung des Films wurde daraus Prof. Wisemann), eine Entdeckung macht: Ein unbekannter Komet rast auf die Erde zu! Als erste Nachrichten davon an die Öffentlichkeit dringen, kommt es an der Börse zu Panikverkäufen und die Kurse fallen ins Bodenlose. Stoll nutzt die Situation und kauft sämtliche Papiere auf, die er kriegen kann. Prof. Wissmann präsentiert seine Erkenntnisse der Astronomischen Vereinigung, und nach gründlicher Prüfung seiner Beobachtungen und Bahnberechnungen ist man sich einig: Der Komet wird in die Erdatmosphäre eindringen und schwere Verwüstungen anrichten, und gerade im Nordwesten Europas wird es besonders schlimm werden - hier wird kein Stein auf dem anderen bleiben. Doch um eine Panik zu verhindern, beschließt das Gremium, diese bittere Wahrheit zunächst unter Verschluss zu halten. Stoll jedoch nutzt seinen Draht zu Wissmann, um ihm die Information zu entlocken. Und dann setzt er mit Hilfe eines befreundeten Zeitungsherausgebers die Fehlinformation in die Welt, der Komet werde die Erde verfehlen. Wissmann schäumt vor Wut, aber er kann nichts machen - würde er an die Öffentlichkeit gehen, würde er sich selbst diskreditieren. Durch die vermeintliche Entwarnung steigen die Aktienkurse wieder auf Normalwerte, und Stoll hat mit einem Schlag sein Vermögen vervielfacht.

VERDENS UNDERGANG - das Bombardement beginnt
Doch wie soll es weitergehen? Stoll hat einen Plan. Im Bergwerksstädtchen, aus dem Dina stammt, besitzt er eine Zweitvilla, und darin führt ein Geheimgang in die Stollen seiner Bergwerke, wo er tief unter Tage die Katastrophe zu überstehen hofft. Kurz vor dem berechneten Zusammentreffen macht er sich mit Dina auf den Weg. Dinas erster Besuch in der Heimat nach ihrer Flucht verläuft unerfreulich. Der alte West, der seiner älteren Tochter nie vergeben hat, erleidet bei ihrem Anblick einen Herzanfall und stirbt kurz darauf. Und der immer noch grollende Flint kann nur mit Mühe davon abgehalten werden, über Stoll herzufallen. Pünktlich zum Kollisionstermin lädt Stoll seine reichen Freunde ein und feiert in der Villa eine dekadente Weltuntergangsparty, mit üppigem Bankett und einem "Sternenballett" mit Dina als Ausdruckstänzerin, während schon erste Meteorite niedergehen. Doch Ballett und Party werden jäh unterbrochen, aber nicht vom Kometen. Flint hat seine Kollegen angestachelt, sich von den Reichen zurückzuholen, was diese seit Jahrzehnten aus den Arbeitern herausgesaugt haben, und so macht sich ein mit Hacken und Gewehren bewaffneter Mob auf den Weg und stürmt Stolls Villa. Es kommt zu einer Schießerei, und Dina wird getroffen. Stoll flieht mit Dina in den Geheimgang, Flint hinterher. Im Dunkel eines Bergwerksstollens erliegt Dina ihrer Verletzung, und wenig später zeigt sich, dass Stolls Plan von vornherein zum Scheitern verurteilt war: Vom Kometen freigesetzte giftige Gase dringen in die Stollen, und Stoll erstickt ebenso wie Flint.

VERDENS UNDERGANG - Stoll auf seiner Weltuntergangsparty
Unterdessen hat sich der kosmische Beschuss zu einem Inferno gesteigert. Überall fallen glühende Gesteinsbrocken vom Himmel, überall brennt und qualmt es, und wie angekündigt bleibt kaum ein Stein auf dem anderen. Dann erhebt sich auch noch das Meer, wie es im Zwischentitel heißt - heute würde man sagen, es gibt einen Tsunami. Am nächsten Morgen ist das Bombardement vorbei, aber das Wasser steht an der Küste noch meterhoch und fließt nur langsam ab, und am trockenen Land gibt es nur noch trostlose rauchende Ruinen. Doch selbst in der größten Katastrophe gibt es noch einen Lichtblick: Edith und Reymers haben überlebt, und sie finden zueinander.

VERDENS UNDERGANG - Sternenballett mit Dina als Tänzerin
Man kann VERDENS UNDERGANG mit Fug und Recht als Katastrophenfilm bezeichnen. Sicher nicht der erste (es gab beispielsweise schon mindestens drei Versionen von DIE LETZTEN TAGE VON POMPEJI), aber doch ein früher Vertreter des Genres. Im direkten Vergleich zwischen HIMMELSKIBET und VERDENS UNDERGANG ist letzterer der bessere Film - es gibt hier keinen unfreiwilligen Humor, dafür echte Dramatik, das Spiel der Darsteller ist weitgehend naturalistisch und überzeugend (nur in der Schlussszene wird ordentlich auf die Pathos-Tube gedrückt), während bei HIMMELSKIBET das Spiel manchmal doch etwas exaltiert wirkt, und August Blom und seinem Kameramann Louis Larsen (derselbe wie bei HIMMELSKIBET) gelingen sehr schöne Bildkompositionen. Die Apokalypse ist über weite Strecken überzeugend gefilmt, und einige Bilder der halb verkohlten Ruinen wirken richtiggehend beklemmend. Nach Inspirationsquellen dafür mussten die Filmleute nicht lange suchen - es waren natürlich die Bilder der echten Schlachtfelder des Weltkriegs, der somit auch diesem Film seinen Stempel aufdrückte.

VERDENS UNDERGANG - Flut; Edith rettet sich auf das Dach ihres Elternhauses
Aber natürlich wurde VERDENS UNDERGANG von einem anderen Ereignis noch direkter inspiriert, nämlich vom Halleyschen Kometen und der durch ihn verursachten Panik. Zunächst erschien Anfang 1910, noch vor dem lange angekündigten Halley, völlig unerwartet der Johannesburger Komet, der noch heller (und vielleicht sogar der hellste Komet des 20. Jahrhunderts) war, und im April des Jahres wurde dann Halley, der Star unter den Kometen, für das bloße Auge sichtbar. Eine Kollision stand zwar nicht zu befürchten, aber während der Annäherungsphase hatten Astronomen in Halleys Schweif das mit der Blausäure verwandte Dicyan spektroskopisch nachgewiesen. Weil die Erde auf ihrer Bahn um die Sonne auch den Kometenschweif durchfliegen würde, äußerte der französische Astronom Camille Flammarion (der auch fantasievolle Theorien über die Marsbewohner vertrat und sich ausgiebig mit Parapsychologie beschäftigte) die Befürchtung, die Kometengase würden die Atmosphäre vergiften und die Erde zu einem lebensfeindlichen Ort machen. Andere Astronomen widersprachen sofort, aber die Sensationspresse griff das Thema begeistert auf. Natürlich ließ sich nicht jeder ins Bockshorn jagen, aber die Verkaufszahlen von Gasmasken, "Antikometenpillen" (die im Fall einer tatsächlichen Vergiftung natürlich völlig wirkungslos gewesen wären) und "Antikometenschirmen" erreichten ungeahnte Höhen. Doch der Kometenkern war auch bei seiner größten Annäherung an die Erde noch mehr als 50 mal so weit entfernt wie der Mond, und in den Weiten des Weltraums waren die Kometengase (an denen Dicyan ohnehin nur einen geringen Anteil hatte) so weit verdünnt, dass für die Erde nie eine Gefahr bestand. Als der Kometenschweif durchquert und nichts passiert war, war der Rummel schnell zu Ende, aber 1916 erinnerte man sich natürlich noch lebhaft daran.

VERDENS UNDERGANG - Edith in verbrannter Erde
August Blom (1869-1947) hatte einen ähnlichen Werdegang wie Holger-Madsen. Auch er war zunächst Theaterschauspieler, dann Filmschauspieler und schließlich Regisseur. Von 1910 bis 1925 war er wie Holger-Madsen einer der wichtigsten Hausregisseure bei Nordisk, danach ließ er den Regiestuhl hinter sich und lebte als Kinobetreiber. Johanne Fritz-Petersen, die Darstellerin der Edith West, war ab 1917 seine zweite Frau. - Die schon erwähnte DVD vom Dänischen Filminstitut hat Texttafeln, in denen dänische und englische Zwischentitel untereinander angeordnet sind, zusätzliche Untertitel sind nicht vorhanden. In Deutschland wird diese Scheibe in der Edition Filmmuseum vertrieben. Auf der Website des Dänischen Filminstituts kann man HIMMELSKIBET und VERDENS UNDERGANG kostenlos online ansehen (hinter "Filmklip" verbirgt sich jeweils der komplette Film), allerdings in mäßiger Bildqualität und ohne Ton, während auf der DVD das Bild gut ist und es eine Klavierbegleitung gibt.

VERDENS UNDERGANG - Neuanfang zu zweit

Was hat Woody Allen mit Henry Kissinger und Richard Nixon zu tun?

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Ganz einfach: Ersterer hat die beiden letzteren in einer Mockumentary für das amerikanische Fernsehen veräppelt.

MEN OF CRISIS: THE HARVEY WALLINGER STORY
USA 1971
Regie: Woody Allen
Darsteller: Woody Allen (Harvey Wallinger), Louise Lasser (Wallingers frühere Geliebte), Diane Keaton (Renata Wallinger), Richard M. Dixon (Richard M. Nixon) u.a.
Mit Archivaufnahmen von Richard M. Nixon, Hubert H. Humphrey, George C. Wallace, J. Edgar Hoover, Spiro T. Agnew, Melvin Laird, John N. Mitchell, Martha Mitchell u.a.

Wir sehen eine 25-minütige Folge der (fiktiven) Fernsehserie MEN OF CRISIS, die Personen des Zeitgeschehens vorstellt. Diesmal im Focus: Harvey Wallinger, ein einflussreicher Strippenzieher in der amerikanischen Politik, die Schlüsselfigur in der Nixon-Administration - ein bis zur Kenntlichkeit verfremdetes Portrait von Henry Kissinger (der damals noch nicht Außenminister, sondern Nixons Sicherheitsberater war). Ein Sprecher im Off mit markiger Stimme führt durch die Sendung.


Dr. Harvey Wallinger ist ein brillanter Intellektueller und Harvard-Absolvent (auch wenn er von seinem Jahrgang mit 95 Absolventen als 96st-bester abschnitt). Als Kind deutsch-jüdischer Einwanderer geboren, bahnt er sich von der John-Dillinger-Highschool (!) über Harvard und eine Rechtsanwaltskanzlei seinen Weg in die Politik. Sein Idol ist zunächst Joseph McCarthy. Wir erleben mit, wie Wallinger als Vorsitzender eines Ausschusses gegen kommunistische Umtriebe durch geschickte Fragen einen Zeugen soweit in die Enge treibt, dass der seine Mitgliedschaft in der subversiven Organisation Boy Scouts of America zugibt und sogar weitere Mitglieder benennt. Durch diese beeindruckende Leistung gewinnt Wallinger die Aufmerksamkeit des ebenfalls aufstrebenden Richard Nixon. Dessen Aufstieg zur Macht wird schon am Anfang des Film skizziert - mit echten Archivaufnahmen von einigen Schlüsselfiguren der politischen Szene der 60er und 70er Jahre: Am ausgiebigsten Nixon selbst, der demokratische Senator und Präsidentschaftskanditat Hubert Humphrey, der ebenfalls demokratische (aber erzreaktionäre und rassistische) Gouverneur von Alabama und Präsidentschaftskanditat George C. Wallace, FBI-Chef J. Edgar Hoover, Nixons Vizepräsident Spiro T. Agnew (der noch vor Watergate über einen eigenen Bestechungs- und Steuerskandal stolperte, weshalb nach Nixons Rücktritt nicht er, sondern Gerald Ford Präsident wurde), Nixons Verteidigungsminister Melvin Laird - wie der Off-Kommentator erklärt, hat Laird einen Plan zur Beendigung des Vietnam-Kriegs, der so kompliziert ist, dass nur zwei Leute auf der Welt ihn verstehen. Laird ist keiner der beiden. Schließlich noch Nixons Justizminister John N. Mitchell und seine extravagante Frau Martha. Mitchell war damals bereits für illegale Abhöraktionen bekannt, die er angeordnet hatte, und später stellte sich heraus, dass er tief im Watergate-Sumpf steckte. Der Intellektuelle Wallinger passt gut in dieses Team, denn Nixon und Agnew sind ja ebenfalls Intellektuelle, wie er in einem Interview sagt: "They occasionally read, and both men can write, you know, and they know all the numbers in sequence. Almost all the numbers."

Harvey Wallinger legt den Amtseid ab
Wir erfahren auch etwas über Wallingers Privatleben - eine frühere Geliebte, eine Nonne (!) und Wallingers geschiedene Frau geben Auskunft. Und Wallinger selbst bekennt im Interview, dass er Sex mag, aber nur amerikanischen Sex, keinesfalls unamerikanischen Sex. Und was ist amerikanischer Sex? "If you are ashamed of it, it's American sex. You know, it's important, if you feel guilt and shame, you know, otherwise I think sex without guilt is bad because it almost becomes pleasurable." Eines von Allens Lieblingsthemen ist hier also bereits vorhanden. - Die Archivaufnahmen sind sorgfältig ausgewählt und aus dem Zusammenhang gerissen, mit passenden anderen Aufnahmen gegengeschnitten (etwa eine Rede von Wallace mit einem Publikum, das komplett aus Mitgliedern des Ku-Klux-Klans besteht) und mit Kommentaren des Sprechers versehen, so dass der komplette Politikbetrieb ins Lächerliche gezogen wird. Die Bandbreite reicht dabei von scharfer Satire bis zu Kalauern. Doch manches muss von Allen gar nicht manipuliert werden, weil es sich ohnehin am Rand der Realsatire bewegt. Die Spielszenen sind geschickt mit dem Archivmaterial verschränkt - Allen übt hier schon ein bisschen für ZELIG. Neben den Allen-Regulars Louise Lasser und Diane Keaton ist Dan Frazer ein weiteres bekanntes Gesicht: Wenig später wird er als Theo Kojaks Chef McNeil auf den Bildschirmen zu sehen sein. Er hatte auch schon in Allens TAKE THE MONEY AND RUN und BANANAS mitgespielt, in MEN OF CRISIS ist er aber nur einige Sekunden zu sehen. Ebenfalls zu sehen ist der seinerzeit vielbeschäftigte Nixon-Lookalike Richard M. Dixon (natürlich hieß er nicht wirklich so).

Harvey Wallinger und sein Chef
MEN OF CRISIS: THE HARVEY WALLINGER STORY wurde Ende 1971 in kurzer Zeit geschrieben und gedreht, als Allen zwischen PLAY IT AGAIN, SAM und EVERYTHING YOU ALWAYS WANTED TO KNOW ABOUT SEX einige Wochen Zeit hatte. Er hätte im Februar 1972 im Sendernetzwerk PBS ausgestrahlt werden sollen, doch kurz vor dem Sendetermin bekamen die Verantwortlichen kalte Füße, und die Ausstrahlung wurde abgesetzt. Auch später wurde die HARVEY WALLINGER STORY nie gesendet, und Allens Entschluss, nur noch für das Kino zu arbeiten, wurde dadurch stark befördert. Nachdem der Film lange im Verborgenen schlummerte, tauchte 1997 eine etwas lädierte Kopie aus Privatbesitz auf und wurde an die beiden Häuser des Museum of Television & Radio in New York und Los Angeles übereignet, wo man den Film seitdem ansehen kann. MEN OF CRISIS: THE HARVEY WALLINGER STORY taucht gelegentlich auf YouTube auf - derzeit ist er gerade hier (mit italienischen Untertiteln) zu finden.

Hans räumt die Trümmer weg: Kurzbesprechung ...UND ÜBER UNS DER HIMMEL

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...UND ÜBER UNS DER HIMMEL
Deutschland 1947
Regie: Josef von Báky
Darsteller: Hans Albers (Hans Richter), Paul Edwin Roth (Werner Richter), Lotte Koch (Edith Schröder)


Hans kehrt nach dem Krieg in seine Heimat zurück und findet seine Wohnung stark beschädigt vor. Davon lässt er sich keineswegs unterkriegen und macht sich gleich an den Wiederaufbau. Er ist guter Dinge, denn einerseits wird ihm mitgeteilt, dass sein Sohn Werner bald ebenfalls zurückkehren wird, andererseits bandelt er mit der Kriegswitwe Edith an, die in der benachbarten Wohnung lebt. Lebensmittel bekommt Hans vom Schwarzmarkt, und rasch merkt er, dass er durch eigene Schiebergeschäfte wesentlich besser die Renovierung seiner Wohnung finanzieren kann. Sein Sohn Werner sieht das bei seiner Rückkehr gar nicht gerne – eigentlich „sieht“ er es zunächst nicht, denn er ist kurzzeitig aufgrund nervlicher Belastungen erblindet. Einerlei: rasch drängt Werner seinen Vater Hans dazu, die Schiebergeschäfte sein zu lassen und wieder seine Vorkriegsarbeit als Kranführer aufzunehmen...

...UND ÜBER UNS DER HIMMEL ist der erste deutsche Nachkriegsfilm, der unter Lizenz der US-amerikanischen Besatzungsmächte produziert wurde. Er gilt zugleich auch als der erste deutsche Starfilm nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Hans Albers, der schon in den 1910er Jahren seine Leinwandkarriere begonnen und sich besonders im Laufe der 1930er Jahre zum Star und Publikumsmagneten entwickelt hatte, feierte hier gewissermaßen seinen richtigen Nachkriegs-Comeback nach knapp über zwei Jahren Abwesenheit von der Leinwand – seinen letzter Auftritt hatte er in GROßE FREIHEIT NR. 7 (ein „Überläufer“: gedreht noch während des Kriegs, Premiere im September 1945). ...UND ÜBER UNS DER HIMMEL ist ganz und gar auf Albers zugeschnitten. Sein Charisma trägt den kompletten Film – dass jemand anders die Rolle des lebhaften, bodenständigen, charmanten und gewitzten Hans Richters spielen könnte, ist eigentlich undenkbar. Seine Darstellung wird gleichwohl ausgezeichnet von der dynamischen Inszenierung des ungarischen Regisseurs Josef von Báky unterstützt, der hier nach MÜNCHHAUSEN erneut mit dem Star zusammenarbeitete.

Das „Lexikon des Internationalen Films“ bezeichnet ...UND ÜBER UNS DER HIMMEL als „durch oberflächlichen Optimismus und schwülstige Wiederaufbau-Tendenz gekennzeichnet“. Dem negativen Ton dieser Einschätzung mag ich mich nicht anschließen – der Film und Albers machen einfach zu viel Spaß! –, aber sie enthält dennoch eine treffende Aussage. ...UND ÜBER UNS DER HIMMEL ist tatsächlich ein „optimistischer“ Film und er leistet alleine im Vorspannlied all das, wofür viele andere Trümmerfilme dieser Ära ihre ganze Laufzeit brauchen: den Übergang von der Larmoyanz zum puren Wiederaufbauoptimismus.

Es weht der Wind von Norden
Er weht uns hin und her
Was ist aus uns geworden
Ein Häufchen Sand am Meer
Der Sturm jagt das Sandkorn weiter
Dem unser Leben gleicht
Er fegt uns von der Leiter
Wir sind wie Staub, so leicht
Was soll denn werden, es muss doch weitergehen
Noch bleibt ja Hoffnung, für uns genug bestehen
Wir fangen alle von vorne an
Weil dieses Dasein auch schön sein kann
Der Wind weht von allen Seiten
Na lass den Wind doch wehen
Denn über uns der Himmel lässt uns nicht untergehen
Lässt und nicht untergehen

Von einer selbstmitleidsgetränkten Selbstbeschreibung als völlig hilflose Opfer unkontrollierbarer Kräfte („Er weht uns hin und her“) bis zum strahlend-naiven Appell an den Wiederaufbau („Wir fangen alle von vorne an“) in zwei Minuten! Eric Rentschler bezeichnete das Wegräumen der Trümmer und den bestimmten Gang in eine bessere Zukunft als „manifest destiny“ des Trümmerfilms. ...UND ÜBER UNS DER HIMMEL ist ein besonders schöner Beweis für diese These: so schwungvoll und lustig werden Trümmer in kaum einem anderen Film der Ära weggeräumt. In der Vergangenheit rumzustochern würde den Spaß am Wiederaufbau jedoch zu sehr verderben: sich etwa daran zu erinnern, dass die Trümmer die Folgen eines genozidalen Kriegs waren, der von Deutschland entfesselt wurde und schließlich teils nach Deutschland zurück... „wehte“. Ein junger Mann, der in der Nachbarschaft Hans‘ lebt, grübelt immer wieder über seine Vergangenheit als Soldat, bereut, dass er nur „Richtung halten, Stellung halten, Schnauze halten“ gelernt hat und nun im zivilen (Postnazi-?) Leben nichts kann. Dieses Grübeln bekommt ihm gar nicht gut, denn am Ende des Films erhängt er sich in einer Polizeizelle, in die er nach einer Schwarzmarktrazzia gekommen ist (das ganze passiert offscreen). Hans hingegen macht es richtig: wenn er sich schon an die Vergangenheit erinnert, dann nur an die schöne Zeit des privaten Glücks mit Ehefrau und Kleinsohn vor dem Krieg (vor der Nazizeit?).

„No past to hide, no guilt to process, no ghosts to slay“, so Robert R. Shandley in seinem Buch Rubble Films: German Cinema In The Shadow Of The Third Reichüber die Grundkonstellation von ...UND ÜBER UNS DER HIMMEL. Die einzige Schuld, die tatsächlich bewältigt werden muss, ist Hans‘ Beteiligung am Schwarzmarkt. Da wir hier von Hans Albers sprechen (es scheint kein Zufall zu sein, dass seine Persona dank des gemeinsamen Vornamens geradezu mit der Figur zusammenschmilzt), ist das alles nicht so schwierig: Hans hört einfach mit dem Schwarzhandel auf, übergibt seine Schwarzhandelkollegen bzw. nunmehr Ex-Schwarzhandelkollegen der Polizei und arbeitet fortan legal als ehrlicher Kranführer, während mit Edith eine nette Frau zu Hause glücklich sein kann, täglich am Herd auf seine Rückkehr warten zu können. So einfach kann Schuldbewältigung sein – und so vergnüglich verpackt.


...UND ÜBER UNS DER HIMMEL ist in Deutschland auf DVD erhältlich: Ton und Bild sind sehr gut.

Ein neuer Stummfilm von Orson Welles

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TOO MUCH JOHNSON
USA 1938/2013
Regie: Orson Welles
Darsteller: Joseph Cotten (Augustus Billings), Edgar Barrier (Leon Dathis), Arlene Francis (Mrs. Dathis), Virginia Nicolson (Leonore Faddish), Ruth Ford (Mrs. Billings), Mary Wickes (Mrs. Upton Batterson), vielleicht Orson Welles (Keystone Kop)

Ein Keystone Kop - aber wahrscheinlich nicht Orson Welles
Ein neuer Film von Orson Welles? Natürlich nicht wirklich, schließlich ist der Meister schon seit 1985 tot. Aber ein Film, der unvollendet blieb und nicht aufgeführt wurde, der lange als verloren galt und 2008 wundersamerweise wieder auftauchte, der letztes Jahr zum ersten Mal öffentlich vorgeführt wurde, und der neuerdings allgemein zugänglich ist. Ein Stummfilm ist TOO MUCH JOHNSON in zweierlei Hinsicht: Erstens wurde er ohne Tonspur aufgenommen, und zweitens imitiert er Hollywoods Slapstick-Komödien aus der Ära eines Mack Sennett. Schon in THE HEARTS OF AGE, seinem ersten Film (oder seinem zweiten, wenn man TWELFTH NIGHT von 1933 mitzählt, aber das ist nur eine mit völlig statischer Kamera abgefilmte Theaterprobe eines Stücks, das Welles inszeniert hatte), versuchte sich Welles auf ähnlichem Gebiet. Er inszenierte THE HEARTS OF AGE gemeinsam mit seinem Schulfreund William Vance 1934 anlässlich eines Schulfestes an der früheren Schule der beiden in Woodstock, Illinois (nicht zu verwechseln mit Woodstock, New York). Es handelt sich um eine kurze Parodie auf die surrealistischen Stummfilme von Buñuel/Dali und Jean Cocteau, mit Welles als einer Figur irgendwo zwischen Dr. Caligari und dem Joker. 1938 produzierte Welles das legendäre Hörspiel "The War of the Worlds" sowie eine ganze Reihe weiterer Hörspiele (die man alle hier herunterladen kann), und er wirkte als Regisseur, Schauspieler und in multipler sonstiger Funktion am Mercury Theatre, das er und John Houseman 1937 in New York gegründet hatten. Eines der Stücke, die 1938 auf dem Spielplan standen, war "Too Much Johnson", ein 1894 geschriebener Schwank von William Gillette (1853-1937), einem seinerzeit sehr bekannten und beliebten Schauspieler und Bühnenautor, der vor allem für seine Darstellung von Sherlock Holmes berühmt war. In "Too Much Johnson" wird Augustus Billings, ein New Yorker Playboy (der den falschen Namen Johnson benutzt), vom eifersüchtigen Ehemann seiner Geliebten bis nach Kuba (wo noch ein echter Johnson in die Handlung eingreift) verfolgt.

Joseph Cotten und Arlene Francis
Welles kam nun auf den Gedanken, die Aufführung mit einem dreiteiligen Film von ungefähr 40 Minuten Länge zu ergänzen: Die einzelnen Teile von 20, 10 und nochmal 10 Minuten sollten jeweils einen der drei Akte des Stücks einleiten. Die Idee war nicht neu - so entstand etwa René Clairs erster Film ENTR'ACTE (1924) als Pausenfüller für ein von Francis Picabia ausgestattetes Ballett, und 1923 drehte Sergej Eisenstein seinen ersten Kurzfilm GLUMOWS TAGEBUCH zur Anreicherung eines von ihm inszenierten Theaterstücks. Um die Aufführungen durch die Filmsequenzen nicht zu sehr aufzublähen, wurde im Gegenzug Gillettes Stück von Welles stark gekürzt (Welles schreckte auch nicht davor zurück, Shakespeare stark zu kürzen, da war das bei Gillette ein Klacks). Für den geplanten Film schrieb Paul Bowles eine Musik, die bei den Aufführungen live hätte gespielt werden sollen. Bowles ist zwar viel bekannter als Schriftsteller ("Himmel über der Wüste", verfilmt von Bertolucci), aber er war auch Komponist.

Slapstick auf den Dächern von New York
Die Darsteller in TOO MUCH JOHNSON kamen überwiegend vom Mercury Theatre und von Welles' Hörspiel-Truppe. Für etliche, darunter Joseph Cotten, war es der erste Filmauftritt, und einige, neben Cotten etwa Erskine Sanford, traten auch in späteren Welles-Filmen regelmäßig auf. Ebenfalls zur Besetzung gehörte Welles' erste Ehefrau Virginia Nicolson (manchmal auch "Nicholson" geschrieben), die auch schon in THE HEARTS OF AGE mitgespielt hatte. Welles selbst übernahm vielleicht die Rolle eines Keystone Kops (siehe Update). In zehn Tagen drehte Welles mit seinen Schauspielern ungefähr 7600 Meter Film (was über viereinhalb Stunden Laufzeit entspricht). Daraus schnitt er selbst in dem New Yorker Hotel, in dem er wohnte, mit einer Moviola eine Rohfassung von 66 Minuten Länge. Über diesen Zustand kam TOO MUCH JOHNSON jedoch nicht hinaus. Verschiedene Gründe könnten dazu beigetragen haben, dass er unvollendet blieb, aber über die Gewichtung herrscht Unklarheit. Nach einer Kurzversion von 1900 hatte 1919 Donald Crisp Gillettes Stück für Paramount verfilmt, und 1938 besaß Paramount die Filmrechte immer noch und ließ Welles angeblich über einen Anwalt ausrichten, dass er die Rechte nicht umsonst, sondern nur gegen eine beträchtliche Lizenzgebühr haben könne. Eine heuer durchgeführte ausgiebige Recherche in den Archiven von Paramount hat allerdings keine Belege für diese Version erbracht. Welles war damals anscheinend knapp bei Kasse, jedenfalls soll es Beschwerden von einigen der Schauspieler gegeben haben, dass sie ihre Gage unvollständig oder verspätet erhielten, und das Kopierwerk soll die bearbeiteten Filmrollen nur noch gegen Vorkasse herausgerückt haben. Die Inszenierung des Stücks hatte im August 1938 einen Probelauf in einem Theater in der Nähe von New Haven, Connecticut, und angeblich stellte sich heraus, dass dieses Theater überhaupt nicht für die Projektion von Filmen gerüstet war. Allerdings war das Theater ursprünglich ein Nickelodeon, was auch diese Version etwas zweifelhaft erscheinen lässt. Vielleicht lief Welles einfach nur die Zeit weg, weil er den Aufwand unterschätzt hatte, und weil er und ein Teil der Besetzung gleichzeitig noch mit der regelmäßigen Radio-Arbeit beschäftigt waren. Jedenfalls lief die Inszenierung in Connecticut ohne den Film (und damit auch ohne Bowles' Musik, die dieser etwas umarbeitete und 1939 separat veröffentlichte). Das ohne Film und in der gekürzten Form offenbar nur noch mäßig interessante Stück fiel bei Publikum und Kritik in Connecticut durch, und der eigentlich vorgesehene Lauf in New York wurde daraufhin abgesagt - und das war es dann mit TOO MUCH JOHNSON. Der erste Eintrag in der betrüblich langen Liste von Welles' unvollendeten Filmprojekten war geboren.

Virginia Nicolson (links) und Ruth Ford
Was danach mit dem 66-minütigen "Workprint" geschah, ist nicht bekannt. Welles entdeckte das Material Ende der 60er Jahre in der Villa bei Madrid, die er damals bewohnte, aber er konnte sich nicht erinnern, ob es sich immer in seinem Besitz befunden hatte. Der Zustand der Filmrollen war laut Welles damals ausgezeichnet. Eine nachträgliche Veröffentlichung zog er nicht in Betracht, weil sie ihm ohne das Theaterstück als sinnlos erschien, aber er hatte die Idee, eine fertig geschnittene Fassung Joseph Cotten als überraschendes Geburtstagsgeschenk zu überlassen. Doch dazu kam es nicht mehr. Als Welles 1970 zu Dreharbeiten abwesend war, brannte die Villa aus, und der leicht entflammbare Nitrofilm löste sich in Rauch auf. Wie jedermann einschließlich Welles selbst glaubte, war TOO MUCH JOHNSON damit endgültig verloren. Doch 2008 tauchte völlig unverhofft in einem Lagerhaus in Pordenone in Friaul (wo regelmäßig das bekannte Stummfilmfestival stattfindet) eine intakte Kopie auf. Zunächst kümmerten sich die in Pordenone ansässige Einrichtung Cinemazero und die Cineteca del Friuli darum, dann das George Eastman House in Rochester, New York. In einer international koordinierten Anstrengung dieser Institutionen und eines spezialisierten Filmlabors, unterstützt durch eine Geldspritze der amerikanischen National Film Preservation Foundation (die u.a. durch die verdienstvolle DVD-Reihe Treasures From American Film Archives hervorgetreten ist), wurde TOO MUCH JOHNSON sorgfältig restauriert. Im Oktober 2013 hatte der wiederauferstandene Film unter großem Publikumsandrang (es mussten zusätzliche Aufführungen anberaumt werden) seine Premiere beim Stummfilmfestival in Pordenone - welchen besseren Ort hätte es dafür geben können? Und seit zwei Wochen kann man TOO MUCH JOHNSON auf der Website der National Film Preservation Foundation legal, kostenlos und in guter Qualität herunterladen oder als Stream ansehen, und zwar gleich in zwei Versionen: der komplette 66-minütige Workprint (ca. 1 GB) und eine daraus erstellte 34-minütige Version (ca. 560 MB), die mit einigen erklärenden Zwischentiteln ergänzt wurde, und die vielleicht dem nahekommt, was sich Welles seinerzeit vorgestellt hatte. Wobei betont wird, dass das nur ein Versuch ist, und dass andere Versuche möglich und wünschenswert sind. Beide Versionen wurden mit einer neuen stummfilmgemäßen Klavierbegleitung von Michael D. Mortilla versehen.

Nochmal Cotten und Francis
Man sollte kein CITIZEN KANE 0.9 von TOO MUCH JOHNSON erwarten - natürlich nicht. Selbst wenn Welles den Film vollendet hätte, würde da zuviel fehlen, vom kongenialen Kameramann Gregg Toland bis zu den materiellen Möglichkeiten eines großen Hollywood-Studios. Und durch den vorgesehenen Einsatzzweck geht im zweiten und dritten Teil die inhaltliche Kohärenz doch etwas verloren - schließlich hätte ein Teil der Geschichte auf der Bühne erzählt werden sollen, und das können die Zwischentitel nur teilweise kompensieren. Doch TOO MUCH JOHNSON ist trotzdem eine interessante und unterhaltsame Talentprobe mit witzigen Ideen und gelungenem Slapstick. Auch ohne den überlebensgroßen Namen "Orson Welles" wäre er durchaus einen Blick wert.

UPDATE (11. September): In IMDb, Wikipedia und anderswo ist zu lesen, dass Welles in TOO MUCH JOHNSON eine Rolle als einer der Keystone Kopsübernommen hat, und ich hatte das zunächst so in den Artikel übernommen. Quelle für diese Behauptung scheint ein Interview zu sein, das Welles 1978 einem Frank Brady gab, und das in der Zeitschrift American Film erschien. Doch Welles ist bekannt dafür, dass man nicht alles glauben darf, was er in Interviews erzählte, und laut Auskunft der National Film Preservation Foundation glaubt Prof. Scott Simmon, der für die Foundation die 34-minütige Schnittfassung erstellte und die beiden Begleittexte auf den Download-Seiten schrieb, dass es sich dabei um ein falsches Gerücht handelt. Es könnte also sein, dass Welles gar nicht mitspielt.

In IMDb und Wikipedia wird Mrs. Billings' Mutter Mrs. Upton Battison geschrieben, in den Zwischentiteln dagegen Mrs. Upton Batterson. Letzteres ist richtig, wovon ich mich hierüberzeugt habe.

Liebhaber und gehörnter Ehemann am Ende auf seltsame Weise vereint

Psychorama: Der subliminale Horror!

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MY WORLD DIES SCREAMING (auch TERROR IN THE HAUNTED HOUSE)
USA 1958
Regie: Harold Daniels
Darsteller: Cathy O'Donnell (Sheila Wayne Justin), Gerald Mohr (Philip Justin), William Ching (Mark Snell), John Qualen (Jonah), Barry Bernard (Dr. Forel)

Das unheimliche Haus
Die in der Schweiz lebende junge Amerikanerin Sheila Justin, gerade frisch verheiratet, wird regelmäßig von einem immer gleichen Albtraum ... huch, was war das? Da ist etwas im Bild aufgeflackert, was da offensichtlich nicht hingehört. Man konnte es nicht erkennen, aber da war etwas. Merkwürdig. Nochmal von vorn: Sheila wird also regelmäßig von einem Albtraum heimgesucht. Sie wird wie magisch von einem unheimlichen, verlassenen alten Haus angezogen. Sie kann sich nicht erinnern, das Haus tatsächlich schon einmal gesehen zu haben, aber sie hat es im Traum deutlich vor Augen, und es ist immer das selbe. Laut Schild war es früher von einer Familie Tierney bewohnt, aber jetzt steht es leer. Unter einem inneren Zwang geht Sheila in das Haus, die Treppe empor bis zum Dachboden, wo eine unsagbare Gefahr auf sie lauert ... und dann wacht sie schreiend auf. Nanu, es hat schon wieder geflackert. Sehr merkwürdig. Ein Psychiater, der Sheila in Hypnose versetzt, kann ihr nicht weiterhelfen. Aber vielleicht nützt es ihr ja, wenn sie wie geplant mit ihrem Mann Philip ins sonnige Florida zieht. Sheila hat seit ihrer Kindheit in einem Schweizer Sanatorium gelebt, aber jetzt ist sie körperlich gesund. Philip hat sie erst vor kurzem kennen- und liebengelernt.

Sheila und Philip
Doch in Florida wird alles noch schlimmer: Das Haus, das Philip schon vorab in einer einsamen Gegend gemietet hat, ist genau das Haus aus Sheilas Albtraum! Sie erstarrt in Panik und will sofort wieder weg, doch Philip weist das erstaunlich schroff zurück. Das Ehepaar trifft auf den verschrobenen alten Sonderling Jonah, der das Haus hütet, als einziger Mensch weit und breit, nur von einem unheimlichen weißen Hund begleitet. Jonah will die beiden vertreiben, doch Philip besteht darauf, das Haus gemietet zu haben. Er lässt sich schließlich doch von Sheila überreden, wieder abzureisen, doch welch Zufall, der Wagen springt nicht an. Im Motor fehlt ein Bauteil, offenbar gestohlen, während die beiden im Haus waren. Wer außer Jonah käme dafür in Frage? Doch später in der Nacht, als Sheila allein im Zimmer ist, entdeckt sie zufällig das fehlende Motorteil in Philips Koffer. Was führt er im Schilde? Noch eine Entdeckung macht sie in dieser Nacht: In einer Familienchronik liest sie, dass die Tierneys von einem Wahnsinn befallen waren, der sich von Generation zu Generation fortsetzte. Und als grausiger Höhepunkt hat der alte Großvater Tierney an einem Tag im Jahr 1939 auf dem Dachboden alle anwesenden Familienmitglieder mit einer Axt erschlagen, bevor er selbst tot zusammenbrach. Sheila dämmert langsam, dass sie schon als Kind an diesem Ort war, aber ihre Erinnerungen bleiben nebelhaft.

Man beachte die Ratte - oder ist es ein Opossum? - im Mund dieses Herrn
Am nächsten Morgen erscheint Mark Snell, der von Jonah verständigte jetzige Besitzer des Hauses. Er trifft zunächst auf Sheila, bestreitet, das Haus vermietet zu haben, und fordert die sofortige Abreise des Paars. Aber als Philip hinzukommt, erweist es sich, dass er und Mark sich schon lange kennen. Und Sheila erfährt zu ihrer Verblüffung, dass Philip gar nicht Justin heißt, sondern Tierney, und dass er der Enkel des wahnsinnigen Mörders ist. In der nächsten Nacht spitzen sich die Ereignisse wieder zu. Will Philip im Stil eines Jack Torrance in SHINING das Werk seines Großvaters fortsetzen und neue Axtmorde begehen? Oder ist er vielleicht nur ein Schurke, der seine Frau im Stil von GASLICHT und MITTERNACHTSSPITZEN in den Wahnsinn treiben will? Es sei hier nur verraten, dass es keine übernatürliche Erklärung für die Geschehnisse gibt. Der Alternativtitel TERROR IN THE HAUNTED HOUSE, den der Film anlässlich einer Video-Veröffentlichung 1987 verpasst bekam, ist also nicht nur äußerst einfallslos, sondern auch irreführend. Ach ja: Auch in Florida hat es immer wieder geflackert.

Der merkwürdige Jonah ...
Eine übernatürliche Auflösung der Geschichte hätte schlecht dazu gepasst, dass MY WORLD DIES SCREAMING auf den damals allerneuesten Erkenntnissen der Wissenschaft aufbaute. Nun ja, mehr oder weniger. 1957 veröffentlichte der amerikanische Publizist Vance Packard sein Buch The Hidden Persuaders (dt. Die geheimen Verführer), in dem er sich kritisch mit modernen Methoden der Werbung und Beeinflussung und insbesondere mit der subliminalen Werbung auseinandersetzte - also mit Werbung in Film und Fernsehen, die so kurzzeitig präsentiert wird, dass sie zwar vom Auge erfasst, aber nicht bewusst wahrgenommen wird. Dabei bezog sich Packard auf die "Iss-Popcorn-trink-Cola-Studie" des Werbefachmanns James Vicary, die in kürzester Zeit für weltweites Aufsehen sorgte. Danach soll die in Kinos für jeweils einige Sekundenbruchteile wiederholt in den Film eingeblendete Aufforderung, Popcorn und Cola zu bestellen, zu einer signifikanten Umsatzsteigerung der beiden Produkte geführt haben. Die allgemeine Aufregung um diese perfide Beeinflussungsmethode war groß. Vicarys Studie hatte allerdings einen klitzekleinen Schönheitsfehler: Sie existierte überhaupt nicht. Schon früh gab es Zweifel, und 1962 gab Vicary zu, dass er seine Ergebnisse frei erfunden hatte, um Werbung für sich und seine eigene Werbeagentur zu machen. Trotzdem gab es auch später noch Auseinandersetzungen um die subliminale Werbung, sowohl was die Wirksamkeit als auch was die ethische Vertretbarkeit betrifft.

... und sein unheimlicher Hund
1958 war der Hype noch auf dem Höhepunkt, und da blieb Hollywood nicht außen vor. Statt dem Zuschauer Kaufaufforderungen unterzujubeln, könnte man ihm ja auch Botschaften vermitteln, die die Wirkung des jeweiligen Films verstärken, beispielsweise einen Horrorfilm noch furchterregender machen. Es war keines der großen Studios, die diese aus heutiger Sicht eher dämliche Idee umsetzte, sondern eine Firma mit dem Namen Precon Process & Equipment Corporation, was wohl für preconscious processing (vorbewusste Verarbeitung) stehen sollte. MY WORLD DIES SCREAMING war der erste Film der Firma, und im Gegensatz zu den (vorgeblichen) Praktiken der Werbewirtschaft agierte man hier nicht im Geheimen, sondern hängte es an die große Glocke, was man da machte. Weil das mit einem griffigen Schlagwort am besten geht, erfand man dafür den Begriff "Psychorama", auch "Psycho-Rama" geschrieben. In der ursprünglichen Version von MY WORLD DIES SCREAMING wandte sich Hauptdarsteller Gerald Mohr vor und nach dem Film an das Publikum und erklärte, was da ablief. Dieser Vor- und Nachspann wurde bei der Neuveröffentlichung als TERROR IN THE HAUNTED HOUSE weggelassen, man kann sich aber eine ähnliche Einführung von Mohr zum Nachfolgefilm DATE WITH DEATH ansehen.

Gefälliges Spiel mit Licht und Schatten
Wie oben im Text schon angedeutet, sind die eingeblendeten Bilder und Texte in MY WORLD DIES SCREAMING nicht wirklich subliminal. Man erkennt zwar nicht, was es ist, aber auf YouTube (und wie man liest, auch auf DVD) bemerkt man sehr deutlich, dass da plötzlich etwas ist, was da nicht hingehört. Mag sein, dass es im Kino etwas weniger auffällig ist, aber für den bewussten Verstand wirklich unsichtbar ist es sicher auch dort nicht. Dazu müsste sich die Zeitspanne im unteren Millisekundenbereich bewegen, aber ein Kinobild dauert halt nun mal 1/24 Sekunde. Mit einem normalen Kinoprojektor geht das nicht schneller - man müsste zusätzlich spezielle Geräte einsetzen, sogenannte Tachistoskope. Aber das war natürlich nur in der Forschung, aber nicht im kommerziellen Kino-Einsatz tragbar. Auch aus einem anderen Grund war der Einsatz der Technik bei MY WORLD DIES SCREAMING eher unorthodox: Die eingeblendeten Bilder sind teilweise eher bescheuert als furchterregend - die hier präsentierten Beispiele sprechen für sich. Man fragt sich ohnehin, wie weit die Macher des Films überhaupt an die Wirkung ihrer unterschwelligen Bilder glaubten. Dass "Psychorama" eine Werbemasche war, ist klar, aber war es nur das? Oder war man bei Precon Process & Equipment von der Wirkung der "revolutionären Technik"überzeugt? Der Film selbst gibt darauf keine Antwort, aber die Firma entwickelte anscheinend auch Gerätschaften zur Umsetzung der Technik, und Hal Becker und Robert Corrigan, offenbar die Vordenker (und vielleicht Besitzer) von Precon Process & Equipment, veröffentlichten auch ein Buch zum Thema (Corrigan, R.E. / Becker, H.C.: Subliminal communication processes. Status and possibilities. New Orleans: Precon Process and Equipment Corp. 1958). Wie auch immer - die Masche lief sich schnell tot. 1959 produzierte die Firma noch den schon erwähnten Nachfolgefilm DATE WITH DEATH (wieder mit Harold Daniels als Regisseur und Gerald Mohr in der Hauptrolle, aber ohne Cathy O'Donnell), und das war es dann. Dennoch lebte die Idee gelegentlich wieder auf - man denke an den Penis in FIGHT CLUB.


Ich möchte MY WORLD DIES SCREAMING nicht schlechter machen, als er ist. Die Story ist nicht sehr originell, aber auch nicht wirklich schlecht, und Cathy O'Donnell und Gerald Mohr bieten in ihren Rollen durchaus ordentliche Leistungen. Mohr war ein grundsolider und umfassend gebildeter Schauspieler mit vielen Film- und später vor allem Fernsehrollen, und er war ein gefragter Radiosprecher mit mehr als 500 Auftritten. Seine Schauspielerlaufbahn begann er in New York in Orson Welles'Mercury Theatre (bei TOO MUCH JOHNSON hat er aber anscheinend nicht mitgespielt). Cathy O'Donnell hat weit weniger Rollen vorzuweisen, aber darunter befinden sich Hochkaräter wie THE BEST YEARS OF OUR LIVES von William Wyler (der kurz darauf ihr Schwager wurde), THEY LIVE BY NIGHT von Nicholas Ray, THE MAN FROM LARAMIE von Anthony Mann und als ihr letzter Kinofilm BEN HUR. Auch Regisseur Harold Daniels kann nur ein schmales Œuvre vorweisen, aber ohne für mich erkennbare Highlights (ich kenne aber außer MY WORLD DIES SCREAMING nichts davon). Ein Pluspunkt des Films ist die gelungene Kameraarbeit von Frederick E. West, der kompetent mit Licht und Schatten umgeht. Nichts Spektakuläres, nichts, was man nicht auch in vielen anderen Horror- (und älteren Noir-)Filmen sehen kann, aber gediegenes Handwerk. - Die 1987 auf Video veröffentlichte leicht gekürzte Fassung des Films gibt es auch auf DVD und auf YouTube.

Die Firma, die den Film auf Video herausbrachte, fügte subliminale Werbung
für sich selbst hinzu. Woher sie diese Idee nur hatten?

Die Rache des schwarzen Samurai

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VENGEANCE IS MINE aka DEATH FORCE aka FORCE OF DEATH aka FIGHTING MAD aka THE FORCE aka FIERCE („Death Force – Ein Mann wird zum Killer")
USA / Philippinen 1978
Regie: Cirio H. Santiago
Darsteller: James Iglehart (Doug Russell), Carmen Argenziano (Morelli), Leon Isaac Kennedy (McGee), Jayne Kennedy (Maria Russell)


Als Jim Jarmusch 1999 in GHOST DOG: THE WAY OF THE SAMURAI einen afroamerikanischen Samurai losschickte, um die Unterwelt einer US-Großstadt aufzumischen, klang das nach einem witzigen und originellen Konzept. Doch schwarze Samurais gab es schon länger. Im 16. Jahrhundert soll tatsächlich der afrikastämmige Diener eines italienischen Jesuiten, der Japan besuchte, in den Rang eines Samurai aufgestiegen sein und den Namen Yasuke angenommen haben. Einige Jahrhunderte später, um genauer zu sein in den 1970er Jahren, sprossen schwarze „Samurais“ geradezu aus dem Boden, als in einer der vielen Varianten von Exploitation-Crossovers Blaxploitation und Martial Arts Film zusammenfanden. THAT MAN BOLT (1973, mit Fred Williamson), BLACK BELT JONES (1974, mit dem Karateka Jim Kelly) und DEATH DIMENSION (1978, ebenso mit Jim Kelly) verbanden ostasiatische Kampfkunst-Action mit schwarzen Hauptfiguren, auch wenn es sich offenbar nicht um Samurais mit Schwertern handelte. Die Inhaltsangabe von BLACK SAMURAI (1977, wieder Jim Kelly) suggeriert nicht wirklich, dass der Titel wörtlich sein Versprechen einhält, hat aber in seinem imdb-Eintrag zumindest die Stichworte „samurai“, „sword fight“ und „katana sword“ gelistet.

Anders bei VENGEANCE IS MINE (der Film hat mit Imamura Shoheis ein Jahr später veröffentlichtem Film nichts zu tun. Auf die verwirrende Titelvielfalt komme ich noch zu sprechen – ich nutze einheitlich diesen Titel, weil meine Fassung ihn trägt), in dem tatsächlich ein schwarzer Samurai zum Schrecken der Unterwelt von Los Angeles wird. Doch wie kommt es dazu?

Drei (noch) fröhliche Veteranen nach dem Deal
Russell, Morelli und McGee haben zusammen in Vietnam gekämpft. Nun können die Soldaten nach Hause zurückkehren. Morelli und McGee träumen von einer Karriere als Ganoven, die schnelles Geld, Ruhm, Macht und Frauen verspricht. Russell hingegen will nur eins: zu seiner Ehefrau Maria zurückkehren und ein bürgerliches Leben führen. Doch zunächst werden die drei auf den Philippinen stationiert, wo sie sich ein kleines Taschengeld verdienen wollen. Sie wickeln einen kleinen Goldschmuggel-Deal mit einem zwielichtigen Mafioso ab – wo sie das Gold warum und wie gefunden haben, soll uns nicht weiter interessieren. Auf einem kleinen Kreuzer wollen nun die drei Veteranen mit viel Geld in der Tasche zurückkehren. Doch Morelli hat eine bessere Idee: wenn er und McGee ihren Kollegen Russell töten, bleibt mehr von der Beute für sie beide übrig – und mehr Einstiegskapital für ihre verbrecherischen Vorhaben, an denen Russell sich eh nicht beteiligen will. Gesagt getan! Morelli und McGee schnappen sich Russell, erstechen ihn, schneiden ihm die Kehle durch und schmeißen ihn ins Meer.

In Los Angeles zurück beginnen die beiden fiesen Armeeveteranen, sich in die Geschäfte der Unterwelt einzumischen. Sie beseitigen Konkurrenten durch Einschüchterungen, massive Zerstörungen und schließlich durch Mord. Derweilen wird Russell an den Strand einer fast einsamen Insel gespült. Zwei Japaner in abgerissenen Soldatenuniformen entdecken den für tot gehaltenen, aber nur schwerverletzten Mann, bringen ihn in ihre Höhlenunterkunft und pflegen ihn gesund. Als Russell wieder Bewusstsein erlangt, glaubt er seinen Augen kaum. Sugoro stellt sich als Oberst der Kaiserlich Japanischen Armee vor (die 1945 aufgelöst wurde). Ichikawa, ein einfacher Soldat, ist sein Diener. Beide landeten gegen Ende des Zweiten Weltkriegs auf der Insel, wurden aber nach der Kapitulation vergessen und leben seit etwa drei Jahrzehnten zivilisationsfern wie Robinsons. Wie kampfbereite Robinsons freilich: Sugoro ist überzeugt, dass der Zweite Weltkrieg noch in Gange ist.

Russell wird von zwei japanischen Soldaten gefunden
Morelli und McGee mischen die Unterwelt von L. A. auf
Während Russell auf der verlassenen Insel langsam wieder zu Kräften kommt, haben sich Morelli und McGee dank brachialster Gewalt einen führenden Platz in der kriminellen Welt Los Angeles erarbeitet. Konkurrenten werden weiterhin ermordet, doch die Geschäfte laufen mittlerweile so gut, dass einige – genauso wie die Polizei – auch einfach gekauft werden können. Und für McGee bleibt nun auch Zeit, um Maria Russell zu besuchen, sie über das Dahinscheiden ihres Mannes zu unterrichten und ihr dann auf äußerst penetrante Weise den Hof zu machen. So könnte es weiter gehen, doch Russell hat den Verrat nicht vergessen. Er lebt nun in einer interkulturellen und intergenerationellen Veteranen-WG und beginnt, sich für Sugoros Kampfkunstwissen zu interessieren. Dieser willigt ein, den Amerikaner zu unterrichten. In langen Tagen trainiert Russell genug hart, um schließlich von Sugoro zum Samurai ernennt zu werden und zwei Schwerter verliehen zu bekommen. Doch das löst nicht das Problem, dass Russell auf der Insel festsitzt.

Seine Ehefrau, die ihn für tot hält, verliert derweilen ihren Job als Nachtclubsängerin und findet auch keine andere Anstellungen – dem Zuschauer wird rasch klar, dass McGee, der als großer Boss die wichtigsten Nachtclubs von L. A. kontrolliert, Maria wohl auf eine schwarze Liste gesetzt hat, nur, um ihr dann „großzügig“ Arbeit anzubieten, wenn sie bloß „netter“ zu ihm wäre. Auf der weit entfernten tropischen Insel stirbt derweilen Ichikawa bei einem Unfall. Kurz danach landet eine Einheit der philippinischen Armee auf der Insel. Für Sugoro ist dies ein Grauen, für Russell eine große Chance – ersterer begeht Seppuku,  letzterer kann, mit zwei Samurai-Schwertern im Handgepäck, in die USA zurückkehren.

Russell "fragt" sich zu McGee und Morelli durch...
...und findet seine Familie wieder.
In L. A. angekommen betätigt sich Russell in zwei Richtungen. Er sucht einerseits seine Frau, die er vorerst nicht findet (sie musste – nunmehr arbeitslos – bei einer Freundin einziehen). Andererseits fragt er sich zu Morelli und McGee durch und metzelt dabei jeden Ganoven nieder, der ihm nicht freundlich genug antwortet. Dass kleine Gangster mit Schwerthieben verstümmelt aufgefunden werden, sorgt bald für Unruhe in der Unterwelt. Little Tokyo wird nunmehr – trotz Beschwichtigungen – argwöhnisch beobachtet. Geschäftsführer von Clubs und Restaurants, die Schutzgelder an Morelli und McGee bezahlen, beschweren sich, weil sie sich nicht mehr sicher fühlen. Als jemand von einem Schwarzen mit einem Schwert erzählt, dämmert es den beiden frisch gebackenen Gangsterbossen langsam, dass Russell von den Toten auferstanden und zurück gekommen ist, um sich zu rächen.

Dieser findet erst einmal seine Familie wieder und sieht zum ersten Mal überhaupt seinen Sohn. Eigentlich eine ideale Gelegenheit, um mit Maria und Nachwuchs aus der Stadt zu verschwinden. Doch Russell denkt nicht daran: es ist für ihn eine Frage der Ehre, seine beiden Fast-Mörder zu jagen und hinzurichten. Er drängt zur Eskalation: einer Begegnung mit Russells Schwert entkommt McGee mit einem Ohr weniger, während Morelli dabei seinen Kopf verliert. McGee entführt daraufhin Maria und ihren Sohn in seine mexikanische Fluchtvilla. Russell folgt ihm dorthin und richtet ihn und all seine Gehilfen mit dem Schwert. Gerächt will der schwarze Samurai mit seiner Frau und seinem Sohn in die Zukunft ziehen, wird jedoch von einem korrupten Polizisten in McGees und Morellis Dienst aus dem Hinterhalt erschossen.

Die lange Inhaltszusammenfassung macht es vielleicht klar: VENGEANCE IS MINE ist ein unheimlich dichter Film, der beeindruckend viele Elemente in sich vereint. Das Herz und die Seele des Film ist meiner Meinung nach die Sequenz, die ich der Anschaulichkeit halber als „interkultureller Buddymovie meets Veteranendrama im Robinsonade-Gewand“ bezeichnen würde. Hier finden sich verschiedene Personen wieder, die sich einander verstehen, gerade weil sie sich teilweise missverstehen. So murmelt Russell, noch an der Schwelle zum Tod, im Delirium immer wieder „those motherhumpers“. Ichikawa fragt seinen Offizier, was der Amerikaner sagt, und Sugoro meint, das sei ein Englisch, das er nicht verstehe. Als die beiden japanischen Soldaten den Vietnamveteranen fragen, wer ihn so schwer verletzt habe, weicht er unwillig aus und murmelt wieder etwas von „those motherhumpers“:
– (Sugoro) You said that in your sleep. What does that mean?
– (Russell) Nothing. Some friends of mine.
– (Ichikawa) They do that to you? They no friends. We your friends! We motherhumpers!
Spätestens hier wird klar, dass die drei Männer in Frieden auf der verlassenen Insel zusammenleben werden – auch wenn sie sich gegenseitig oft nicht verstehen.

Interkulturelle und intergenerationelle Veteranen-WG
Im weiteren Verlauf entpuppt sich besonders Sugoro als faszinierende und paradoxe Figur. Einerseits ist er ein typischer, bornierter Militär mit fast klischeehaften Zügen eines japanischen Imperialisten: „I‘m shogun here, I‘m the supreme commander of the island.“ sagt er an einer Stelle selbstherrlich, als Russell sich weigert, dessen Befehle zu befolgen. Er ist überzeugt, dass der Zweite Weltkrieg noch in Gange ist und tut Russells Hinweis, dass dem mittlerweile nicht so wäre, als amerikanische Propaganda ab. Zusammen mit dem gemeinen Soldaten Ichikawa hält der Oberst die verzerrte Karikatur einer Armeestruktur aufrecht: die allerletzte Einheit der Kaiserlich Japanischen Armee, verloren irgendwo auf einer kleinen philippinischen Insel. Dennoch ist er praktisch dazu verurteilt, wie ein Robinson außerhalb der Zivilisation und des Weltgeschehens zu leben. Das muss für ihn schmerzhaft sein, denn er ist offenbar auch ein kultivierter Mann, der sich teilweise weltoffen zeigt. Sein Englisch ist wesentlich besser als das von Ichikawa und immer wieder schwärmt er von amerikanischem Baseball und besonders von Joe DiMaggio (deutet das darauf hin, dass Sugoro einmal die USA besucht hat?). Russells Hinweis, dass der Baseballer jetzt Werbung für vollautomatische Kaffeemaschinen macht, versteht er nicht („What‘s wrong with coffee pots?“).

Sugoro weigert sich zunächst, Russell zu unterrichten: „It‘s no use to learn how to fight. Learn how to live.“ Außerdem sieht er, dass der Amerikaner nur die Schwertkampfkunst erlernen möchte, um sich zu rächen, während für den Japaner diese in erster Linie eben das ist: eine Kunst. Schließlich willigt er ein: aus Langeweile, aus Sympathie für den jungen Vietnamveteranen und wohl auch, weil er relativ sicher ist, dass nie jemand sie auf der Insel finden wird. Auch ein Punkt, in dem sich der Amerikaner und der Japaner uneinig sind. Und ein wunder Punkt Sugoros: nachdem er Russell kennen lernt, möchte er erst recht nicht entdeckt werden. Weil er sich eingestehen muss, dass der Krieg offenbar wirklich verloren ist und er somit Jahrzehnte lang in einer Blase lebte. Weil er zu sehr Angst vor dem Japan hat, das er entdecken könnte. Als sein Diener Ichikawa stirbt, erkennt er erst, was er an ihm hatte: der einzige Mensch, mit dem er in einem Zeitraum von Jahrzehnten gesprochen hatte. Lieber stirbt er auf der Insel, als sich der „neuen“ Welt draußen zu stellen.

Der Weltkriegsveteran als kampfbereiter Robinson
Sugoro ist auch deshalb ein faszinierender Charakter, weil mit ihm zwischen den Zeilen das Schicksal eines traumatisierten, verwirrten und von der Gesellschaft völlig entfremdeten Veteranen erzählt wird – und zwar explizit aus der Sicht eines japanischen Soldaten, der zudem auch größtenteils mitfühlend gezeichnet wird. VENGEANCE IS MINE kam im selben Jahr heraus wie COMING HOME und THE DEER HUNTER, also zwei Mainstreamfilmen, die das Schicksal von Vietnamveteranen verhandelten – was die US-philippinische Koproduktion implizit und symbolisch mittels eines verschanzten japanischen Soldaten macht.

VENGEANCE IS MINE erzählt auch, ich möchte fast sagen „nebenbei“ und „mit links“, eine klassische Geschichte vom Aufstieg und Fall einer Gangsterbande. Die beiden Heimkehrer Morelli und McGee erfüllen sich ihren eigenen amerikanischen Traum, indem sie mit rücksichtsloser Gewalt oder mittels Korruption alles niedermachen, was sich ihnen in den Weg stellt oder stellen könnte. Dabei ist es interessant, dass beide im Grunde schon bestraft werden, bevor das Schwert Russells sie richtet. Morelli ist stets gestresst, besorgt, unruhig und schließlich paranoid. Von Glamour des Paten-Lebens ist nichts zu spüren. Währenddessen hat McGee materiell alles, was er sich wünscht, kann aber die einzige Frau, die er wirklich haben möchte, nicht besitzen – nicht einmal mit Erpressung. Denn Marias Liebe zu ihrem Doug ist stärker.

Mit seinen starken schwarzen Figuren (Held, love interest, einer der Antagonisten) stellt sich VENGEANCE IS MINE teilweise in die Tradition der Blaxploitation-Filme der frühen 1970er Jahre. Doch interessanterweise ist er wenig selbstreferentiell. Schwarzsein wird im gesamten Film kaum wirklich thematisiert: weder in den philippinischen Szenen, noch auf der Insel, noch in den Teilen, die in L. A. spielen. Sugoro etwa verachtet am Anfang latent den Gestrandeten, aber nur deshalb, weil er US-Amerikaner ist. Schwarze, Weiße, Latinos – in L. A. bringt Russell ohne Unterschied jeden Gangster um, der sich ihm in den Weg stellt. Einen einzigen Hinweis gibt es am Anfang, als McGee zögert, einen „der seinen“ („of my own kind“) zu töten – aber meint er damit einen Schwarzen, oder einen Armeekameraden? Morelli antwortet ihm mit: „Don‘t give me that brother-shit. The only brother is the man on the dollar bill. And he ain‘t black.“ Deutlich markanter ist wohl die Tatsache, dass ganz am Ende ein weißer Polizist einen nur mit kalter Waffe bewaffneten Schwarzen aus der Ferne mit einem Gewehr hinrichtet. Es ist ein unglaublich starkes Schlussbild (festgehalten in einem freeze frame), das thematisch an das Ende von NIGHT OF THE LIVING DEAD erinnert. Hier stellt sich auch die Frage, ob das eben Gesehene nicht komplett in einer blasenartigen Parallelwelt spielte und dieses Finale eine Rückkehr in eine reale US-amerikanische Welt markiert, in der Schwarze am kürzeren Hebel saßen. Es könnte einiges darauf hin deuten, dass besonders philippinisch koproduzierte Exploitationfilme lockerer mit ihren schwarzen Figuren umgingen als rein US-amerikanische Blaxploitationfilme oder gar Mainstreamfilme: schließlich wurden sie mehrheitlich auf den Philippinen gedreht, mit philippinischen Filmemachern und philippinischen Drehteams in einer Umgebung, in der es keine US-amerikanische Realität gab.

Als Rachefilm ist VENGEANCE IS MINE in den ersten zwei Dritteln relativ generisch, entpuppt sich aber in der letzten halben Stunde als „gebrochen“ (was ihn vielleicht nicht so sehr von anderen Rache- und Vigilantenfilmen der Zeit abhebt, die oft wesentlich ambivalenter waren, als Zuschauer und Zensoren zugeben mochten). Der tiefere Sinn von Russells Rachefeldzug wird infrage gestellt, als er seine Frau und seinen Sohn wieder findet. Es folgt nämlich kurz darauf eine „happy family“-Montage in Zeitlupe, die einen Bruch zum vorher Gesehenen markiert und einen Neuanfang suggeriert, der dann aber nicht kommt. Warum bleibt Russell trotz des wieder gefundenen Glücks stur und setzt dieses mit seinem fortgesetzten Rachedurst in Gefahr? Warum geht er nicht mit seinen Liebsten einfach weg? „It‘s a matter of honor“ antwortet er, als ihn das Maria fragt. Dass er weiter an seinem Racheplan schmiedet, zeigt schlussendlich, dass er nicht wirklich verstanden hat, was Sugoro ihm auf der Insel sagte. „It‘s no use to learn how to fight. Learn how to live!“ sagte ihm der Japaner zunächst. „You never win combats in anger“ hörte Russell später vom Weltkriegsveteranen. Tatsächlich agiert Russell wie ein Amokläufer im Autopilotmodus, von Hass zerfressen und von Zorn kontrolliert – also im Grunde nicht so, wie ein Samurai handeln sollte. Dass er am Ende gewaltsam stirbt, scheint in diesem Licht eine bittere Zwangsläufigkeit zu haben – er wollte nicht leben, sondern kämpfen.

Problematische Ehe und Rachedurst
Wie sehr Russell innerlich von Rachedurst zerfressen wird, zeigt auf wunderbare Weise eine (Wende-)Szene kurz nach der Wiederzusammenführung der Familie. Er fährt mit Maria und seinem Sohn ans Meer. Alleine setzt er sich am Strand an den Rand eines Felsvorsprungs und meditiert – sein Schwert auf dem Schoß, ein tosendes Meer im Hintergrund: Gewaltbereitschaft und latente Unruhe in einem eindeutigen Bild vereint. Von Maria ist er abgeschnitten. Zunächst durch den Felsvorsprung. Dann, als sich das Ehepaar das Frame teilt, durch den Knauf des Schwerts, der das harmonische Bild zerstört. Die beiden sprechen zwar miteinander und im Dialog wird deutlich, dass es wohl ein Problem gibt. Doch im Grunde machen alleine nur die Bilder schon deutlich, wo das Problem liegt, und dass Russell nicht ruhen wird, bis Morelli und McGee durch seine Hand getötet wurden.

Diese Szene ist einer von mehreren Momenten, in denen Form und Inhalt vollkommen miteinander verschmelzen und nicht mehr zu unterscheiden sind. Grundsätzlich würde ich sagen, dass VENGEANCE IS MINE über weite Strecken relativ unauffällig, aber effizient und ökonomisch inszeniert ist. Aber das ist wohl nur ein Teil seiner formalen Brillanz. Regisseur Cirio H. Santiago, Kameramann Ricardo Remias und die Cutter Gervacio Santos und Robert E. Waters schaffen es in oft in wenigen Bildern, Figuren einzuführen, Situationen zu verdeutlichen und inhaltliche Zusammenhänge klar zu machen. Fast mühelos werden in der ersten Hälfte des Films Russells Heilung und sein Training zum Samurai, McGees und Morellis Aufstieg zu den Herren der Unterwelt von Los Angeles und Marias Trauer und sozialer Abstieg parallel erzählt. Was anderswo Stoff für drei ganze Filme ergeben würde, wird hier für den Zeitraum eines halben Films aufs Äußerste konzentriert. Exposition, Handlung, Figurencharakterisierung, Aufbau von Atmosphäre: in VENGEANCE IS MINE läuft dies oft alles gleichzeitig. Etwa in der dreieinhalbminütigen Szene im Nachtclub, in der Maria als Sängerin präsentiert wird:
1 ein matching cut zwischen der gleißenden, tropischen Sonne über Russells Kopf auf der Insel und dem Scheinwerfer im Nachtclub leitet die Szene ein und erstellt, trotz geographischer Distanz, eine Verbindung zwischen den beiden Liebenden her
2 das Lied, das Maria zum Besten gibt, erschafft den inhaltlichen Zusammenhang zur extradiegetischen Musik: sie singt nämlich das Titelthema
3 die Szene präsentiert einen zentralen Identitätspunkt Marias: sie ist eine talentierte und ambitionierte Sängerin, die auch ohne Ehemann selbstbewusst für ihren Lebensunterhalt sorgen kann
4 die Szene führt Marias beste Freundin als Figur ein (sie ist Kellnerin im Nachtclub)
5 die Szene führt eine Nebenfigur ein, die später als Freund von Marias bester Freundin erkenntlich wird und dann ein bisschen später auch als Handlanger McGees und Morellis
6 der Kreis wird geschlossen, als die Szene ausklingt, zu einem nachdenklichen Russell abblendet und die Titelmusik nur wieder extradiegetisch erklingt

Schwert- und Körperchoreografien
Zunächst wollte ich solche Szenen als „Pausen“, als „Kitsch-Kadenzen“ bezeichnen, in denen sich der Film Luft holt, um genüsslich in Kitsch zu schwelgen. Bei der Zweitsichtung wurde mir erst deutlich, wie zentral wichtig sie eigentlich sind. Gerade die Szenen, in denen Russell und Sugoro am Strand trainieren, sind auch purer „Action-Kitsch“ im Sinne des Actionkinos der 1970er und 1980er Jahre: delirierende Fetischisierungen der Einheit von Körper und Waffe. Doch sie machen im Laufe der Zeit eine Entwicklung durch: von den holprigen ersten Lektionen, in denen Sugoro Russell mit einem Schwertersatz aus Holz regelrecht den Hintern versohlt bis hin zu den gemeinsamen Schwertchoreographien, gefilmt in fließenden, musikalischen Montagen. Das ist mehr als eine Fetischisierung von Körper und Schwert bzw. von Geist und Schwert (was gemäß Sugoro wesentlich wichtiger ist). Es drückt auch die Verbundenheit der beiden Männer klarer aus als jeglicher Dialog es könnte. 

Vielleicht ist es mittlerweile deutlich geworden, aber es schadet nicht, es explizit zu sagen: ich halte VENGEANCE IS MINE für ein Meisterwerk, und wenn der Film bekannter und gleichzeitig verschmähter wäre, dann stünde dieser Beitrag wohl in meiner inoffiziellen Rubrik „Aufzeichnungen zu einem verkannten Meisterwerk“. Wer steht hinter dieser Perle des Exploitationkinos?

Regisseur Cirio H. Santiago wurde 1936 in Manila geboren, und zwar praktischerweise gleich in das Filmgeschäft hinein. Sein Vater, Ciriaco Santiago, war der Begründer einer der großen Filmproduktionsgesellschaften auf den Philippinen, der 1946 gegründeten „Premiere Productions“. Cirio Santiago übernahm später selbst den Vorsitz der Firma. Seine Karriere im Film begann er offenbar im zarten Alter von 19 Jahren als Drehbuchautor und Produzent, inszenierte dann aber auch rasch eigene Filme.
Ende der 1950er Jahre begann auch das Zeitalter des US-amerikanisch-philippinisch koproduzierten Exploitationfilms, der seine Hochphase in den 1970er Jahren erlebte. Im Inselstaat war es für amerikanische Produzenten (unter anderem zum Beispiel Roger Corman) billiger, Filme zu drehen. Die Philippinen verfügten auch über eine langjährige Filmtradition und über eine große Filmindustrie mit einem breiten Reservoir an erfahrenen und fähigen Handwerkern (zu denen Leute wie Cirio H. Santiago gehörten). Mit Imelda Marcos verfügte das nicht ganz lupenrein-demokratische Land über eine First Lady, die sich sehr für Film interessierte und ein bisschen was vom Geld, das sie nicht in die eigene Tasche steckte, der Filmindustrie zukommen ließ. Auch die philippinische Armee war, wenn sie nicht gerade die Bevölkerung zum Schutz vor Kommunisten terrorisierte, gerne bereit, gegen Bezahlung Ressourcen und Komparsen für Filme zur Verfügung zu stellen. Philippinische Filmemacher profitierten dabei von der Möglichkeit, Filme für einen ausländischen Markt zu produzieren und genossen dadurch größere Freiheiten (besonders im Bereich der Zensur) als bei Filmen für den Inlandsmarkt.
Zeremonielle Übergabe des Todesinstruments
In diesem Kontext arbeitete Cirio H. Santiago. In den 1970er Jahren inszenierte und produzierte er Dutzende Exploitationfilme, teilweise in Zusammenarbeit mit Roger Corman. Dazu gehörten „Women in Prison“-Filme (THE BIG DOLL HOUSE, THE BIG BIRD CAGE, WOMEN IN CAGES, HELL HOLE), zahllose Actionfilme mit oder ohne Martial Arts-Elementen (SAVAGE!, TNT JACKSON) und sogar einen Vampirsexfilm (VAMPIRE HOOKERS). In den 1980er Jahren drehte Santiago zahlreiche Vietnamkriegs- und Vietnamveteranen-Actioner, darunter 1988 einen Film mit dem klangvollen Namen THE EXPENDABLES.
2008 verstarb Santiago in Makati City – doch nicht, bevor die weltgrößte Recyclingtonne des Exploitationfilms, Quentin Tarantino, sich als Fan geoutet hatte. Pelle Felsch, der das Bookletessay zur weiter unten besprochenen deutschen DVD-Edition von VENGEANCE IS MINE geschrieben hat, weist auf die Parallelen in der Struktur von Santiagos Film und KILL BILL hin: „Verrat an der Freundschaft – Tod & Auferstehung – Ausbildung & Auftrag – Rache“. Die dramatische Übergabe des Schwerts an den Lehrling durch den Meister, die in VENGEANCE IS MINE an einem kargen Strand stattfindet, scheint Tarantino zu einer ähnlichen Szene in KILL BILL inspiriert zu haben. Auch in der deutschen Blogosphäre gibt es zumindest einen großen Fan: Sano Cestnik plädierte vor über vier Jahren bei „Eskalierende Träume“ in einer Besprechung von FINAL MISSION (1984) leidenschaftlich für mehr Cirio H. Santiago. Ein Aufruf, dem hier hiermit gefolgt bin.

Noch einige Worte zu den Darstellern: der charismatische James Iglehart spielte zunächst Nebenrollen in zwei Filmen Russ Meyers (BEYOND THE VALLEY OF THE DOLLS, THE SEVEN MINUTES), bevor er dann dem lockenden Ruf der Philippinen folgte und dort für Regisseur und Produzent Cirio H. Santiago die Hauptrolle in drei actionreichen Filmen spielte: SAVAGE!, BAMBOO GODS AND IRON MEN und eben VENGEANCE IS MINE. Dieser ist gemäß imdb auch sein letzter Film. Offenbar hat er sich danach aus dem Filmgeschäft zurückgezogen. Sein Sohn James Monroe Iglehart, der vierjährig auch in VENGEANCE IS MINE den Filmsohn spielt, ist später selbst Film- und vor allem Theaterschauspieler geworden.

Im Film Antagonisten, im wahren Leben Ehepartner:
Jayne Kennedy und Leon Isaac Kennedy
Leon Isaac Kennedy kommt aus dem Blaxploitation-Bereich und blieb auch in den 1980er Jahren dem B-Actionfilm treu. Anfang der 1990er Jahre stieg er aus dem Filmgeschäft aus. Irgendwann in dieser Zeit hat er wohl Jesus für sich entdeckt und betätigt sich heute als evangelistischer Prediger. Von 1970 bis 1982 war er mit Jayne Kennedy, geborene Jayne Harrison verheiratet. Auch sie, die Darstellerin der Maria, blieb dem Filmgeschäft nicht lange treu. 1970 wurde sie als erste Afroamerikanerin zur Miss Ohio gewählt und war im selben Jahr eine der Semifinalistinnen von Miss USA. Sie war wohl offenbar auch die erste Afroamerikanerin, die auf dem Cover des Playboy Magazine abgelichtet wurde. Kennedy spielte vor allem Nebenrollen im Fernsehen und zusammen mit ihrem Ehemann. Cirio H. Santiago kannte sie schon vor VENGEANCE IS MINE durch die Zusammenarbeit bei THE MUTHERS (1976) kennen, einem Film um eine Bande weiblicher Piraten, die sich undercover in ein Plantagengefängnis einschleusen lässt, um eine Kameradin zu befreien. Ihre Karriere bei Film und Fernsehen dünnt sich seit den 1980er Jahren aus, da sie sich vielfältigen Tätigkeiten wie dem Produzieren von Fitnessvideos und der Arbeit bei wohltätigen NGOs und christlichen Organisationen zuwandte.

Im Gegensatz zu seinen Kollegen ist Carmen Argenziano ein umtriebiger Schauspieler geblieben und hat seit seinem Filmdebüt 1969 über 200 Rollen gespielt. Er tauchte einige Male im Umfeld von Corman-produzierten, teilweise in den Philippinen gedrehten Filmen auf, trat aber ebenso in THE GODFATHER: PART II auf. Hauptsächlich spielte er und spielt er Nebenrollen in Fernsehserien, zuletzt in CSI: NY oder DR. HOUSE. Über den Kameramann Ricardo Remias lässt sich rasch in Erfahrung bringen, dass er zum festen Mitarbeiterstamm Cirio H. Santiagos gehörte und über 20 seiner Filme fotografierte.

Und wer sind die Darsteller Sugoros und Ichikawas? Hier ist es tatsächlich schwierig, Namen zuzuordnen. Der Abspann von VENGEANCE IS MINE erwähnt unter „also appearing“ nur noch die Namen der Nebendarsteller ohne Rollennamen (interessant zu sehen: Produzent Robert E. Waters hat mindestens drei Verwandte als Darsteller untergebracht). Im Vorspann werden außer den bekannten Darstellern noch erwähnt: Jose Mari Avellana (bei imdb Joe, nicht Jose), Joonie Gamboa (bei imdb Joonee), Leo Martinez, und ein „guest star“ Roberto Gonzalez (bei imdb überhaupt nicht erwähnt).

freeze frame im Moment des Todes

Hier ist nun der Ort, um noch einmal auf einen bizarren Fakt hinzuweisen: nämlich dass der besprochene Film keinen „richtigen“, oder zumindest keinen „festen“ Titel hat. DEATH FORCE ist gemäß der imdb der Originaltitel. Der Film lief jedoch, wie viele für Grindhouse-Auswertung produzierte Filme, eine zweite Runde Kino-Auswertung durch, dann offenbar mit dem Titel THE FORCE und FIGHTING MAD. Ein Filmplakat mit letzterem findet man bei imdb: witzig ist, dass Leon Isaac (ohne „Kennedy“) und Jayne Kennedy als Hauptrollen genannt werden. Das Plakat nimmt Bezug auf das Playboy-Cover mit Jayne und auf Leon Isaacs Rolle im Film PENITENTIARY, der im Dezember 1979 in den USA anlief. Wahrscheinlich dürfte also FIGHTING MAD der Titel für eine Neuauswertung des Films irgendwann 1980 gewesen sein. FORCE OF DEATH war offenbar der Titel des Films in Großbritannien. Pelle Felsch nennt im Booklet der deutschen DVD auch noch FIERCE als zusätzlichen Neuauswertungstitel in den USA. Gemäß Felsch ist VENGEANCE IS MINE eine komplette Neuschöpfung für die US-amerikanische DVD-Veröffentlichung des Films im September 2013, die erstmals die komplette 110-Minuten-Fassung enthielt. Allerdings scheint er sich zu irren, da das Cover der entsprechenden DVD eindeutig einen Film namens DEATH FORCE zeigt.
Erschwerend kommt hinzu: irgendwo zwischen 84 Minuten und 110 Minuten dauert VENGEANCE IS MINE aka DEATH FORCE aka FIGHTING MAD. Im September 1978 kam der Film in einer 96-minütigen Fassung in die US-amerikanischen Kinos. In Deutschland lief er, stark geschnitten (ob es sich um Gewaltzensur handelte, ist unklar) mit 84 Minuten Laufzeit im April 1982 an. Die 110-minütige Fassung wird teilweise als „director‘s cut“, teilweise als „extended cut“ bezeichnet: wo sie herkommt, ist allerdings unklar. War es eine Premierenfassung, die später (um)geschnitten wurde? Oder ist es die Rekonstruktion einer „imaginären“ Ur-Fassung? Ein zentraler Unterschied ist jedoch ganz sicher: die 110-minütige Fassung enthält als einzige die letzten paar Sekunden – also den Tod Russells durch Erschießung. Das heißt, dass alle kürzeren Fassungen mit einem „happy end“ aufhören.
Der Film ist wie gesagt als US-DVD im Doppelpack mit Santiagos VAMPIRE HOOKERS unter dem Titel DEATH FORCE in der integralen 110-Minuten-Fassung erhältlich. Auf der Website des Labels steht tatsächlich DEATH FORCE aka VENGEANCE IS MINE, wobei letzterer als „Originaltitel“ genannt wird.
In Deutschland ist der Film dieses Jahr beim Label Subkultur / Media Target als Nummer 2 der „Grindhouse Collection“ als DVD-Blu-ray-Dualedition veröffentlicht worden. Der Film liegt in einer relativ guten Qualität vor: manche Momente sind unscharf, etwas kontrastarm, und zumindest eine Rolle (knapp über 10 Minuten) hat einen gelben Laufstreifen in der Mitte. Trotzdem insgesamt gut. Als Bonus gibt es ein Booklet mit einem Essay von Pelle Felsch, der über Grindhousekino, Actionfilme, Männlichkeitskonstrukten in diesen, Cirio Santiago und die verschiedenen Fassungen des Films schreibt – sehr unterhaltsam, stellenweise sogar poetisch (eine Kostprobe: „Aktions-Kino, das Kino der Beschleunigung und abrupten Zersprenung: Die Quintessenz des bewegten Bildes. Der Karatekick, der Knochen splittern lässt. Das Projektil, das menschliches Fleisch penetriert. Der Car-Crash, der feste Materie seiner starren Form entreißt. Die Explosion, Vernichtung aller molekularen Ordnungen. Kino der Zerstörung. Kino der Befreiung“). Weniger unterhaltsam, sondern vielmehr ärgerlich ist der Bonusfilm: MACHETE MAIDENS UNLEASHED, eine Doku über die Geschichte des US-philippinischen Exploitationfilms. Besonders störend ist nicht nur der Stil dieses Machwerks (es ist nicht so sehr ein Dokumentarfilm als eher eine abendfüllende Interviewschnipsel-Montage), sondern auch die schiere Verachtung für sein Subjekt, das er von oben herab zur nostalgischen, aber lächerlichen Freakshow degradiert.

Wien noir mal zwei

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ABENTEUER IN WIEN (Österreich) bzw. GEFÄHRLICHES ABENTEUER (Deutschland)
Österreich/USA 1952
Regie: Emil-Edwin Reinert (als Emile Edwin Reinert)
Darsteller: Gustav Fröhlich (Toni Sponer), Cornell Borchers (Karin Manelli), Francis Lederer (als Franz Lederer, Claude Manelli), Inge Konradi (Marie), Egon von Jordan (Krüger), Hermann Erhardt (Ferdl Haintl), Adrienne Gessner (Anna Fraser), Manfred Inger (Polizeikommissär), Michael Kehlmann (Passfälscher), Hans Hagen (Dirigent)

STOLEN IDENTITY
Österreich/USA 1952
Regie: Emil-Edwin Reinert (ungenannt), Gunther von Fritsch (als Gunther Fritsch)
Dialogregie: Elizabeth Montagu
Darsteller: Donald Buka (Toni Sponer), Joan Camden (Karin Manelli), ansonsten wie ABENTEUER IN WIEN

Zweimal Toni und Karin - links ABENTEUER IN WIEN, rechts STOLEN IDENTITY
An einem Silvestertag in Wien kreuzen sich die Wege von vier Menschen, von denen bald einer tot und ein anderer sein Mörder sein wird. Der Amerikaner John Milton (in ABENTEUER IN WIEN, während er in STOLEN IDENTITY wie im Roman Jack Mortimer heißt) gibt nachmittags am Salzburger Bahnhof ein Telegramm auf, das in Wien schon sehnlichst erwartet wird. In Empfang genommen wird es von Frau Fraser, Haushälterin in der Villa des international gefeierten Pianisten Claude Manelli, für die eigentliche Adressatin, Manellis Frau Karin. Manelli ist ein eifersüchtiger, fast psychopathischer Kontrollfreak, der Karin in einem goldenen Käfig einsperrt, aus dem sie ausbrechen will. Wie man später im Film erfährt, hat er Karin nach einem früheren Fluchtversuch sogar kurz in ein Sanatorium gesteckt und entmündigen lassen, so dass er nun auch ihr Vormund und sie komplett von ihm abhängig ist. Ihre einzige Verbündete in Wien ist Frau Fraser, und mit ihrer Hilfe unternimmt sie einen neuen Fluchtversuch. John Milton ist ein alter Freund von ihr aus Jugendtagen, den sie zuletzt bei ihrer Hochzeit mit Claude gesehen hat, wo er ihr Trauzeuge war. Nun hat sie ihn in einem Brief um Hilfe gebeten, und er kündigt im Telegramm seine Ankunft am selben Abend an. Karin soll in dem Hotel, das er gebucht hat, auf ihn warten, und dann werden beide noch in der selben Nacht um 2:00 Uhr über Frankfurt in die USA fliegen, wo sie endlich frei sein wird. Der Zeitpunkt scheint günstig, denn Manelli steckt gerade in den Abschlussproben für ein Silvesterkonzert mit den Wiener Symphonikern. Aber auch er hat einen Helfer im Haus, nämlich seinen aalglatten Manager Krüger, für den die Karriere seines Chefs alles ist, was zählt. Krüger wartet schon auf Frau Fraser, nimmt ihr das Telegramm ab und überbringt es Manelli, der jetzt über die Absichten von Karin und Milton Bescheid weiß. Er konfrontiert Karin auf demütigende Weise mit seinem Wissen, fühlt sich jetzt sicher und fährt zu den letzten Proben und der anschließenden Vorstellung ins Konzerthaus. Dabei kollidiert er wegen seiner rücksichtslosen Fahrweise fast mit einem Taxi.

Krüger und Frau Fraser (alle Bilder aus ABENTEUER IN WIEN, wenn nicht anders angegeben)
Dessen Fahrer, Toni Sponer, ist der gebrochene Held des Films. Er ist ohne Papiere in Wien gestrandet und steht mit einem Bein im Gefängnis, weil er ohne Lizenz Taxi fährt. Der Wagen gehört dem älteren Ferdl Haintl, mit dem sich Toni die Schichten teilt. Bei dem sympathischen, aber etwas versoffenen Ferdl wohnt Toni auch inoffiziell zur Untermiete. Über seine Vorgeschichte erfährt man wenig. Er ist als Sohn eines Professors in einer Villa mit Park aufgewachsen und hat einen Teil seines Lebens in den USA verbracht, aber es bleibt offen, wie er in seine jetzige desolate Lage geraten ist. Man kann nur vermuten, dass es vielleicht irgendwie mit dem Krieg zusammenhängt. Jedenfalls ist er jetzt ein Mann ohne Zukunft. Immerhin kümmert sich die im selben Haus wohnende Marie um ihn, so dass er nicht ganz verlottert. - Nach dem Beinahe-Unfall mit Manelli wäre Tonis Schicht eigentlich zu Ende, und er wollte mit Marie Silvester feiern. Aber Ferdl, der jetzt dran wäre, ist sturzbetrunken, so dass Toni noch eine Schicht dranhängt. Und an seinem Standplatz am Westbahnhof steigt John Milton in das Taxi.

Claude Manelli
Nach der Konfrontation mit Claude hat sich Karin zum Schein in ihr Schicksal ergeben, aber sobald er aus dem Haus ist, steckt sie ihre Papiere ein und verlässt die Villa, während Frau Fraser Krüger ablenkt. Doch der bemerkt ihre Abwesenheit schnell und verständigt telefonisch den inzwischen im Konzerthaus befindlichen Manelli. Dieser zieht sich unter einem Vorwand in seine Garderobe zurück, schleicht sich davon und fährt mit seiner Limousine zum Bahnhof, um Milton abzupassen. Nachdem dieser in Tonis Taxi gestiegen ist, folgt Manelli dem Taxi, um auf eine Gelegenheit zu warten. Die ergibt sich, als sich Toni im Büro der Fluggesellschaft um Miltons Gepäck kümmert. Manelli steigt aus und erschießt mit seiner Pistole den im Taxi sitzenden Milton durch die Rückscheibe. Straßenbauarbeiten mit Presslufthammer bewirken, dass niemand etwas hört, und Toni bemerkt erst nach einer Weile, dass er mit einem Toten durch die Stadt fährt. Er will zunächst den Vorfall einem Verkehrspolizisten melden, doch der fordert ihn im Verkehrstrubel nur hektisch zum Weiterfahren auf. Danach betritt Toni eine Bar, um in der dortigen Telefonzelle die Polizei anzurufen, doch als man ihn nach seinem Namen fragt, legt er wieder auf. Und dann betrachtet er die Brieftasche des Toten und gerät ins Grübeln. Es sind nicht die Dollarnoten, die ihn faszinieren, sondern der amerikanische Reisepass, der ein neues Leben mit neuer Identität in den USA verheißt. Toni fasst einen schwerwiegenden Entschluss. Er entsorgt die Leiche an einem Kanal unter einer Eisenbahnbrücke, lässt von einem Passfälscher sein Konterfei in den Pass montieren und macht sich nach einem Zwischenstopp bei Marie auf zu Miltons Hotel, um das dort von der Fluggesellschft hinterlegte Flugticket abzuholen. Doch das Ticket ist noch nicht eingetroffen, so dass er in Miltons Zimmer wartet. Und dort wird er von Karin, die ihrerseits bereits im Hotel auf Milton gewartet hatte, überrascht und zur Rede gestellt. Toni kann nur hilflose Ausflüchte vorbringen, und Karin glaubt, er sei ein Mörder, den ihr Mann beauftragt habe, um Milton aus dem Weg zu räumen. Sie verständigt die Polizei, und Toni, der von den ganzen Hintergründen keine Ahnung hat, wird festgenommen, als er das Hotel verlässt.

Marie
Doch sein Verhör nimmt einen unerwarteten Verlauf. Karin behauptet, es handle sich um einen falschen John Milton, aber der Pass hält dem kritischen Blick des Polizeikommissärs stand, und um Licht in die Angelegenheit zu bringen, ruft dieser im Konzerthaus an, und Manelli bittet den Kommissär, mitsamt dem Beschuldigten zu ihm zu kommen. Eigentlich gegen die Vorschriften, aber der Kommissär ist ein Freund und Kenner klassischer Musik und ein Verehrer von Manelli, und er lässt sich um den Finger wickeln. So macht man sich also auf den Weg, und dann erklärt Manelli zu Tonis Verblüffung, er müsse sich entschuldigen, weil seine Frau unzurechnungsfähig sei und manchmal abstruse und völlig haltlose Anschuldigungen erfinde. Manellis Beweggrund ist klar: Wenn ein John Milton nach Österreich eingereist ist und jetzt ein John Milton auch wieder ausreist, dann ist ja nichts passiert, und niemand wird irgendwelche Fragen stellen. So wird Toni also überraschend wieder auf freien Fuß gesetzt, während Karin, die ihre Felle davonschwimmen sah, sich bereits wieder weggeschlichen hat. Toni macht sich abermals auf zum Hotel, muss aber zu seiner Bestürzung erfahren, dass die inzwischen eingetroffenen Tickets - das für Milton und das für Karin - beide gerade eben von Karin mitgenommen wurden. Sie will Toni damit unter Druck setzen, damit er ihr endlich erzählt, was mit dem echten Milton geschehen ist. Durch den Hotelboy lässt sie ihm ausrichten, wo er sie treffen kann, nämlich im "Kaiserpanorama", eine Art von 3D-Guckkasten-Schau, auch damals schon ein völlig antiquiertes Vergnügen. (Das Wiener Kaiserpanorama war eines der letzten, die noch existierten, und es schloss im Januar 1955 seine Pforten.) Der wie ein Kino abgedunkelte Ort wird von zwei alten Damen beaufsichtigt, die wie nicht mehr ganz von dieser Welt wirken (die eine, die an der Kasse sitzt, hat auch eine Katze auf der Schulter), was der ganzen Szene einen leicht surrealen Touch verleiht. Toni erzählt nun Karin alles, was er weiß, und bei ihrer Unterredung fassen die beiden langsam Vertrauen zueinander. Gemeinsam kommen sie zum Schluss, dass Manelli der Mörder sein muss.

Toni und Ferdl in ihrer Behausung
Weil noch genug Zeit bis zum Flug ist, treffen sich die beiden mit Marie in Haintls Wohnung zu einer kurzen improvisierten Silvesterfeier. Dabei gibt Marie etwas von ihren Träumen preis. Während es Toni jetzt in die Ferne zieht, wäre sie schon glücklich, wenn sie neue Vorhänge und ein neues Sofa hätte, um mit dem richtigen Mann darauf zu sitzen. Es ist recht offensichtlich, dass sie mit dem richtigen Mann Toni meint, aber sie sagt es nicht. Die kleine Feier wird jäh unterbrochen. Inzwischen war Haintl mit dem Taxi unterwegs, und gleich bei seiner ersten Fuhre hat sich eine Dame im von Toni nur notdürftig gereinigten Fahrgastraum ihren Pelz mit Blut besudelt. Sie zeigt es bei der Polizei an, die setzt Haintl unter Druck, und bald steht ein Mannschaftswagen mit einem ganzen Trupp Polizisten vor der Wohnung. Toni und Karin gelingt nur knapp die Flucht über den Dachboden, doch die Polizisten sind ihnen auf den Fersen. Zu Fuß fliehen sie durch enge Durchgänge, über steile Stiegen, in Gassen mit feuchtglänzendem Kopfsteinpflaster, und mitten durch auf den Straßen Silvester feiernde Passanten. Schließlich können sie die Verfolger abschütteln, und bei einer Rast in einem Keller und einer (vermutlich kriegsbedingten) Ruine kommen sie sich noch näher und beschließen, ihre Flucht auch weiterhin gemeinsam fortzusetzen.

Manelli in seiner Garderobe im Konzertsaal
Schließlich fahren sie mit dem Bus zum Flughafen und sind nun schon fast in Sicherheit. Weil aber Karin eine für die Einreise in die USA nötige Impfung fehlt, wird sie mit Toni in den Sanitätsraum gebeten. Doch dort wartet kein medizinisches Personal, sondern Manelli und Krüger. Während Manelli sein Konzert absolvierte, hatte Krüger auf der Suche nach Karin erfolglos telefonisch alle möglichen Hotels abgeklappert. Nach Manellis Rückkehr in die Villa setzte dieser alles auf eine Karte, indem er richtig vermutete, dass sie gemeinsam mit dem falschen Milton, also per Flugzeug fliehen würde. Jetzt stellt er Toni vor die Wahl: Entweder er besteigt unverzüglich und allein das bereits wartende Flugzeug, oder er wird gleich vom Kommissär, den er gegen Krügers Rat auch hinzugerufen hat, als der Mörder des echten Milton verhaftet. Weil jetzt auch Karin keine Chance mehr für sich sieht und ihn zur Abreise auffordert, eilt Toni zum Flugzeug, aber als er schon an der Gangway steht, überlegt er es sich anders. Er gibt dem Kommissär seine wahre Identität preis und beschuldigt Manelli des Mordes an Milton. Manelli bleibt zunächst gelassen und beschuldigt seinerseits Toni, selbst der Mörder zu sein. Aber als Toni behauptet, er habe im Koffer ein Foto von Manellis und Karins Hochzeit mit dem echten Milton als Trauzeugen darauf, verliert Manelli die Nerven und flüchtet zu Fuß über das Rollfeld, wird aber schnell von der Polizei ergriffen. Während die Polizei noch mit Manelli beschäftigt ist, haben Karin und Toni ein paar Augenblicke für sich. Toni wird für seine diversen Vergehen ins Gefängnis müssen, aber vermutlich nicht allzu lange, und Karin verspricht, auf ihn zu warten. Das davonfliegende Flugzeug bildet das letzte Bild des Films.

Vor dem Mord
ABENTEUER IN WIEN und sein englischsprachiger Zwilling STOLEN IDENTITY sind dicht strukturierte und flüssig erzählte Vertreter des Film noir. (Im Folgenden werde ich mit "ABENTEUER IN WIEN" immer das ganze Projekt mit beiden Filmen meinen, wenn es nicht um den direkten Vergleich der beiden Versionen geht.) Auch wenn gelegentlich der Zufall eine Rolle spielt - ausgerechnet an Silvester sorgt ausgerechnet vor dem Büro der Fluggesellschaft ein Rohrbruch für Straßenarbeiten -, greifen im Großen und Ganzen die Handlungselemente auf logische Weise ineinander und werden in überschaubarer Zeit (86 bzw. 84 Minuten) kurzweilig erzählt. ABENTEUER IN WIEN wurde oft mit THE THIRD MAN verglichen, aber man sollte diesen Vergleich nicht überstrapazieren, weil man ersterem Film damit nicht wirklich gerecht wird. Nicht nur, weil er gegen Carol Reeds Geniestreich fast zwangsläufig den Kürzeren zieht, sondern auch, weil es von vornherein auch genug Unterschiede zwischen den Filmen gibt. So spielt die zeitgeschichtliche Situation in ABENTEUER IN WIEN keine Rolle. Weder der Vier-Mächte-Status von Wien, der nicht nur in THE THIRD MAN, sondern auch in Leopold Lindtbergs DIE VIER IM JEEP von 1951 eine zentrale Rolle spielt, wird in ABENTEUER IN WIEN thematisiert, noch die auf sich warten lassende Entlassung Österreichs in die Unabhängigkeit (die erst 1955 erfolgte, und die 1952 Wolfgang Liebeneiners 1. APRIL 2000 inspirierte). Besatzungsbeamte oder -soldaten kommen nicht vor, die neben Milton in Erscheinung tretenden Ausländer sind Touristen, und die Polizei im Film ist rein österreichisch. Im Grunde könnte ABENTEUER IN WIEN in einer beliebigen mitteleuropäischen Großstadt spielen, denn die bekannten Sehenswürdigkeiten wie Stephansdom, Schloss Schönbrunn oder Riesenrad (das bekanntlich in THE THIRD MAN eine prominente Rolle spielt) kommen auch nicht vor. Da der Film weit überwiegend bei Dunkelheit spielt, hätte man ohnehin nicht viel davon gesehen. Es ist kein Touristen-Wien, das hier präsentiert wird, sondern ganz im Gegenteil ein unwirtliches, abweisendes Wien. - In den drei Jahren seit THE THIRD MAN hatte sich auch in städtebaulicher Hinsicht einiges geändert. Die oben erwähnte Ruine ist die einzige, die es in ABENTEUER IN WIEN zu sehen gibt, während es in THE THIRD MAN noch reichlich davon gab, und während Holly Martins noch im alten, im Krieg schwer lädierten und 1950 abgerissenen Westbahnhof in Wien eintraf, war es bei John Milton der 1951 eröffnete Neubau mit seiner funktionalen, von Neon erleuchteten Fassade. Auch das Büro der Fluggesellschaft ist von klaren Linien und Neonlicht geprägt.

Der neue Wiener Westbahnhof
Ein Film noir ist ABENTEUER IN WIEN nicht nur, weil es um Eifersucht, Freiheitsberaubung und Mord sowie - etwas abstrakter gesehen - um die Brüchigkeit der menschlichen Existenz geht, sondern er ist es vor allem in visueller Hinsicht. Das ist hauptsächlich das Verdienst von Kameramann Helmuth Ashley, der souverän mit Licht und Schatten umgeht. Vor allem bei den nächtlichen Außenaufnahmen erweist er sich amerikanischen Großmeistern des Film noir wie John Alton ebenbürtig, und bei diesen Aufnahmen - und hier wiederum vor allem bei Tonis und Karins Flucht vor der Polizei - gibt es auch am ehesten atmosphärische Anknüpfungspunkte an THE THIRD MAN. Der 1919 in Wien geborene Ashley absolvierte in den 30er Jahren in seiner Geburtsstadt eine Ausbildung zum Fotografen, und in den 50er Jahren wurde er in Österreich und Deutschland zum gefragten Kameramann mit Schwerpunkt auf Schwarzweiß-Filmen, wobei er von Komödien wie JETZT SCHLÄGT'S 13 und Melodramen wie EIN HERZ SPIELT FALSCHüber Krimis wie ALIBI und BANKTRESOR 713 bis zum Arztfilm mit Horror-Einschlag (ARZT OHNE GEWISSEN) viele Genres bediente. Ab 1960 verlegte sich Ashley auf die Regie, nach einigen Spielfilmen dann vorwiegend für das Fernsehen, und da insbesondere für den Krimi im ZDF: Nach drei Folgen von DER KOMMISSAR zusammen über 100 Folgen DERRICK und DER ALTE. Heute lebt Ashley in München.

Atmosphärische Nachtaufnahmen prägen den Film
Die Entstehungsgeschichte von ABENTEUER IN WIEN beginnt damit, dass zwei befreundete Geschäftspartner eine größere Menge Geld übrig hatten und nach einer Investitionsmöglichkeit suchten: Der Chemiker und Industrielle Dr. Werner Kreidl und Friederike Selahettin. Zu ihren Unternehmungen gehörte neben Fabriken auch eine Kinokette mit Spielstätten in Wien und Oberösterreich. Selahettin war die Mutter von Turhan Gilbert Selahattin Şahultavi (nach anderen Quellen Turhan Gilbert Selahettin Schultavey), besser bekannt als Turhan Bey (1922-2012). Unter diesem Namen machte der gut und leicht exotisch aussehende junge Mann, der mit seiner Mutter und Großmutter ins amerikanische Exil gegangen war, in den 40er Jahren eine steile Karriere in Hollywood, meist in Filmen von Warner Brothers oder Universal, in Krimis und Agentenfilmen ebenso wie in vier der farbenprächtigen Abenteuerfilme mit María Montez und Jon Hall. Doch 1950 war seine Karriere weitgehend vorbei (wobei es 1953 mit PRISONERS OF THE CASBAH noch einen Nachzügler gab), und er ging mit Mutter und Großmutter zurück nach Österreich, wo er sich als Fotograf betätigte und ins Management der Kinos im Familienbesitz einstieg. In den 90er Jahren hatte Turhan Bey dann noch einige Auftritte in Fernsehserien wie SEAQUEST DSV und BABYLON 5. - Mutter und Sohn Selahettin und Werner Kreidl beschlossen nun 1951, mit dem verfügbaren Geld einen Film zu produzieren. Zu diesem Zweck gründeten sie als österreichisch-amerikanische Firma die Trans-Globe Films Inc., denn sie hatten die ehrgeizige Idee, den Film für den deutsch-österreichischen und den amerikanischen Markt gleich in zwei Sprachversionen zu drehen. Bekanntlich war das in den frühen Jahren des Tonfilms eine häufige Vorgehensweise, aber für die 50er Jahre (zumal in Österreich) war es ungewöhnlich.

Deponierung der Leiche unter der Nordbahnbrücke
Vierte in der Führungsriege bei Trans-Globe war die amerikanische Schauspieleragentin Elizabeth Dickinson (1885-1975). Eine große Nummer in ihrem Metier war sie nicht, denn sie war nicht selbständig, sondern Angestellte beim Groß-Agenten Paul Kohner. Der gebürtige Österreicher Kohner vertrat viele deutschsprachige Emigranten, wodurch sich auch für Dickinson die entsprechenden Kontakte ergaben, die schließlich zu ihrer Involvierung bei Trans-Globe führten. Wenn man Ernest Roberts glauben darf, dann brachte Dickinson überhaupt kein eigenes Geld in das Projekt ein, sondern nur ihr selbstsicheres Auftreten. Roberts (eigentlich Ernst Adolf Robert Blau) hatte sich im Exil in Hollywood erfolglos als Schauspieler versucht (unter den Filmen, in denen er ungenannt auftrat, befinden sich immerhin Fritz Langs HANGMEN ALSO DIE! und Jacques Tourneurs BERLIN EXPRESS), und 1950 kehrte auch er nach Europa zurück und wurde Journalist. 1951/52 war er im Stab der Trans-Globe, und als er 1996 seinen autobiografischen Roman "Irrfahrten eines törichten Zeitgenossen" vorlegte, ging er darin auch auf die Entstehung von ABENTEUER IN WIEN ein. Über Elizabeth Dickinson hat er darin wenig Schmeichelhaftes zu sagen. Von Elizabeth Montagu (auf die ich weiter unten zurückkomme) wird Dickinson auch nicht sehr freundlich als "schamlos aufdringliche Lesbe" geschildert. - Als die Trans-Globe die österreichische Szene betrat, machte sie durch eine pompöse Ankündigungspolitik auf sich aufmerksam. Bei einem Empfang und in Mitteilungen an die Presse gab man sich als eine große amerikanische Firma aus, die nach dem ersten Film gleich mehrere weitere in internationalen Coproduktionen realisieren werde, u.a. mit keinen Geringeren als Douglas Sirk und William Dieterle als Regisseure. "Österreich - Sitz einer weltumfassenden amerikanischen Produktionsgesellschaft" lautete daraufhin die Schlagzeile eines Artikels in der Österreichischen Film und Kino Zeitung vom 1. Dezember 1951. Doch das war alles Schwindel. In Wirklichkeit hatte die Trans-Globe außer den beiden Versionen von ABENTEUER IN WIEN keine weiteren Filme in der Pipeline, und es sollte auch bei diesen bleiben.

Durchgang zu Tonis Wohnhaus
Weil die Trans-Globe als Neuankömmling im österreichischen Filmgeschäft dringend einen einheimischen Kooperationspartner brauchte, wurde (nach einem gescheiterten Versuch mit einer anderen Firma) eine Partnerschaft mit der Schönbrunn-Film von Ernest Müller eingegangen. Ernest (ursprünglich Ernst) Müller (1906-1962) war seit den frühen 30er Jahren in verschiedenen Funktionen bei Wiener Filmstudios tätig. Widersprüchliche Angaben habe ich darüber gefunden, was er während des österreichischen Anschlusses an Nazi-Deutschland gemacht hat. Nach Angaben von Armin Loacker im Buch vom Filmarchiv Austria (siehe unten) ging Müller als Geschäftsführer der von ihm mitgegründeten Rex-Film, Bloemer & Co. nach Berlin. Die Tatsache, dass er (nach dieser Version) vorwiegend Juden und politisch Verfolgte einstellte und sie so in einem gewissen Ausmaß vor dem Zugriff der Gestapo schützte, soll ihm nach dem Krieg das besondere Wohlwollen der Alliierten eingebracht haben. Laut Wikipedia dagegen verbrachte Müller die Jahre von 1938 bis 1945 im Exil in der Schweiz. Wie dem auch sein mag - Einigkeit herrscht jedenfalls darüber, dass Ernest Müller 1950 in Wien die Schönbrunn-Film gründete und innerhalb weniger Jahre zu einem der wichtigsten österreichischen Produzenten wurde. Dabei bewegte er sich vorwiegend in publikumsträchtigen seichten Gewässern - Heimatfilme, Komödien, Schmonzetten -, aber er produzierte auch so hochinteressante Filme wie WIENERINNEN und DER ROTE RAUSCH. Dabei war Müller alles andere als ein Mäzen, der künstlerisch ambitionierte Regisseure subventionierte - in einem Brief an Werner Kreidl umriss er seine Prinzipien einmal mit "größte Sparsamkeit und rationellstes Arbeiten". Aber man muss ihm zugute halten, dass er auch extravagante Projekte in Erwägung zog, und bei für ihn günstiger Gewinnprognose auch umsetzte. Als die Trans-Globe einige Personalentscheidungen ohne Rücksprache mit Müller traf und Honorare bewilligte, die (seiner Meinung nach) zu hoch waren, wollte er aus dem gemeinsamen Projekt wieder aussteigen. Er konnte zum Bleiben bewogen werden, ließ sich jedoch als Gegenleistung einen Passus in den Kooperationsvertrag schreiben, der seinen finanziellen Einsatz deckelte und ihn von Verlusten freistellte, so dass er im Fall eines Flops schlechtestenfalls mit plus/minus Null dastehen würde. Das war ein weiser Schachzug, wie sich noch zeigen sollte.

Toni als Milton in dessen Hotelzimmer
ABENTEUER IN WIEN basiert auf dem 1933 erschienenen Roman "Ich war Jack Mortimer" des österreichischen Schriftstellers Alexander Lernet-Holenia (1897-1976). Wie bereits erwähnt, wurde der Name des Mordopfers in STOLEN IDENTITY beibehalten, in ABENTEUER IN WIEN dagegen in John Milton geändert. Bereits 1935 wurde der Roman von Carl Froelich als ICH WAR JACK MORTIMER verfilmt, mit Adolf Wohlbrück, Eugen Klöpfer und Sybille Schmitz in den Hauptrollen, und Michael Kehlmann (auf den ich gleich zurückkomme) legte 1961 mit JACK MORTIMER eine TV-Fassung für den WDR vor (in der von der 1952er Besetzung Manfred Inger wieder dabei war). Später entstanden in Österreich und Frankreich auch zwei Hörspiele nach dem Stoff. - Mehrere Versionen erlebte das Drehbuch zu ABENTEUER IN WIEN. Zunächst wurden als Autor für die amerikanische Fassung ein Robert Hill - der weder davor noch danach sonderlich in Erscheinung getreten ist - und für die deutschsprachige Fassung Johannes Mario Simmel engagiert, damals noch ein aufstrebender Journalist, Schriftsteller und Drehbuchautor. Simmel hatte seine ersten Romane bereits veröffentlicht, aber sein Durchbruch kam erst 1960 mit "Es muss nicht immer Kaviar sein". Doch Hill kam mit dem Stoff nicht so recht zu Rande, und sein Buch wurde verworfen. Simmel als Schnellschreiber dagegen legte nach wenigen Tagen ein Script vor, das sich laut Ernest Roberts "gut, spannend und flüssig" las, letztlich aber auch abgelehnt wurde.

Fahrt vom Polizeirevier ins Konzerthaus
Deshalb wurde Robert Thoeren (den Elizabeth Dickinson aus Hollywood kannte) als neuer Drehbuchautor engagiert. Thoeren (ursprünglich Robert Thorsch, 1903-1957), in Brünn (heute Brno) geboren, wurde zunächst Schauspieler in Deutschland, emigrierte 1933 nach Frankreich und 1938 weiter in die USA. Im Exil wurde er ein routinierter und durchaus erfolgreicher Drehbuchautor. Seinen größten Erfolg erlebte der 1951 nach Deutschland zurückgekehrte und 1957 tödlich verunglückte Thoeren nicht mehr: Das Drehbuch zu FANFARE D'AMOUR (1935), das er zusammen mit einem Michael Logan geschrieben hatte, wurde zur Vorlage für SOME LIKE IT HOT (natürlich mit einigen Änderungen und Ergänzungen durch Wilder und I.A.L. Diamond). Zuvor hatte schon Kurt Hoffmann mit FANFAREN DER LIEBE ein Remake vorgelegt. - Thoeren ist der Hauptautor des Drehbuchs von ABENTEUER IN WIEN und STOLEN IDENTITY (die beiden Bücher sind bis auf die Sprache praktisch identisch), ihm nachgeordnet als weisungsgebundene Zuarbeiter waren Franz (von) Tassié und Michael Kehlmann. Tassié (1903-1990) war ein angesehener Journalist (er war ab Herbst 1945 im Vorstand des Verbands demokratischer Schriftsteller und Journalisten Österreichs), der hin und wieder auch Drehbücher verfasste. Kehlmann (1927-2005) hingegen war damals Schauspieler und Kabarettist (er stand u.a. mit Helmut Qualtinger auf der Bühne). In ABENTEUER IN WIEN spielte er den Passfälscher, und seine Mitarbeit am Drehbuch war sein erster Versuch in diesem Metier. Er fand ab 1953 seine Berufung als in Deutschland ebenso wie in Österreich arbeitender Fernsehregisseur, daneben auch als Theaterregisseur. Zu seinen Spezialitäten zählten gediegene Literaturverfilmungen wie der Zweiteiler RADETZKYMARSCH (1965), aber auch Krimis. Wie schon erwähnt, drehte er 1961 auch eine TV-Fassung des Mortimer-Stoffs. Neben dem Trio Thoeren/Tassié/Kehlmann arbeitete auch noch Emil-Edwin Reinert am Drehbuch mit, nachdem er als Regisseur engagiert worden war. - Der Realität zum Trotz wird in STOLEN IDENTITY Robert Hill als alleiniger Autor des Drehbuchs genannt, obwohl er wenig oder nichts dazu beigetragen hatte, in ABENTEUER IN WIEN dagegen werden Tassié und Kehlmann gleichberechtigt aufgeführt. Robert Thoeren, der eigentliche Autor, wird in keiner der beiden Versionen in den Credits erwähnt.

Ein Passfälscher - nur in STOLEN IDENTITY mit Hut
Die Filmmusik zu ABENTEUER IN WIEN schrieb der gebürtige Niederländer Richard Hageman (1882-1966). Der Pianist, Dirigent und Komponist Hageman emigrierte 1906 in die USA, wo er mit renommierten Orchestern arbeitete. Seit 1938 war er auch für Hollywood tätig. Bekannt wurde Hageman vor allem durch seine Zusammenarbeit mit John Ford, für den er einige seiner bekanntesten Western vertonte. Der Niederösterreicher Hans Hagen, der Hagemans Musik für den Film instrumentierte, spielt auch den Dirigenten der Wiener Symphoniker, der das Konzert mit Manelli einstudiert. - Wenn in den 30er Jahren ein Film in mehreren Sprachversionen gedreht wurde, dann wurde das oft so organisiert, dass ein Hauptregisseur engagiert wurde, der die primäre Version des Films komplett inszenierte, aber auch bei den Alternativversionen für die Mise en Scène zuständig war, und ihm untergeordnet gab es für jede der alternativen Sprachen einen eigenen Dialogregisseur (auch bei Filmen mit nur einer Version, aber verschiedensprachigen Darstellern gibt es gelegentlich zusätzliche Dialogregisseure). Bei ABENTEUER IN WIEN sollte das auch so gehandhabt werden. Als Regisseur für beide Fassungen wurde zunächst Gunther von Fritsch und als zusätzliche Dialogregisseurin für STOLEN IDENTITY Elizabeth Montagu engagiert. Die aus altem englischem Adel stammende Elizabeth Montagu (nach ihrer Heirat 1962 Elizabeth Varley, 1909-2002, nicht zu verwechseln mit einer anderen Elizabeth Montagu) führte ein äußerst abwechslungsreiches Leben. In einer Online-Notiz über ihre 2003 posthum erschienenen Memoiren "Honourable Rebel" heißt es: "Actress, fashion model, musician, journalist, war-time ambulance driver, spy, film writer, dialogue director and librettist, this is the long-awaited memoir of Beaulieu's reluctant debutante who exchanged a life of privilege for a colourful career in war-torn Europe." Das "spy" bezieht sich auf ihre Tätigkeit für den britischen Geheimdienst während des Zweiten Weltkriegs, und zwar in der Schweiz als Mitarbeiterin von Elizabeth Wiskemann. In der Schweiz lernte sie auch Lazar Wechsler kennen, einen der wichtigsten Schweizer Filmproduzenten. Durch ihn bekam sie 1945 eine Chance als Co-Autorin und Regieassistentin bei Leopoldt Lindtbergs DIE LETZTE CHANCE, darauf folgten Engagements als Dialogregisseurin in Filmen von Julien Duvivier, Alexander Korda und anderen Regisseuren, und sogar als Co-Regisseurin bei Lindtbergs DIE VIER IM JEEP (der wie DIE LETZTE CHANCE von Wechsler produziert wurde). Als 1951 DIE VIER IM JEEP gedreht wurde, kannte sie Wien schon: 1948 hatte sie Graham Greene beraten, als der vor Ort für sein Drehbuch zu THE THIRD MAN recherchierte, und bei den Dreharbeiten war sie auch Carol Reeds Beraterin. Nach ABENTEUER IN WIEN war Montagu noch bei drei weiteren Filmen Dialogregisseurin, darunter ES GESCHAH AM HELLICHTEN TAG, der auch wieder von Wechsler (zusammen mit Atze Brauner) produziert wurde. Montagus oben zitierte Bemerkung über Elizabeth Dickinson steht in ihren Memoiren.

Der Polizeikommissär (links), Krüger
Gunther (ursprünglich Günther) von Fritsch (1906-1988), in Pula im damals österreichisch-ungarischen (heute kroatischen) Istrien als Sohn eines Marineoffiziers geboren, besuchte nach seiner Matura in Wien die École Technique de Photographie et Cinématographie in Paris, und zwar gemeinsam mit Fred Zinnemann, mit dem er befreundet blieb. Beide gingen dann in die USA, und weil von Fritsch in seinem eigentlichen Metier als Kameramann wegen der Gewerkschaftsbestimmungen in Hollywood nicht arbeiten konnte, wurde er zunächst Regieassistent (gemeinsam mit Zinnemann 1930/31 bei zwei Filmen von Berthold Viertel) und Cutter (z.B. bei Zinnemanns erster amerikanischer Regie, dem in Mexiko gedrehten REDES). Als Regisseur drehte von Fritsch seit 1936 kurze Dokumentar- und Reisefilme. Seine Versuche, als Spielfilmregisseur Fuß zu fassen, waren dagegen von wenig Erfolg gekrönt. 1944 wurde er als Regisseur von THE CURSE OF THE CAT PEOPLE verpflichtet, einem Sequel zu Jacques Tourneurs Klassiker CAT PEOPLE, aber nach 18 Drehtagen wurde er durch Robert Wise ersetzt. So blieb das Musical CIGARETTE GIRL von 1947 seine einzige Spielfilmregie in alleiniger Verantwortung. Nach seinem glücklosen Ausflug nach Wien realisierte von Fritsch, wieder in den USA, etliche Folgen von Fernsehserien wie FLASH GORDON und angeblich 77 SUNSET STRIP (letzteres wird von der IMDb aber nicht bestätigt). - Gunther von Fritsch war mit Elizabeth Dickinson befreundet, und er wurde also zunächst als Regisseur für beide Versionen von ABENTEUER IN WIEN verpflichtet. Aber bald kamen Zweifel auf, ob er der komplexen Aufgabe, zwei Filme parallel zu inszenieren, gewachsen sein würde. So lehnte er einige frühe Drehbuchentwürfe ab, konnte das aber weder begründen noch Verbesserungsvorschläge machen. Deshalb wurde noch im November 1951 Emil-Edwin Reinert als weiterer Regisseur engagiert. Reinert sollte für die deutschsprachige Version zuständig sein, von Fritsch nur noch für die englischsprachige.

Die Flucht zu Fuß beginnt
Emil-Edwin Reinert (1903-1953) wurde in der Kleinstadt Rawa-Ruska in einer damals östereichisch-ungarischen und heute ukrainischen Ecke von Galizien geboren. Durch die politische Entwicklung nach dem Ersten Weltkrieg wurde er polnischer Staatsbürger. 1926 ging Reinert nach Frankreich, studierte in Grenoble und wurde Elektro- und Toningenieur, wodurch er schließlich zum Film kam - Regisseure wie Alexander Korda und Louis Mercanton engagierten ihn als Tontechniker (eine Victoria Mercanton war in den 40er Jahren Cutterin bei fünf von Reinerts Filmen - vielleicht eine Verwandte von Louis Mercanton). Ab 1932 drehte Reinert in Frankreich Kurzfilme, 1936 inszenierte er in England seinen ersten Spielfilm TREACHERY ON THE HIGH SEAS. Wieder zurück in Frankreich, drehte er LE DANUBE BLEU mit verschiedener Besetzung gleich zweimal hintereinander, weil die erste Version bei einem Brand im Entwicklungslabor zerstört wurde. Als der Film erschien, war Frankreich schon im Krieg und Reinert Soldat, und zwar, weil er noch polnischer Bürger war, in der polnischen Exil-Armee in Frankreich. 1940 wurde er verwundet und geriet in Gefangenschaft, konnte aber mit anderen Gefangenen fliehen und sich in die Schweiz durchschlagen, wo er interniert wurde. Die Internierung dauerte bis Kriegsende im Mai 1945, scheint aber nicht besonders streng gewesen zu sein, denn 1941 wirkte er als eine Art Supervisor bei DER DOPPELTE MATTHIAS UND SEINE TÖCHTER, der vom eher als Schauspieler bekannten Sigfrit Steiner inszeniert wurde.

Emil-Edwin Reinert, links 1948, rechts 1950 bei Dreharbeiten in Paris
(Fotos: aus Reinerts Nachlass, jetzt Public Domain)
Nach seiner Hochzeit mit einer Schweizer Violinistin kehrte Reinert nach Frankreich zurück, wurde französischer Staatsbürger, und seine produktivste Zeit begann: Von 1946 bis zu seinem Tod drehte er 12 Spielfilme - oder 14, wenn man ABENTEUER IN WIEN/STOLEN IDENTITY und den ebenfalls in zwei Sprachversionen entstandenen L'AIGUILLE ROUGE/VERTRÄUMTE TAGE (1951) jeweils als zwei Filme zählt. Außerdem war Reinert an dem als internationale Coproduktion realisierten Episodenfilm A TALE OF FIVE CITIES beteiligt. Darin reist ein unter Gedächtnisverlust leidender Brite, den es in die USA verschlagen hat, in fünf europäische Metropolen, um seiner eigenen Identität auf die Spur zu kommen. Reinert inszenierte das Pariser Segment, während Wolfgang Staudte für Berlin und Géza von Cziffra für Wien zustandig waren (sowie die mir unbekannten Romolo Marcellini für Rom und Tully Montgomery für London). ABENTEUER IN WIEN war nicht Reinerts erste Arbeit in Wien - hier hatte er 1951 schon hintereinander WIENER WALZER (mit Marte Harell und Adolf Wohlbrück in den Hauptrollen) und MARIA THERESIA (mit Paula Wessely in der Titelrolle) gedreht. Zu Reinerts mehrfachen Mitarbeitern in der Phase ab 1946 zählten neben der schon erwähnten Victoria Mercanton der russisch-jüdische Emigrant Jacques Companéez als Drehbuchautor (auch an Jean Renoirs LES BAS-FONDS (NACHTASYL) und Jacques Beckers CASQUE D'OR (GOLDHELM) beteiligt) sowie der aus Ungarn stammende Filmkomponist Joe Hajos. Hajos war auch als Komponist für ABENTEUER IN WIEN im Gespräch und wurde bereits von der Trans-Globe kontaktiert, aber dann erhielt doch Richard Hageman den Zuschlag.

Die Flucht geht weiter
Es arbeiteten nun also Reinert und Gunther von Fritsch parallel im Grunde am selben Film, und das ging nicht lange gut. Es kam zu Konflikten, und von Fritsch zog dabei den Kürzeren - vielleicht, weil Reinert künstlerisch überzeugender, auf jeden Fall aber, weil er durchsetzungsfähiger war. Nach weniger als der Hälfte der Drehzeit wurde daraus die Konsequenz gezogen, und von Fritsch wurde mehr oder weniger abgesetzt. Reinert war jetzt auch für die Regie von STOLEN IDENTITY zuständig, und von Fritsch war zwar noch bei den Dreharbeiten anwesend, hatte aber nichts mehr zu sagen. Die Credits für STOLEN IDENTITY bekam dennoch von Fritsch allein, Reinert blieb ungenannt. Trotzdem muss das für von Fritsch eine ziemlich frustrierende Erfahrung gewesen sein. Er hatte sich wohl von dem ambitionierten Projekt seinen Durchbruch als Spielfilmregisseur erhofft, aber unter den gegebenen Bedingungen konnte das nicht gelingen. Obendrein erhielt er auch noch viel weniger Honorar als Reinert: Von Fritsch bekam 45.000 Schilling plus wöchentliche Spesen von 1.500 Schilling, Reinert dagegen 25.000 Schweizer Franken plus 60.000 Schilling, was zusammen über 180.000 Schilling entsprach. Für Reinert brachte ABENTEUER IN WIEN aber auch kein uneingeschränktes Glück. Es war sein letztes Werk, und es wurde sogar behauptet, es habe ihn das Leben gekostet. Im Buch zum Film ist nämlich zu lesen, er sei bei den Dreharbeiten von einer Kameraplattform gestürzt und habe sich schwer verletzt, er habe den Film zwar noch vollenden können, sei aber im Jahr darauf an den Spätfolgen der Verletzung gestorben. In Wirklichkeit starb Reinert aber an Nierenkrebs, wie sein Sohn Jean-Michel Reinert auf Nachfrage bestätigt hat. Den Unfall gab es zwar, er war aber wohl doch nicht so dramatisch. Möglicherweise erfuhr Reinert erst durch die Untersuchungen nach dem Unfall von seiner Erkrankung. Auf jeden Fall kehrte er nach seinen drei Wiener Filmprojekten nach Frankreich zurück, wo er im Oktober 1953 starb.

Das einfache, langsam denkende Publikum


Die Drehbücher der beiden Fassungen waren, wie schon erwähnt, praktisch identisch, und das gilt weitgehend auch für die Szenenfolgen der beiden fertigen Filme. Mal ist in der einen und mal in der anderen Fassung eine Einstellung etwas länger, aber die grundsätzliche Abfolge ist gleich. Die wenigen nennenswerten Unterschiede beruhen nicht auf dem Buch oder der Inszenierung, sondern auf dem Schnitt. Das betrifft vor allem eine Szene, die sich nur in STOLEN IDENTITY findet: Nachdem Toni seinen Anruf bei der Polizei abgebrochen hat, verlässt er die Bar, doch auf der Straße patrouilliert gerade ein Streifenpolizist, der ihn ins Auge fasst. Deshalb geht Toni noch einmal in die Bar, um Zeit zu gewinnen. Dort wird er von einem betrunkenen amerikanischen Touristen angesprochen, der ihm ungefragt erklärt, man müsse in jedem Land die einheimischen Spezialitäten goutieren: In Frankreich etwa Cognac, Champagner und Mädchen, in Italien Spaghetti, Chianti und Mädchen, in Amerika Steaks, Waschmaschinen (sein Geschäft) und Mädchen, und in Österreich Wiener Schnitzel, Gebäck und ... nein, nicht Mädchen, wie man jetzt als Zuschauer erwartet, sondern Walzer. Und dann wird Toni zu einem Walzer mit der Freundin des Amerikaners genötigt. Diese schöne Szene wurde in ABENTEUER IN WIEN auf "Anregung" (das heißt auf Befehl) des deutschen Verleihs, der Herzog-Film GmbH in München, herausgeschnitten. Nach Ansicht einer Rohfassung fasste die Herzog-Film ihre "Anregungen" in einem Brief an die Schönbrunn-Film im Mai 1952 in 16 Punkten zusammen, die, soweit ersichtlich, auch alle umgesetzt wurden. Als Beispiel sei der Absatz zitiert, der die Bar-Szene betrifft:
[...]
Im einzelnen möchten wir u.a. Folgendes (leider nur unter dem Eindruck einer einmaligen Besichtigung stehend) zur Diskussion stellen:
[...]
7.) Die Szene mit den Amerikanern in der Bar kann wegfallen, zumal dadurch ein Tempogewinn entsteht. Toni Sponer kann gleich im Anschluß an das Telefongespräch das Lokal verlassen und draussen an seinem Wagen den betrunkenen Fahrgast finden und abfahren.
[...]
Wir bitten Sie um Beachtung unserer Anregungen, die auf diesem Wege übermitteln zu müssen, wir sehr bedauern. Wir sind überzeugt, daß durch sorgfältige Arbeit in Schnitt und Synchronisation die Wirkung des Filmes noch sehr gesteigert werden wird.

Wir begrüssen Sie und zeichnen mit vorzüglicher Hochachtung!
HERZOG-FILM GMBH.
(Unterschrift)
In diesem Brief findet sich übrigens auch der folgende schöne Satz: "Es muß dafür Sorge getragen werden, daß das einfache, langsam denkende Publikum die Handlung vollständig versteht und nicht Fehlschlüsse zieht und auf diese Weise verärgert ist und unbefriedigt bleibt."

Feuchtes Kopfsteinpflaster
Ein augenfälliger Unterschied zwischen ABENTEUER IN WIEN und STOLEN IDENTITY gründet nicht im Schnitt oder der Inszenierung: Donald Buka war 18 Jahre jünger als Gustav Fröhlich, und das sieht man auch. So wirkt Bukas Toni Sponer dynamischer als der von Fröhlich, aber Fröhlich ist viel glaubwürdiger als jemand, der seine letzte Chance ergreifen will - Buka traut man eigentlich noch viele Chancen zu. In der Handlung wurde der Altersunterschied übrigens reduziert: Der eine Toni ist 40, der andere 32. Joan Camden und Cornell Borchers dagegen waren im Alter nur vier Jahre auseinander, und sie sahen sich hier auch recht ähnlich. Camden hatte ein schmaleres Gesicht, aber die Statur war ähnlich und Frisur und Haarfarbe praktisch identisch. - Joan Camden (1929-2000) hatte vor STOLEN IDENTITY nur einen Filmauftritt, nämlich die weibliche Hauptrolle im semidokumentarischen Mafia-Krimi THE CAPTIVE CITY (STADT IM WÜRGEGRIFF) von Robert Wise. Nach ihrem Ausflug nach Wien folgten nur noch Nebenrollen in vier weiteren Spielfilmen, daneben hatte sie ungefähr 40 Auftritte in Fernsehserien. Donald Buka (1920-2009) kam in seiner immerhin deutlich länger dauernden Karriere seit 1943 auch nur auf neun Spielfilme, fast immer Nebenrollen, und zwar vor STOLEN IDENTITY mehrere Gangsterrollen hintereinander, so dass er nun froh war, auch einmal einen positiven Charakter darstellen zu dürfen. Daneben spielte auch er in Fernsehserien sowie am Theater. Camden und Buka waren also keine Stars - ganz im Gegenteil, auch in den USA waren sie 1952 ziemlich unbekannt. Es war Elizabeth Dickinsons Entscheidung, für diese Rollen keine klangvollen Namen zu verpflichten. - Cornell Borchers' (1925-2014) Karriere war ähnlich kurz wie die von Camden - sie dauerte von 1949 bis 1959 -, aber ungleich erfolgreicher. Nachdem sie von Arthur Maria Rabenalt zum Film geholt worden war, spielte sie nicht nur in deutschen und österreichischen, sondern durchaus erfolgreich auch in einem englischen (sie gewann dafür einen BAFTA Award) und mehreren Hollywoodfilmen, neben Stars wie Montgomery Clift (THE BIG LIFT, 1950), Rock Hudson (NEVER SAY GOODBYE, 1956) und Errol Flynn (ISTANBUL, 1957). Nach ABENTEUER IN WIEN spielte Borchers gleich nochmal mit Gustav Fröhlich, nämlich in HAUS DES LEBENS, und Fröhlich war ihr Regisseur in DIE LÜGE von 1950 (beide Filme gelten aber als ziemlich schlecht). Borchers' letzter Film war ARZT OHNE GEWISSEN (mit Helmuth Ashley an der Kamera), dann zog sie sich freiwillig ins Privatleben zurück.

Identische Einstellungen (links ABENTEUER IN WIEN, rechts STOLEN IDENTITY)
Gustav Fröhlich und Francis Lederer wurden noch im deutschen Stummfilm groß. Fröhlich (1902-1987) war seit 1922 beim Film, seine bekannteste Rolle war natürlich die in METROPOLIS. In den 30er Jahren blieb Fröhlich gefragt als jugendlicher Held und Liebhaber, aber nach dem Zweiten Weltkrieg ging es mit seiner Karriere etwas bergab. Doch 1951 spielte er neben Hildegard Knef die Hauptrolle in DIE SÜNDERIN, und der Skandal, der um diesen Film entfacht wurde, brachte auch Fröhlich wieder in die Schlagzeilen (wobei etwas unterging, dass er darin eine durchaus ansehnliche Leistung bot). Übrigens wurde auch DIE SÜNDERIN von der Herzog-Film verliehen, und man muss der Firma hoch anrechnen, dass sie sich von kirchlichen und politischen Kreisen nicht einschüchtern ließ, sondern den Film offensiv durchsetzte. Fröhlich drehte seinen letzten Kinofilm 1960, danach folgten noch einige Fernsehrollen. Parallel zu seiner Filmkarriere, und auch nach deren Ende, spielte er regelmäßig Theater. - Franz oder František Lederer (1899-2000) wuchs zweisprachig bei Prag auf. Nach Jahren am Theater kam er 1928 zum Film. Seine größte Stummfilmrolle war die an der Seite von Louise Brooks in DIE BÜCHSE DER PANDORA von G.W. Pabst. Über den Umweg von Bühnenengagements in London und (ab 1932) am Broadway gelang ihm der Sprung nach Hollywood, wo er sich (nun als Francis Lederer) fest etablieren konnte. 1939 wurde er amerikanischer Staatsbürger. Der Durchbruch zum ganz großen Star (den Irving Thalberg mit ihm vorhatte) gelang zwar nicht, aber Lederer spielte von 1934 bis 1959 in ungefähr 25 Hollywoodfilmen, ab 1948 auch in Fernsehfilmen, und daneben auch weiterhin am Theater. Lederer, der eine große und luxuriöse Ranch nordwestlich von Los Angeles bewohnte, betätigte sich auch erfolgreich als Immobilienmakler, übte verschiedene ehrenamtliche Positionen aus und wirkte bis ins hohe Alter als Schauspiellehrer.

Durchgänge und Stiegen
Die Grundstimmung von ABENTEUER IN WIEN ist zwar gedrückt, für eine kleine humoristische Einlage sorgt aber der Kabarettist Karl Farkas als gestresster Ober in der Bar, in der Toni telefoniert. Farkas' regelmäßiger Bühnenpartner Ernst Waldbrunn steht zwar auf einer internen Besetzungsliste, taucht aber im Film nicht auf. Fritz Eckhardt, damals auch noch eher als Bühnendarsteller und Kabarettist bekannt, spielt den Nachtportier in John Miltons Hotel. Hier konnte er sich schon mal auf seine spätere Serienhauptrolle in HALLO - HOTEL SACHER ... PORTIER! einstimmen und auch schon eine Spur Schmäh einbringen. An ungewohnter Stelle in den Credits scheint Nadja Tiller auf: Die zweifache Miss Austria hatte 1952 ihre Bühnen- und Filmlaufbahn bereits begonnen, aber in ABENTEUER IN WIEN spielt sie nicht mit, sondern sie war (gemeinsam mit einem Dr. Leo Bei) für die Kostüme verantwortlich.

Karl Farkas als Ober
Nicht wenige der Beteiligten an ABENTEUER IN WIEN stammten aus Österreich (bzw. aus dem Gebiet des seinerzeitigen Österreich-Ungarn), waren während der Zeit des Nationalsozialismus (oder auch schon vorher) emigriert, und nun wieder vorübergehend oder dauerhaft in Österreich versammelt: Vielleicht (oder vielleicht auch nicht) Ernest Müller, auf jeden Fall aber Turhan Bey und Friederike Selahettin, Reinert, von Fritsch, Robert Thoeren, Ernest Roberts; von den Darstellern Adrienne Gessner (die spätere Burgtheater-Doyenne war mit ihrem Mann Ernst Lothar in die USA emigriert; am Broadway spielte sie u.a. mit Marlon Brando), Francis Lederer, Manfred Inger, Karl Farkas und Franz Marischka (er spielt einen Passkontrolleur am Flughafen) - ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Angesichts dieser Häufung ist ABENTEUER IN WIEN schon als "Remigrantenfilm" bezeichnet worden. Im Buch vom Filmarchiv Austria wird die Sinnhaftigkeit dieses Begriffs aber bestritten, und Turhan Bey konnte im Interview 2005 nichts damit anfangen. Fest steht, dass es kein gezieltes Programm gab, vorwiegend Remigranten zu beschäftigen. Die österreichischen Darsteller mit Sprechrollen wurden nicht nur nach ihrer Eignung für die Rolle ausgesucht, sondern sie mussten auch ausreichende Englischkenntnisse vorweisen, um in beiden Versionen auftreten zu können. Dazu war es aber nicht nötig, im englischen oder amerikanischen Exil gewesen zu sein - in mittlerweile fast sieben Jahren Besatzungszeit konnte man auch in Österreich Englisch gelernt haben. Die frühere politische Einstellung der Betreffenden spielte auch keine Rolle. Neben Gegnern und Verfolgten des Nazi-Regimes konnten auch ehemals stramme Nazis wie Trude Marlen (sie spielt die Frau, die ihren Pelz mit Blut beschmutzt) bei ABENTEUER IN WIEN unterkommen. Gustav Fröhlich konnte man auch keine Regime-Ferne nachsagen. Trotzdem: In Anbetracht der Häufung entsprechender Lebensläufe, mag sie auch eher zufällig zustande gekommen sein, scheint mir die Bezeichnung "Remigrantenfilm" für ABENTEUER IN WIEN nicht ganz abwegig zu sein.

Eine Ruine - die einzige im Film
ABENTEUER IN WIEN lief (unter dem deutschen Verleihtitel GEFÄHRLICHES ABENTEUER) im August 1952 in der BRD an, in Österreich einen Monat später. STOLEN IDENTITY kam in den USA erst 1953 heraus. Die Reaktionen der österreichischen und deutschen Filmfachpresse waren weitgehend positiv, die in der allgemeinen Presse dagegen durchwachsen - neben Zustimmung gab es auch viel Ablehnung. Die im oben verlinkten Artikel über den "Remigrantenfilm" erhobene Behauptung, der Film sei komplett durchgefallen, hält aber der Realität nicht stand. Allgemein wurde Ashleys Kameraarbeit gelobt, oft auch die Leistungen der Schauspieler. In vielen Kritiken wurde - zuungunsten von ABENTEUER IN WIEN - der Vergleich zu THE THIRD MAN gezogen, aber wie oben schon ausgeführt, konnte das kein geeigneter Vergleichsmaßstab sein. STOLEN IDENTITY wurde von der amerikanischen Kritik offenbar kaum beachtet, aber immerhin ist eine verhalten wohlwollende Kritik in Varietyüberliefert.

Rast auf der Flucht
Aufgrund der mehrfachen Anläufe mit dem Drehbuch und eines schlampig erstellten Drehplans (was vor allem die Außenaufnahmen betraf) war es immer wieder zu Vezögerungen und dadurch zu starken Kostenüberschreitungen gekommen. Friederike Selahettin und Werner Kreidl verkauften sogar eines ihrer Kinos, um die gestiegenen Kosten zu decken. Für den schlechten Drehplan war Friedrich Erban verantwortlich, der offizielle Produktionsleiter, der diese Funktion aber kaum ausfüllte. Stattdessen nahm Carl Szokoll diese Pflichten wahr, der am Ende auch die Credits dafür erhielt. Die genauen Besucherzahlen von ABENTEUER IN WIEN sind nicht bekannt, aber übermäßig hoch waren sie wohl nicht - vielleicht auch, weil für eine ordentliche Werbekampagne kein Geld mehr da war. Jedenfalls konnten die Herstellungskosten nicht hereingespielt werden. Auch STOLEN IDENTITY war wohl kein Erfolg beim Publikum beschieden. Elizabeth Dickinson machte aber trotzdem einen guten Schnitt - jedenfalls, wenn man Ernest Roberts glauben darf. Da sich Ernest Müller, wie oben erwähnt, vertraglich abgesichert hatte, blieb der Verlust an Turhan Bey und seiner Mutter und an Werner Kreidl hängen. Ernest Roberts schreibt dazu in "Irrfahrten eines törichten Zeitgenossen" nicht ohne eine gewisse Häme: "Mit sicherem Instinkt rochen sämtliche alten Filmhasen Wiens, dass an dem Ding was zu kassieren war. Ganz Film-Wien stieß sich gesund daran, ausgenommen die beiden Produzenten, die allerdings niemand bedauerte. [...] Die Präsidentin [Dickinson] von ›Outer Space‹ veranstaltete noch eine illustre Abschiedsparty im ›Sacher‹ auf Kosten der Wiener, an der Hunderte teilnahmen, nahm das Negativ der englischen Version unter ihren rechten Arm, die Krokodilledertasche - inzwischen prall gefüllt - unter den linken und flog, hochzufrieden mit sich und ihren bewundernswerten Manipulationen gen ›Outer Space‹. [...] Ihre Mäzene dagegen gingen leer aus, sie sahen keinen Profit, weder die deutsche noch die englische Version reüssierte."

Am Flughafen Schwechat
ABENTEUER IN WIEN geriet schnell in weitgehende Vergessenheit. In Büchern zur österreichischen Filmgeschichte kam er höchstens als Randnotiz vor. Das änderte sich erst in den 90er Jahren. 1993 wurde ABENTEUER IN WIEN im Rahmen einer Retrospektive mit dem Titel "Aufbruch ins Ungewisse - österreichische Filmschaffende in der Emigration" bei der Viennale (in Anwesenheit von Lederer) gezeigt. 2005 erschienen beim Filmarchiv Austria beide Versionen des Films zusammen auf einer DVD (STOLEN IDENTITY ohne Untertitel). Beigelegt ist das schon mehrfach erwähnte Buch mit dem Titel "Austrian Noir". Auf ca. 180 Seiten beleuchten sechs österreichische und deutsche Autoren in acht Beiträgen verschiedene Aspekte des Films. Für den Teil, der sich mit der Produktionsgeschichte beschäftigt, wurden Turhan Bey, Helmuth Ashley und Wolfgang Glück (der eine kleine Rolle spielt und als Regie-Volontär hospitierte) interviewt, und es wurden Verträge, Korrespondenz und sonstige Unterlagen aus dem Nachlass der Schönbrunn-Film ausgewertet. In Deutschland wird dieses schöne Set in der Edition Filmmuseum vertrieben. ABENTEUER IN WIEN allein ist auch auf einer DVD der "Edition Der Standard" erhältlich.

Francis Lederer, Joan Camden und Emil-Edwin Reinert bei den Dreharbeiten
(Foto aus Reinerts Nachlass, jetzt Public Domain)

Der deutsche Expressionismus geht nach Hollywood

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THE CAT AND THE CANARY („Spuk im Schloss“)
USA 1927
Regie: Paul Leni
Darsteller: Laura La Plante (Annabelle West), Creighton Hale (Paul Jones), Flora Finch (Tante Susan), Tully Marshall (der Anwalt Roger Crosby), Martha Mattox (Mammy Pleasant, die gruselige Haushälterin), Forrest Stanley (Charles Wilder)

Cyrus West ist alt, reich und exzentrisch – und vielleicht etwas verrückt? Jedenfalls hinterlegt er ein Testament, das erst 20 Jahre nach seinem Tod geöffnet werden soll. Als diese Zeit verstrichen ist, versammeln sich die potentiellen Erben im großen Landhaus des Verstorbenen: die Neffen Harry Blythe, Charles Wilder und Paul Jones, die Schwester Susan Sillsby mit ihrer Tochter Cecily Young, und die Nichte Annabelle West. Dort werden sie von Cyrus Wests Anwalt Roger Crosby und der gruseligen Haushälterin Mammy Pleasant empfangen. Das Testament wird verlesen, und als alleiniger Erbe des West‘schen Vermögens wird der entfernteste Verwandte mit dem Namen „West“ bestimmt – also die junge Annabelle. Diese Bestimmung gilt nur unter der Bedingung, dass die geistige Gesundheit des Erbes festgestellt werden kann. Falls der Erbe verrückt sei, falle das Vermögen an eine genannte Person in einem zweiten Testament. Klingt einfach und schlüssig? Ist es auch... bis plötzlich der Anwalt mit dem zweiten Testament auf mysteriöse Weise verschwindet... und der Wachmann einer nahegelegenen Psychiatrie von einem entflohenen Patienten berichtet, der sich für eine Katze hält und gerne Mitmenschen wie Mäuse zerfleischt... das beunruhigt alle Anwesenden, aber besonders die sensible Annabelle wird nervlich stark belastet. Daraufhin hoffen Teile ihrer Verwandtschaft glühend darauf, dass sie ob der Ereignisse verrückt werden möge.

Paul Lenis THE CAT AND THE CANARY ist die erste Filmadaption eines Theaterstücks aus dem Jahre 1922. Der Autor John Willard wollte ursprünglich auf keinen Fall die Rechte an seinem Werk einem Hollywoodstudio verleihen, da er befürchtete, dass Filmzuschauer, die das Ende kannten, keine Lust mehr auf das Theaterstück hätten. Willard gab schließlich dem Drängen des Universal-Chefs Carl Laemmle nach. Nach Lenis Verfilmung folgten noch die erste Tonfilmadaption THE CAT CREEPS (1930), dessen spanischsprachige Version LA VOLUNTAD DEL MUERTO im gleichen Jahr, das enorm erfolgreiche THE CAT AND THE CANARY von 1939 mit Bob Hope und Paulette Goddard, der schwedische Fernsehfilm KATTEN OCH KANARIEFÅGELN von 1961, und schließlich 1978 eine britische, gleichnamige Adaption mit unter anderem Honor Blackman und Edward Fox.

Stilbildend wirkte Lenis THE CAT AND THE CANARY als Vorläufer des „haunted house“-Horrorfilms: einige meist untereinander unbekannte Leute finden sich für eine Nacht in einer (vielleicht?) spukenden Villa aus meist pekuniären Gründen ein, und nach und nach verschwinden einige von ihnen. Ein Szenario, das vielleicht in HOUSE ON HAUNTED HILL von 1959 seinen besten Ausdruck fand (zumindest musste ich bei der Sichtung immer wieder an Castles Film denken). THE CAT AND THE CANARY war auch ein früher Vertreter jener Horrorfilme, für die das Universal-Studio im Laufe der nächsten Jahrzehnte geradezu ikonisch stehen würde (als erste Universal-Horrorfilme gelten DR. JEKYLL AND MR. HYDE sowie der verschollene THE WEREWOLF von jeweils 1913).

Lenis Film ist aber auch dafür bekannt, dass er der Tendenz folgte, humorvolle und komödiantische Elemente in das Horrorgenre einzubringen. Mehr als der schwarze Humor, den man bei einem solchen Stoff eigentlich erwarten würde, entsteht die Komik vor allen Dingen durch die Figur des Paul Jones: außer der Alleinerbin Annabelle ist er der einzige aus der West-Verwandtschaft, der nicht vollkommen geldfixiert ist. Der junge, etwas pummelige Mann ist vielmehr in Annabelle verliebt (dass sie wohl seine Cousine ersten Grades ist, steht auf einem anderen Blatt), und gebärt sich als äußerst nervöser und ängstlicher Mensch. Es dann vor allem die sehr exaltierte Darstellung Creighton Hales in Kombination mit teils überstrapazierten Zwischentiteln, die für Komik sorgen soll. Inwiefern dies gelungen ist, sei dahingestellt. Ich persönlich fand einige der Witze ganz lustig, viele andere eher bemüht und deplatziert..

Der Reiz von THE CAT AND THE CANARY liegt freilich auch im visuellen Bereich. Besonders beeindruckend ist Gilbert Warrentons Fotografie mit der expressiven chiaroscuro-Lichtsetzung, die meisterhaft ein „state of art“ der entfesselten Kamera präsentiert. Diese verwandelt sich in einigen Momenten regelrecht in eine Protagonistin: zu Beginn des Films irrt sie durch die langen Gänge des gruseligen Landhauses und „blickt“ nervös suchend, geradezu manisch durch die Umgebung. Das wird zwar damit erklärt, dass es sich um den Geist Wests handeln könnte, aber wir wissen, dass es in diesem Film keine richtigen Geister gibt. Daher würde ich dezidiert dafür plädieren, es als „point of view“ der Kamera zu sehen: die Kamera hat sich vom Stativ befreit, und befreit sich auch von der Verpflichtung, die Filmhandlung zu bebildern. Edgar Ulmer verwendet in einer Szene diese „autonome“ Kamera 1934 in THE BLACK CAT und bei Dario Argento wurde sie quasi zu einem Markenzeichen. Von Lenis THE CAT AND THE CANARY zum Giallo der 1970er ist es übrigens gar nicht so weit: zu Beginn legt eine unbekannte Person mit schwarzen Handschuhen einen Brief in den Cyrus Wests Safe. Ein sehr frühes Proto-Giallo-Motiv, gefilmt mit Handkamera. In Spannungs- und Terrormomenten fährt die Kamera mit hoher Geschwindigkeit frontal in Richtung der schreienden Gesichter: in einem mitteleuropäischen Genrefilm der 1960er oder 1970er Jahre wäre das wohl mittels eines Reisszooms gemacht worden. In einer weiteren denkwürdigen Szene nimmt die Kamera die Perspektive eines Portraits ein, der von der Wand herunterfällt – abgebildet ist Cyrus West. Wir sehen also die überraschte und erschrockene Erbgemeinschaft durch die Augen des Portrait-West (den „point-of-view“ eines scheinbar „beseelten“ Gemäldes nutzte später Max Ophüls auch außerhalb eines  Horrorkontexts in LA SIGNORA DI TUTTI).

Auch mit einigen recht gelungenen Spezialeffekten kann THE CAT AND THE CANARY aufwarten. Erwähnt sei hier die effektvoll eingesetzte Mehrfachbelichtung, als der alte und gebrechliche Cyrus West in einer Art Delirium durch ein Dekor überdimensionierter Medizinflaschen torkelt und dabei von riesigen Katzen gejagt wird (was der Geschichte den Titel verleiht: er fühlt sich von seinen geldgierigen Verwandten so bedrängt wie ein Kanarienvogel von einer Katze). Des weiteren spielt der Film auch an spannenden Stellen mit seinen Zwischentiteln: diese „zittern“ dann wie eine Spiegelung auf einer bewegten Wasseroberfläche (bzw. eben wie die angsterfüllten Protagonisten).

Überhaupt ist THE CAT AND THE CANARY ein extrem „filmischer“ Film. Davon, dass er eine Bühnenadaption ist, findet sich bis auf den einheitlichen Schauplatz keine Spur. Wie toll er inszeniert ist, konnte man in einigen wenigen Augenblicken auch noch 2014 in einer öffentlichen Kinovorführung merken. Ich saß also am Abend des 26. Oktobers dieses Jahres im Weimarer Lichthaus, und der rekordverdächtig gefüllte Saal erreichte bisweilen den Gelächterpegel, den man eher in einer Keaton-Vorführung erwarten würde: eine relativ große Fraktion des Publikums lachte immer wieder über das manierierte und expressive Spiel der Darsteller, und besonders laut bei Stellen, die gemeinhin als „goofs“ bezeichnet werden (Schauspieler laufen mit Kerzenleuchtern herum und schleifen leicht bemerkbar Elektrokabel am Boden hinter sich her). Als jedoch eine in der Wand versteckte Tür aufging und Roger Crosbys Leiche völlig unerwartet auftauchte und zu Boden fiel, lachte tatsächlich niemand – vielmehr ging sogar eine kollektive Schnappatmung durch den Saal. Dieser tolle filmische Schock war effizient und modern genug inszeniert, um auch jene heutigen Zuschauer zu schockieren, die mit einem recht beachtlichen Maß an Zynismus an alte Filme herangehen. Wie dieser Schock 1927 gewirkt haben muss? „Must have scared the shit out them“ würde man auf Englisch dann wohl sagen.

THE CAT AND THE CANARY gehört auch zur Geschichte des deutschen Expressionismus, der nach Hollywood geht: personell, ästhetisch – und intertextuell. Auf mindestens zwei große Klassiker des deutschen Expressionismus (also in Deutschland) spielt Lenis Film an. Zum einen taucht mitten im Chaos aus verschwundenen und ermordeten Personen scheinbar aus dem Nichts eine besonders skurrile Figur auf: es ist der Arzt, der gemäß Testament die geistige Gesundheit des designierten Erben bestätigen soll. Diese Figur, gespielt vom gebürtigen Texaner Lucien Littlefield, sieht fast genauso aus wie Werner Krauß‘ Titelfigur aus DAS CABINET DES DR. CALIGARI: eine Erscheinung, die mindestens so beunruhigend ist wie die gruselige Haushälterin – Annabelle ist bei der Untersuchung entsprechend nervös und verhält sich dann auch nicht so, dass man ihr 100%-ig geistige Gesundheit bescheinigen könnte. Einige Augenblicke vorher hatte sie sich schlafen gelegt. Doch ihre nächtliche Ruhe wurde gestört, als eine haarige Hand mit langen spitzen Fingern anfing, über ihr Gesicht zu huschen: eine schöne Hommage an die ikonische Szene in NOSFERATU, in der Graf Orloks Hand als Schatten über Ellens Körper huscht und ihr Herz (bzw. ihren Busen) ergreift. Die erotische Aufladung fehlt bei THE CAT AND THE CANARY: hier greift die Hand nach Annabelles wertvoller Halskette.

Diese Verbindung ist natürlich kein Zufall, denn mit Paul Leni folgte ein weiterer Vertreter des deutschen expressionistischen Film dem Ruf in die USA (Leni und NOSFERATU-Regisseur Friedrich Wilhelm Murnau drehten jeweils etwa zeitgleich ihren Hollywood-Einstand, und SUNRISE: A SONG OF TWO HUMANS hatte seine US-Premiere exakt zwei Wochen nach THE CAT AND THE CANARY). Leni, 1885 in Stuttgart geboren, war von Haus aus Maler, und kam wie viele Stummfilmkünstler vom Theater her, wo er Bühnenbilder konzipierte, zum Kino. Hier machte er sich besonders als Setdesigner einen Namen, und arbeitete mit Regisseuren wie Joe May, Ernst Lubitsch, Max Mack, Ewald André Dupont, Alexander Korda und Michael Kertész (später Michael Curtiz) zusammen. Seinen ersten Film als Regisseur drehte Leni schon 1916, doch zu besonderer Aufmerksamkeit gelangte 1923 DAS WACHSFIGURENKABINETT. Dieser Film hat nicht nur Sergei Eisenstein bei der Darstellung Ivans des Schrecklichen im Zustand des Wahnsinns inspiriert, sondern ist wohl auch der Grund dafür, dass Universal-Chef Carl Laemmle den gebürtigen Stuttgarter nach Hollywood einlud.

THE CAT AND THE CANARY lief in den USA sehr erfolgreich, und lockte auch in Deutschland, Österreich, Frankreich und Italien die Zuschauer massenhaft ins Kino. Während in der neuen Welt der Film auch von den Filmkritikern wohlwollend bis begeistert aufgenommen wurde, waren die Besprechungen in der deutschen Fachpresse eher ambivalent. Willy Haas, seines Zeichens nicht nur Filmkritiker beim „Film-Kurier“, sondern auch Drehbuchautor für Murnau (DER BRENNENDE ACKER) und Georg Wilhelm Pabst (u. a. für DIE FREUDLOSE GASSE), vergiftete ein großes Lob mit ätzendem Spott:

„Interessant, spannend, direkt kriminalpsychologisch fesselnd ist für mich an dieser Sache eigentlich nur eines: wieso das feinste, ästhetisch differenzierteste, gepflegteste, bis zum Snobismus raffinierteste Talent des deutschen Films, Paul Leni, ausgerechnet mit solchem Kriminalkitsch in Hollywood debütiert; warum er sich mit einer Versessenheit, einer leidenschaftlichen, gequälten, skrupulösen Hingabe, die man jeder Einstellung, jedem Ausschnitt, jeder der unendlich originell und skurril erdachten Dekorationen, jeder der zauberhaften Licht- und Schattenwirkungen, jedem Photographietrick, jedem Möbelstück, jeder Schauspielermaske ansieht – warum er sich mit dieser unersättlichen, gierigen, maßlosen Arbeitsfuries ausgerechnet in einen solchen Kriminalkitsch hineinkniet?“ 
Es ist wohl nicht völlig abwegig, in diesem Zitat eine gewisse (wohlweislich selektive) Schmähung von Genrefilmen herauszulesen, die gerade auch in Deutschland bis heute nachwirkt. Inwiefern auch ein dezidierter Antiamerikanismus in Willy Haas‘ Aussage mitschwingt, muss unklar bleiben (Haas verbrachte in der Nazi-Ära sein Exil in der Tschechoslowakei und dann in Indien, nicht in den USA – aber das muss nichts heissen, denn die meisten Emigranten haben ihre Aufenthaltsorte natürlich eher nach pragmatischen Möglichkeiten als nach Vorlieben ausgesucht).
Was man in Deutschland über seinen US-Einstand dachte, musste Leni aber nicht weiter kümmern, denn in den Staaten drehte er weiter Filme für Universal. THE CHINESE PARROT gilt heute als verschollen und war der zweite Film um den chinesischen Detektiven Charlie Chan – eine Reihe, die überaus erfolgreich sein würde. In THE MAN WHO LAUGHS, der Verfilmung eines Romans von Victor Hugo, demonstrierte Leni wieder sein Gespür für die Kombination aus Groteskem, Horrorelementen und expressionistischer Gestaltung. Die Geschichte um einen Mann mit einer Verstümmelung, die sein Gesicht zu einem permanenten Grinsen entstellt, kam weniger gut an als THE CAT AND THE CANARY: es wurde unter anderem das „zu deutsch“ aussehende Setting bemängelt. Der Film beeinflusste später aber so unterschiedliche Regisseure wie Sergio Corbucci und Brian De Palma, und die Ikonografie seiner von Conrad Veidt gespielten Titelfigur inspirierte wahrscheinlich maßgeblich die zwölf Jahre später geschaffene Figur des Jokers. Mit THE LAST WARNING sollte 1929 an den Erfolg von THE CAT AND THE CANARY angeknüpft werden: eine ähnliche Mystery-Handlung wurde vom Landhaus in ein Theater verlegt.

Paul Leni hatte sich in nicht einmal zwei Jahren als der Horrorspezialist von Universal schlechthin etabliert. Ende der 1920er Jahre kaufte das Studio die Rechte an der Verfilmung von Bram Stokers Roman „Dracula“ bei den Erben des Autoren (und vermied so vorsorglich Copyright-Probleme, die bei NOSFERATU nach dem Dreh entstanden waren). Offenbar war wohl geplant, dass Leni die Regie übernehmen würde, und der Deutsche Conrad Veidt, der schon die Titelfigur von THE MAN WHO LAUGHS gespielt hatte, sollte den titelgebenden Blutsauger spielen. Doch der Regisseur starb im September 1929 mit gerade einmal 44 Jahren unerwartet an einer Blutvergiftung, und das „Dracula“-Projekt wurde später in anderer personeller Besetzung realisiert (mit Karl Freund an der Kamera, also ebenfalls unter maßgeblicher mitteleuropäischer Beteiligung mit expressionistischem Hintergrund). Leni verstarb mitten in einer vielversprechenden Karriere viel zu früh: ein Schicksal, das ein wenig dem Friedrich Wilhelm Murnaus ähnelt.


Zur Überlieferung von THE CAT AND THE CANARY

Das Negativ von THE CAT AND THE CANARY (bzw. die zwei Negative: eins für die US-Kopien, eins für die ausländischen Kopien) wurde in den 1930er Jahren vom Universal-Studio vernichtet: ein Schicksal, das in dieser Zeit auch viele andere Universal-Stummfilme betraf. Archiviert wurden lediglich 16mm-Kopien.
In den 2000er Jahren wurde der Film zwei Mal restauriert. Einmal 2003 durch das Filmmuseum München anhand einer unvollständigen niederländischen 35mm-Nitrokopie, deren fehlenden Teile (und die Zwischentitel) aus einer vollständigen 16mm-Kopie im Blowup-Verfahren ergänzt wurden. Das bedeutet, dass die Momente, die der 16mm-Kopie entnommen sind, in verhältnismäßig schlechterer Qualität und leicht unscharf sind (was man z. B. auch aus der 2010er-Restauration von METROPOLIS kennt). 2004 restaurierte die britische Gesellschaft Photoplay Productions THE CAT AND THE CANARY auf Basis einer unvollständigen dänischen Nitrokopie, deren fehlende Teile ebenfalls mit einer 16mm-Kopie ergänzt wurden. Diese zwei Restaurationen beruhen auf Nitrokopien, die jeweils aus einem der beiden Negative gezogen wurden. Welche Kopie welchem Negativ zugeordnet werden kann, ist heute nicht mehr nachvollziehbar.
Die Photoplay-Restauration ist auf einer DVD von Kino in den USA veröffentlicht worden. THE CAT AND THE CANARY ist in den Vereinigten Staaten gemeinfrei, so dass hier teilweise auch ziemlich ramschige Editionen, teils aus fragmentarischen 8mm-Kopien gezogen, im Umlauf sind. Es gibt auch eine spanische DVD-Edition, die den Film einmal in einer viragierten, unrestaurierten Fassung und einmal in einer restaurierten Sepiafassung enthält – beide offenbar mit unterschiedlichen Laufzeiten –, aber um welche Restauration es sich bei der Sepiafassung handelt, kann ich nicht sagen (vermutlich um die Photoplay-Version). In Frankreich gibt es seit just einigen Tagen den Film ebenfalls auf DVD: ob restauriert oder nicht, ist schwer zu sagen, aber auf jeden Fall offenbar in einer falschen und viel zu langsamen Abspielgeschwindigkeit (wohl irgendetwas bei 18 oder sogar nur 16 Bildern pro Sekunde statt den originalen 24). Eine „edizione restaurata“ gibt es in Italien zu erwerben, aber auch hier ist unklar, in welcher Fassung (auch hier wahrscheinlich die Photoplay-Version).
Alles ziemlich verwirrend und unklar, nicht wahr? Stummfilme und ihre Überlieferung sind eben oft eine komplizierte Angelegenheit. Ich meinerseits habe am 26. Oktober im Weimarer Lichthaus-Kino eine 35mm-Kopie aus dem Münchner Filmmuseum in besagter Münchener Restaurierung gesehen. Dies verdankten die Zuschauer dem Einsatz (und den guten Beziehungen) des Weimarer Stummfilmpianisten Richard Siedhoff, denn das Filmmuseum München leiht seine Kopien eigentlich nicht an reguläre Kinos. Siedhoff, der den direkten Vergleich mit der Photoplay-Restaurierung hat, schätzt die Münchener Fassung von THE CAT AND THE CANARY als die bildqualitativ bessere Restaurierungsversion ein. Meiner Einschätzung nach schwankte die Bildqualität irgendwo zwischen „relativ gut“ und „mittelmäßig“ (abgesehen von „geht gerade so“-Momenten bei den deutlich sichtbaren 16mm-Inserts). Kurz: andere restaurierte Stummfilme sehen (nicht zuletzt auch dank besserer Überlieferung) wesentlich klarer aus. Die Münchener Fassung hat es wahrscheinlich nicht auf DVD geschafft, sondern allerhöchstens zu einer arte-Ausstrahlung im Januar 2006.
Diese Besprechung hat keine Screenshots, weil sie im wesentlichen auf meiner Sichtung im Kino beruht. Auf die Kürze war eine DVD nicht zu besorgen (zumal ich völlig unschlüssig bin, welche Edition ich nehmen sollte). Screenshots aus Fassungen bei youtube kamen aufgrund der miserablen Bildqualität der dort vorhandenen Versionen nicht in Frage.

Großstadt-Kammermusik

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Großstadt-Kammermusik? Was ist das nun wieder? Dasselbe wie eine Großstadtsinfonie, nur in kleinerer Form. Das Genre der Großstadtsinfonie (oder, je nach Geschmack, Großstadtsymphonie, engl. city symphony) hat seinen Namen von Walther Ruttmanns BERLIN - DIE SINFONIE DER GROSSTADT (1927), von dem auch ungefähr ein halbes Dutzend anderer Schreibweisen existieren. Der Film zeichnet den Verlauf eines beliebigen Werktags in Berlin nach, ohne individuelle Charaktere - die Stadt selbst und ihre anonymen Bewohner sind die Hauptdarsteller, in fast vollständig dokumentarischen Aufnahmen, zu einem beträchtlichen Teil mit versteckter Kamera gedreht (zwei oder drei Szenen, darunter der Selbstmord einer Frau, wurden aber von Ruttmann inszeniert). Dazu die bewegungs- und schnittsynchrone Originalmusik von Edmund Meisel, die den Film erst zu einer "Sinfonie" machte. Das Prinzip, dem Lauf eines Tages vom Morgengrauen bis in die Abend- oder Nachtstunden hinein zu folgen, wurde auch von anderen Filmen dieses Genres verwendet, wobei Ruttmanns BERLIN nicht der erste Vertreter war. Schon 1921/22 entwickelte László Moholy-Nagy, damals in Berlin und wenig später für einige Jahre als Lehrer am Bauhaus, konkrete Pläne für einen solchen Film mit dem Titel DYNAMIK DER GROSS-STADT, unter Mitarbeit des mit ihm befreundeten Carl Koch (Ehemann und enger Mitarbeiter von Lotte Reiniger sowie Freund und Mitarbeiter von Jean Renoir, siehe dazu hier im letzten Absatz). Doch Moholy-Nagy und Koch bekamen das Geld dafür nicht zusammen. In seinem 1925 erschienenen Buch "MALEREI FOTOGRAFIE FILM" (das auch eine Art Storyboard des Films enthält) schreibt Moholy-Nagy:
Wir [er und Koch] sind leider bis heute nicht dazu gekommen; sein Film-Institut hatte kein Geld dafür. Größere Gesellschaften wie die UFA wagten damals das Risiko des bizarr Erscheinenden nicht; andere Filmleute haben "trotz der guten Idee die Handlung [Hervorhebung im Buch] darin nicht gefunden" und darum die Verfilmung abgelehnt. [...]

Der Film "Dynamik der Groß-Stadt" will weder lehren, noch moralisieren, noch erzählen; er möchte visuell, nur visuell wirken. Die Elemente des Visuellen stehen hier nicht unbedingt in logischer Bindung miteinander; trotzdem schließen sie sich durch ihre fotografisch-visuellen Relationen zu einem lebendigen Zusammenhang raumzeitlicher Ereignisse zusammen und schalten den Zuschauer aktiv in die Stadtdynamik ein. [...]

Ziel des Filmes: Ausnutzung der Apparatur, eigene optische Aktion, optische Tempogliederung, - statt literarischer, theatralischer Handlung: Dynamik des Optischen. Viel Bewegung, mitunter bis zur Brutalität gesteigert. Die Verbindung der einzelnen, "logisch" nicht zusammengehörenden Teile erfolgt entweder optisch, z.B. mittels Durchdringung oder durch horizontale oder vertikale Streifung der Einzelbilder (um sie einander ähnlich zu machen ), durch Blende (indem man z.B. ein Bild mit einer Irisblende schließt und das nächste aus einer gleichen Irisblende hervortreten läßt) oder durch gemeinsame Bewegung sonst verschiedener Objekte, oder durch assoziative Bindungen.
Zumindest auf dem Papier sind hier schon Elemente der Großstadtsinfonien vorweggenommen, und in der 1927 erschienenen zweiten Auflage des Buchs merkt Moholy-Nagy an, dass Ruttmanns soeben herausgekommener BERLIN "ähnliche Bestrebungen" wie sein eigenes Projekt verfolge. - Als erste tatsächlich gedrehte Großstadtsinfonie wird meist RIEN QUE LES HEURES bezeichnet, den der vorwiegend in Frankreich und England arbeitende Brasilianer Alberto Cavalcanti 1926 in Paris drehte. 1928 bekam Paris mit ÉTUDES SUR PARIS von André Sauvage einen weiteren Film aus diesem Bereich spendiert, und schon im Jahr zuvor, ungefähr zeitgleich mit Ruttmann, inszenierte der Kameramann Michail Kaufman (der Bruder von Dsiga Wertow und Boris Kaufman) gemeinsam mit einem Ilja Kopalin MOSKAU. Weitere Filme, die man zumindest ansatzweise als Großstadtsinfonien bezeichnen kann, entstanden etwa in Sao Paolo und anderswo. Als zweiter und letzter Höhepunkt des Genres nach BERLIN gilt DER MANN MIT DER KAMERA, den Dsiga Wertow (mit Michail Kaufman an der Kamera) 1929 inszenierte. Allerdings ist dieser Film keiner bestimmten Stadt gewidmet, sondern er wurde in mindestens drei verschiedenen Städten gedreht. - In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts war New York City zweifellos die Metropole schlechthin, aber ausgerechnet dort entstand merkwürdigerweise keine echte Großstadtsinfonie. Was es aber gab, war eine ganze Reihe von kleineren Filmen, die das eine oder andere charakteristische Element aufwiesen, die nicht individuelle Charaktere (seien sie real oder fiktiv) in den Mittelpunkt rückten, sondern die Architektur, die Verkehrsmittel, die Bevölkerung als anonyme Masse - eben keine Großstadtsinfonien, sondern Großstadt-Kammermusik. Mal stand der dokumentarische Blick im Vordergrund (ohne dass es sich um Dokumentarfilme im engeren Sinn handelte), mal eine lyrische Stimmung oder formale Experimente. Was nun folgt, ist eine natürlich unvollständige und subjektive Auswahl. Die ersten vier Beispiele entstanden als Stummfilme und sind hier mit modernen Soundtracks versehen.



MANHATTA (auch NEW YORK THE MAGNIFICENT)
USA 1921
Regie: Charles Sheeler und Paul Strand

Nein, da fehlt kein N - der Titel lautet wirklich so.



Charles Sheeler (1883-1965) war ein Maler (in einem "präzisionistischen" Stil) und Fotograf, Paul Strand (1890-1976) ein Fotograf und dokumentarischer Kameramann. Er arbeitete nicht nur für Wochenschauen, sondern er war auch Mitglied in den linken Filmkooperativen Nykino und Frontier Films, die aus der 1930 gegründeten Workers' Film and Photo League hervorgegangen waren. Für Sheeler dagegen war MANHATTA der einzige Ausflug zum Film. Die poetischen Texte der Zwischentitel stammen von Walt Whitman. MANHATTA wurde ungeachtet seiner Kürze gelegentlich als erste Großstadtsinfonie überhaupt bezeichnet. Egal wie man dazu steht - ein wichtiger Vorläufer war er in jedem Fall.



TWENTY-FOUR DOLLAR ISLAND
USA 1927
Regie: Robert Flaherty



TWENTY-FOUR DOLLAR ISLAND ist offensichtlich von MANHATTA beeinflusst - nicht nur einige Einstellungen, auch das ganze Konzept ist recht ähnlich. Robert J. Flaherty (1884-1951) wird oft als Vater des Dokumentarfilms bezeichnet. Zwar gab es auch schon vor ihm Dokumentarfilme, auch in seinem Spezialgebiet, dem Ethno-Dokumentarfilm (etwa IN THE LAND OF THE HEAD HUNTERS aka IN THE LAND OF THE WAR CANOES von Edward Sheriff Curtis, 1914), aber mit seinem Erstling NANOOK OF THE NORTH (1922) trug er maßgeblich dazu bei, den Dokumentarfilm als eigenständiges Genre zu etablieren. Obwohl er vor allem, wie gerade erwähnt, mit Ethno-Filmen assoziiert wird, filmte er auch die moderne industrielle Welt (nach TWENTY-FOUR DOLLAR ISLAND z.B. - in Zusammenarbeit mit John Grierson - INDUSTRIAL BRITAIN.



SKYSCRAPER SYMPHONY
USA 1929
Regie: Robert Florey



Hier also doch noch eine "Symphonie", zumindest dem Titel nach. Der Franzose Robert Florey (1900-1979) ging 1921 in die USA und landete bald in Hollywood. Nach Jahren als Regieassistent bei Studios wie Fox und MGM wurde er in den späten 20er Jahren zu einem Grenzgänger zwischen dem amerikanischen Independent- und Avantgardefilm einerseits und Hollywood andererseits. Auf der Independent-Seite inszenierte er - in Zusammenarbeit mit Leuten wie Slavko Vorkapich, Gregg Toland oder William Cameron Menzies - den grandiosen THE LIFE AND DEATH OF 9413, A HOLLYWOOD EXTRA, den komplett expressionistischen THE LOVE OF ZERO, den leider verschollenen JOHANN THE COFFINMAKER, und eben die SKYSCRAPER SYMPHONY. Auf der kommerziellem Seite drehte er (zusammen mit einem Joseph Santley) den Marx-Brothers-Film THE COCOANUTS. Danach war er an den Vorbereitungen zu FRANKENSTEIN beteiligt und sogar als Regisseur im Gespräch. Als James Whale den Zuschlag erhielt, durfte Florey zum Ausgleich mit Bela Lugosi die Poe-Verfilmung MURDERS IN THE RUE MORGUE machen. Dieser ebenfalls stark vom Expressionismus beeinflusste Film geriet im Gegensatz zu FRANKENSTEIN zu keinem überragenden Erfolg, und Florey blieb der große Durchbruch versagt. So schlug er schließlich eine Karriere als zuverlässiger B-Film-Regisseur und ab den 50er Jahren als Fernsehregisseur ein.



A BRONX MORNING
USA 1931
Regie: Jay Leyda



Hier nun ein "privaterer" Film, der sich auf ein Stadtviertel beschränkt und näher an den Menschen dran ist als die drei vorherigen Filme. Dass Leydas Blick auch vor dem Rinnstein und Mülltonnen nicht Halt macht, erinnert etwas an den 1930 entstandenen À RROPOS DE NICE (APROPOS NIZZA) von Jean Vigo (Regie) und Boris Kaufman (Kamera). Ob Leyda den kannte, weiß ich aber nicht. Jay Leyda (1910-1988) kam aus einem ähnlichen Umfeld wie Paul Strand: Er war ziemlich weit links und Mitglied der Workers' Film and Photo League und von Frontier Films. A BRONX MORNING war sein einziger Film in alleiniger Regie (1937 inszenierte er gemeinsam mit Elia Kazan, damals am Group Theatre, und zwei Kollegen von Frontier Films seinen zweiten und letzten Film). Nach A BRONX MORNING ging Leyda nach Moskau, um an der staatlichen Filmhochschule WGIK zu studieren, wo er sich mit Sergej Eisenstein befreundete. Leyda war an den Dreharbeiten zu Eisensteins DIE BESHIN-WIESE beteiligt, der aber von den stalinistischen Filmbürokraten abgebrochen wurde und unvollendet blieb. Leyda entwickelte sich zu einem profunden Kenner des sowjetischen und später auch des chinesischen Films und schrieb für den englischen Sprachraum bahnbrechende Bücher darüber. Nach längeren Aufenthalten in England, China und der DDR kehrte er um 1970 endgültig in die USA zurück, wo er als Dozent für Film an verschiedenen Hochschulen wirkte. Neben seinen filmhistorischen Aktivitäten publizierte er auch Bücher über Herman Melville, Emily Dickinson, Modest Mussorgski und Sergej Rachmaninow.



3rd AVE. EL
USA 1955
Regie: Carson Davidson



Die Third Avenue El von Manhattan in die Bronx war eine der New Yorker Hochbahnen, die in unzähligen Filmen und Fernsehsendungen zu sehen sind. 1955 stellte sie in Manhattan den Betrieb ein (in der Bronx erst 1973), und aus diesem Anlass wurde sie noch mehrfach im Film festgehalten - außer in 3rd AVE. EL beispielsweise auch in THE WONDER RING und GNIR REDNOW. Carson "Kit" Davidson ist ein vielfach ausgezeichneter, aber wenig bekannter Regisseur. Die Welt des Films hat er längst hinter sich gelassen, stattdessen arbeitet er seit vielen Jahren im Feld der Medizinpublizistik. Nachdem er sich in jungen Jahren als Neuankömmling in New York vom Tellerwäscher zum Mädchen für alles in einer Filmfirma gesteigert hatte (was man hier in seinen eigenen Worten nachlesen kann), drehte er 3rd AVE. EL mit einer geborgten Kamera in Eigeninitiative und versuchte zunächst vergeblich, einen Verleih dafür zu finden, bis ein "verrückter Russe", der ein Kino besaß, als letzter auf Davidsons Liste ein Einsehen hatte und den Film monatelang als Vorfilm zeigte. Es hat sich gelohnt, vor allem für Davidson, denn 3rd AVE. EL wurde für den Oscar nominiert und gewann diverse Preise. Die Musik stammt von Haydn, Solistin ist die polnisch-jüdische Cembalistin und Pianistin Wanda Landowska, die 1941 von Frankreich in die USA geflüchtet war. Sie mochte eigentlich überhaupt keine Filme, aber mit 200 Dollar konnte sie überzeugt werden, Davidson die Rechte zu überlassen. Neben der Fahrt mit der Hochbahn bilden die Versuche, eine verlorene Münze zu bergen, eine Klammer des Films. Damit stellte sich Davidson (vermutlich unbewusst) auch in die Tradition des deutschen "Querschnittfilms" der 20er Jahre, etwa DIE ABENTEUER EINES ZEHNMARKSCHEINES von Berthold Viertel, wodurch auch ein Anknüpfungspunkt zu Ruttmanns BERLIN besteht. - Carson Davidson war zwar hauptsächlich auf dem Gebiet des Dokumentar- und Industriefilms tätig, aber mit HELP, MY SNOWMAN'S BURNING DOWN gelang ihm auch ein witziger Ausflug in den Surrealismus. Auch dieser Film war für den Oscar nominiert, und er gewann über ein Dutzend Preise, darunter einen in Cannes. Weitere Filme von Davidson findet man bei archive.org und YouTube. - Die Bilder aus 3rd AVE. EL wurden für mindestens zwei Musikvideos verwendet, siehe hier und hier.



Den nächsten Film sehen wir gleich zweimal, mit zwei verschiedenen Soundtracks.

BRIDGES-GO-ROUND
USA 1958
Regie: Shirley Clarke



Shirley Clarke (1919-1997) ist vor allem für ihre in einem dokumentarischen Stil inszenierten Spielfilme THE CONNECTION und THE COOL WORLD bekannt, die vom Geist des Direct Cinema beeinflusst sind (Clarke hatte zuvor auch mit Richard Leacock und D.A. Pennebaker gearbeitet), ohne wirklich dokumentarisch zu sein (es ist alles penibel durchinszeniert), sowie für den Portraitfilm PORTRAIT OF JASON über einen exaltierten schwulen schwarzen New Yorker. Doch schon mit BRIDGES-GO-ROUND hat sie eine markante Duftmarke hinterlassen. Clarke konnte und wollte sich nicht zwischen den beiden Soundtracks entscheiden und erklärte kurzerhand beide für offiziell, und schon beim Erscheinen des Films wurde er meist mit beiden Tonspuren hintereinander zweimal gespielt. Teo Macero, von dem die jazzige Musik stammt, war ein Saxophonist, Komponist, Arrangeur und Plattenproduzent (lange Jahre bei Columbia Records). Louis und Bebe Barron, die den elektronischen Soundtrack beisteuerten, gehörten in den USA zu den Pionieren elektronischer Musik- und Geräuschproduktion. Die bekannteste Hervorbringung des Ehepaars war der Soundtrack zum SciFi-Klassiker FORBIDDEN PLANET (1956) von Fred M. Wilcox. Wegen kleinlicher Regularien durften sie seinerzeit nicht als "Komponisten" dieses Films bezeichnet werden, weshalb ihnen auch die sonst mögliche Nominierung für einen Oscar versagt blieb.



GO! GO! GO!
USA 1962-64
Regie: Marie Menken



New York, der Schauplatz urbaner Beschleunigung, im Zeitraffer - eigentlich eine naheliegende Idee, aber man muss sie auch erst einmal so ansprechend umsetzen wie Marie Menken (1909-1970). Da ich in nächster Zeit auf Menken zurückkommen will, soll es das erst einmal gewesen sein.

(Übrigens hat schon 1901 Frederick S. Armitage den Abriss eines New Yorker Theaters im Zeitraffer gefilmt. Er klebte eine rückwärts laufende Kopie und den vorwärts laufenden Film aneinander, so dass das Gebäude scheinbar emporwuchs und dann wieder verschwand, oder andersrum - die Kinobesitzer konnten sich das aussuchen.)

Ein verprügeltes Gesicht, Edgar Ulmers Geist und Steven Seagal

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GUTSHOT STRAIGHT
USA 2014
Regie: Justin Steele
Darsteller: George Eads (Jack Daniel), Stephan Lang (Duffy), AnnaLynne McCord (May), Ted Levine (Lewis), Vinnie Jones (Carl), Steven Seagal (Paulie Trunks)



Auf dem Cover der deutschen DVD von GUTSHOT STRAIGHT sieht man Steven Seagal, der offensichtlich gerade frisch von einem Photoshop-Termin kommt und mit einer Pistole auf irgendetwas außerhalb des Bilds zielt. Unter ihm zielen auch drei weitere Gestalten (die übrigens im Film überhaupt nicht auftauchen) auf irgendwelche unbekannten Ziele. Alles klar, ein typischer Seagal-Actioner, denkt man sich: er spielt mal wieder einen Ex-CIA-Ex-Irgendetwas-Typen mit einem Hang zu ostasiatischer Mystik, der stinkesauer ist, weil Böswatze seiner Frau/seiner Tochter/seinem Buddy etwas schlimmes angetan haben und der jetzt noch schlimmere Sachen mit besagten Böswatzen anstellen wird.

Doch im Prolog wird zunächst ein Typ mit einem zerschlagenen Gesicht zu Seagal geführt, der in Patenmanier gemütlich hinter einem Büroschreibtisch sitzt. Er hantiert mit einer riesigen, phallischen Zigarre herum, spricht mit einer Stimme, die Batman wie eine zwölfjährige Sopranchoristin klingen lässt und auf dem Kopf trägt er etwas, das wie ein besonders aufwendiges Toupet aussieht (oder wie ein totes pelziges Tier). Nach einigen strengen Worten und der salbungsvoll vorgetragenen Frage, ob er denn sein Freund sei, bietet er dem Typen mit dem zerschlagenen Gesicht eine Pistole an. Vorspann. Und was für ein Vorspann: als würden wir uns in einem James-Bond-Film befinden. Popart-Credits der Extraklasse, die die schlechtesten unter den 007-Vorspännen qualitativ bei weitem übertrifft und mit einem tollen Song unterlegt ist. Dann folgt eine Szene in einem Casino in Las Vegas. Jack, der Typ, der im (chronologisch späteren) Prolog mit zerschlagenem Gesicht Trübsal geblasen hat, stolziert mit breitem Lächeln auf seinem makellosen Gesicht durch die Spielhalle, plaudert freundlich mit einem Croupier, setzt sich dann an einen Pokertisch und provoziert eine schwarze Spielerin so lange mit einem rassistischen Witz, bis er gewinnt...

Die ersten paar Minuten von GUTSHOT STRAIGHT sind eine ziemlich „schlechte“ Vorbereitung auf das, was schlussendlich folgt: kein Seagal-Actioner, kein Pseudo-Bond-Film, und auch kein Casino- & Zockerfilm, sondern eine Perle von einem fiesen kleinen neo noir. Ein neo noir, der sich nicht an der glamourösen Seite des klassischen noirs orientiert, mit ihren klassischen Schönheiten Lauren Bacall und Rita Hayworth sowie ihren kernigen Helden Humphrey Bogart und Robert Mitchum, die in luxuriösen Bars und Nachtclubs ihren Intrigen nachgingen, sondern am schäbigen poverty-row-noir mit seinen wirklich kaputten Randexistenzen und seinen schmierigen Cafés. GUTSHOT STRAIGHT erinnert aus mehreren Gründen bisweilen an Edgar Ulmers DETOUR. 

Aber der Reihe nach... Jack mag am Anfang die ganze Zeit lächeln, aber das ist nur ein Abwehrmechanismus. Im Casino wird er von einem mysteriösen Mann angesprochen, der ihm seine Visitenkarte gibt, ihm dann irgendetwas von Geld und Möglichkeiten erzählt und dem notorischen Spieler sogar anbietet, ihn bei einem Pokertisch mit großen Einsätzen auf Pump einzukaufen. Jack schickt den Mann zum Teufel – und als er zu Hause ankommt, wird er erst einmal von Typen verprügelt, denen er noch Geld schuldet. Die Schläger machen unwiderruflich klar, dass sie bald für den Restbetrag vorbeikommen werden (zumal einer von ihnen vom markanten Vinnie Jones gespielt wird). Das restliche Geld will Jack bei seiner Bank anpumpen, doch trotz Anflirtens der jungen Bänkerin wird er mit Nachdruck weggeschickt.

Jack in misslicher, Duffy in hedonistischer Position
Drinks im Stripclub, Anbahnung von Poolsex mit Voyeur
So ruft Jack den mysteriösen Fremden aus dem Casino doch noch an, um sich wegen der „Möglichkeiten“ zu erkundigen. Ein Termin in einem schummerigen Stripclub wird vereinbart, wo beide sich beschnuppern. Duffy, der Fremde, scheint ziemlich reich zu sein, spendiert sämtliche Drinks, und verliert zwei Wetten an Jack (er soll mit vier 50-Dollar-Scheinen eine Bierflasche öffnen und diese danach mit bloßen Händen zerschlagen). Nach Ladenschluss nimmt Duffy Jack in sein Haus mit und bietet ihm dort eine ganz große Wette an: 10.000 Dollar, wenn Jack mit seiner Ehefrau schläft – und 20.000, wenn er dabei zugucken darf. Für Jack ist das – so attraktiv er Duffys Ehefrau gleich beim ersten Anblick offenbar findet – etwas zu viel. Doch als er sich davon machen möchte, schlägt Duffy ihn K. O. Als Jack wieder aufwacht, ist nur noch seine Ehefrau im Haus, und dann bahnt sich zwischen den beiden doch etwas im Pool an. Plötzlich steht der reiche Exzentriker daneben, eine Tasche voll Geld in der Hand. Das nimmt Jack nun wieder alle Lust, aber als er wiederholt gehen möchte, kommt es zu einem Gerangel zwischen den beiden Männern. Duffy fällt unglücklich, bricht sich das Genick und ist tot.

Lewis "erkennt" Jack
Femme fatale May
Während Jack in Panik auszubrechen droht, nimmt die Ehefrau die Gesamtsituation mit großer Gelassenheit und sogar einer gewissen Freude auf, warnt Jack jedoch davor, die Polizei zu benachrichtigen: er wisse ja nicht, was für ein Mensch Duffy wirklich gewesen sei. In einer Nacht- und Morgengrauen-Aktion wird die Leiche erst einmal beseitigt. Am nächsten Morgen fühlt sich für Jack alles wie ein entfernter Alptraum an, doch das Erwachen kommt jäh: er hat sein Portemonnaie in Duffys Villa vergessen und muss dieses wieder beschaffen. Als er vor dem Hauseingang rumschleicht, grüßt ihn plötzlich ein Mann, namens Lewis. Es ist Duffys Bruder, der sich rasch an Jack von einer vergangenen Pokernacht erinnert und ihn freundlich in Duffys Haus bittet. Mit einem Lächeln im Gesicht macht Lewis immer wieder versteckte Anspielungen darauf, dass er wohl ahne, dass irgendetwas komisches vorgefallen ist.
Das nächste Treffen zwischen Jack und Lewis in einem Casino verläuft noch unerfreulicher. Denn nun erklärt ihm Lewis, dass er sehr wohl wisse, dass Jack Duffy getötet hat. Er sei aber bereit, die Sache zu vergessen und Jack und seine Tochter (der Spieler hat eine Frau und eine Tochter, von denen er getrennt und entfremdet lebt) am Leben zu lassen, unter einer Bedingung: Jack soll Duffys Ehefrau ermorden. Einfacher gesagt als getan, denn nun fühlt sich Jack erst recht zu ihr, May, angezogen. Da es ihm aber auch um das Leben seiner Tochter geht, sucht er den großen Kredithai Paulie auf, um ihn um Ratschlag und eine Pistole zu bitten. Paulie gibt sie ihm mit dem Tipp, sie Lewis nutzen zu lassen. Beim Showdown schließlich prügelt Jack Duffys Bruder nieder. May nimmt Paulies Waffe und will damit Jack töten. Die präparierte Pistole explodiert aber und schießt nach hinten, direkt in Mays Gesicht. Und als Lewis wieder aufwacht und sich erneut auf Jack stürzt, taucht Paulie mit seinen Schlägern auf, erschießt Lewis und spricht das Urteil über Jack: er solle Duffys Geld nehmen und für immer aus Las Vegas verschwinden. Nachdem er die Geldtasche bei seiner Ex-Frau und seiner Tochter deponiert hat, macht Jack genau das: ohne Geld, mit nur einem klapprigen Auto und einem geschundenen Gesicht fährt er weg.

Ein glanzloser Antiheld, der in eine sexuell aufgeladene, gewalttätige Intrige voller wunderlicher und absurder Wendungen gerät. Zwielichtige Gestalten und eine femme fatale, deren Vertrauenswürdigkeit stets auf der Kippe steht, weil überall Verrat lauert. GUTSHOT STRAIGHT ist ein fast schon puristischer neo noir. Doch was hat es mit dem DETOUR-Vergleich auf sich?

Jack Daniel erscheint wie eine Wiedergeburt von Al Roberts, dem glücklosen Protagonisten von DETOUR und der wahrscheinlich miserabelsten Figur, die der klassische film noir hervorgebracht hat: ein Loser, der selbst im heruntergekommensten Café der ganzen Stadt noch seine Würde verliert und angepöbelt wird. Sicher: Jack ist kein gescheiterter Künstler wie Al, sondern nur ein gescheiterter Pokerspieler. Und im Gegensatz zu Al scheint er zumindest eine halbwegs bürgerliche Vergangenheit zu haben, mit Ehefrau, Tochter und bescheidenem, aber solidem Eigenheim. Der tiefe Masochismus jedoch, der Al kennzeichnete, fehlt ihm. Doch auch Jack kann seine Würde nur in Scherben mit sich herumtragen: Paulies Schläger lachen ihn aus, Paulie selbst behandelt ihn wie einen kleinen Lausbub, bei seiner Bank kriegt er quasi Hausverbot, und die Bartenders der schummerigsten Stripclubs behandeln ihn von oben herab.


Das zerschlagene Gesicht mit den ganzen Blutergüssen trägt Jack durch den ganzen Film (hinzu kommt über die meiste Laufzeit auch ein T-Shirt mit blutverschmiertem Kragen), und auch wenn man die Ursache dafür sieht, nämlich die Tracht Prügel zu Beginn, erscheinen diese Zeichen eher ein existentieller Bestandteil seiner Person zu sein als die Folge eines Ereignisses. Das erinnert ein wenig an den permanenten Schweißfilm auf Al Roberts Gesicht: kein Zeichen der Temperaturverhältnisse oder irgendeiner Anstrengung, sondern Ausdruck existentieller Verzweiflung. Blutergüsse und Schweiß – Jack Daniel und Al Roberts tragen die Essenz ihres Daseins sichtbar im Gesicht.

Mit DETOUR verbindet GUTSHOT STRAIGHT sicherlich auch einige Versatzstücke des Plots: ein Mann tötet aus Versehen einen anderen Mann und wird dann von jemandem erpresst, der genau das weiß (gleichwohl die blasse AnnaLynne McCord nicht annähernd an Ann Savage rankommt). Doch mehr als alles hat der Film von 2014 ein ähnliches „Feeling“ wie der Klassiker aus dem Jahre 1945: es ist das „Feeling“ eines B-Films, der er es schafft, zu etwas größerem zu werden, weil er seine eigenen Begrenzungen umarmt.

Trotzdem ist und bleibt GUTSHOT STRAIGHT ein Original. Seine narrative Struktur ist von einer erstaunlichen Klarheit: nach A folgt B, dann C... Doch er lässt die einzelnen Plotpoints als reine Zeichen stehen, gibt ihnen keine Erklärungen, reduziert alles auf das reine Skelett. Dabei nimmt er radikal Jack Daniels Perspektive ein und als Zuschauer verfügen wir nur über seinen Wissensstand (teils sogar noch weniger). So stolpern wir wie er durch diese einfache, aber doch bizarre Geschichte: warum Duffy ausgerechnet ihn für seine sexuelle Fantasien auswählt, warum Lewis May töten will, was nun das genaue Verhältnis zwischen Duffy, Lewis und May ist, warum ausgerechnet er ein Blutbad zu verantworten hat und dann hinter sich lassen muss – Jack wird es nie erfahren. Besonders unklar ist, warum offenbar jeder seinen Namen kennt: Duffy nennt ihn Jack, bevor er sich vorstellen kann, Lewis tut es genau so, ja gegen Ende spricht ihn gar irgendein Türsteher vor einem Pokerspielzimmer einfach so mit Jack an. Alle haben einen Informationsvorsprung vor Jack. Dies erklärt wohl auch die für einen film noir untypische Rauminszenierung (trotz der sehr expressiven Bildgestaltung). Die meisten Einstellungen sind Nah- und Halbnaheinstellungen mit extrem geringer Tiefenschärfe. Selbst einige der Establishing Shots scheinen mit einem Teleobjektiv aufgenommen worden zu sein: die meiste Zeit bewegt sich Jack durch eine Welt, die wie verschleiert wirkt und in der nichts auch nur annähernd deutlich zu erkennen ist. Die Schleier lüften sich auch am Ende nicht – und die zwei weiteren Toten erklären auch nichts weiteres. In Zeiten, in denen Mainstream-Sehgewohnheiten doch stark auf langwierige (Über)erklärungen ausgerichtet sind, wirkt GUTSHOT STRAIGHT erstaunlich frisch.

Was ist aber nun mit Steven Seagal und Vinnie Jones, die schließlich, zumindest auf dem Cover der deutschen DVD, die Credits anführen? Seagal tritt nur kurz im Prolog auf und wird in den Anfangs-Credits nicht erwähnt. Gegen Ende wird die Prologszene  mit leicht alternativen Einstellungen  wiederholt, und dann taucht Seagal ganz am Schluss während des Showdowns auf. Zusammengerechnet kommt wohl nicht einmal fünf Minuten Screentime zusammen. Ein reines Cameo also, der zudem wie ein absurder Fremdkörper wirkt. Denn Seagal teilt sich kein einziges Frame mit dem Hauptdarsteller George Eads: Ihr Dialog ist in Schuss-Gegenschuss-Aufnahmen aufgelöst. Jacks Hinterkopf, wenn man Paulie frontal sieht, dürfte wahrscheinlich einem Double gehören. Auch im Showdown wird Eads wahrscheinlich von einem Stand-in gespielt, wenn Seagal im Bild zu sehen ist. Kurz: mit dem legendären Actionstar wurden wahrscheinlich irgendwelche halbwegs passenden Szenen gedreht, die dann in GUTSHOT STRAIGHT reingeschnitten wurden. Das würde in einem anderen Kontext lächerlich wirken (und irgendwie ist es ja auch lächerlich), fügt sich aber hier ganz gut in einen Zustand der permanenten Verwirrung und Dissoziation ein, den der Protagonist erlebt. Aber vielleicht hat es auch einen Sinn: Seagal ist am Ende der deus ex machina, der die ganze Geschichte abbricht und ihr einen Schlusspunkt setzt. Seine Paulie-Figur sowie ihre funktionierenden wie auch präparierten Pistolen sind gewissermaßen der materialisierte, wiederauferstandene Geist des schicksalhaften Telefonkabels von DETOUR.

Sehr unglücklich ist natürlich, dass dieser „Pseudo-Seagal-Film“ wie ein echter Seagal-Actioner vermarktet wird. Es gibt in GUTSHOT STRAIGHT keine Action, keine Actionfigur, keine Actionfilmgeschichte. Auch als „einfacher“ Thriller funktioniert der Film kaum, weil er eben vor allem von einer noir-Atmosphäre lebt, die sich nicht in erster Linie durch klassische Spannung auszeichnet. Leider dürfte der Film also einige Mühe haben, ein Publikum zu finden – zumal als direct-to-video-Produktion.


GUTSHOT STRAIGHT ist als DVD in Deutschland und in den USA erhältlich, ab März nächsten Jahres auch in Großbritannien. Außer mangelnden Untertiteln und einem etwas penetranten, chemischen Plastik-Geruch spricht allerdings nichts gegen die deutsche DVD.

Keaton paranoid

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Es gibt über Alfred Hitchcock die schöne Anekdote, wonach sein Vater ihn einmal als kleines Kind für eine Viertelstunde von einem befreundeten Polizisten in eine Häftlingszelle einsperren ließ – ein traumatisches Erlebnis, das Hitchcocks lebenslange Furcht vor der Polizei inspiriert haben soll und maßgeblich das Motiv des von der Ordnungsmacht unschuldig Verfolgten prägte. Doch vielleicht hat Hitch in seinen frühen Zwanzigern einfach nur Buster Keatons Kurzfilme THE GOAT und COPS im Kino gesehen?
In beiden Filmen geht es um einen unschuldigen Mann (gespielt von Keaton selbst), der von der Polizei für Verbrechen verfolgt wird, die er nicht, oder zumindest nicht bewusst begangen hat. Das ganze wird mit den Mitteln der Slapstick-Komödie verhandelt, und gerade dadurch nehmen diese Verfolgungen aberwitzige und groteske Züge an – und ähneln schließlich gar einer paranoiden Fantasie mit latent düsteren und morbiden Komponenten.


THE GOAT
USA 1921
Regie: Buster Keaton, Malcolm St. Clair
Darsteller: Buster Keaton (der verfolgte Mann), Joe Roberts (der Polizist), Virginia Fox (die Tochter des Polizisten), Malcolm St. Clair (Dead Shot Dan)


Ein offenbar bedürftiger Mann (nennen wir ihn im Folgenden der Einfachheit halber Buster) steht in der Schlange einer Armenspeisung. Aufgrund von für den Zuschauer lustigen und für ihn eher betrüblichen Zufällen und Missgeschicken geht er leer aus. Er geht weiter seines Wegs und bleibt am vergitterten Fenster einer Polizeistation stehen, wo der Verbrecher Dead Shot Dan gerade zwecks polizeilicher Registrierung fotografiert wird. Dieser erblickt Buster hinter sich und reagiert blitzschnell: er bückt sich kurz, löst die Kamera aus und fotografiert damit Buster – wenige Augenblicke später flüchtet Dead Shot Dan aus dem Polizeigewahrsam. Buster geht derweilen nichts ahnend weiter und beobachtet einen Passanten, der ein Hufeisen findet, ihn wegwirft und kurz darauf eine Brieftasche voller Geld auf dem Gehweg entdeckt. Offenbar eine gute Idee: Buster will es dem Glücklichen gleich tun, hebt das Hufeisen auf, wirft es weg – und dieses landet mitten im Gesicht eines Streifenpolizisten. Dieser, offenbar mehr gedemütigt als wirklich verletzt, beginnt Buster zu verfolgen. Rasch gesellen sich andere Ordnungshüter zu der Jagd. Zwischendurch beschützt Buster tatkräftig eine junge Frau und ihren Hund vor einem Passanten, der über die Leine gestolpert ist und dann gegenüber der Dame grob wurde.

Schließlich gelingt Buster die Flucht in eine andere Stadt, wo mittlerweile das Foto des flüchtenden Dead Shot Dan in allen Zeitungen zu sehen ist – wohlgemerkt das falsche Bild, auf dem eben Buster in einem suggestiven Dekor zu sehen ist. Der Gesuchte sieht schließlich selbst ein gigantisches Fahndungsplakat mit seinem Konterfei, und wird sofort von schweren Gewissensbissen geplagt: er befürchtet, den Mann, der die junge Frau mit dem Hund belästigt hat, getötet zu haben (in Wirklichkeit war dieser nur für wenige Sekunden K.O.). Panisch rennt er vor dieser Vision davon und kracht in einen dicken Mann, der sich als Polizist entpuppt. Einige fiese Jungs planen genau in diesem Moment einen Anschlag auf den kräftigen Ordnungshüter, und am Ende sieht das ganze natürlich so aus, als hätte Buster versucht, den Polizisten zu töten. Nun wird er wegen leichter Verletzung eines Polizisten, Mord und versuchtem Polizistenmord gesucht – wobei er in letzteren beiden Punkten unschuldig ist. Durch Zufall trifft er auf die junge Frau mit dem Hund, die ihn freundlich zum Essen bei ihren Eltern einlädt. Die Mutter ist erfreut, der Vater kommt später hinzu – und entpuppt sich, natürlich, als der dicke und große Polizist von vorhin. Eine Verfolgungsjagd durch das Treppenhaus und die Aufzüge des Gebäudes folgt, die Buster für sich entscheiden kann, bevor er dann die junge Frau zur Hochzeit wegtragen kann.

Polizisten überall!
Die massive Verfolgung, die Buster Keatons Held durchzustehen hat, ist geradezu grotesk überzeichnet. Die Polizisten sind schier überall! Hinter jeder Straßenecke scheint sich ein Ordnungshüter zu verstecken, der nur auf Buster aufzulauern scheint – oder in den Buster einfach gleich mit voller Laufgeschwindigkeit reinkracht. Ein Fluchtmanöver, bei dem sich der Verfolgte an ein fahrendes Auto ranhängt (bei Keaton natürlich wortwörtlich), endet damit, dass er vor den Füßen eines Polizisten abgeladen wird. Eine Gruppe von Verfolgern wird der agile Mann dadurch los, dass er sie in einen Umzugstransporter lockt und einsperrt – nur, damit die Polizisten wenig später vor seinen Füßen abgeladen werden (erneut: wortwörtlich). Der einzige Schutzort, den Buster aufsuchen kann (die Wohnung der jungen Frau mit dem Hund), entpuppt sich als Höhle des Löwen. Und während der wilden Verfolgung durch das Treppenhaus sucht Buster Zuflucht in einer fremden Wohnung: dort wartet ein Polizist, der gerade seine Pistole reinigt (wohl, damit sie noch besser schussbereit ist), während die Zeitung mit Dead Shot Dans (also Busters) Fahndungsfoto auf einem Tisch neben ihm ausgebreitet ist. Kurz: Buster gerät in eine alptraumhafte Welt, die scheinbar fast nur von Polizisten bewohnt ist, die es auf ihn abgesehen haben. Dieses paranoide Universum wird noch bedrohlicher, als man ihn seiner Wahrnehmung nach sogar umzubringen gedenkt (Buster landet, mit einem weißen Tuch überdeckt, auf einer Krankenhausbahre in den Vorraum eines OP-Saals und ein Handwerker, der gerade irgendetwas an den Fensterläden repariert, lädt seine „bedrohlichen“ Gerätschaften kurz auf ihn ab). Dieser ganze Alptraum wird am Ende deus-ex-machina-artig aufgelöst, als Buster den Polizisten mit dem Aufzug durch die Decke des Gebäudes herausschießt – es hatte sich herausgestellt, dass nicht der Aufzug die Etagenanzeige kontrolliert, sondern umgekehrt der Zeiger der Etagenanzeige den Aufzug bewegt. Eine typische und sehr poetische Keaton-Idee.

Rasende Lokomotive, ruhiger Keaton
Das paranoide Verfolgungsszenario ist in eine erquickliche Anzahl dichter visueller Gags eingebaut, die mit ihrem Erfindungsreichtum, ihrem Gespür für Raum und Timing alle demonstrieren, dass Keaton schon 1921 auf dem Höhepunkt seiner Könnerschaft stand. THE GOAT dauert nur knapp 20 Minuten, und dennoch ist es kaum möglich, alle ausführlich zu nennen.
Die Faszination mit Autos und Zügen, also mit schnellen (und gefährlichen) Fortbewegungsmitteln, genießt Keaton in vollen Zügen. Das betrifft nicht nur die vorhin erwähnte Szene, in der er sich an ein Auto ranhängt und weggeschleift wird, sondern auch eine andere Autoflucht, die deutlich misslingt: Buster springt auf den Ersatzreifen am Heck eines Autos, das gerade wegfahren will – doch das Auto fährt ohne ihn weg, denn der vermeintliche Ersatzreifen ist in Wirklichkeit ein zum Werbeschild für eine nahegelegene Autowerkstatt umfunktionierter Reifen auf einem Ständer.
Auf einer richtig großen Kinoleinwand sicher sehr beeindruckend ist die Fahrt eines Zuges, der frontal in Richtung Kamera rast und kurz vor „Aufprall“ eine Vollbremsung macht, während Buster mit regloser Mine vorne auf der Lokomotive sitzt. An anderer Stelle lässt Keaton eine Lokomotive mit vielen Zügen auf Straßenbahnschienen durch eine belebte Innenstadt rasen, womit er seine Verfolger für kurze Zeit abschneidet.
Geradezu genial ist das Timing in der Wohnung der jungen Frau mit dem Hund: Buster wähnt sich in Sicherheit, setzt sich an ein Ende der Tafel und beginnt mit dem kleinen Hund zu spielen, während hinter seinem Rücken sein Verfolger erscheint, sich an das andere Ende der gedeckten Tafel setzt und beide erst nach dem Tischgebet merken, wem sie gegenüber sitzen. Wie Buster kurz darauf aus der Wohnung flüchtet, obwohl der Polizist die Wohnungstür abgeschlossen und sich davor aufgebaut hat, ist allerreinste Keaton-Akrobatik (und dürfte für beide Beteiligte nicht ganz ungefährlich gewesen sein).
Der Höhepunkt von THE GOAT ist dann die wilde Verfolgungsjagd durch das Gebäude, in dem Treppen, ein Aufzug, ein Aufzugschacht und eine Telefonkabine die Grundlage eines minutiös choreografierten Balletts bilden.



COPS
USA 1922
Regie: Buster Keaton, Edward F. Cline
Darsteller: Buster Keaton (der verfolgte Mann), Joe Roberts (ein Polizist), Virginia Fox (die Tochter des Bürgermeisters)


Die narrative Grundidee von THE GOAT (Unschuldiger wird von Polizisten verfolgt) wird in COPS, der nicht ganz ein Jahr später herauskam, in einer radikalisierten, zugespitzten und kompromissloseren Variante präsentiert.

Ein Mann (er ist ohne Namen, aber wir können ihn zwecks Anschaulichkeit gerne Buster nennen) erhält von seiner Verlobten ein Ultimatum: sie wird ihn erst heiraten, wenn er ein erfolgreicher Geschäftsmann geworden ist. Betrübt geht Buster auf die Straße und sieht, wie ein Passant seine Brieftasche verliert. Hilfsbereit hebt er sie auf, um sie zurückzugeben, doch der große und kräftige Mann reagiert grob und stößt den ehrlichen Finder zurück. Er ruft sich ein Taxi und stolpert beim Einsteigen. Buster will ihm schon wieder helfen, und erneut reagiert der griesgrämige Mann mit brachialer Grobheit. Als das Taxi weggefahren ist, sehen wir, dass Buster sich zwischenzeitlich doch anders entschieden hat und dem Mann das Geld nun doch geklaut hat (was wir ihm als Zuschauer nicht wirklich verübeln können). Durch ein geschicktes Manöver stiehlt ihm Buster dann auch noch das Taxi, und frustriert bleibt der Bestohlene zurück – sein Jackett rutscht etwas zur Seite und enthüllt eine Polizeiplakette.
Mit dem relativ dicken Bündel Geld zahlt Buster das Taxi. Dies sieht ein zwielichtiger Mann, stellt sich vor einem großen Haufen Hausrat auf dem Bürgersteig und weint Buster so lange etwas vor, bis er ihm den Hausrat abkauft. Der erpresste Verlobte möchte nun „seinen“ Hausrat wiederverkaufen, um zu zeigen, dass er ein guter Geschäftsmann ist. Doch der Hausrat gehört einer Familie, die umzieht, und ihm natürlich den Hausrat überlässt, als er mit einem eben frisch besorgten Pferd und einer Kutsche erscheint – weil sie ihm mit einem Umzugsarbeiter verwechselt. Nun trottet die Kutsche vor sich her. Buster hat zur Verkehrssicherheit eine Apparatur aufgebaut, die an den Seiten hinausschnellt, um den Richtungswechsel anzuzeigen. Beim nächsten Wendemanöver bekommt natürlich ein Verkehrspolizist eins auf die Nase.
Ein wenig später gerät Buster mit seiner beladenen Pferdekutsche in eine Polizistenparade. Etwas zerstreut merkt er das überhaupt nicht, und glaubt sogar, dass die Akklamationen der Tribünen am Straßenrand ihm gelten. Derweilen hat sich ein Anarchist auf einem nahegelegenen Dach postiert, zündet eine Bombe an und wirft sie in die Parade. Die Bombe landet neben Buster auf den Kutschensitz, der die brennende Lunte als Feuerzeug für eine Zigarette nutzt und gedankenabwesend danach die Bombe hinter sich wirft – direkt in die paradierenden Polizisten. Panik bricht aus. Alle Anwesenden haben nur gesehen, dass der Kutschenfahrer eine Bombe geworfen hat, und nun sind alle Polizisten der Stadt hinter Buster her. Zu Dutzenden, ja zu Hunderten verfolgen sie den vermeintlichen Terroristen. Der hemdsärmlige Mann, der eigentlich mit seiner Familie umzieht, macht sich derweilen auf die Suche nach dem Umzugsarbeiter – und zieht dafür seine Polizistenuniform wieder an. Über viele Umwege, unter anderem über eine auf einer Palisade balancierende Leiter, gelingt es Buster, der Polizei zu entkommen. Als Polizist getarnt begegnet er auf der Straße seiner Verlobten, die erkennt, dass er offenbar kein erfolgreicher Geschäftsmann geworden ist, ihn mit Verachtung anschnaubt und dann pikiert wegläuft. Daraufhin ergibt sich Buster resigniert dem mittlerweile rasenden Polizistenmob und geht in den sicheren Tod.

Aberdutzende Polizisten!
COPS beginnt langsamer als THE GOAT, baut aber im letzten Drittel ein Showdown auf, das zumindest in der schieren Menge der Komparsen den Vorgängerfilm in den Schatten stellt. Doch man könnte es auch als langsames Crescendo sehen. Busters teils bewusste, teils unbewusste Gesetzüberschreitungen bauen sich nach und nach auf. Es fängt damit an, dass er einen Polizisten beklaut: allerdings ohne Wissen, dass es sich um einen Ordnungshüter handelt, sondern eher als eine kleine Rache gegen einen Mann, der ihn als „Dank“ für seine Hilfsbereitschaft grob herumschubst. Weiter geht es damit, dass er den Hausrat eines Polizisten „stiehlt“, allerdings völlig unbewusst: denn Buster ist auf einen Betrüger reingefallen (und dass der hemdsärmlige Mann ein Polizist ist, erfahren wir erst später). Schließlich schlägt Buster einen Polizisten zwei mal mit seinem improvisierten Kutschen-Blinker und wirft eine Bombe auf eine Polizistenparade – beides ebenfalls völlig unbewusst. Ihm passiert das selbe wie in THE GOAT: er ist der falsche Mann zur falschen Zeit am falschen Ort unter den falschen Umständen und gerät als Unschuldiger durch eine Verkettung scheinbar harmloser Situationen in einen Alptraum aus rasender Verfolgung.

Ein potenzierter Alptraum: um die Ecke lauert nicht mehr ein Polizist oder wenn es hochkommt zwei bis vier, sondern Aberdutzende, gar Hunderte – eine Massenchoreographie des Schreckens. Ja, des Terrors. COPS endet damit, dass ein im Grunde unschuldiger Mann von einem tobenden Mob (off screen) erschlagen wird. Gleichwohl Keaton in seinem Werk neben surrealistischen und poetischen auch immer wieder schwarzhumorige Elemente einbaute, findet sich hier die wohl morbideste und makaberste Filmwendung seiner Karriere. Auch sein COLLEGE von 1927 endete mit einem Grabsteinbild, dem allerdings kein gewaltsamer Tod vorausging. Die zugespitzte paranoide Welt voller Polizisten findet ihren Höhepunkt, als Buster selbst zum Polizisten wird (als Tarnung). Die Paranoia wendet sich gegen ihn, und es scheint hier auf bittere Weise folgerichtig, dass die Erlösung nur durch den Tod kommen kann.

Neben dem Motiv des unschuldig Verfolgten enthält COPS wie auch THE GOAT (aber auch andere Keaton-Filme wie z. B. CONVICT 13), in zugespitzter Weise das „proto-Hitchcock‘ianische“ Motiv des multiplen Identitätstausches (bzw. „proto-Lang‘ianisch“, wenn man bedenkt, dass Hitch von Fritz Lang beeinflusst wurde – und in diesem Sinne ist es wieder „post-Feuillade‘isch“). Es gibt wohl kaum eine Figur in COPS mit fester Identitätszuschreibung, denn alle Akteure fallen auf Identitätsverwechslungen ein. Der unglückliche Verlobte wird aus Rache zum Taschendieb, dann zum neureichen Herr und Betrugsopfer, später zum Umzugshelfer, schließlich zum Terroristen, um als Polizist und schließlich Opfer eines Mobs zu enden. Eine tödlich endende „große“ Eskalation der Identitätsverwechslungen, der sich in „kleinere“ Verwechslungseskalationen aufsplittet. Rein legal etwa „stiehlt“ Buster das Pferd und die Kutsche: er übersieht, dass das Verkaufsschild zum Pferd mit der Kutsche eigentlich ein Herrenjackett vor einem naheliegenden Bekleidungsgeschäft betraf, und drückt dem vermeintlichen Kutscher die fünf Dollar in die Hand – doch dieser war eigentlich nur ein zufällig dort sitzender Mann, der nun das unerwartete Geld nutzt, um gleich eben erwähntes Jackett zu kaufen (Buster wird ein „guter Geschäftsmann“ – von seinen „Geschäften“ profitieren aber eben nur andere).

Buster im Knast? Na... doch nicht!
Die schiere Dichte an visuellen Gags, die THE GOAT zwischendurch fast explodieren lassen, erreicht COPS zwar nicht, aber auch dieser Film enthält immer noch genug große Keaton-Momente. Das beginnt natürlich mit den ersten Bildern, die Buster in trübseliger Stimmung hinter Gittern zeigt, während eine junge Frau vor den Gittern auf ihn einredet. Das sieht aus, als erhielte ein Gefangener Knastbesuch. Doch ein Schnitt offenbart, dass dies kein Gefängnis ist, sondern das Gittereingangstor eines Hauses (womit gewissermaßen die darauf folgenden Verwechslungen, Wahrnehmungslücken und Identitätsstörungen schon vorweggenommen werden). Diesen Moment kann man sicher auch als kleine Insider-Anspielung auf THE GOAT sehen, in dem ebenfalls ein Bild Busters hinter Gittern zu sehen ist, das eigentlich „falsch“ ist.
Ein besonders bizarrer Gag, den man wohl in gallizistischem Amerikanisch wohl „risqué“ nennen würde und der ein Jahrzehnt später unter der Herrschaft des Joseph Breen nicht mehr möglich gewesen wäre, arbeitet wieder mit einer Identitätsverwechslung. Das Kutschenpferd, das Buster „gekauft“ hat, fängt an zu bocken, und der „falsche Umzugshelfer“ erblickt in der Nähe ein Schild mit der Aufschrift „Dr. Smith, goat gland specialist“. Eine indirekte Anspielung auf THE GOAT? Buster hält auf jeden Fall den besagten Smith für einen Tierarzt (wenn der schon was mit Ziegendrüsen macht). In Wirklichkeit wütete in den 1920er ein Scharlatan namens John Brinkley, der mit der Transplantation von Ziegendrüsen männliche Schwäche (also Impotenz) heilen wollte. Das klingt alles witziger, als es in Wirklichkeit ist, denn nach diesen Operationen starben offenbar zahlreiche Patienten an Infektionen. Jedenfalls bringt Buster sein bockiges („schwaches“) Pferd zu besagtem Dr. Smith. Als er herauskommt, ist das Tier tatsächlich wesentlich belebter, ja sogar so quicklebendig, dass er schwer zu kontrollieren ist. Buster selbst hält kurz inne, scheint zu überlegen, kehrt dann zu Dr. Smith ohne das Pferd zurück – um seinen liegengebliebenen, charakteristischen pork-pie-Hut zu holen. Eine kleine zusätzliche Notiz zu den John Brinkley und seinen Ziegendrüsen, die sogar die Filmindustrie beeinflussten: „goat gland“ ist auch die Bezeichnung für Filme aus den Jahren 1927 bis 1929, die als Stummfilme gedreht wurden, und in denen nach Fertigstellung noch Tonpassagen eingefügt wurden (ein Beispiel wäre etwa Hitchcocks Tonversion von BLACKMAIL).
Ein wie ich finde sehr typischer, poetischer Keaton-Moment folgt in der Interaktion Busters mit „seinem“ Pferd. Das Tier verhält sich im Allgemeinen recht schwierig, und so kramt Buster ein Elektrogerät aus dem Hausrat hervor, setzt dem Pferd Kopfhörer auf, dreht die Kurbel des Fernsprechers und sagt seine Befehle in den mit den Kopfhörern verbundenen Sprachtrichter hinein: das Pferd reagiert darauf williger als auf „direkte“ Sprachbefehle.
Akrobatischer Höhepunkt von COPS ist natürlich die Leiter-Szene. Buster klettert eine lange Leiter hoch, die an einer Palisade angelehnt ist. Die Leiter ist etwa doppelt so hoch wie besagte Palisade, kippelt daher rasch von einer Seite auf die andere, bis sie irgendwann im Gleichgewicht balanciert, als sich ein Polizist gegenüber Buster an sie ranhängt. Von beiden Seiten eilen Polizisten heran, die mit der Leiter ein „Tau-Ziehen“ um Buster veranstalten, der nach Gleichgewicht suchend sogar Rückwärtsrollen machen muss. Schließlich wird er weggeschleudert – und landet natürlich auf direkt auf den von Joe Roberts dargestellten Polizisten.


Dies war nun die letzte Filmbesprechung bei „Whoknows Presents“ in diesem Jahr. Anfang Januar folgt mein persönlicher Rückblick auf das Filmjahr 2014. Und 2015 kommen dann neue Besprechungen von Manfred und mir.

Doch bis dahin wünsche ich all unseren Lesern frohe Weihnachten...


...und einen guten Rutsch ins neue Jahr!

Ein rothaariger Engel, erregte Leuchttürme und lästige Audiokommentare: 2014 in einem persönlichen Rückblick

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Und erneut ein Jahr voller Filme rum!

2014 bin ich wesentlich seltener ins Kino gegangen als in den beiden vergangenen Jahren. Das hat mehrere Gründe. Da wären zum einen temporäre finanzielle Engpässe, die einige Zeit lang meine Hemmschwelle für Kinobesuche etwas erhöhten. Zum anderen zog mich das Programm über recht lange Zeiträume nicht wirklich an: oft wochenlang blockierten deutscher Historien-Klamauk, französische FN-Werbespots (vulgo: Sommerkomödien), Curry-Duft und Indiewood-Stangenware die Kinos, die ich gemeinhin frequentiere. Einige potentiell interessante Filme kamen in Mitteldeutschland natürlich niemals an, oder ihre wenigen OmU-Vorführungen wurden in „praktische“ Frühnachmittagsvorstellungen verbannt.
Auch habe ich dieses Jahr kein Filmfestival besucht, oder zumindest kein „richtiges“: die Weimarer Asienfilmtage Taiwan–Japan im Lichthaus-Kino, offenbar eine einmalige Veranstaltung der Medienfakultät der Bauhaus-Uni, waren eher klein aufgestellt, wenngleich höchst sympathisch– ein kleiner filmischer Event-Höhepunkt des Jahres 2014. Des weiteren habe ich dieses Jahr nur sehr wenige aktuelle Filme in Lichtspielhäusern geschaut (16, im Gegensatz zu 42 im Jahr 2012 und 58 Stück 2013). Dafür vermehrt Aufführungen älterer Filme, darunter neun Keaton-, sieben Chaplin- und zwei Murnau-Filme.
Etwas unangenehm fiel mir auf, dass zumindest in meinem cinematographischen Einzugsgebiet (Mittelthüringen) die Kinokultur in den Vorführsälen selbst zunehmend verfällt. Damit meine ich nicht Popcorn-werfende Teenager in Multiplex-Kinos, sondern das, wie es so schön heißt, gepflegte, gesetzte und gutbürgerliche Publikum im Programmkino. Betont lautstark geäußerte Empörungen über die Gewalt zu DAS FINSTERE TAL, dümmliches Dauerkichern zu SANSHO DAYU und zu THE CAT AND THE CANARY, zornig gezischte Tiraden über diese miesen und manipulierenden Kommunisten zu KONEC SANKT-PETERBURGA, süffisant vorgetragene Versicherungen, was für ein dämlicher Käse das doch alles sei, zu JAWS und ein praktisch permanenter Flüsterteppich zu MAGIC IN THE MOONLIGHT. Der Audiokommentar trägt seinen Siegeszug in den Kinosaal. Schade.

Zwei aktuelle Filmtitel sind gerade gefallen – eine gute Gelegenheit, um nun also das Kino- bzw. Filmjahr 2014 Revue passieren zu lassen:


Die Top-10 2014

Unter ihnen befinden sich zwei direct-to-video-Produktionen: wirklich im Kino gesehen habe ich von der Liste nur zweieinhalb (IDA und DAS FINSTERE TAL – ALL IS LOST letztes Jahr in der Kino-Sneak, 2014 selbst nur auf DVD), den Rest auf DVD sowie über Presse-Screener und -Streamings.
Die ersten drei Filme teilen sich gleichrangig den Spitzenplatz und werden der Einfachheit halber alphabetisch aufgeführt.

1 ALL IS LOST (J. C. Chandor, USA 2013)
Wie ein guter Bourbon ohne Eis in einer Welt voller überkandidelter Mixgetränke. Ein puristischer Film ohne Dialoge, der wunderbar demonstriert, wie sehr sich ästhetische Wagnisse lohnen können.
(mehr meiner Gedanken zu diesem Film hier)

– IDA (Paweł Pawlikowski, Polen / Dänemark / Frankreich / UK 2013)
Teils Holocaust-Drama, teils Anklage gegen Antisemitismus, teils Hommage an die Polnische Neue Welle. Es ist jedoch der Entwurf eines Polens als universelle Jazz-Utopie, die diesen Film zu einer wahren Perle werden lässt.
(mehr zu diesem schönen Film in strengen Schwarzweißbildern habe ich hier auf diesem Blog schon geschrieben)

– PHOENIX (Christian Petzold, Deutschland 2014)
Die (nicht ganz) neue Mode des deutschen Jammerns über deutsche Opfer im Zweiten Weltkrieg wird in diesem wunderbaren Neo-Trümmerfilm auf wuchtige und befreiende Weise zerschlagen. Petzold will hier alles haben (Hitchcock- und film-noir-Hommage, großes Melodrama zum Mitfühlen, Identitätsspiel zum Mitdenken, delikat sublimierter Sadiconazista-Schocker) und kriegt auch alles – besonders eine Nina Hoss, die noch nie so gut war! Das Niveau, auf dem Diskussionen über diesen Film teilweise geführt werden (in etwa: „unrealistisch, natürlich würde er seine Frau wieder erkennen“), ist schier zum Verzweifeln. Beängstigend, aber in einem solchen Klima nicht wirklich verwunderlich, dass währenddessen revanchistische Historienpornos à la DER ÖNTERGANG dumm und dämlich gefeiert werden.
(mehr meiner fast grenzenlosen Begeisterung zu PHOENIX gibt es hier zu lesen)

4 SNOWPIERCER (Bong Joon-ho, Republik Korea / Tschechische Republik / USA / Frankreich 2013)
Die, ähm... „Gesellschaftskritik“ ist ungefähr so subtil und intellektuell ausgereift wie in METROPOLIS, doch die schiere Wucht der Bilder hat es auch in SNOWPIERCER wirklich in sich. Aus vielen wunderbaren Einzelszenen (das Sushi-Dinner, die Neujahrsschießerei, die Schulstunde etc.) und der großen Dynamik des brutal reduzierten Raumes entsteht etwas, das die relativ kleine Summe seiner Prämisse bei weitem sprengt.

5 DAS FINSTERE TAL (Andreas Prochaska, Österreich / Deutschland 2014)
Ein klassischer Western in einem unklassischen Setting. Das Genre ist einfach nicht tot zu kriegen – und das ist auch gut so.

6 POMPEII (Paul W. S. Anderson, Kanada / Deutschland / USA 2014)
Ein Fresko im wahrsten Sinne: kein „fotografischer“, sondern ein durch und durch „malerischer“ Film, der seine wunderbare Geschichte über eine paradoxe und unmögliche Männerfreundschaft sowie über eine gesellschaftlich zum Scheitern verurteilte Liebe über Klassengrenzen hinweg mit glasklarer und knochenharter Action, überlebensgroßem Melodrama und einer kleinen Prise Muskel-, Schweiß- und Lederoutfit-Fetisch flankiert. Auch ein humanistischer Film über den Kampf gegen das unumgängliche Schicksal.

7 THE WOLF OF WALL STREET (Martin Scorsese, USA 2013)
„Der Film eines freien Mannes“ – mit diesen Worten verteidigte einst Roberto Rossellini Chaplins A KING IN NEW YORK (den ich zugegeben selber schier fürchterlich finde). Auch THE WOLF OF WALL STREET fühlt sich wie der Film eines freien Mannes an, eines Meisters, der niemandem noch etwas schuldig ist und sich herausnimmt, ein monströses, massloses und dreistündiges Sleaze-Epos im Paul-Verhoeven-Autopilot-Modus herauszuhauen! Nicht nur wegen des Sex‘n‘Drugs-Inhalts Scorseses bislang vielleicht gewagtester Film, sondern auch, weil eine moralische „Lehre“ ausbleibt: die strafende oder milde Hand Gottes (bzw. Scorseses als dessen Stellvertreter auf dem Regiestuhl) erschlägt und erlöst hier niemanden. Ist dies eine Wende Scorseses zu reineren, „intellektuelleren“ Filmen?

8 GUTSHOT STRAIGHT (Justin Steele, USA 2014)
Direct-to-video, die Erste: Der wiedergeborene poverty-row-noir im direct-to-video- und Pseudo-Seagal-Actioner-Schafspelz.
(zu diesem hervorragenden neo-noir habe ich mich schon vor kurzem hier auf diesem Blog ausführlicher geäußert)

9 ENEMIES CLOSER (Peter Hyams, USA / UK 2013)
Direct-to-video, die Zweite: minimalistischer und aufs wesentlichste reduzierter Actionfilm mit beinhart inszenierten Kämpfen, der das maximale aus seiner simplen Prämisse zieht (ein paar Männer jagen sich nachts durch einen Wald). Schier grandios spielt Jean-Claude Van Damme als exzentrischer Bösewicht mit Wuschelfrisur und veganem Ernährungsplan auf: der Mann wird langsam aber sicher zu einem Schauspiel-Auteur.
(mehr meiner Gedanken zu diesem Film hier)

10 NEED FOR SPEED (Scott Waugh, USA / Philippinen / Irland / UK 2014)
Eigentlich ein völlig generischer Carsploitation-Film nach Schema F, dem statt 132 Minuten nur 90 Minuten Laufzeit mehr als gut getan hätten. Seine Stärken (mitreissende Verfolgungsjagden mit wenig CGI, Verzicht auf die „bro‘ness“-Dämlichkeit und stumpfsinnigen Familienparolen der FAST & FURIOUS-Filme) wären dann etwas deutlicher gewesen. Wirklich interessant ist sein deutliches Angebot, die Protagonisten als sozial gestörte und überverwöhnte Mittelstandsgören zu sehen. Fast nicht zu glauben und in einem solchen Mainstream-Film geradezu ungeheuerlich sind die Bilder gebrochener Männlichkeit am Schluss: der „Held“ liegt auf dem Boden, schaut zu einem phallisch geformten und von einem Zaun eingehegten Leuchtturm hoch, und beginnt zu weinen.
(mehr zu dieser bizarren Mischung aus Carsploitation und Momenten des Irrsinns gibt es aus meiner Feder hier zu lesen)

Für lobens- und erwähnenswert halte ich außerdem noch die bittersüß-sauere und melancholische Meditation über Liebe und Einsamkeit POLIZEIRUF 110: MORGENGRAUEN, die humorig-haarige, aber ernstgemeinte Variante des provinziellen Cop-Actioners WOLFCOP, die schauererregende Mockumentary THE SACRAMENT, den kurzweiligen Action-Klamauker bzw. Klamauk-Actioner BADGES OF FURY / BU ER SHEN TAN sowie den furiosen und explosiven THE RAID 2: BERANDAL.

Jetzt zu den weniger erfreulichen Filmen des Jahres...


Die Flop-10 2014

Den Spitzenplatz der Schande belegen vier Machwerke, die ich nicht nur als Filme für misslungen halte, sondern auch als zutiefst unethisch empfinde, weil sie ihren dezidierten Antihumanismus nicht offen ausstellen und zu ihm stehen, sondern narrativ und ästhetisch zu verschleiern versuchen. Geordnet sind sie nach absteigendem Grad persönlicher Empörung.

1 MATAR A UN HOMBRE (Alejandro Fernández Almendras, Chile / Frankreich 2014)
Wie paradox: ein Film, der das Vigilanten-Genre offenbar ausgerechnet in den Köpfen jener Leute rehabilitiert, die Michael Winner für den Stellvertreter Satans auf Erden hielten. Wo der Brite jedoch seine Filme eindeutig als delirierende Genre-Fantasien oder gar als dunkle Reise in die Gemütszustände eines Psychopathen konzipierte, hat Fernández ein auf „Arthouse“ getrimmtes Produkt geschaffen, das mit seinen penetranten Realismusstrategien gerne als Sozialdrama wahrgenommen werden möchte – und somit bereitwillig oder mindestens billigend in Kauf nehmend eine gefährliche, reaktionäre Gewaltfantasie salontauglich macht. Paul Kersey würde diesen Film lieben.

– FINDING VIVIAN MAIER (John Maloof, Charlie Siskel, USA 2013)
Mit John Maloof hat die geniale Straßenfotografin Vivian Maier einen denkbar schlechten Verwalter ihres Erbes „gefunden“. Der stets etwas zu selbstgefällig grinsende Kulturwissenschaftler will mit seinem Film hauptsächlich demonstrieren, wie cool er selbst ist, und was eine komische Frau Vivian Maier doch war: Kunstfotos schießen und dann nicht veröffentlichen? So was machen doch nur verrückte Freaks! Eine Meinung, die er sich dann in endlosen „talking heads“-Montagen von den ehemaligen Arbeitgebern und Schutzbefohlenen Maiers bestätigen lässt. Dabei erfahren wir mehr über selbstgerechte Klassenressentiments (neu)reicher Amerikaner als über Vivian Maiers Werk, das die Macher offenbar so oder so nicht interessiert. Arrogant, kunstfeindlich, borniert und mit einem repressiven Menschen- und Gesellschaftsbild ausgestattet.

– EINMAL HANS MIT SCHARFER SOßE (Buket Alakuş, Deutschland 2013)
Ein Pseudo-Multikulti-Machwerk, das in seinem schlichten Verständnis der Welt im Prinzip ganz gut zum CSU- oder AfD-Stammtisch passen würde. Das Politische ist privat, Gesellschaft gibt es eh nicht und das Ethnische determiniert alles: Kosmopoliten sind in diesem Universum entweder Vollidioten oder gestörte Neurotiker (ein Minirock um die Hüften, ein anatolisches Dorf im Hinterkopf). Als Beweis dafür, warum 35mm-Film billige Pixelwolken haushoch schlägt, ist der Film allerdings wunderbar.

– NEBRASKA (Alexander Payne, USA 2013)
Alexander Payne, Gallionsfigur und führender Zyniker des „Indiewood“-Kinos der falschen Gefühle um die immergleichen „schrulligen“ Figuren und dysfunktionalen Familien, präsentiert hier sein bisher „ultimatives“ Produkt. Humor gibt es wieder einmal nur, indem Figuren bloß gestellt (alte-Menschen-Witze) oder hochnäsig von oben herab behandelt werden (Redneck-Karikaturen im bequemen Selbstvergewisserungs-Modus) – und über die Frauenfiguren reden wir mal lieber nicht. Die billigdigitalen Bilder in Dunkelgrau-Hellgrau schreien zwar lauthals „Ich bin Kunst, nimm mich gefälligst wichtig!“, sind aber einfach nur hässlich.

der Rest – eher zufällig angeordnet

5 KVINDEN I BURET (Mikkel Nørgaard, Dänemark / Deutschland / Schweden 2013)
Der bemüht wuchtige deutsche Verleihtitel „Erbarmen“ bläst diesen miesen Krimi zu einer Dimension auf, die ihn noch lächerlicher erscheinen lässt. Pappfigürchen aus abgestandenen Klischees werden durch die to-do-Liste einer Schwedenkrimi-Karikatur gejagt – und zwischendurch gibt es kleine torture-porn-Einlagen gegen das Einschlafen.
(mehr „Begeisterung“ meinerseits gibt es hier zu lesen)

6 ENEMY (Denis Villeneuve, Kanada / Spanien 2013)
Gelbblenden sahen schon bei Soderbergh (und besonders MAGIC MIKE) so aus, als würde der Film durch eine Urinprobe hindurch fotografiert werden. Aber im Grunde passt das auch zu einem Werk, das die Bedrohungssituation seiner Prämisse (läuft ein Doppelgänger durch die Gegend) lediglich behauptet und dem Zuschauer mit laut tönender Musik, krampfhaften Grotesk-Elementen und besagter Gelbblende einhämmern möchte.

7 MAPS TO THE STARS (David Cronenberg, Kanada / USA / Deutschland / Frankreich 2014)
Kasperletheater mit Kasperlefiguren, die im öden Schuss-Gegenschuss-Modus Expositions-Dialoge mit pseudoklugem Name-Dropping von sich geben. Mia Wasikowska runzelt ein bisschen die Stirn, Juliane Moore kann nur „hysterisch“ oder „katatonisch“ und John Cusack sieht aus, als würde er sehnsüchtig von seiner nächsten Rolle in einem kernigen DTV-Actionfilm träumen. Wahrscheinlich war MAPS TO THE STARS gerade aufgrund meiner Erwartungen und Hoffnungen die größte Enttäuschung des Jahres: der tolle COSMOPOLIS hatte nach der fürchterlichen Viggo-Mortensen-Trilogie schließlich einen neuen Aufschwung in Cronenbergs Karriere angekündigt. Stattdessen gibt es einen Film, der sich für mich ein bisschen wie Robert Aldrichs THE BIG KNIFE angefühlt hat, nur halt mit mehr als nur einem Handlungsort. Wir können nur hoffen, dass es mit dem nächsten Cronenberg-Film mehr in Richtung WHAT EVER HAPPENED TO BABY JANE? geht?

8 LE WEEK-END (Roger Michell, UK / Frankreich 2013)
Ein älteres britisches Ehepaar, das eine gute Steilvorlage für müde Witzchen über ältere Menschen abgibt, wird gelangweilt durch ein Klischee-Paris und durch eine Beziehungskrise mit Streit, Wiederannäherung dank „verrückter“ Streiche, neuer Krise und Wiederversöhnung gejagt. Jean-Luc Godard würde sich wohl die Augen aus dem Kopf reissen, wenn er die plumpe Hommage an ihn in diesem „Qualitätsfilm“ sähe.
(für meine etwas ausführlichere Abkanzelung dieser öden RomCom siehe hier)

9 MILLIONEN (Fabian Möhrke, Deutschland 2013)
Ein langweiliger Angestellter knackt den Jackpot und entdeckt dann, dass viel Geld nicht viel glücklich macht – oder: die Karikatur eines TV-Drämchens, das einen auf „gesellschaftlich relevant“ macht. Diesen Film direkt im Anschluss an den wunderbaren TENEBRE zu gucken, hat ihn natürlich nicht besser aussehen lassen.

À propos Dario Argento...

10 DRACULA 3D (Dario Argento, Italien / Frankreich / Spanien 2012)
Argento hat offensichtlich keine Lust mehr, Filme zu drehen, tut es aber dennoch – aus Gewohnheit oder weil er sich trotzig weigert, seine wohlverdiente Rente anzutreten. Statt kunstvoller Beleuchtung und barocker Gewalteffekte gibt es gelangweilt zusammengezimmerte Computerbilder. Trotz anderweitiger Behauptungen waren die Schauspielleistungen in seinen 1970er- und 1980er-Filmen immer recht gut. Hier jedoch ödet sich Thomas Kretschmann mit soviel Charisma wie der Protagonist von MILLIONEN durch die Titelrolle, während Rutger Hauer wohl beim Drehen an seinen Gehaltscheck, oder an die Zeit mit Paul Verhoeven oder an lustige Katzenbilder, sicherlich aber nicht an seine Van-Helsing-Rolle dachte. Dem ganzen setzt Unax Ugalde als Jonathan Harker die Krone auf: wie ein betrunkener Pausenclown grimmassiert er unkontrolliert vor sich hin, als wären die ganzen hölzernen Dialoge, an die er sich offenbar nur mühsam erinnert, so schrecklich lustig. Aber DRACULA 3D ist als filmischer Totalunfall nicht lustig, sondern furchtbar traurig.

Damit die Traurigkeit nicht Überhand nimmt, folgt nun das Herzstück meines cinematographischen Rückblicks auf das Jahr 2014. 


2014: mein persönlicher Kanon filmischer Entdeckungen

52 Filme für 52 Wochen.
Wie bei den vorherigen Listen kann ich mich auch hier nicht für nur einen Spitzenplatz entscheiden. Ich liste daher die ersten drei in der Reihenfolge der Sichtung.

1 KNIGHTRIDERS (George A. Romero, USA 1981)
Die politischen und sozial-ökonomischen Anliegen der Zombiefilme wird hier mit einer Gruppe von Mittelalterschaustellern auf Motorrädern noch radikalisiert – zu einem berührenden, humanistischen Film, der fast keinen Plot, aber dafür einen wunderbaren Flow hat.

– VENGEANCE IS MINE aka DEATH FORCE (Cirio H. Santiago, USA / Philippinen 1978)
Der ultimative Beweis für die enorme filmische und emotionale Kraft, die Exploitation-Kino haben kann.
(wesentlich mehr Worte zu diesem cinematographischen Schatz verfasste ich unlängst schon auf diesem Blog)

– THE WANDERERS (Philip Kaufman, USA 1979)
It was The Wanderers against the world... and the world never had a chance! Ich auch nicht...

4 PROFONDO ROSSO – italienische Integralfassung (Dario Argento, Italien 1975)
Nicht nur ein toller Film über „falsches“ Sehen und getrübte Erinnerung, sondern auch ein faszinierendes Spiel mit Geschlechterrollen. Mit einem tollen David Hemmings als Marcus, der nicht nur einen Mörder sucht, sondern auch seine Identität als Mann. Und die Musik, oh die Musik!

5 AN ANGEL AT MY TABLE (Jane Campion, Neuseeland / Australien / UK 1990)
Künstler-Biopics erzählen von ihren Subjekten oft mit dem Charme eines tabellarischen Lebenslaufes. Campion und Kerry Fox‘ Augen erzählen jedoch wirklich vom Leben, vom kreativen Schaffen und überhaupt von der Erfahrung entfremdeten Menschseins. Identifikation mit Filmfiguren ist so eine Sache, aber Kerry Fox' Janet Frame ist mir sehr ins Herz gewachsen.

6 KARLA (Hermann Zschoche, Deutsche Demokratische Republik 1965/1990)
Noch nie schien die Möglichkeit, von einem verlorenen Provinzkaff in ein noch verloreneres Provinzkaff zu ziehen, so befreiend.

7 SPETTERS (Paul Verhoeven, Niederlande 1980)
Begehren zwischen Motocross-Rennstrecke, Frittenbude und Bett. Verhoeven zeigt sich als melancholischer (wenngleich etwas verzweifelter) Humanist, der seinen Figuren viel mehr Brüche zumutet als die Moralapostel, die ihn niederschrie(b)en. Die heftigen Reaktionen auf diesen Film formten seinen Entschluss, in die USA zu gehen – in der Hoffnung, dort ohne Eklats arbeiten zu können... nun ja...

8 DERNIER DOMICILE CONNU (José Giovanni, Frankreich / Italien 1970)
Ein Film über eine frustrierende Vermisstensuche, die sich unendlich im Kreis dreht. Er enthält nicht nur die vielleicht brutalste, körperlichste und schmerzhafteste Faustkampfszene, die je auf Zelluloid gebannt wurde, sondern auch ein unendlich trauriges Ende: Inspektor Leonetti fährt nach getaner Arbeit niedergeschlagen und einsam nach Hause zurück. Die Musik verfolgt mich bis heute.

9 WIND ACROSS THE EVERGLADES (Nicholas Ray / Budd Schulberg, USA 1958)
Der wohl erste Backwood-Film und Öko-Thriller überhaupt. Das wüste Kollektivbesäufnis bringt das angespannte Vibrieren, das die ganzen Sumpfbilder prägt, schließlich zum Platzen.

10 JOSHUU 701-GÔ: SASORI (Itō Shunya, Japan 1972)
Kabuki meets Hollywood-Musical meets women-in-prison-Exploitation: eine wilde, wilde, wilde Achterbahnfahrt. Wie japanische Genre-Filme der 1970er das Cinemascope nutzen, um ihre Bilder teils komplett zu kippen (Fukasaku macht es auch), verblüfft mich immer wieder.

11 A FAREWELL TO ARMS (Frank Borzage, USA 1932)
Mein erster und bisher einziger Borzage, aber spontan würde ich sagen, dass er der bessere Sternberg ist, wenn es um malerische Lichtsetzung geht.

12 MAN WITHOUT A STAR (King Vidor, USA 1955)
Fast schon avantgardistisch in seinem völligen Verzicht auf jeglichen Plot: der Film lebt nur für jeden kleinen Moment, aber das mit Haut und Haaren. Kirk Douglas in der absoluten Blüte seiner Schauspielkunst ist dabei natürlich eine große Hilfe: er spielt einen Cowboy, der nach dem nächsten Stück Leben sucht, um sich daran zu laben. Ein steifer Drink, ein Banjo, eine schöne Frau – bloß kein Stacheldraht (LONELY ARE THE BRAVE war das passende inoffizielle Sequel).

13 WILD RIVER (Elia Kazan, USA 1960)
Ein wilder Strom, in der Tat! Würde aufgrund seiner Thematik mit WIND ACROSS THE EVERGLADES sicher ein tolles Double-Feature geben – oder mit Kazans anderem Meisterwerk SPLENDOR IN THE GRASS.

14 HANYO (Kim Ki-young, Republik Korea 1960)
Lust, Mord, nasse Fenster und purer Irrsinn.
(mehr aus meiner Feder zu diesem Wunderwerk, seinen Variationen und seinem Macher hier auf diesem Blog)

15 THE HITCHER (Robert Harmon, USA 1986)
Ob je ein Serienmörder im Film so zärtlich guckte wie Rutger Hauer?

16 BASIC INSTINCT (Paul Verhoeven, USA / Frankreich 1992)
Neo-noir im Kater-Modus: das Licht zu hell, die Luft zu schwül, das ganze Ambiente zu schmierig, die Musik zu prollig (aber irgendwie geil) und die Menschen machen und sagen komische, verwirrende Sachen.

17 IM STAUB DER STERNE (Gottfried Kolditz, Deutsche Demokratische Republik 1976)
Wüster, psychedelischer SciFi-Camp mit Kosmonauten und Marsianern auf Acid und in ledernen Fetischklamotten, die sie bisweilen ausziehen, um besser tanzen zu können – und das „made in GDR“.

18 HIROSHIMA MON AMOUR (Alain Resnais, Frankreich / Japan 1959)
Hat über Film und das Filmemachen wesentlich mehr zu sagen als über Hiroshima und die deutsche Besatzung in Frankreich – worüber wiederum er mehr zu sagen hat als die meisten anderen Filme.

19 CHEMIE UND LIEBE (Arthur Maria Rabenalt, Deutschland–SBZ 1948)
Screwball- und Industriespionagekomödie, die bisweilen so aussieht, als hätten sich Fritz Lang (diese assoziativen Bild-Ton-Überlappungen), Max Ophüls (diese ballettartigen Plansequenzen) und Sergej Eisenstein (diese furiosen Montagen) um den Regiestuhl geprügelt. Ein Blick auf AM ABEND NACH DER OPER zeigt dennoch, dass der biografisch problematische Rabenalt offenbar von Haus aus ein begnadeter Formalist war.

20 SATURDAY NIGHT FEVER (John Badham, USA 1977)
New Hollywood goes disco? Nein, eher Disco goes New Hollywood. Ein erstaunlich düsterer Film. Deshalb wirken die kleinen Portionen Fröhlichkeit wie Oasen in einer Wüste.

21 VERFÜHRUNG AM MEER (Jovan Živanović, Bundesrepublik Deutschland / Jugoslawien 1963)
Der erotischste Film, den ich dieses Jahr gesehen habe. Živanović verbindet mit den Mitteln der Neuen Jugoslawischen Welle die verführerische Elke Sommer, Peter van Eyck und die Landschaft der verlassenen Adriainsel so konzise zu einer untrennbaren Einheit, bis schließlich sogar die Wellen und das Steingeröll schwüle Erotik ausstrahlen.

22 INHIBITION (Paolo Poeti, Italien 1976)
Ich habe diesen Film etwas müde und leicht angetrunken gesehen: ideal, denn dann ist man ihm komplett ausgeliefert. Italo-Sleaze, der den Geist der völlig freien Form atmet, und jegliche Spur eines Handlungsfaden links liegen lässt. Stattdessen gleitet die Kamera durch Blicke und macht Liebe mit den Figuren. Und wer würde bei einem solchen Soundtrack nicht dahinschmelzen.

23 BUG (William Friedkin, USA / Deutschland 2006)
Ein Kollege bezeichnete Friedkin einst in einer sehr schönen Besprechung als begnadeten Formalisten, dem mit den Maßstäben des Erzählkinos nicht beizukommen sei. BUG ist in diesem Sinne ein archetypischer Friedkin-Film: Theaterverfilmungs-Kammerspiel als irrsinniger Höllentrip.

24 EMPEROR OF THE NORTH POLE (Robert Aldrich, USA 1973)
Als bizarrer Actionfilm über den verbitterten Herrschaftskampf um einen Zug richtig toll. Aber bei Aldrich gibt es immer noch viel mehr zu entdecken, wie bei diesen beiden schönen Reviews hier und hier zu lesen ist.

25 ZWARTBOEK (Paul Verhoeven, Niederlande / Deutschland / UK / Belgien 2006)
Jeder hat seine Gründe, sagte einst Renoir. Stimmt, sagt Verhoeven, aber sie sind oft nicht besonders schön.

26 L‘UOMO, L‘ORGOGLIO, LA VENDETTA (Luigi Bazzoni, Italien / Bundesrepublik 
Deutschland 1967)
„Carmen“, erzählt als Italowestern, in dem wilde Reisszooms, Unschärfen und elliptische Schnitte von der stürmischen Leidenschaft zwischen José (Franco Nero) und Carmen (Tina Aumont) künden.
(ein bisschen mehr von mir zu diesem Film und überhaupt zu Franco Nero hier)

27 KONEC SANKT-PETERBURGA (Vsevolod Pudovkin / Michail Doller, UdSSR 1927)
Weniger bombastisch, blockig und monumental als Eisenstein. Wesentlich freier atmend.

28 DONOVAN‘S REEF (John Ford, USA 1963)
Die Südsee als radikale soziale Utopie – und als ein unexotischer, weil völlig familiärer Ort. Das „exotische Fremde“ ist vielmehr die „zivilisierte“ Puritanerin aus Boston.
(Kluge Worte von Hans Schmid zu diesem so entspannenden wie entspannten und intelligenten Spätwerk Fords gibt es hier)

29 MATINEE (Joe Dante, USA 1993)
Rock‘n‘Roll kann Leben retten, sang einst Lou Reed. Und Film rettet die Menschheit vor der atomaren Apokalypse.

30 PARIS, TEXAS (Wim Wenders, Bundesrepublik Deutschland / Frankreich / UK / USA 1984)
Ein Acid-Western, der sich zum Acid-Roadmovie, dann zum Acid-Melodrama wandelt.

31 YOIDORE TENHSI (Kurosawa Akira, Japan 1948)
Wenn in China ein Sack Reis umfällt, macht sich gemeinhin Desinteresse breit. Wenn in Japan ein Topf mit weißer Farbe umkippt, ist das schon eine ganz andere Geschichte.

32 DER ROTE RAUSCH (Wolfgang Schleif, Bundesrepublik Deutschland 1962)
Im Grunde eine Art strukturelles Sequel zu Fritz Langs M: ein Triebmörder wird mit einer Gesellschaft am Rande der kollektiven Lynchhysterie konfrontiert. Da dies nun aber ein Nachkriegsfilm ist, entpuppt er sich zugleich als bittere, verklausulierte Abrechnung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und ihren Mördern.

33 OPERA (Dario Argento, Italien 1987)
Argento soll nicht mit Schauspielern umgehen können? Die Hauptdarstellerin, die Kamera, ist doch göttlich. Der Rabenflug Argentos schlägt meiner Meinung nach den Hummelflug Rimski-Korsakows – aber das ist natürlich eher metaphorisch als wörtlich zu verstehen.

34 FROM BEYOND (Stuart Gordon, USA 1986)
Splatter-Kammerspiel vom Feinsten.
(mehr Worte von mir zu diesem Film, den ich RE-ANIMATOR vorziehe, hier)

35 BLOOD SIMPLE (Joel Coen / Ethan Coen, USA 1984)
Vielleicht hat mich die wunderschöne und kuschelige Wärme einer 35mm-Kopie in exzellentem Zustand (Leihgabe eines Wiener Filmclubs!) einfach nur überwältigt. Oder die Tatsache, dass der Film eben nicht originell ist, sondern schlicht nur perfekt getimetes noir-feeling bietet – mit einem Schuss Giallo am Ende.

36 SKIDOO (Otto Preminger, USA 1968)
Gilt gemeinhin als DER „baddie“ in der Preminger-Filmografie. Warum? Wie kann man bloß einen Film mit einer herrlichen Frau-in-der-Wohnung-verstecken-Szene, einer Mülltonnen-Ballett- und Song-Einlage auf LSD und komplett gesungenen End-Credits schlecht finden? Zumal derartig perfekt von einem Altmeister inszeniert.

37 DE NÅEDE FÆRGEN (Carl Theodor Dreyer, Dänemark 1948)
Carl Theodor Dreyer – Godfather of Biker Exploitation Movie!
(wem diese Erklärung zu wenig gibt und mehr über Dreyer erfahren möchte, sei auf diesen blogeigenen Artikel Manfreds verwiesen)

38 TREMORS (Ron Underwood, USA 1990)
Fred Ward, Kevin Bacon und Monsterwürmer – was braucht man denn mehr?

39 TIM FRAZER JAGT DEN GEHEIMNISVOLLEN MR. X (Ernst Hofbauer, Österreich / Belgien 1964)
Wallace-Abklatsch als inspirierter Reigen des Irrsinns.
(mehr Worte von mir zu diesem Film hier auf diesem Blog)

40 COONSKIN (Ralph Bakshi, USA 1975)
Some Like It Hotter!

41 IREZUMI (Masumura Yasuzō, Japan 1966)
„Ich habe gerade einen fürchterlichen, blutrünstigen japanischen Film gesehen“ – beklagte sich eine Ko-Zuschauerin nach der Vorführung ihrem Gesprächspartner am Mobiltelefon gegenüber. Ich hab was anderes gesehen: eine große Tragödie der fatalen Schicksalsschläge (bzw. einen japanischen noir im Gewand eines Kostümfilms).

42 VICKY CRISTINA BARCELONA (Woody Allen, USA / Spanien 2008)
Woody Allens formalistischster Film. Pedantische Off-Erzähler-Exposition und krampfhaft abgearbeiteter Plot wechseln sich mit luftig-leichter Atmosphäre und rauschhaftem Schwelgen ab – das Schwanken der Figuren zwischen lebensweltlichen Hemmungen und emotionaler Befreiung wird so nicht diskursiv, sondern formell greifbar.

43 LE GENOU DE CLAIRE (Eric Rohmer, Frankreich 1970)
Nach einem fürchterlichen Start mit LA COLLECTIONNEUSE verstehe ich (mich mit) Rohmer immer besser.

44 TENSPEED & BROWN SHOE (diverse Regisseure, USA 1980)
Ein witziges und frisches Spiel mit den Klischees des Trickbetrüger- und hard-boiled-Genres. Unglaublich, dass diese schöne TV-Serie mit Ben Vereen und Jeff Goldblum so rasch abgesetzt wurde.

45 DER VERZAUBERTE TAG (Peter Pewas, Deutschland 1943/1947/1951)
Poetischer Realismus made in Third Reich: ein Film, der den Nazis zu zärtlich war – und den späteren Beschützern von Jugend, Tugend und Vaterland ebenso.

46 THE LIMITS OF CONTROL (Jim Jarmusch, USA / Japan 2009)
Der ultimative Lackmustest für Jarmusch‘isten, der nur noch aus Rhythmus, Musik, ritualisierten Gesten und Details besteht.

47 THE WARRIORS (Walter Hill, USA 1979)
Extrem kompakt, reduziert, quasi abstrakt, auch ein bisschen kalt – fast wie eine Versuchsanordnung. Aber so ein Chemiebaukasten übt nicht umsonst große Faszination aus (besonders, wenn er in die Luft geht).

48 THE STUNT MAN (Richard Rush, USA 1980)
Die Achterbahnfahrt aus Slapstick-Komödie, Paranoia-Thriller, Film-im-Film-Film und Melodrama ist schön. Doch das Sahnehäubchen ist Peter O‘Toole als dandyhafter Halbgott-Regisseur, der durch sein Set schwebend mit Zuckerbrot und Peitsche um sich schlägt.

49 LIMONÁDOVÝ JOE ANEB KONSKÁ OPERA (Oldřich Lipský, ČSSR 1964)
Ein Slapstick-Western in Cinemascope und in gelb-viragiertem Schwarzweiss aus einem Land, das zwölf Jahre zuvor noch im stalinistischem Ausnahmezustand war: die bizarrsten Überraschungen kommen so oft aus dem Osten!

50 DE FEM BENSPÆND (Jørgen Leth / Lars von Trier, Dänemark / Schweiz / Belgien / Frankreich 2003)
Als Gedankenspiel über die Befreiung von Kunst durch ihre radikale Beschränkung wohl wesentlich fruchtbarer als das Dogma-Manifest.

51 LIEBE ’47 (Wolfgang Liebeneiner, Deutschland–britische Besatzungszone 1949)
Ausgerechnet einer der größten Nazi-Mitläufer wirft Zuschauern, die an Selbstvergewisserung à la IN JENEN TAGEN gewöhnt waren, die Kriegsbegeisterung und die ganz realen Nazis ins Gesicht.

52 UN DRÔLE DE PAROISSIEN (Jean-Pierre Mocky, Frankreich 1963)
Faszinierend, wie Mocky seinen eigentlich heuchlerischen Protagonisten (adelig, aber verarmt, klaut professionell Geld aus Spendenboxen in Kirchen) zum Helden und zum Kämpfer gegen die Symptome einer Existenz macht, deren Problematik er aus lebensweltlicher Beschränktheit nicht erkennt.

Wozu ich meine freie Zeit im Jahr 2014 unter anderem auch genutzt habe: mehr oder minder berühmte Film-Franchises nachholen, die bisher noch nicht gesehen hatte (bis auf den ersten DIE HARD alles Erstsichtungen).


Berühmte Filmreihen – nachgeholt

DIE HARD

– DIE HARD (John McTiernan, USA 1988)
Zum vierten oder fünften Mal gesehen: immer noch unschlagbar gut.

– DIE HARD 2 (Renny Harlin, USA 1990)
Ein netter Actionfilm, nicht mehr und auch nicht weniger. Ihm fehlt auf der einen Seite das ruhige Erzählen des ersten Teils in seiner schönen Exposition (oder besser gesagt: seinem „Aufwärmen“) und andererseits dessen Dringlichkeit.
(für eine alternative Sicht siehe diese schöne, leidenschaftliche Verteidigung eines Renny-Harlin-Fans)

– DIE HARD: WITH A VENGEANCE (John McTiernan, USA 1995)
McTiernans effektvolle Regie knüpft fast wieder an die Qualität des ersten Teils an, und es war wieder mal Zeit für einen Bösewicht mit deutschem Akzent.

– LIVE FREE OR DIE HARD (Len Wiseman, USA / UK 2007)
Zweifelsohne die größte Überraschung bei meinem kleinen DIE HARD-Durchgang! Alles an ihm schrie „seelenloses Sequel zum Zuschauer-Abmelken“, und Wiseman war im Hinterkopf als der Regisseur abgespeichert, der genau letzteres beim fürchterlichen und inkompetent inszenierten TOTAL RECALL-Remake gemacht hat. Stattdessen trägt McClane seine analoge Badass‘igkeit erfolgreich in das Internetzeitalter hinüber und kämpft sich durch erstaunlich gut inszenierte Actionsetpieces hindurch.

– A GOOD DAY TO DIE HARD (John Moore, USA 2013)
Allerdings immer ein schlechter Tag, um diesen Mist zu gucken!


STAR WARS

– STAR WARS (George Lucas, USA 1977)
Der Western.
Lucas verbeugt sich vor Kurosawa und Ford, und zweifelsohne sind der erste Teil und besonders die Szenen in der intergalaktischen Frontier-Stadt schier großartig. Toll auch, wie Chewie Han Solos griechischer Chor und externalisierter Gefühlshaushalt in einem ist. Geruch und Weichheit seines Fells sind fast spürbar, wie überhaupt der Film größtenteils sehr sinnlich und taktil ist.

– THE EMPIRE STRIKES BACK (Irvin Kershner, USA 1980)
Der Universal-Gothic-Film.
Warum so viele Fans ausgerechnet diesen Teil als den stärksten der Reihe sehen, ist mir ein Rätsel. Das erste Drittel ist ein Expositionsklotz, in dem die Figuren fast eine Dreiviertelstunde lang „Hallo, hier bin ich wieder“ rufen. Dann kommen wir endlich bei Yoda an, dessen Lebensumgebung einem Universal-Studioset aus den 1930er nachempfunden zu sein scheint: dunkler Wald, viel Nebel, herrlich atmosphärisch.

– RETURN OF THE JEDI (Richard Marquand, USA 1983)
Der Troma-Exploiter.
Jabbas Höhle mit dem unförmigen Gastgeber, der überdrehten Atmosphäre des Irrsinns, dem wüsten Dekor und der latenten Gewalt sieht wie die intergalaktische Partnerstadt von Tromaville aus. Die Handlung und die Ästhetik passen sich an: fast totaler Kontrollverlust, bei dem das Auftauchen der Ewoks nicht wirklich Abhilfe schafft – und irgendwie ist das ganz sympathisch. Der Höhepunkt der Reihe!


THE LORD OF THE RINGS

Mit den Erwartungen oder den Nicht-Erwartungen ist das so eine Sache... Wirkliches Interesse an der Mittelerde-Saga an sich hatte ich noch nie. Die Neugier auf die Frage, warum denn so viele Menschen von „Meisterwerk“ und „größte Filme aller Zeiten“ und anderen Superlativen sprechen (und zwar in aller Regel so, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt), war verhältnismäßig sogar größer. Ein guter Freund, der mich immer wieder bei Treffen und Telefonaten mit Hinweisen auf diese Franchise nervte und mir unterstellte, ich hätte von Filmen ja überhaupt keine Ahnung, wenn ich „Herr der Ringe“ nicht kenne, hat mit seiner Penetranz irgendwann das Fass zum Überlaufen gebracht: Scheiben raus aus der Stadtbücherei, rein in den Player!

– THE FELLOWSHIP OF THE RINGS (Peter Jackson, USA / Neuseeland 2001)
Ein Vokuhila mit Grinsegesicht und ein blütenreiner Held brechen zu lustigen Abenteuern auf. Bleiben als interessante Charaktere nur Sméagol (war der überhaupt im ersten Teil? – für mich verschwimmt das irgendwie alles) und Boromir: die beiden einzigen zwei Figuren, bei denen nicht beim ersten Anblick schon klar ist, worauf die hinauslaufen. Leider ist Sméagol ein Pixelklumpen, und Boromir stirbt, bevor er überhaupt für so etwas wie einen Konflikt sorgen kann...

– THE TWO TOWERS (Peter Jackson, USA / Neuseeland 2002)
Boromir ist tot und Peter Jackson schindet noch mehr Zeit, indem er die „und was im letzten Teil passierte“-Erklärungen auswalzt. Sam stellt sich langsam aber sicher als der eigentlich treibende Protagonist heraus – und wie er Vokuhila immer als „Frodo-Sir“ bezeichnet, ist schon ziemlich gruselig. Gruseliger als der Pixelklumpen, der die beiden begleitet.

– THE RETURN OF THE KING (Peter Jackson, USA / Neuseeland 2003)
Sméagol ist der eigentliche tragische Held der Reihe. Die einseitige Rezeption seiner Gollum-Dimension macht deutlich, wie stark viele Fans auf simple Eindeutigkeiten setzen – wofür Peter Jackson im Grunde nichts kann. Einige Bilder zu Beginn dieses Teils deuten darauf hin, wie Sméagol, gespielt von einem richtigen Schauspieler in Makeup, hätte aussehen können: nämlich richtig interessant. Stattdessen gibt es Pixelklumpen (dafür wiederum kann Jackson etwas). Und Lauftzeitschinden in wahrhaftig epischer Dimension. Die Tendenz, auch wirklich alles zu Tode erklären zu müssen, wird im Schluckauf-Ende noch einmal richtig deutlich.

Ich will jetzt die „Herr der Ringe“-Reihe nicht als Prototyp eines neuen seelenlosen Blockbuster-Kinos verdammen. Mir hat sie aber jedenfalls jenseits einiger vereinzelt netter Momente kaum etwas Positives gegeben, dafür aber viel Ödnis in einer Gesamtlaufzeit, die eigentlich für sechs Filme reicht. Als Exploitation-Filmemacher im Low-Budget-Bereich und zärtlich-humoristischer Poet des „New Queer Cinema“ ist mir Peter Jackson jedenfalls lieber.
Besagtem Freund geht es übrigens gut. Und er belästigt mich nun seltener mit Mittelerde, seitdem er weiß, dass ich die Filme gesehen habe. Alles gut.


PLANET OF THE APES

Nur noch schwache Bilder von irgendetwas mit „Planet der Affen“, das über den Bildschirm im Wohnzimmer meines Großonkels flatterte. Es war vermutlich eine Episode der TV-Serie. Nun also (mindestens 20 Jahre später) die klassische Franchise komplett.

– PLANET OF THE APES (Franklin J. Schaffner, USA 1968)
Stimmt: das erste Drittel wirkt stellenweise fast schon verspielt-experimentell. Und die irre Parodie einer HUAC-Sitzung (Autor Michael Wilson war in den 1950er Jahren „geschwarzlistet“) zeigt das Potential von Filmen, die sich gegenüber ihren literarischen Vorlagen Freiheiten nehmen.

– BENEATH THE PLANET OF THE APES (Ted Post, USA 1970)
Ausbrechende Illusionsfeuer und telepathische Atombombensektierer: sympathischer Quatsch, kurzweilig und effizient inszeniert.

– ESCAPE FROM THE PLANET OF THE APES (Don Taylor, USA 1971)
Die Affen entdecken eine Zivilisation, die wir aus heutiger Sicht als Museum der 1970er betrachten können, zumindest von der Mode und der Musik her. Der daraus entstehende Kulturclash macht diesen Teil zum wohl zweitbesten der Reihe, zumal die Figuren Cornelius und Zira die größte emotionale Fallhöhe entwickeln, die in der Franchise überhaupt zu sehen ist.

– CONQUEST OF THE PLANET OF THE APES (J. Lee Thompson, USA 1972)
Die Atmosphäre der bedrückenden, latent gewalttätigen Dystopie ist das Highlight dieses Films, der dramaturgisch jedoch arg auf die Schnauze fällt (eine zweite Sichtung würde sich allerdings vielleicht anbieten?).

– BATTLE FOR THE PLANET OF THE APES (J. Lee Thomspon, USA 1973)
Das Problem ist nicht, dass alles albern oder stumpfsinnig generisch ist, sondern dass sich alles egal anfühlt.
TAKEN

Franchise-Nachholen als Vorbereitung zur Pressevorführung:

– TAKEN (Pierre Morel, Frankreich / USA / UK 2008)
Eine amerikanophile französische Aneignung des Rache-Actionfilms, die man problemlos geradlinig sehen kann (ein Ex-Geheimdienstler sucht nach seiner von albanischen Mafiosi entführten Tochter). Oder auch doppelbödig: ein frustrierter Mann, der als Familienvater vollkommen versagt hat und im Grunde ein ziemlich armes Würstchen ist, geht mit der ganzen Arroganz US-amerikanischer Interventionswut in die Fremde, um seine Vorurteile auszuleben und seine Gewaltimpulse abzureagieren.

– TAKEN 2 (Olivier Megaton, Frankreich 2012)
Das Doppelbödige des ersten Teils wird zu einem reinen Plot-Element (wer rächt die Geschädigten des Rächers?), und der Film selbst zu einem straighten Actioner umgewandelt, der zumindest ab und zu das Niveau halbwegs ansehnlicher direct-to-video-Stangenware erreicht.

– TAKEN 3 (Olivier Megaton, Frankreich 2015)
Direct-to-video-Stangenware, unteres Niveau. Forest Whitaker ödet sich durch den Film, aber Liam Neeson scheint immer noch Spaß zu haben, was das ganze zumindest vor dem kompletten Absaufen rettet – zumal bei einer solch verwackelt-zerhäckselten und inkompetenten Actioninszenierung. Ein vierter Teil ist zu befürchten.


Da wir gerade bei Filmen in Plural sind: zum Abschluss meines Rückblicks ein kleines Angebot an ausprobierten und als sehenswert empfundenen Double-Features:


Tolle Double-Features, ausprobiert 2014: 10 Vorschläge

Una lunga serata gialla dei piaceri e della morte
– SETTE NOTE IN NERO (Lucio Fulci, Italien 1977)
– 7, HYDEN PARK: LA CASA MALEDETTA (Alberto De Martino, Italien 1985)

Fremde Länder, fremde Fauna
– THE THIEF OF BAGDAD (Raoul Walsh, USA 1924)
– TREMORS (Ron Underwood, USA 1990)

Spitz, scharf und saftig: ein Exploit-evening
– THE DRILLER KILLER (Abel Ferrara, USA 1979)
– EMMANUELLE (Just Jaeckin, Frankreich 1974)

Western: (k)ein US-amerikanisches Genre
– FUK SAU / VENGEANCE (Johnnie To, Hong Kong / Frankreich 2009)
– IL MERCENARIO (Sergio Corbucci, Italien / Spanien 1968)

Gefangen im Tropenparadies
– HEAVEN KNOWS, MR. ALLISON (John Huston, USA 1957)
– THE BIG BIRD CAGE (Jack Hill, USA / Philippinen 1972)

Fluchten aus der mentalen Provinz 
– LES PETITES FUGUES (Yves Yersin, Schweiz / Frankreich 1979)
– COMING OUT (Heiner Carow, Deutsche Demokratische Republik 1989)

Daddy, mommy, issues
– KISEI JUI – SUZUNE: GENESIS (Kaneda Ryu, Japan 2011)
– PSYCHO (Alfred Hitchcock, USA 1960)

Erzählungen aus dem Gefängnis
– UN CONDAMNÉ À MORT S‘EST ÉCHAPPÉ (Robert Bresson, Frankreich 1956)
– LIK WONG / STORY OF RICKY (Lam Ngai Kai, Hong Kong / Japan 1991)

Maritime Entspannungen
– MOBY DICK (John Huston, USA 1956)
– LES VACANCES DE MONSIEUR HULOT (Jacques Tati, Frankreich 1953)

Zart, hart, Mann, Frau, Liebe, Kampf
– EMPEROR OF THE NORTH POLE (Robert Aldrich, USA 1973)
– HEAVENLY CREATURES (Peter Jackson, Neuseeland / Deutschland 1994)

So... nach diesem Rückblick sind die Sinne für 2015 geschärft. Auf viele spannende Filme im neuen Jahr!

Liebster Award

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Ich bin nominiert worden. Nein, nicht zu den Academy Awards, sondern bei der Aktion „Liebster Award“. Eine große Ehre, zumal der von mir sehr geschätzte Oliver Nöding die Nominierung ausgesprochen hat, für die ich nun mit Freude bei ihm bedanke: hier sein wunderbarer Blog remember it for later, und hier seine Antworten auf die Fragen, die er nach seiner eigenen Nominierung beantwortet hat.
Denn ja: Nominierte von „Liebster Award“ sind zugleich immer auch Gewinner. Sie bekommen keine güldene Statue, sondern 11 Fragen, die sie nach gutem Wissen und Gewissen beantworten sollen – und die Pflicht, weitere Blogger zu nominieren und ihnen 11 neue Fragen zu stellen.
Falls das gerade alles etwas komisch klingt – hier das „Kleingedruckte“ noch mal in etwas formellerer Verpackung:
Beim “Liebster Award” stellen Blogger_innen/Podcaster_innen anderen Blogger_innen/Podcaster_innen elf Fragen. Diese nominieren dann wieder weitere Blogger_innen/Podcaster_innen und stellen ihnen ihre Fragen. Das Ziel der Aktion ist es, einander dabei zu unterstützen, neue Leser_innen/Hörer_innen zu finden und sich gegenseitig zu vernetzen.
Hier meine Antworten auf die Fragen:

1 Was ist dein Anspruch, wenn du Texte über Filme schreibst? Wann sagst du: “Ich bin zufrieden”?
„Ich bin zufrieden“ sage ich nicht, sondern höchstens „Der Text ist halbwegs okay. Mehr oder etwas besseres fällt mir nicht mehr ein, aber ich kann ihn jetzt trotzdem guten Gewissens veröffentlichen“. Diesem Ausspruch gehen oft lange Momente (manchmal Stunden) des „letzten Schliffs“ voraus.
Was ich für einen Anspruch habe? Nebst dem Ziel, den Lesern von „Whoknows Presents“ unbekannte Filme näher zu bringen (meiner Meinung oft kleine Filmperlen) möchte ich sicherlich auch im weitesten Sinne ein Deutungsangebot geben: in Worte fassen, welche emotionalen Reaktionen und intellektuellen Prozesse ein Film bei mir (was habe ich persönlich gesehen?) auf welche Weise und mit welchen Mitteln ausgelöst hat – und dies im Idealfall so, dass es auch für andere Leser verständlich ist. Es soll auch immer ein Stück weit eine persönliche Einschätzung drin stecken, die vielleicht den Leser zum Nachdenken über den und zur weiteren Beschäftigung mit dem spezifischen Film anregt.
Schreiben über einen Film sehe ich auch als Möglichkeit, um für mich persönlich mehr über ihn herauszufinden – das kann theoretisch bei jeder Publikation passieren, bei der ich schreibe, hier bei „Whoknows Presents“ ist dieser Prozess aber am freisten. Das Schreiben ermöglicht es, einen Film noch einmal ganz in der Tiefe zu erkunden: nicht nur mit den Augen und den Ohren, sondern auch mit Worten. Beim Prozess des Schreibens kann man sehr viel Neues über einen Film herausfinden, weil man „gezwungen“ ist, wirre oder unausgegorene Gedanken, diffuse Emotionen, unsichere Ahnungen und freie Assoziationen in Worte zu übersetzen. Das gelingt nicht immer, aber zum Beispiel bei TIM FRAZER JAGT DEN GEHEIMNISVOLLEN MR. X und VENGEANCE IS MINE hatte ich das Gefühl, diese Filme durch das Schreiben noch besser (be)greifen zu können. Und vielleicht überträgt sich das auf den Leser, denn das ist immer die Chance des Lesens über Filme: interessante, alternative Blickwinkel zu finden.

2 Du könntest deine “Bloggerkarriere” rebooten. Wie würdest du dich neu erfinden? Was würdest du anders machen? Warum?
Ich mag keine Reboots. Und nein: ich bin insgesamt ganz zufrieden. Bei „Whoknows Presents“ kann ich ohne Zeitdruck so frei und so viel schreiben wie ich will. Bei anderen Publikationen muss ich schneller, pointierter, freier von assoziativen Exkursen etc. schreiben – was auch seine eigenen Reize haben kann. Mit der Kombination aus beiden Möglichkeiten bin ich zufrieden.

3 Warum schaust du dir Filme an? Was erwartest du von ihnen? Was versprichst du dir für dich davon?
Auf die einfachste Formel reduziert: ich liebe Filme! Es ist die Kunstform, aus der ich persönlich die meiste persönliche Befriedigung ziehe.

4 Was muss ein Film leisten, damit er dir gefällt? Gibt es einen Film, der deinen Idealvorstellungen krass widerspricht und den du trotzdem oder gerade deshalb besonders liebst?
Diese Frage knüpft indirekt wohl auch an die vorherige Frage an, und da möchte ich gerne Vladimir Nabokov paraphrasieren, der in einer Vorlesung über Nikolaj Gogol sinngemäß sagte, dass Kunst an sich absolut zweckfrei sei, ja diese Zweckfreiheit sogar die Voraussetzung von Kunst sei. Genauso ist es denke ich auch mit Filmen (das beantwortet jetzt wohl eher die dritte Frage).
„Leisten“ muss ein Film erst einmal gar nichts. Wenn irgendetwas oder irgendjemand etwas „leisten“ muss, dann der Zuschauer. Ob mir ein Film gefällt, ist natürlich auch in erster Linie von persönlichen Dispositionen abhängig. Von der Tagesform auch: physisch (mit Sekundenschlafattacken spät Nachts schaut man einen Film anders als aufgeweckt am frühen Abend); psychisch (ob man in einer persönlichen Krise steckt oder gerade rundum glücklich ist, beeinfluss eine Sichtung auch). Und auch von längerfristigen Persönlichkeitsentwicklungen: mit 28 Jahren sieht man Filme anders als mit 18 Jahren (oder auch schon mit 23 Jahren).
Insofern habe ich auch keine Idealvorstellungen davon, wie ein Film aussehen... ähm... soll? muss? kann? darf? ... Ich sage aber immer wieder gerne, dass die Bewertung „handwerklich gut gemacht“ etwas ist, was man auch über ein Küchenregal sagen kann.

5 Was hältst du für das größte Manko des gegenwärtigen Kinos/Films?
Zum Film: ich lasse keine Gelegenheit ungenutzt, die allgemeine Tendenz zur Verschnitt-Verwackelung von Action-Inszenierungen anzuprangern, die in den letzten Jahren nach meinem Gefühl zu einem offenbar von vielen Zuschauern akzeptierten „state of art“ geworden ist. Von Low-Budget bis Blockbuster, von Nordamerika bis nach Westeuropa – sobald die Action beginnt, flüchten beängstigend viele Filme in einen Amoklauf aus hysterischem Kameragewackel in Kombination mit einem Schnitt, der eigentlich eher als Zerhäckselung bezeichnet werden kann. Das sieht nicht nur grausig aus – die daraus folgende „Entkörperlichung“ der Gewalt (und Gewalt ist relativ vielen Actionszenen inhärent) stellt auch ethische Probleme.
Zum Kino: ich habe das Gefühl, dass zumindest in meinem mittelthüringischen Lebensumfeld das Programm langweiliger, risikoärmer und eintöniger geworden ist. Oder um es mal wirklich auf meine gegenwärtige Heimatstadt Weimar zu reduzieren: das örtliche Multiplex hat ein absolutes Minimalprogramm; das kommunale Kino ist zur Karikatur eines vor sich hindümpelnden subventionierten Stadtkinos geworden; das örtliche Programmkino hat zwar immer wieder gute Specials (die regelmäßigen Stummfilm-Vorführungen), ist aber insgesamt risikoärmer geworden und zeigt hauptsächlich Arthouse-Mainstream-Kram, das teilweise wochen- und monatelang gespielt wird. Einst, im Spätsommer 2009, lief dort regulär LOVE EXPOSURE – ein vierstündiger japanischer Exploitationfilm wäre dort heute zumindest im regulären Programm undenkbar. Kurz: die Kinolandschaft ist ärmer geworden. Weniger Filme werden für längere Zeit gezeigt – auf Kosten von anderen Filmen, die vielleicht spannender sind. Und ich vermute ganz stark, dass diese cinematographische Desertifikation nicht nur das mittelthüringische Steppengebiet betrifft. Und was die potentiellen „Oasen“ betrifft: in Deutschland leben über 60 Millionen Menschen nicht in Berlin, München, Frankfurt am Main oder Hamburg.

6 Du darfst Produzent spielen und den Film machen, auf den die Welt bislang vergeblich gewartet hat. Du bist dabei weder finanziell, noch in Zeit und Raum gebunden. Welchen Stoff würdest du verfilmen, wer dürfte Regie führen, Drehbuch schreiben, den Soundtrack komponieren etc. Wer spielte die Hauptrollen? Alles ist möglich!
Nein, das ist zu viel Verantwortung für mich. Ich schreibe über Filme, ich mache keine Filme.

7 Welche Filme würdest du gern zu ihrer Erstaufführung im Kino sehen? Beschränke dich auf maximal drei.
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob diese Frage retrospektiv gemeint ist, also im Sinne einer kontrafaktischen Zeitreise, die mich zu Ort und Zeit der Filmpremiere führt – aber ich interpretiere das mal genau so.
1. PLAYTIME von Jacques Tati, 16. Dezember 1967 in Frankreich (wahrscheinlich Paris)
2. PER UN PUGNO DI DOLLARI von Sergio Leone, 12. September 1964 in Florenz
3. JOHNNY GUITAR von Nicholas Ray, 26. Mai 1954 in New York

8 Du darfst dir drei DVD-/Bluray-Veröffentlichungen bislang nicht erhältlicher Filme wünschen. Welche wären es?
Mein erster spontaner Einfall war Ewald André Duponts VARIETÉ. Doch er ist kürzlich restauriert worden und kommt nun offensichtlich im Februar raus, kurz nach der Aufführung der Restaurierungsfassung bei der Berlinale. Ich freue mich wahnsinnig! Deshalb also anstelle von VARIETÉ einen sowjetischen Stummfilm.
OBLOMOK IMPERII (Fridrich Ėrmler, UdSSR 1929): die Geschichte eines Soldaten, der im Ersten Weltkrieg durch eine Verwundung sein Gedächtnis verliert, dadurch die russische Revolution „verpasst“ und erst Jahre später wieder zu sich kommt. Gesehen im April 2012 beim goEast-Festival. Ein Fall für die Edition Filmmuseum – zumal das Filmmuseum Wien offenbar über eine Kopie verfügt.
TRI (Aleksandar Petrović, Jugoslawien 1965): ein revisionistischer Partisanenfilm wie ein Filmgedicht. Soviel ich weiß, wurde die systematische Archivierung jugoslawischer Filme in den bundesstaatlichen Archiven erst Ende der 1960er Jahre beschlossen – keine Ahnung also, wo die Kopie herstammte, die ich im April 2013 beim goEast-Festival sah.
DEDUNA [TSITSINATELEBI / SVETLJAČKI] (Dato Janelidze, UdSSR 1987): poetischer, fast meditativer Film über einige Tage im Lebensalltag eines jungen Mädchens in einem georgischen Bergdorf. Ein komplett zeitloses Werk, das aus einem Paralleluniversum jenseits unseres Zeitverständnisses zu kommen scheint. Gesehen beim goEast-Festival 2012, wird leider wohl noch lange obskur bleiben.

9 Wie sieht dein ideales Kino aus?
Die Frage impliziert hoffentlich nicht, dass es das ganze finanziell und logistisch auch nur annähernd machbar sein muss? Dann also los:
Architektonisch und von der Inneneinrichtung klaube ich mir einige Elemente aus verschiedenen mir bekannten Kinos zusammen: Sitzreihen aus individuellen Sofas und Sessel vom Sperrmüll (Lichthaus Weimar), eine Decke mit „Shining“-Muster (Gartenbaukino Wien), ein schöner roter Teppich im Eingangsbereich (Caligari-Filmbühne Wiesbaden). Filmplakate hängen ansonsten überall. Ticket- und Getränkeverkauf sind strikt getrennt. Die Toiletten sind für Rollstuhlfahrer geeignet und überhaupt so geräumig gestaltet, dass niemand klaustrophobische Anfälle befürchten muss.
Von der Ausstattung her hat mein Kino fünf Säle, alle mit einem eigenen Namen, darunter dem Buster-Keaton-Saal! Dort werden auch Stummfilme gespielt. Alle gängigen Kinoformate können in meinem idealen Lichtspielhaus abgespielt werden: 35mm, 16mm, 70mm, DCP, 3D. Nur Synchronfassungen, egal in welchem Format, können aus magischen Gründen nicht abgespielt werden.
Bei der Gestaltung des Programms habe ich natürlich auch viele Ideen. Ausgesuchte aktuelle Filme sind natürlich regulär zu sehen – allerdings für maximal zwei Wochen. Alle 14 Tage gibt es einen Stummfilm bzw. einen Abend mit Stummfilmen – idealerweise von meinem liebsten Stummfilmpianisten Richard Siedhoff begleitet, am Flügel bzw. an der Kinoorgel im Buster-Keaton-Saal. Am Wochenende hat einer der Säle ein spezielles Midnight-Movie-Screening: das müssen keine klassischen Midnight-Movies sein, sicher ist nur, dass die letzte Vorstellung auch mal um Mitternacht beginnen kann. Teils in Verbindung damit, teils auch unabhängig davon, gibt es regelmäßig Double-Features mit Filmklassikern. Das Kino führt auch einen eigenen Kalender, der wichtige Geburtstage berücksichtigt: 18. Januar wäre zum Beispiel der Cary-Grant-Tag, 19. Januar der Jerzy-Kawalerowicz-Tag, 20. Januar der Federico-Fellini-Tag – und der 19. März selbstverständlich der Bruce-Willis-Tag. Regelmäßige Retrospektiven gibt es auch: teils ganz klassisch Personen-zentriert (etwa zu Ozu), teils auch thematisch-assoziativ (etwa „Perlendes Nass: Der Regen im Film“). Im Drei-Wochen-Rhythmus gibt es einen Abend „Der unbekannte Film“, um z. B. rare Filmperlen aus Osteuropa zu zeigen (siehe Antwort auf Frage 8). Und am heißesten und schwülsten Tag des Sommers wird immer spontan BODY HEAT gezeigt – die ansonsten perfekt funktionierende Klimaanlage wird für diese Vorstellung temporär ausgeschaltet.

10 Wenn du in einem Film einziehen könntest, welcher Film wäre es?
Sehr schwierige Frage. Viele Filme, die ich mag, haben Welten, in denen ich mich persönlich ganz sicher nicht wohl fühlen würde – geschweige denn permanent leben möchte. Zu gewalttätig, zu gefährlich, von zu vielen unsympathischen Menschen bevölkert. Deshalb fiele mir spontan DONOVAN‘S REEF ein. Das wäre ein utopisches Inselparadies, wo man in der örtlichen Kneipe mit Lee Marvin und John Wayne Bier trinken könnte.

11 Nenne einen Film, den du gern mögen würdest, es aber einfach nicht schaffst.
Das ist für mich relativ einfach: NOSFERATU: EINE SYMPHONIE DES GRAUENS. Ich habe ihn letztes Mal im März 2014 im Kino geschaut – es war wohl die fünfte oder sechste Sichtung, und sie hat mich zum fünften bzw. sechsten Mal kalt gelassen und ab einem bestimmten Punkt sogar angeödet. Die sechste bzw. siebente Sichtung wird im Laufe des Jahres 2015 bestimmt noch folgen.



Jetzt ist es an der Zeit, selbst Nominierungen auszusprechen. Zu meinem Bedauern muss ich sagen, dass ich relativ wenig Blogs und Blogger kenne und regelmäßig lese, von denen ich weiß, dass sie noch nicht für den Award nominiert wurden. Daher leider nur folgende drei:


luzifus von the-gaffer.de

gabelingeber von Hauptsache (Stumm)film




Hier meine Fragen:


1 Gibt es einen Regisseur, den sehr viele Menschen hassen oder aber sehr wenige Menschen kennen, den du magst oder sogar liebst?

2 Hast du dich schon einmal in eine/n Schauspieler/in verliebt, und wenn ja, in welche/n?

3 Regisseure, Schauspieler – alles ganz schön, aber gibt es eine ganz konkrete Person aus einem anderen Bereich des Filmemachens (z. B. Drehbuchautor, Kameramann, Komponist, Production Designer, Cutter), die dir ganz besonders am Herzen liegt?

4 Was ist deine Lieblingsszene aus einem Film, den du – eben abgesehen von dieser Szene – insgesamt wenig oder sogar überhaupt nicht magst?

5 Hast du, um einen bestimmten Film zu sehen, schon einmal große Mühen, Belastungen und Risiken (logistisch, finanziell, zwischenmenschlich, beruflich) auf dich genommen? Wenn ja, welcher Film und welche Unannehmlichkeiten?

6 Was ist dein liebster Regen-Film – also Film, in dem Regen deiner Meinung nach eine besondere thematische, ästhetische oder klimatische Rolle spielt?

7 Gibt es von einem berühmten Regisseur ein vermeintliches „Nebenwerk“, das du für völlig übersehen und unterschätzt hältst?

8 Nehmen wir einmal an, ich betreibe ein Kino und starte die Reihe „Filmperlen im Doppelpack“, bei der mein Lichtspielhaus in einem der Säle an jedem letzten Samstag des Monats zwei bekannte oder weniger bekannte ältere Filme direkt hintereinander zeigt – und ich ernenne dich zum Kurator dieser Filmreihe. Welche 12 Double-Features schlägst du dann für 2015 vor?

9 Gehst du lieber alleine oder mit Begleitung ins Kino – und weshalb?

10 Sitzt du im Kino lieber in vorderen, mittleren oder hinteren Reihen?

11 Die ultimative Slapstick-Frage: Buster Keaton oder Charlie Chaplin?

LE CORBEAU - ein Rabe schreibt anonyme Briefe

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Dies ist die leicht überarbeitete Version eines Artikels, den ich 2004 (ohne Bilder) in der Newsgroup de.rec.film.misc und 2006 als PDF in der Filmzentrale veröffentlicht hatte.


LE CORBEAU (DER RABE)
Frankreich 1943
Regie: Henri-Georges Clouzot
Darsteller: Pierre Fresnay (Dr. Remy Germain), Ginette Leclerc (Denise Saillens), Pierre Larquey (Dr. Michel Vorzet), Micheline Francey (Laura Vorzet), Héléna Manson (Marie Corbin), Sylvie (François' Mutter), Liliane Maigné (Rolande Saillens)

LE CORBEAU hat Henri-Georges Clouzot jede Menge Ärger eingetragen, und er hätte beinahe seine Karriere ruiniert, bevor sie überhaupt richtig begonnen hatte. Doch der Reihe nach!

Der Schauplatz
Eine kleine Stadt, hier oder anderswo.

Mit dieser Einblendung am Ende der Anfangs-Credits wird der Zuschauer auf den Schauplatz eingestimmt, und eine Kamerafahrt visualisiert die Worte: Ein Schwenk über die Dächer der Stadt in einer ländlichen Gegend, eine alte Kirche, ein pittoresker Friedhof. Man befindet sich in einem abgeschlossenen Mikrokosmos. - Ein Bauernhof, ein paar hundert Meter außerhalb der Stadt: Dr. Remy Germain verlässt mit blutbesudelten Händen das Haus und wäscht sie sich in einem Bottich. Er hat gerade eine Operation - wohl einen Kaiserschnitt - durchgeführt; die Mutter lebt, das Kind ist tot. Dr. Germain ist der Held - wenn man ihn denn so nennen will - unserer Geschichte. Er macht seine Arbeit als Arzt professionell und pflichtbewusst, aber er ist ein abweisender Charakter von einer bisweilen arrogant wirkenden Distanziertheit.

Dr. Remy Germain ...
Ins städtische Krankenhaus zurückgekehrt, spricht ihn sein Kollege Dr. Bertrand auf das Ergebnis der Operation an, verweist darauf, dass das Resultat - Mutter lebt, Kind tot - bei Germain schon mehrmals vorgekommen sei, und beschuldigt ihn unverhohlen, eine (damals streng verbotene) Abtreibung durchgeführt zu haben, was Germain jedoch erzürnt zurückweist. Der hinzugekommene Chefarzt Dr. Delorme entschärft den Streit, indem er die beiden einlädt, ein Gangrän zu besichtigen: "Eine wahre Sehenswürdigkeit", stellt er abgebrüht fest, "unbezahlbar!". Zuvor schon hat er seine eigene Frau in einer Nebenbemerkung unverblümt als "Kuh" bezeichnet, "aber glücklicherweise habe ich noch meine Pfeife, und Alkohol natürlich". Schon in den ersten knappen Dialogen offenbart sich Clouzots bitteres, sarkastisches Menschenbild.

... hat eine Auseinandersetzung mit Dr. Bertrand
Wir lernen weitere Menschen im Umfeld des Krankenhauses kennen. Da ist die altjüngferlich wirkende Krankenschwester Marie Corbin. Sie ist nicht wirklich hässlich, aber mit ihrem verkniffenen Gesichtsausdruck und mit ihrer nonnenähnlichen Schwesterntracht, die sie auch in ihrer Freizeit trägt, wirkt sie alles andere als attraktiv. Ihr schroffes Wesen, auch den Patienten gegenüber, sorgt dafür, dass sie sich allgemeiner Unbeliebtheit erfreut. Ganz anders Maries jüngere Schwester Laura Vorzet, die als freiwillige Helferin zeitweise im Krankenhaus arbeitet. Laura ist jung, hübsch, freundlich und beliebt. Marie wirft ihrer Schwester vor, dass sie sich nur deshalb so oft im Krankenhaus aufhält, weil sie Dr. Germain nachstellt, und sie bezeichnet Laura offen als Hure. Laura ist die Ehefrau des wesentlich älteren Dr. Michel Vorzet, des Leiters der psychiatrischen Abteilung im Krankenhaus.

Marie Corbin (links) und ihre Schwester Laura Vorzet
Dieser Dr. Vorzet ist ein Spötter, ein geistreicher Zyniker mit einer guten Portion Selbstironie. Bei seinem ersten Auftritt kommt er gerade von einem Fachkongress nach Hause, und er begrüßt Laura mit folgender kleinen Ansprache:
"Ich kenne nichts Absurderes als Ärztekongresse - ausgenommen Psychiaterkongresse. Niemand hört den Vortragenden zu - gottseidank! Anderenfalls gäbe es schallendes Gelächter. Der einzige nützliche Zweck dieser Veranstaltungen ist, dass Provinzärzte die Gelegenheit erhalten, ihre Frauen mit Pariserinnen zu betrügen."
Der Routinier Pierre Larquey ist die Idealbesetzung für Vorzet. Larquey war schon 47 Jahre alt, als er 1931 ernsthaft ins Filmgeschäft einstieg, aber das hielt ihn nicht davon ab, in noch etwa 200 Filmen mitzuwirken, darunter insgesamt fünf von Clouzot.

Dr. Vorzet
Unterdessen ertappt Germain Marie Corbin, wie sie einen von ihm verfassten Brief aus seinem Ärztekittel zieht. Er nimmt ihr den an Laura adressierten Brief ab und zerreißt ihn. Zugleich stellt er sie zur Rede, weil im Medikamentenschrank des Krankenhauses Morphium abhanden gekommen ist. Er beschuldigt sie, das Morphium gestohlen zu haben, und fordert sie auf, es wiederzubeschaffen. Das Betäubungsmittel wird dringend für François benötigt, einen jungen Patienten. Er leidet an Leberkrebs und hat noch höchstens zwei Wochen zu leben, aber man verheimlicht ihm seinen Zustand. - Dr. Germain bewohnt eine Wohnung in den oberen Stockwerken des örtlichen Schulgebäudes; sein Vermieter Saillens ist zugleich der Schuldirektor. Dessen 14-jährige Tochter Rolande schleicht im Haus herum und benimmt sich merkwürdig, wenn Germain in der Nähe ist. Zuhause angekommen, wird Germain von Saillens gebeten, nach seiner jüngeren Schwester Denise Saillens zu sehen, die ebenfalls im Schulhaus wohnt, weil sie krank sei. Doch Germain findet schnell heraus, dass ihr nichts fehlt - die laszive, männermordende Denise wollte sich nur untersuchen lassen, um ihn zu verführen, doch er lässt sie abblitzen.

François und seine Mutter
Kurz darauf erfährt Germain, dass Laura einen anonymen Brief erhalten hat. Darin wird sie beschimpft und beschuldigt, Germains Geliebte zu sein. Doch auch er selbst hat einen ähnlichen Brief erhalten. "Du Lüstling", heißt es da, "hör auf, mit Vorzets Frau Laura-die-Hure herumzumachen". Der in großen Blockbuchstaben geschriebene Brief ist mit LE CORBEAU unterzeichnet, zu deutsch "der Rabe", und er ist noch mit einem gezeichneten Raben verziert. Damit nicht genug: Auch Dr. Vorzet erhält einen Brief, in dem er auf das angebliche Verhältnis von Laura und Germain hingewiesen wird. Er spricht Germain daraufhin an, doch er beruhigt ihn sogleich, weil er den Beschuldigungen keinen Glauben schenkt. Doch er teilt ihm mit, dass auch Chefarzt Dr. Delorme einen Brief vom "Raben" erhalten habe, in dem Germain der Abtreibung bezichtigt wird. Vorzet berichtet Germain auch von seinen psychiatrischen Erfahrungen mit den Verfassern solcher anonymen Briefe. Vorzet doziert, dass es sich um keinen einfachen Verleumder handle, sondern um einen Kranken. Jeder könne dahinterstecken - sogar Germain selbst, weil es bei solchen Irren durchaus vorkäme, dass sie sich selbst belasten. Als Germain nach einer kleinen Pause antwortet, dass auch Vorzet der Rabe sein könnte, antwortet dieser augenzwinkernd "Und warum nicht?". Später wird Vorzet seine Vermutungen über den Raben Germain gegenüber noch präzisieren: Sexuell Verklemmte, alte Jungfern, Impotente, hässliche alte Männer, Krüppel - unter solchen Personen müsse man den Schuldigen suchen.

Rolande Saillens
Innerhalb kurzer Zeit häufen sich nun die Briefe, und das Themenspektrum verbreitert sich, auch wenn Germain der am häufigsten Angegriffene bleibt. Dr. Delorme erhält einen Brief, in dem Monsieur Bonnevie, der Schatzmeister des Krankenhauses, beschuldigt wird, vertrauliche Details einer Ausschreibung an einen Freund verraten zu haben, um ihm einen finanziellen Vorteil zu verschaffen. Als Delorme Bonnevie zur Rede stellt, macht der zunächst ein betretenes Gesicht, doch dann kontert er kühl, indem er seinerseits einen Brief zückt. Darin wird er aufgefordert, seine guten Beziehungen zum "Abtreiber Germain" aufrechtzuerhalten, weil er seine Dienste vielleicht bald brauchen könne. Dann nämlich, wenn seine (Bonnevies) Tochter weiterhin so oft im Büro von Delorme gesehen werde. Delorme tritt daraufhin den geordneten Rückzug an: Beide sind sich flugs einig, dass an den Vorwürfen nicht das Geringste dran sei. Die Art und Weise, wie die beiden ehrenwerten Herren die Situation handhaben, macht unmissverständlich klar, dass zumindest diese Anschuldigungen der Wahrheit entsprechen. Der Rabe ist nicht nur einfach ein Spinner, sondern er verfügt über Insiderwissen.

Denise Saillens lackiert sich die Zehennägel
Niemand ist mehr vor den Schmähungen sicher, vor allem die Honoratioren: Der Apotheker soll gepanschte Medikamente verhökern, dem Bürgermeister sollen von seiner Frau Hörner aufgesetzt werden, und so weiter. Die allgemeine Verunsicherung steigt, oder - wie es Dr. Vorzet ausdrückt - die Stadt leidet an einem Fieber. Vorzet macht sich den Spaß und trägt alle bekannt gewordenen Briefe in ein Diagramm ein, das wie die Temperaturkurve eines Patienten aufgebaut ist. Da Germain nach wie vor die Hauptzielscheibe ist, beginnt man, in seiner Vergangenheit zu forschen, wie ihm von Vorzet mitgeteilt wird. Dabei tut sich eine Ungereimtheit auf. Germain behauptete, früher in Grenoble praktiziert zu haben, doch im dortigen Ärzteregister fand man nun keinen Dr. Germain, ausgenommen einen, der unter dem Namen Germain Monatte nach Paris ging und ein berühmter Gehirnchirurg wurde. Bei diesem Gespräch teilt Vorzet Germain auch mit, dass die Behörden inzwischen Marie Corbin als Hauptverdächtige betrachten. Doch Vorzet, der mit Marie verlobt war, bevor er Laura heiratete, hält sie für unschuldig.

Der erste Brief des Raben
Inzwischen wird Germain wieder einmal zu Denise gerufen, doch diesmal ist sie wirklich krank. Dabei entdeckt er, dass sie stark hinkt, was sie normalerweise mit speziellem Schuhwerk verschleiert. Sie verdankt diese Behinderung einem zurückliegenden Autounfall, wie sie ihm erzählt, und sie fragt ihn, ob sie deshalb weniger attraktiv sei. Es wird klar, dass ihr sexuell aggressives Verhalten als Kompensationsmechanismus für ihre Gehbehinderung dient. "Es ist meine Rache am Leben", formuliert sie das. Germain taut jetzt endlich etwas auf. Er hat Denise erzählt, dass er vom Leben Frieden erwartet und totales Vergessen. Denise erwidert, dass sie ihm kein totales Vergessen geben kann, aber Vergessen für ein paar Stunden - und das zähle auch. Diesmal hat Denise Erfolg - Germain verbringt die Nacht bei ihr. Während gleichzeitig Rolande heulend in ihrem Zimmer sitzt. Es ist offensichtlich - sie ist in Germain verknallt. Am nächsten Morgen will Germain jedoch nicht mehr viel von Denise wissen, und er eröffnet ihr, dass er vorhat, die Stadt zu verlassen. Sie beschimpft ihn daraufhin als Feigling und Schwächling und stellt ihm als Zeichen ihrer Verachtung einen ausgestopften Raben, den sie aus einer Kiste in einer Abstellkammer hervorkramt, vor die Tür.

Monsieur Bonnevie (links) und Chefarzt Dr. Delorme
Ein Selbstmord lässt die Lage in der Stadt eskalieren. François, der Krebspatient, wurde vom Raben über seinen aussichtslosen Zustand informiert. Daraufhin hat er sich mit einem Rasiermesser, das ihm seine Mutter kurz zuvor ins Krankenhaus brachte, die Kehle durchgeschnitten. - Nicht nur die Behörden, sondern auch ein Großteil der Bevölkerung verdächtigt inzwischen Marie Corbin, die ohnehin niemand leiden kann. Anstatt eines geplanten Stadtfestes findet nun die Beisetzung von François statt - unter Teilnahme aller Honoratioren, die den lebenden François wohl kaum eines Blickes gewürdigt hätten. Der Unterpräfekt hält eine Ansprache, die schon rein inhaltlich vor hohlem Pathos trieft. Dazu wird sie auch noch in einem übertrieben melodischen Singsang vorgetragen und von ausladender Gestik begleitet und so von Clouzot vollends der Lächerlichkeit preisgegeben. Als während des Leichenzugs aus einem Kranz, den Marie Corbin angebracht hatte, ein Brief des Raben hervorflattert, droht der Volkszorn überzukochen. Marie, die inzwischen vom Krankenhaus entlassen wurde, flüchtet sich in ihre Wohnung, wo bereits Vandalen ihren Spiegel zertrümmert und die Wände beschmiert haben. Als der Mob heranzieht, will sie durch den Hinterausgang flüchten, doch dort wird sie bereits von zwei Polizisten erwartet und abgeführt.

Rendezvous zwischen Dr. Germain und Laura Vorzet
Nach Maries Verhaftung ist es zunächst ruhig - keine Briefe mehr. Dr. Germain nützt die Gelegenheit, um zu packen. Denise macht ihm eine Szene. Sie erklärt, dass sie ihn liebe, doch er glaubt ihr nicht. Er behauptet, dass sie ihm nur eine Abschiedsszene vorspiele. Darauf wirft sie ihm vor, dass er das sei, was sie am meisten verachtet - ein Bourgeois. - Aus Germains Abreise wird so schnell nichts. Während einer Messe, bei der fast die ganze Stadt anwesend ist, flattert ein Brief des Raben von der Empore ins Kirchenschiff. Damit ist die immer noch inhaftierte Marie Corbin aus dem Schneider. Und bald gibt es wieder so viele neue Briefe wie zuvor. Die Honoratioren tagen erneut, der Bürgermeister fürchtet um seine Wiederwahl. Da hat der stellvertretende Staatsanwalt - zugleich Dr. Delormes Sohn - eine Idee: Das Hauptziel des Raben ist wie eh und je Dr. Germain. Wenn man schon den Raben nicht finden kann, vielleicht sollte man dann versuchen, Dr. Germain loszuwerden? Gesagt, getan. In Germains Sprechstunde taucht eine Frau auf, die eine rührselige Geschichte erzählt und um eine Abtreibung bittet. Doch Germain lehnt schroff ab. Als er sie unwirsch aus dem Sprechzimmer weist, erkennt sie ihn wieder: Er hatte ihr vor Jahren nach einem Unfall durch seine ärztliche Kunst das Leben gerettet. Sie gibt ihre Maskerade auf und enthüllt den Plan: Sie wurde für 10.000 Francs angeheuert. Hätte sich Germain auf die Abtreibung eingelassen, wäre er dran gewesen.

Denise macht bei Dr. Germain Fortschritte
Unterdessen erfährt der Unterpräfekt aus der Pariser Zeitung, dass er versetzt wurde, und gerät darüber mit den anderen Würdenträgern in Streit. In die Auseinandersetzung platzt Germain und hält ihnen eine Standpauke. Er erklärt den verdutzten Herren, dass er jener berühmte Gehirnchirurg Germain Monatte aus Paris sei. Vor Jahren war seine Frau schwanger, und als es Komplikationen gab, versuchte ein Gynäkologe, sowohl Mutter als auch Kind zu retten - wobei beide starben. Damals fasste Germain den Entschluss, inkognito in die Provinz zu gehen und es besser zu machen als sein Kollege seinerzeit. Die Herrschaften sind konsterniert, doch der stellvertretende Staatsanwalt hat schon einen neuen Plan. Auf der Empore in der Kirche, von der der Brief herabflog, befanden sich nur 18 Personen, und einer von ihnen muss der Rabe sein. Diese 18 Personen werden nun zum Diktat gebeten. Vorzet erläutert die Idee: Auch bei Blockbuchstaben gibt es ein charakteristisches Schriftbild. Dieses könne man zwar kurzfristig verbergen, aber bei einem lang genug andauernden Test werde es zum Durchbruch kommen und den Raben verraten. So werden also alle Verdächtigen unter Polizeibewachung in einem Klassenzimmer in der Schule versammelt, um Originalbriefe des Raben niederzuschreiben. Germain, erklärter Atheist, war nicht in der Kirche, und Marie Corbin saß im Gefängnis, aber sonst sind viele Bekannte versammelt: Denise, Laura, Dr. Bertrand, Schatzmeister Bonnevie, Schuldirektor Saillens, seine Tochter Rolande. Dr. Vorzet und der stellvertretende Staatsanwalt lesen die Texte vor, Vorzet soll anschließend als graphologischer Gutachter fungieren. Das Diktat beginnt - und zieht sich Stunden um Stunden hin. Die Szene ist eine recht grimmige Parodie auf das Klassendiktat, eine Säule (nicht nur) des französischen Grundschulunterrichts. Nach vielen Dutzenden von Briefen - die Nacht ist längst hereingebrochen - bricht Denise ohnmächtig über der Schulbank zusammen. Die Veranstaltung ist zu Ende, doch ein eindeutiges Ergebnis hat sie nicht erbracht. Der Schriftvergleich blieb ohne Ergebnis, der Rabe ist noch immer unerkannt.

Noch ein Rabe
Bei einer nächtlichen Zusammenkunft von Vorzet und Germain (auf die ich später noch einmal zurückkommen werde) macht Vorzet ein überraschendes Geständnis: Er ist morphiumsüchtig, und Marie Corbin hat die Ampullen für ihn, ihren Ex-Verlobten, den sie noch immer liebt, gestohlen. Am nächsten Morgen trifft Germain auf die Mutter von François, dem toten Krebspatienten. Sie macht eine merkwürdige Andeutung: Sie behauptet, den Raben ziemlich sicher zu kennen, aber sie verrät nicht, wen sie im Sinn hat. Sie zeigt Germain das Rasiermesser, mit dem sich ihr Sohn den Hals durchschnitt. Wenn sie absolut sicher sei, den Raben zu kennen, dann werde das Messer abermals in Aktion treten und den Schuldigen bestrafen. Germain versucht, ihr den Gedanken an Selbstjustiz auszureden, aber offensichtlich mit wenig Erfolg.

Fast ein Staatsbegräbnis für François; der Unterpräfekt hält eine Rede
Am selben Tag findet Germain in Denises Zimmer einen an ihn gerichteten Brief des Raben. Darin steht, dass Denises Schwächeanfall beim Diktat darauf zurückzuführen sei, dass sie von ihm schwanger sei. Germain versteckt sich vor der hereinkommenden Denise und ertappt sie dabei, wie sie den Brief in ein Kuvert steckt und adressiert. Natürlich hält er sie nun für den Raben und stellt sie zur Rede. Doch Denise versichert, dass das ihr erster solcher Brief sei. Sie habe es nicht fertiggebracht, mit ihm über ihre Schwangerschaft zu sprechen, und deshalb sei sie auf die Idee gekommen, die Botschaft dem Raben unterzuschieben. Germain ist hin- und hergerissen: Soll er ihr glauben oder nicht? Am Ende ist er geneigt, ihr zu glauben, auch wenn Zweifel bleiben. Denise fordert ihn daraufhin auf, zu Vorzet zu gehen, um nach dem Rechten zu sehen. Laura habe bei ihr angerufen, weil sie eine Todesdrohung vom Raben erhalten habe. Germain eilt in die Wohnung der Vorzets, doch Laura empfängt ihn befremdet. Sie weiß von keiner Todesdrohung und sie hat Denise nicht angerufen - behauptet sie. Germain ist verwirrt. Hat Denise gelogen? Wenn ja, warum? Oder lügt Laura?

Ein zerbrochener Spiegel als Metapher: Marie Corbin vor den Scherben ihres heilen Selbstbildes

An dieser Stelle - rund 8 Minuten vor Ende des Films - unterbreche ich die Handlung, um mich Clouzots Lebenslauf und der Entstehungsgeschichte von LE CORBEAU zuzuwenden. Wer erfahren will, wer nun wirklich der Rabe ist, kann es am Ende des Artikels nachlesen.

Clouzot wurde 1907 in der französischen Stadt Niort geboren. Die eigentlich vorgesehene Laufbahn in der Marine zerschlug sich wegen seiner Kurzsichtigkeit. Er begann daraufhin ein Studium mit dem Berufsziel eines Diplomaten, das er jedoch abbrechen musste, als die Weltwirtschaftskrise das Vermögen seiner Eltern dahinraffte. Er wechselte nun als Journalist zu einem Boulevardblatt. Bei einem Interview lernte er 1931 den Filmproduzenten Adolphe Osso kennen, der ihn einlud, als Cutter und Drehbuchbearbeiter in seiner Firma zu arbeiten. Clouzot hatte sein Metier gefunden.

Henri-Georges Clouzot (1975)
Schon 1931 inszenierte er mit LA TERREUR DES BATIGNOLLES auch einen eigenen Kurzfilm. 1932 ging er nach Deutschland. Clouzot arbeitete als Regieassistent bei E.A. Dupont und beim damals noch in Deutschland wirkenden Anatole Litvak. Daneben fertigte Clouzot bei der UFA Alternativversionen deutscher Filme an. In einer Zeit, als Synchronisationen noch unüblich waren, wurden gelegentlich verschiedene Sprachfassungen eines Films gleichzeitig gedreht - am selben Set, aber mit anderen Schauspielern. Bekannte Beispiele sind etwa Hitchcocks MURDER!, von dem gleichzeitig eine deutsche Version entstand, oder die spanischsprachige Version von Tod Brownings DRACULA. Wie nicht anders zu erwarten, war Clouzot für französische Sprachfassungen der UFA-Filme zuständig. Künstlerische Freiheiten dürfte er dabei kaum besessen haben, deshalb sollte man diese Filme nicht als eigenständige Regiearbeiten werten.

Dr. Vorzets “Fieberkurve” nach Marie Corbins Verhaftung
Clouzots erster eigener Spielfilm schien nahe, doch es kam anders: 1933 zwang ihn eine schwere Lungenerkrankung zu einem fünfjährigen Aufenthalt in einem Sanatorium. Er vertrieb sich die Zeit mit dem Schreiben von Theaterstücken und Drehbüchern, die jedoch zunächst nicht realisiert wurden. Clouzots chronisch schlechte Gesundheit sollte ihn auch später immer wieder an der Arbeit hindern und war mitverantwortlich für seinen zahlenmäßig geringen Ausstoß an Filmen. 1938 war Clouzot soweit wiederhergestellt, dass er ins Geschäft zurückkehren konnte. Die französische Firma CICC verfilmte drei Drehbücher, an denen er beteiligt war. 1941 erhielt er dann ein verlockendes Angebot - freilich eines mit Pferdefuß, wie sich später erweisen sollte.

Krisensitzung der Honoratioren
Nach der Niederlage der französischen Truppen im Juni 1940 und der darauffolgenden deutschen Besetzung des nördlichen Frankreich war die französische Filmindustrie schwer angeschlagen. In dieser Situation witterte Joseph Goebbels eine Chance, den Franzosen die Niederlage etwas zu versüßen, um im Gegenzug den Besatzungstruppen das Leben zu vereinfachen. Ende 1940 wurde in Frankreich die Produktionsfirma Continental Films gegründet. Sie stand unter deutscher Kontrolle und wurde mit deutschem Geld finanziert. Erklärter Auftrag war es, mit französischem Personal anspruchslose, billige Unterhaltungsfilme zu drehen, um das Volk bei Laune zu halten.

Das Konzept ging zunächst auf. Bald dominierte Continental den französischen Filmmarkt. Zwar gab es weiterhin rein französische Produktionsfirmen, aber sie hatten gegen Continental einen schweren Stand. Als Leiter von Continental war der Produzent Alfred Greven von Goebbels nach Frankreich delegiert worden. Greven machte nun Clouzot das Angebot, als fest angestellter Drehbuchschreiber bei Continental einzusteigen, und Clouzot nahm an. Möglicherweise kannte Greven Clouzot schon von dessen Zeit bei der UFA. Jedenfalls war er offenbar von seinen Fähigkeiten überzeugt, denn Clouzot avancierte dann gleich zum Leiter der Drehbuchabteilung bei Continental. Greven interpretierte den Auftrag für Continental etwas frei. Er war bestrebt, neben dem verordneten Flachsinn auch qualitätvollere Filme zu produzieren, freilich ohne den Bereich des Unterhaltungsfilms zu verlassen. So kam es, dass Continental neben oberflächlichen Komödien etwa auch handwerklich solide Kriminalfilme produzierte. Neben Verfilmungen von Simenon-Stoffen wurde 1941 die Verfilmung eines Romans des belgischen Krimi-Autors Stanislas-André Steeman in Angriff genommen. Das Drehbuch zu LE DERNIER DES SIX schrieb Clouzot, Regie führte Georges Lacombe. Es ging um einen französischen Inspektor mit einem komplizierten polnischen Namen, den er der Einfachheit halber zu "Wens" verkürzte. Bei den Ermittlungen unterstützt wird er von seiner Geliebten, einer Schauspielerin. Das von Pierre Fresnay und Suzy Delair gespielte flamboyante Ermittler-Pärchen wurde gelegentlich mit William Powell und Myrna Loy in den DÜNNER-MANN-Filmen verglichen.

Dr. Delorme und sein Sohn, der stellvertretende Staatsanwalt
Der locker-leicht inszenierte Film hatte Erfolg, und so wurde ein Sequel anberaumt. Und nun war es soweit: Clouzot durfte endlich selbst Regie führen. L'ASSASSIN HABITE... AU 21 (dt. DER MÖRDER WOHNT IN NR. 21), wieder nach einem Roman von Steeman, ist professionell inszeniert, besitzt pointierte Dialoge und, trotz des leichten Inszenierungsstils, bereits sarkastische und düstere Momente, die Clouzots spätere Richtung erahnen lassen. Nachdem Clouzots Regie-Erstling gut angekommen war, wählte er als nächstes einen Stoff, der lose auf einer wahren Begebenheit beruhte. 1922 kam es in der französischen Kleinstadt Tulle zu einem Skandal: Es wurde eine Unzahl von anonymen Schmähbriefen versandt. Die Affäre erregte überregionale Aufmerksamkeit, und Louis Chavance ließ sich davon 1932 zu einer ersten Drehbuchfassung unter dem Titel L'Œil du serpent inspirieren. Clouzot stieß auf das bislang unverfilmte Script und tat sich mit Chavance zusammen, um das Buch zu überarbeiten. Zur Vorbereitung studierte Clouzot eine wissenschaftliche Abhandlung über die Verfasser solcher anonymer Pamphlete, und es würde mich nicht wundern, wenn Dr. Vorzets Ausführungen über diesen Personenkreis sinngemäß diesem Werk entnommen wären.

Unterdessen befand sich Alfred Greven in einer etwas prekären Lage. 1942 brachte Continental LA SYMPHONIE FANTASTIQUE heraus, eine Biographie des Komponisten Hector Berlioz. Der Film wurde für seine Qualität gelobt, aber er schien geeignet, den französischen Nationalstolz zu befördern, was natürlich Continentals Auftrag krass zuwiderlief, und so handelte sich Greven eine ernste Rüge von Goebbels ein. Als nun Clouzot das Drehbuch für LE CORBEAU vorlegte, erkannte Greven die politische Brisanz des Stoffes und sträubte sich heftig dagegen. Es gab damals eine Kampagne der Gestapo, die die französische Bevölkerung aufrief, Résistance-Mitglieder zu verpfeifen (übrigens mit beachtlichem Erfolg). Greven war klar, dass der Stoff von LE CORBEAU als Kommentar zu solchen Denunziationen verstanden werden konnte. Aber irgendwie gelang es Clouzot, sich durchzusetzen.

Ein denkwürdiges Diktat. Am Pult sitzend Dr. Vorzet
Nachdem das Projekt erst einmal genehmigt war, besaß Clouzot volle künstlerische Freiheit. Die Dreharbeiten fanden zum größten Teil in einer Kleinstadt in der Nähe von Paris statt. Zeit und Filmmaterial waren knapp bemessen, aber ähnlich wie Hitchcock, mit dem er oft verglichen wurde, war Clouzot ein Regisseur, der schon zu Beginn der Dreharbeiten den fertigen Film im Kopf hatte, und der seine Schauspieler mit sehr exakten Instruktionen versah, was zu tun war, so dass sehr zügig und konzentriert gearbeitet werden konnte. Ginette Leclerc, die Darstellerin der Denise, zeigte sich von dieser Arbeitsweise sehr angetan. Clouzot habe das Optimum aus ihr herausgeholt, erzählte sie später, und er habe sie "seine Violine" genannt, auf der er seine Melodie spielte. Pierre Fresnay dagegen empfand die Dreharbeiten als schwierig, und zwar deshalb, weil Clouzot am Set stets übelgelaunt war. Fresnay war zu seiner Zeit ein großer Star des französischen Kinos. Er war mit MARIUS, FANNY und CÉSAR, die zusammen die sogenannte Marseille-Trilogie bilden, zu nationaler Bekanntheit aufgestiegen und spielte insgesamt in rund 60 Filmen. Sein aus heutiger Sicht wohl wichtigster war Jean Renoirs LA GRANDE ILLUSION, wo er den aristokratischen Offizier de Boeldieu verkörperte. Er hatte auch die Hauptrolle in den beiden Wens-Filmen gespielt.

Gruppenbild mit Herrn: Marie Corbin, Denise, Germain und Laura (v.l.n.r.)
Clouzot galt in späteren Jahren als ein Regisseur, der seine Schauspieler nicht nur seelisch, sondern auch körperlich malträtierte, wenn es ihm angemessen erschien. In QUAI DES ORFÈVRES gibt es eine Szene, in der der von Bernard Blier gespielte Charakter einem zermürbenden Polizeiverhör unterzogen wird. Um Blier in die richtige Stimmung zu versetzen, hat ihn Clouzot heftig geohrfeigt. Auch Suzy Delair und Simone Renant sollen in diesem Film nicht ungeschoren davongekommen sein. Von Clouzots beiden Continental-Filmen ist ein derartiges Verhalten jedoch noch nicht überliefert. Aber neben Fresnay berichteten auch andere Zeitgenossen von Clouzots abweisendem Charakter und seiner permanent schlechten Laune - Wesenszüge, die nicht ohne Einfluss auf seine Filme blieben. Tatsächlich legte LE CORBEAU den Grundstein zu Clouzots Ruf, der große Misanthrop unter den französischen Regisseuren gewesen zu sein. Dagegen konnte Clouzot kein Vorwurf gemacht werden, was sein persönliches Verhalten den Nazis gegenüber betraf. Es wird berichtet, dass er seine Mitarbeiter vor Übergriffen schützte und Juden half.

Schon in den 30er Jahren wurden französische Filme aus dem Bereich des "Poetischen Realismus" gelegentlich mit der Bezeichnung Film noir belegt, aber international bekannt wurde der Begriff erst, als ihn die französischen Filmkritiker Nino Frank und Jean-Pierre Chartier 1946 auf Hollywoods "Schwarze Serie" anwandten, die 1941 mit John Hustons THE MALTESE FALCON ihren Ausgang nahm. LE CORBEAU wurde nun - trotz der früheren Verwendung des Begriffs - gelegentlich als der erste französische Film noir bezeichnet. Das mag vielleicht etwas übertrieben sein, aber LE CORBEAU verfügt über einige der klassischen Ingredienzien: Ein pessimistisches Menschenbild, zynische Dialoge, und eine Schwarzweißfotografie, die mit ausgeprägten Licht- und Schatten-Effekten arbeitet.

Schattenspiele an der Wand
Was die visuelle Gestaltung des Films betrifft, so drängt sich diese zwar nicht in den Vordergrund, aber es gibt doch genug noir-typische Szenen, um das Erscheinungsbild des Films mitzuprägen. Etwa ein Dialog von Vorzet und Germain nach dem Diktat: Die beiden sind nächtens allein in einem Raum in der Schule zurückgeblieben. Es handelt sich um die Szene, in der Vorzet auch das Geständnis seiner Morphiumsucht macht. Das Zimmer wird nur von einer Lampe mit einem kleinen, hoch angebrachten Schirm, der die Glühbirne nicht verdeckt, spärlich erleuchtet. Wenn nicht ein großer Globus herumstehen würde, könnte man sich an ein Hinterzimmer in einer zwielichtigen Absteige oder an ein schäbiges Polizeirevier erinnert fühlen, wie man es aus amerikanischen Filmen der Schwarzen Serie kennt. Vorzet wirft Germain starres Schwarzweißdenken vor: "Sie glauben, dass jedermann völlig gut oder völlig schlecht ist. Dass das Gute hell ist und das Böse dunkel. Aber wo beginnt das Eine und das Andere? Wo endet das Böse? Sind Sie auf der guten oder der bösen Seite?" Dazu versetzt Vorzet die Lampe in Schwingung, so dass die Gesichter der beiden abwechselnd in Licht und Schatten getaucht sind.

Dr. Vorzet versetzt eine Lampe in Schwingung und hält einen Vortrag über Hell und Dunkel
Bei aller Düsternis verfügt LE CORBEAU auch über Humor, freilich einen bösen, sarkastischen Humor, der oft den zynischen Bemerkungen der Protagonisten entspringt, wie im Fall des Gangräns. Typisch für Clouzot ist auch die erwähnte Messe: Der Priester steht auf der Kanzel und preist den Herrn, weil der Spuk (nach Marie Corbins Verhaftung) ein Ende hatte. "Erhebt eure Herzen", predigt er der versammelten Gemeinde, "von der Furcht befreit, zu Jesus!" Und alle Leute erheben die Köpfe und blicken andachtsvoll nach oben. Aber nicht etwa, weil sie da oben Jesus erblicken würden, sondern weil just in diesem Moment der neue Brief des Raben gemächlich von der Galerie herabtrudelt.

Der Pfarrer predigt der Gemeinde, die eine Überraschung von oben erlebt
Clouzots Attacken richten sich zwar überwiegend gegen die Honoratioren der Stadt, aber auch die Kleinbürger bekommen ihr Fett weg. Etwa die Ladenbesitzerin, die neuerdings jeden, der im Briefkasten auf der anderen Straßenseite Post einwirft, mit Namen und Uhrzeit notiert. Und ihre Nichte will sie nicht mehr von Germain behandelt wissen, sondern sie wechselt zu dessen Konkurrenten Dr. Bertrand. Aber statt ihm einfach die Wahrheit zu sagen, tischt sie ihm scheinheilig ein Märchen auf. Als er unverrichteter Dinge ihren Laden verlässt, erinnert sie ihn freundlich daran, ihr die Rechnung zu schicken. Und als er dann draußen ist, sagt sie gehässig "... ich wette, dieser Schuft hat die Nerven und schickt sie tatsächlich!" Oder der Leiter des Postamts. Er hält seinen Untergebenen eine Ansprache, dass Briefe unter allen Umständen an die Adressaten ausgeliefert werden müssten. Das sei die Größe (grandeur im Original) und Pflicht des Postdienstes. Und dann fischt er einen an seine Frau adressierten Brief aus dem Verteiler und nimmt ihn an sich. "Sie wird ihn [den Brief] nie zu Gesicht bekommen", kommentiert einer der Postangestellten, und zweifellos hat er recht. Mit solchen Miniatur-Nebenhandlungen schafft es Clouzot mühelos, ein Panoptikum der kleinen Bösartigkeiten auszubreiten. Im Verlauf der Handlung wird auch klar, dass es neben dem eigentlichen Raben jede Menge Trittbrettfahrer geben muss, die die Situation nutzen, um ihre eigenen anonymen Briefe zu versenden.

Eine scheinheilige Ladenbesitzerin; der Leiter des Postamts
LE CORBEAU hatte im September 1943 Premiere. Er wurde vom Publikum und von der Presse im besetzten Frankreich gut aufgenommen. Die Nazis aber waren überhaupt nicht glücklich mit dem Film. Es liegt auf der Hand, dass man LE CORBEAU einen politischen Subtext zuschreiben kann, der in einem Kommentar zur Okkupation Frankreichs und zu Denunziationen von Seiten der Bevölkerung besteht. "Seit dieser Sturm von Hass und Verleumdung unsere Stadt getroffen hat", erklärt Vorzet einmal, "wurden alle moralischen Werte korrumpiert." Und etwas später Germain: "Diese Art von Krise hat einen Zweck. Wie ein Rekonvaleszent nach einer Krankheit geht man stärker, bewusster daraus hervor. Es ist schrecklich zuzugeben, aber das Böse ist notwendig." Zu allem Überfluss gab es eine Werbekampagne für LE CORBEAU, die mit dem Slogan "Denunziation - die Schande des Jahrhunderts" arbeitete. Wie erwähnt, profitierten die Deutschen erheblich von Informanten in der französischen Bevölkerung, und es gab eine regelrechte Ermunterungskampagne zu solcher Kollaboration. Da nimmt es nicht Wunder, dass die deutschen Behörden sofort einschritten. Die Werbekampagne mit dem anstößigen Slogan musste nach wenigen Tagen gestoppt werden. Gelegentlich liest man auch, dass die Aufführung des Films selbst von den Nazis verboten wurde, aber das war offenbar nicht der Fall. Allerdings beschwerten sie sich bei Alfred Greven über Clouzot, der ihn daraufhin feuerte.

Krise zwischen Denise und Germain ...
Man mag sich vielleicht fragen, wie es LE CORBEAU überhaupt in die Kinos schaffte. Zwar gab es damals eine staatliche Filmzensur, die dem Vichy-Regime unterstand, aber die war für Continental-Filme - und nur für diese - nicht zuständig. Continental gab sich zwar dem Publikum gegenüber den Anschein einer französischen Firma, aber in der Frage der Zensur stellte sich Greven auf den Standpunkt, dass Continental eine deutsche Firma sei und deshalb nicht der französischen Zensur unterstünde, und er kam damit durch. Wäre LE CORBEAU von irgendeiner anderen Firma produziert worden, wäre er wahrscheinlich nicht unbeschadet durch die Zensur geschlüpft.

... und Versöhnung
Abgesehen von der politischen Konnotation ist LE CORBEAU auch eine Abhandlung über das Gute und Böse im Menschen. Vorzets nächtliche Ansprache an Germain ist hierfür eine Schlüsselszene. Clouzot drückte das 1975 in einem Fernsehinterview folgendermaßen aus: "Es war ein Weg, um gewisse Dinge auszudrücken, die ich seit der Kindheit fühlte. [...] Diese Balance zwischen Dunkel und Hell, zwischen Schwarz und Weiß, zwischen Gut und Böse, kommt tief aus meinem Herzen." Und über die Rolle der Spannung in seinen Filmen (nicht nur LE CORBEAU): "Es ist der beste Weg, um den Zuschauern etwas unterzuschieben, das sie sonst nicht schlucken würden. Sie werden den Rest akzeptieren, weil sie von der Spannung am Haken gehalten werden wie ein Fisch." - Neben der politischen und der psychologisch-philosophischen Ebene funktioniert LE CORBEAU natürlich auch als Thriller - wenn auch nicht perfekt, weil einige Fragen offen bleiben. So bleibt völlig unklar, woher François' Mutter den Raben zu kennen glaubte. Und nicht alle Personen stehen am Ende in ihrer Motivation und ihren Handlungen wirklich schlüssig da. Aber der Genuss von LE CORBEAU wird durch solche Schönheitsfehler nicht ernsthaft beeinträchtigt.

Clouzots Schwierigkeiten mit den Nazis nach dem Start von LE CORBEAU schützten ihn nicht vor Gegenwind von ganz anderer Seite. Clouzot wurde von Seiten der Résistance und der Exilregierung des "Freien Frankreich" heftig attackiert. Man behauptete, die Darstellung der Stadt und ihrer Bewohner sei antifranzösische (und damit automatisch pro-deutsche) Propaganda, und Clouzot sei somit ein Kollaborateur. Dass der Film von Continental produziert wurde, tat ein Übriges. Die publizistischen Angriffe waren außerordentlich heftig, und angeblich gab es sogar ein von Radio London verkündetes Todesurteil gegen Clouzot. Das erzählte er jedenfalls im erwähnten Fernsehinterview von 1975.

Welche Rolle spielt Laura?
Nach der Befreiung Frankreichs gingen Clouzots Schwierigkeiten erst richtig los. Er wurde nun von allen politischen Kräften angegriffen. Die Linken, insbesondere die Kommunisten, warfen Clouzot weiterhin Kollaboration vor, außerdem Defätismus und mangelnden Widerstandsgeist. Zwar war klar, dass niemand im besetzten Frankreich offen antideutsche Filme hätte drehen können, aber man stellte LE CORBEAU zeitgenössischen Filmen wie etwa Jean Grémillons LE CIEL EST À VOUS gegenüber, einer heroisch angehauchten Geschichte im Fliegermilieu, die diesen Vorstellungen zufolge den wahren französischen Widerstandsgeist verkörpert hätte. Die Rechten warfen Clouzot ebenfalls antifranzösische Gesinnung und Nihilismus vor. Zudem bemängelten klerikal-konservative Kreise die offensive Sexualität von Denise, mit der Clouzot unverhohlen sympathisierte (was er im Interview von 1975 explizit bestätigte), Germains ebenso offenen Atheismus und die mehrmalige Erwähnung des Tabuthemas Abtreibung. Und ganz allgemein mochte man im Nachkriegsfrankreich nur ungern an die Kollaboration und die Denunziationen großer Bevölkerungsteile erinnert werden. Es gab eine Große Koalition des Vergebens und Vergessens, man sah sich am liebsten als ein Volk von lauter Résistance-Mitgliedern. So saß Clouzot zwischen allen Stühlen und sah sich heftigsten publizistischen Attacken ausgesetzt.

Doch dabei blieb es nicht - es kam auch zu Maßnahmen von staatlicher Seite. Zwar war von einem Todesurteil keine Rede mehr, aber die Aufführung von LE CORBEAU wurde verboten. Dazu gab es "Reinigungsverfahren" gegen der Kollaboration Verdächtigte, die man entfernt mit den Entnazifizierungsverfahren in Deutschland vergleichen konnte. Unter den Angeklagten befanden sich auch sieben Regisseure, und einer von ihnen war Clouzot. Die meisten der Beschuldigten in diesen Tribunalen kamen mit öffentlichen Rügen davon, aber einige der schwerer Belasteten erhielten mehrjährige Berufsverbote. Clouzot jedoch wurde gleich zu lebenslangem Arbeitsverbot im Filmgeschäft verurteilt. Das Gremium, das über ihn zu Gericht saß, bestand aus drei Personen, von denen zwei Regisseure waren. Keine sehr talentierten, wie Bertrand Tavernier in einem Video-Interview feststellte. (Taverniers 2002 entstandener Spielfilm LAISSEZ-PASSER spielt vor dem Hintergrund der Filmwirtschaft im besetzten Frankreich, weshalb er dieses Thema sorgfältig recherchiert hat.) Einer von den dreien hatte LE CORBEAU überhaupt nicht gesehen, wie sich im Verlauf der Verhandlung herausstellte.

Germain verabschiedet sich von Laura - und macht dabei eine Entdeckung
Doch schon früh fanden sich auch Verteidiger für Clouzot. Einer von ihnen war Jean Cocteau, der den tieferen Gehalt von LE CORBEAU begriffen hatte und den Film mit den Werken sozialkritischer Schriftsteller wie Guy de Maupassant und Émile Zola verglich. Auch der Drehbuchautor Jean-Paul le Chanois (der Jude und Kommunist war) trat frühzeitig für Clouzot ein, ebenso Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. Das harte Urteil gegen Clouzot beendete die Debatte nicht, sondern fachte sie zusätzlich an. Es fanden sich zunehmend weitere Fürsprecher für Clouzot, vor allem Künstler und Intellektuelle, darunter Regie-Kollegen wie René Clair, Marcel Carné, Marcel L'Herbier und Jacques Becker. Die Debatte wurde hauptsächlich in offenen Briefen und Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln ausgetragen. Sie war ausgesprochen heftig und lang andauernd, doch am Ende verfehlten die Stimmen für Clouzot ihre Wirkung nicht. Clouzots Berufsverbot wurde stillschweigend von lebenslänglich zu zwei Jahren verkürzt. Eine offizielle Begnadigung oder ein Wiederaufnahmeverfahren scheint es nicht gegeben zu haben, jedenfalls liegen keine entsprechenden Dokumente vor. Insgesamt lagen am Ende zwischen den Dreharbeiten zu LE CORBEAU und Clouzots nächstem Film rund vier Jahre. Wie schon während seiner Zeit im Lungensanatorium, nutzte Clouzot die Zeit zum Schreiben von Drehbüchern, von denen dann jedoch keines realisiert wurde. Darunter befand sich auch ein gemeinsames Projekt mit Sartre, mit dem er sich befreundet hatte, nämlich die Adaption eines Romans von Vladimir Nabokov.

1947 stand die Frage an, ob man LE CORBEAU wieder in den Kinos zeigen sollte. Es gab nach wie vor heftige Attacken gegen Clouzot, insbesondere von Seiten der kommunistischen Presse, die forderte, dass LE CORBEAU verboten bleiben müsse. Dabei war jedoch eine Portion Heuchelei im Spiel, denn schon bevor LE CORBEAU wieder für die Kinos zugelassen wurde, lief er in sogenannten Cinéclubs. Das waren geschlossene Veranstaltungen, die jedoch vor vollen Häusern stattfanden und entsprechende Einnahmen brachten. Und viele dieser Cinéclubs befanden sich im Besitz der Kommunistischen Partei. Der Drehbuchautor Henri Jeanson (u.a. an PÉPÉ LE MOKO und HÔTEL DU NORD beteiligt) wies im September 1947 in einem geistreichen Zeitschriftenartikel auf diesen Widerspruch hin und lobte LE CORBEAU als Meisterwerk. Auch viele von Clouzots Gegnern hatten inzwischen die filmische Qualität von LE CORBEAU anerkannt und konzentrierten sich dafür umso mehr auf den Continental-Aspekt. So etwa der Schriftsteller Joseph Kessel, Autor von erfolgreich verfilmten Romanen wie Belle de jour und La Passante du Sans-Souci. In einer direkten Antwort auf Jeanson in derselben Zeitschrift schrieb er, dass Clouzot mit deutschem Geld ein angenehmes Leben führte, während dieselben Deutschen, die ihn bezahlten, gleichzeitig in Oradour wüteten und die Krematorien mit französischen Leichen beheizten. Der ziemlich polemische Artikel endet damit, dass es keinen großen Unterschied gemacht hätte, wenn die Deutschen den Krieg gewonnen hätten - "für Herrn Clouzot".

Laura wird abtransportiert
Doch insgesamt hatte sich das Meinungsklima zugunsten von Clouzot gewendet. Auch die 1947 noch einmal hochgekochte Debatte ebbte schließlich ab, wenn sie auch nicht vollends verstummte, sondern Clouzot bis an sein Lebensende gelegentlich wieder einholte. Während der Streit um die Wiederzulassung von LE CORBEAU noch im Gang war, konnte Clouzot einen neuen Film in Angriff nehmen. Nachdem Clouzots Arbeitsverbot aufgehoben worden war, trat ein russischstämmiger Filmproduzent an ihn heran und bot ihm an, einen Stoff nach eigener Wahl zu inszenieren, freilich mit der Auflage, dass es kommerziell erfolgsträchtig und weniger brisant als LE CORBEAU werden solle. Clouzot schlug einen Roman von Stanislas-André Steeman vor, den er vor Jahren gelesen hatte. Der Produzent war sofort einverstanden. Die Dreharbeiten fanden im Frühjahr 1947 statt, und obwohl zwischenzeitlich der Produzent wechselte, konnte der Film ohne größere Probleme fertiggestellt werden. QUAI DES ORFÈVRES ist ein hervorragender, stimmungsvoller Film noir mit einem überragenden Louis Jouvet in der Hauptrolle. Die Uraufführung fand im Oktober '47 statt. Der Film wurde bei Publikum und Kritik ein großer Erfolg und gewann noch im selben Jahr beim Internationalen Filmfestival in Venedig den Großen Preis für die beste Regie. Clouzots Karriere war gerettet.

Louis Jouvet (links) und Bernard Blier in QUAI DES ORFÈVRES
Und das war gut so. Nach MANON, einer sehr freien Verfilmung von Abbé Prévosts Roman Histoire du chevalier des Grieux et de Manon Lescaut, nach MIQUETTE ET SA MÈRE sowie der Beteiligung an einem Episodenfilm, drehte Clouzot in den 50er-Jahren mit LE SALAIRE DE LA PEUR (LOHN DER ANGST) und LES DIABOLIQUES (DIE TEUFLISCHEN) zwei Filme, die zu zeitlosen Klassikern des Spannungskinos werden sollten. Es folgte ein Dokumentarfilm über den mit ihm befreundeten Pablo Picasso. Dabei ließ er Picasso auf transparente Leinwände malen, durch die hindurch er sowohl den Meister als auch die entstehenden Werke filmen konnte, wobei Picasso seine Gedanken beim kreativen Vorgang erläuterte. 1984 wurde LE MYSTÈRE PICASSO von der französischen Regierung zum nationalen Kulturerbe erklärt - wohl eher wegen Picassos Bedeutung als wegen der von Clouzot, aber immerhin. Dann kam mit LES ESPIONS ein interessanter, aber etwas unausgegoren wirkender Agentenfilm am Rande der Parodie sowie der Gerichtsfilm LA VÉRITÉ mit Brigitte Bardot in der Hauptrolle. Die Sozialkritik darin wirkt etwas aufgesetzt, aber der Film verfügt über einen sehr schönen zynischen Schluss - da ist Clouzot nochmal ganz der Alte.

Danach neigte sich Clouzots Laufbahn langsam ihrem Ende entgegen. Einerseits machte ihm seine chronisch schlechte Gesundheit wieder zusehends zu schaffen. Und andererseits hatte er etwas den Anschluss an den Zeitgeist verloren, der da Nouvelle Vague hieß. Das Verhältnis von Clouzot zu den meisten Vertretern der Nouvelle Vague war von gegenseitiger Abneigung geprägt. Einerseits stand Clouzot für die Protagonisten der neuen Richtung für das, was sie "Papas Kino" nannten und heftig attackierten. Andererseits wurde wieder seine Continental-Vergangenheit gegen ihn vorgebracht, etwa von Jacques Rivette. Nur François Truffaut, der LE CORBEAU oft gesehen hatte und sehr schätzte, sah Clouzot differenzierter. 1963 begann Clouzot mit den Dreharbeiten zu L'ENFER nach einem eigenen Stoff. Doch zunächst kam es zu Verzögerungen, weil sich Clouzot in über-perfektionistischer Manier verzettelte, und weil der Hauptdarsteller Serge Reggiani erkrankte (oder eine Erkrankung vorschob, um sich aus den sich endlos hinziehenden und für ihn zermürbenden Dreharbeiten zu verabschieden) und ausgewechselt werden musste, dann erlitt Clouzot selbst einen schweren Herzanfall. Er musste die Dreharbeiten abbrechen und nahm sie nicht wieder auf. Mehr über dieses faszinierende gescheiterte Projekt erfährt man im 2009 entstandenen Dokumentarfilm L'ENFER D'HENRI-GEORGES CLOUZOT (DIE HÖLLE VON HENRI-GEORGES CLOUZOT) von Serge Bromberg und Ruxandra Medrea. 1992 kaufte Claude Chabrol den Stoff und verfilmte ihn 1994 unter dem nämlichen Titel L'ENFER.

Denise und Germain finden sich endgültig
Es folgte eine Reihe von Musikfilmen, für das französische Fernsehen auf 35 mm gedreht, in Zusammenarbeit mit Herbert von Karajan. Die Filme zeigen den Maestro, der sich von der Zusammenarbeit mit Clouzot begeistert zeigte, jeweils bei Proben und einem Konzert. Von ursprünglich geplanten 13 Folgen wurden fünf realisiert. Schließlich vollendete Clouzot 1968 mit LA PRISONNIÈRE einen letzten Spielfilm, danach zog er sich zurück. Henri-Georges Clouzot starb 1977 in Paris. Dem internationalen Publikum ist er vor allem mit LE SALAIRE DE LA PEUR und LES DIABOLIQUES in Erinnerung geblieben, aber seine frühen Meisterwerke LE CORBEAU und QUAI DES ORFÈVRES lohnen ein Wiedersehen.


Und jetzt, wie versprochen, der Rest der Handlung mit der Entlarvung des Raben:


Germain will von Laura zu Denise zurück, um sie neuerlich zu befragen. Doch als er sich von Laura verabschiedet, entdeckt er frische Tinte an ihren Fingern. Sofort ist sein Misstrauen geweckt, und er durchsucht ihren Schreibtisch. Dort findet er ein Löschblatt, auf dem sich der Text des letzten Briefs des Raben abzeichnet. Durch seine lautstarken Vorhaltungen wird Dr. Vorzet herbeigelockt. Germain zeigt ihm das Löschblatt, und Vorzet gesteht, dass er schon letzte Nacht entdeckt habe, dass Laura der Rabe sei, aber er habe es nicht übers Herz gebracht, seine Frau zu verraten. Er bittet Germain nun, das Beweisstück der Polizei zu übergeben. Doch Germain zögert. Vorzets nächtliche Privatvorlesung über Gut und Böse hat seine Ansichten etwas ins Wanken gebracht. Er schlägt Vorzet vor, Laura psychiatrisch zu behandeln, statt sie der Justiz auszuliefern. Vorzet ist einverstanden, und weil er nicht seine eigene Frau einweisen darf, unterschreibt Germain das entsprechende Formular. Währenddessen erhält Vorzet einen Anruf: Denise ist abermals ohnmächtig geworden und dabei die Treppe hinabgestürzt. Laura, die an der Tür gelauscht hat, kommt jetzt herein und bestürmt Germain, ihrem Mann nicht zu glauben. Sie gibt nur zu, dass sie den ersten Brief des Raben geschrieben hat, um damit Germain an sich zu binden. Doch dann sei ihr Vorzet auf die Schliche gekommen, und alle anderen Briefe habe er ihr zwangsweise diktiert. Aber Germain glaubt ihr nun kein Wort mehr und eilt zurück zu Denise. Wenig später wird die kreischende Laura von zwei Sanitätern in einen Ambulanzwagen verfrachtet und mitgenommen.

Der tote Dr. Vorzet (vor ihm das aufgeklappte Rasiermesser) ...
Denise geht es mittlerweile schon wieder besser, aber Germain entdeckt, dass er sich Sorgen sowohl um Denise als auch um das ungeborene Kind gemacht hat. Denise gesteht, dass sie sich selbst die Treppe hinabgestürzt hat. Germain hat nun seine Vergangenheit hinter sich gelassen und ist zu einem gemeinsamen Leben mit Denise - samt Kind - bereit. Wie um das zu unterstreichen, öffnet er das Fenster, so dass der Lärm der auf dem Schulhof spielenden Kinder hereindringt. Bei seinem ersten Krankenbesuch bei Denise hat er eben dieses Fenster geschlossen, weil ihn der Lärm der Kinder nervte, wie er ganz offen zugab. Natürlich erzählt er Denise dann, was sich im Hause Vorzet zutrug. Doch Denise hält seine Überzeugung, dass Laura der Rabe sei, für Unsinn. Sie überzeugt ihn, dass die Todesangst bei ihrem Anruf keineswegs gespielt, sondern echt gewesen sei. Germain gerät nun ins Grübeln. Wenn Laura doch nicht der Rabe ist, dann kommt nur noch einer in Frage ...

... und seine Mörderin
Germain eilt also nochmals zur Wohnung Vorzet. Als er Dr. Vorzet zur Rede stellen will, findet er ihn tot vor - vornübergebeugt auf dem Schreibtisch in einer Blutlache liegend, vor sich einen letzten Brief des Raben, fast vollendet, daneben das Rasiermesser, das schon François den Tod gebracht hatte. Es war also tatsächlich Vorzet der Rabe. Während Germain Vorzet findet, schleicht die schwarz verhüllte Gestalt von François' Mutter aus dem Haus. Germain sieht aus dem Fenster und erblickt die Frau, die sich noch einmal kurz umdreht. Dann geht sie langsam die Straße hinab.

- FIN


LE CORBEAU ist (unter seinem deutschen Titel) ohne erwähnenswerte Extras bei Arthaus auf DVD erschienen. Empfehlen kann ich die US-Ausgabe von Criterion, die vorzügliches Bonusmaterial mitbringt. Mindestens eine englische und diverse französische Ausgaben gibt es ebenfalls.

Dosensuppen und Faschismus

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LA SEMANA DEL ASESINO („Cannibal Man“)
Spanien 1973
Regie: Eloy de la Iglesia
Darsteller: Vicente Parra (Marcos), Eusebio Poncela (Néstor), Emma Cohen (Paula), Charly Bravo (Esteban), Vicky Lagos (Rosa), Lola Herrera (Carmen), Fernando Sánchez Polak (Señor Ambrosio)


Inhalt

Marcos arbeitet in einer Fleischfabrik, die unter anderem Dosensuppen mit Fleischbällchen produziert. Er hat die Dreißig schon gut überschritten, ist aber trotzdem mit der erheblich jüngeren Paula verlobt. Eines Abends werden beide von einem Taxifahrer aus dem Auto rausgeschmissen, weil sie sich auf der Rückbank stürmisch geküsst haben. Als der Taxifahrer dann die bereits zurückgelegte Strecke bezahlt bekommen möchte, weigert sich Marcos, zu zahlen. Und als der Fahrer gegenüber Paula handgreiflich wird, schlägt ihn Marcos mit einem Stein nieder.

Marcos ermordet Paula
Am nächsten Tag trifft sich der Arbeiter wieder mit seiner Verlobten. Sie haben aus der Zeitung erfahren, dass der Taxifahrer tot ist. Marcos nimmt das sehr gelassen hin, während Paula davon sehr beunruhigt ist. In Marcos‘ Wohnung schlafen die beiden miteinander, doch das vermag Paula nicht zu beruhigen. Sie stellt ihrem Verlobten ein Ultimatum: entweder, sie melden sich bei der Polizei und berichten über den Vorfall, oder sie wird ihn nicht heiraten. Daraufhin erwürgt Marcos seine Verlobte im Affekt und versteckt die Leiche in seinem Zimmer unter dem Bett.

In seiner schäbigen Wohnung (ein eingeschossiges Häuschen mit zwei Räumen) wohnt Marcos aber eigentlich nicht alleine, sondern in Wohngemeinschaft mit seinem Bruder Esteban, einem LKW-Fahrer. Der kommt frühzeitig von seinem letzten Auftrag zurück, weil sein Lastwagen eine Panne hatte. Das verärgert Esteban, aber zugleich freut er sich, dass er zurück ist, weil er seiner Verlobten Carmen bald eine schöne und teure Armbanduhr schenken kann. Bald merkt er, dass mit seinem Bruder etwas nicht in Ordnung ist. Nach einem Besuch in der Bar gesteht Marcos alles – den toten Taxifahrer, die Ermordung Paulas – und bittet Esteban darum, ihm zu helfen. Doch der will seinen Bruder der Polizei übergeben. Mit einem Schraubenschlüssel erschlägt nun Marcos auch seinen Bruder. Die Leiche versteckt er rasch in seinem Schlafzimmer.

Makabre Familienzusammenkunft
Marcos ist zwar aufgewühlt, geht aber am nächsten Tag trotzdem zur Arbeit, als wäre nichts gewesen. Als er nach Feierabend nach Hause kommt, steht Carmen vor der Haustür: sie sucht nach ihrem Verlobten Esteban. Marcos lässt sie ins Wohnzimmer rein, bittet sie dann aber (verständlicherweise) bald, wieder zu gehen. Carmen lässt sich aber nicht abwimmeln, möchte wissen, wo Esteban steckt und fragt auch danach, ob dieser etwas von einem Geschenk erwähnte. Sie will spontan und freudig in das Schlafzimmer gehen, um nach der „Überraschung“ zu suchen. Marcos versperrt ihr den Weg – auf so offensichtliche Weise, dass sie noch neugieriger wird und ihren zukünftigen Schwager in die Küche schickt, um ihr ein Glas Wasser zu holen. Als Marcos kurz weg ist, stürmt sie in das Schlafzimmer, findet dort aber kein Geschenk, sondern die übel zugerichtete Leiche ihres Verlobten. Daraufhin schneidet ihr Marcos mit einem Küchenmesser die Kehle durch. Die Leiche deponiert er wie üblich in seinem Schlafzimmer. Seinen Bruder und seine künftige Schwägerin legt er nun gemeinsam und makaber vereint in sein Bett.

Als Marcos dann nach frischer Luft schnappen möchte, begegnet ihm der Nachbar mit dem Hund – ein homosexueller Intellektueller, der in einer teuren Wohnung im naheliegenden Hochhaus wohnt und der immer wieder mit Marcos kleine Smalltalk-Gespräche führt. Er stellt sich als Néstor vor und schlägt Marcos vor, in ein Café zu gehen. Dort werden die beiden Männer von der Polizei kontrolliert, die aber nichts verdächtiges an ihnen findet. Marcos ist dennoch sichtlich beunruhigt. Als Néstor nach der Rückkehr fragt fragt, ob Marcos' Wohnung sehen könne, lehnt dieser nervös ab: sie sei hässlich und voller schlechter Erinnerungen. „Begrabe sie doch“, schlägt ihm Néstor vor. Die Assoziation entlässt Marcos noch nervöser in die Nachtruhe.

Am nächsten Morgen steht Señor Ambrosio vor der Tür: Carmens Vater ist auf der Suche nach seiner Tochter, und verdächtigt Esteban, mit ihr vor der Ehe zu schlafen. Marcos versichert ihm, dass Carmen nicht da sei – doch Señor Ambrosio findet Carmens Handtasche, und möchte ins Schlafzimmer gehen. Der Fleischarbeiter wimmelt ihn ab. Als Señor Ambrosio schon bereit ist, zu gehen, überlegt es sich Marcos anders: während er schon zu einem Küchenutensil greift, schlägt er Carmens Vater vor, ruhig ins Schlafzimmer zu gehen und selbst zu überprüfen. Señor Ambrosio stürmt ins das Schlafgemach und schäumt über vor Wut: im Bett liegt offenbar seine Tochter mit Esteban. Ein näheres Hinsehen zeigt, in welchem Zustand sich die beiden befinden: die letzte und furchtbare Erkenntnis des Señor Ambrosio, bevor er Marcos‘ Hackbeil ins Gesicht geschlagen bekommt.

Marcos' Lösung für das Leichenproblem
Marcos‘ Wohnung ist ohnehin recht klein, und bereits vier Leichen stapeln sich in seinem Schlafzimmer. Mit dem Hackbeil, das ihn des lästigen Señor Ambrosio entledigte, beginnt er die sterblichen Überreste seiner Familie zu zerkleinern und bringt eine Sporttasche voll davon zur Arbeit: das besondere Fleisch wird einfach in den Kreislauf seiner Fabrik eingespeist. Das ganze ist freilich nicht nur ein Platzproblem. Es ist gerade Hochsommer, selbst die Nacht bringt keine Abkühlung und die Leichname seiner Verwandtschaft beginnen zu riechen. Um dieses Problem zumindest provisorisch zu beheben kauft Marcos in einer Drogerie Raumdeodorant und starkes Parfum.

Marcos Leben wird immer mehr zur Qual. Zum Glück gibt es die nette Café-Besitzerin Rosa, die stets für einen kleinen Flirt offen ist und ihm auch spätnachts noch ein Essen zubereitet. Oder den freundlichen Nachbarn Néstor, der ihn in das Schwimmbad seines exklusiven Clubs einlädt. Die Freude währt aber nicht lange, als Rosa ihm dann im Café eine Suppe serviert, die sich (erst nach ein paar Löffeln) als Produkt seiner Fabrik entpuppt. Von Übelkeit und Magenkrämpfen geplagt torkelt Marcos nach Hause. Am nächsten Morgen steht Rosa vor der Haustür. Sie will sich nach dem Zustand ihres Stammgasts erkundigen, bringt ihm ein süßes Gebäck und verführt ihn dann auf seiner Wohnzimmercouch. Rosa ist danach überhaupt nicht aufzuhalten, und möchte nun die ganze, etwas verwahrloste Wohnung putzen, besonders aber das Schlafzimmer, aus dem ein unangenehmer Geruch entströmt. Marcos verhält sich plötzlich sehr merkwürdig, und Rosa geht langsam ein Licht auf, als sie Blutspritzer an der Wand und Flecken auf verschiedenen Gegenständen entdeckt. Zu spät: Marcos packt ihren Kopf und knallt ihn solange an die Wand, bis sie tot ist.

Voyeure: Néstor und Marcos beobachten Marcos'
Wohnung von Néstors Balkon aus
Der Fleischarbeiter zieht dann los, irrt den ganzen Tag ziellos und verwirrt durch die Stadt und kommt erst am Abend zu seiner Wohnung zurück. Hunde haben sich davor versammelt, und Marcos kann nicht mehr hineingehen: schier unerträglich ist mittlerweile der Geruch der verrottenden Leichen. Néstor findet Marcos just in diesem Moment vor seinem Häuschen und lädt ihn zu einem erfrischenden Drink bei sich ein. Die geräumige, geschmackvolle und luxuriös eingerichtete Wohnung beeindruckt Marcos, doch er ist umso beunruhigter, als ihn Néstor dazu auffordert, auf dem Balkon die Umgebung mit einem Fernglas zu überblicken: das Innere seiner Wohnung sei von Néstors Wohnung aus perfekt zu überblicken. Marcos reagiert panisch, zerbricht ein Glas und bedroht Néstor mit den Scherben, lässt aber doch von ihm ab. Der freundliche Nachbar bietet dem Mörder sogar, ihm helfen zu wollen. Marcos jedoch ist zu einer Erkenntnis gelangt, sagt seinem mittlerweile noch einzigen lebenden Bekannten, den er näher kennt, Aufnimmerwiedersehen und zeigt sich dann per Telefon selbst bei der Polizei an. Er wartet auf den Stufen seines Hauses auf die Verhaftung. Stunden später, als die Dämmerung schon eingebrochen ist, wartet er immer noch...



Dosensuppen, franquistische „Ordnung“, homosexuelle Ikonografie und „verschwommene Bildsymbolik“

Die Inhaltszusammenfassung macht es vielleicht nicht ganz deutlich, aber LA SEMANA DEL ASESINO ist nicht nur ein früher und überaus exzellenter Slasherfilm, sondern auch eine gallige Satire, eine offene Attacke auf Aspekte des Lebens in der späten Franco-Ära, und insbesondere auf die Verbindung von Faschismus mit modernem Konsum.

Konsumprodukte, die Gewalt übertünchen:
Dosensuppe und Raumdeodorant
Um es noch einmal zu rekapitulieren: in LA SEMANA DEL ASESINO geht es um einen Mann, der zahlreiche Menschen aus seiner Familie und Bekanntschaft ermordet und der dann ihre Leichen in einem abgeschlossenen Hinterzimmer verrotten lässt. Als der Geruch zu penetrant wird, übertüncht er das ganze mit Parfüm und speist die Leichname nach und nach in den Konsumkreislauf, in dem er sie zur Fleischbeigabe für Dosensuppen verarbeiten lässt. Dieser Film wurde in einem Land gedreht, dessen noch herrschendes faschistisches Regime während des Bürgerkriegs und noch einige Jahre danach zehntausende Menschen ermordet und viele Leichen in anonyme Massengräber verscharrt hatte (deren Öffnung und Untersuchung bzw. Nicht-Öffnung bietet in Spanien bis heute Stoff für Kontroversen). In den 1960er Jahren folgte in Spanien ein wirtschaftlicher Aufschwung mit Bauboom und einer Öffnung hin zum Tourismus – wenngleich dies keine prinzipielle politische Liberalisierung brachte, so hatte das Regime einen Umschwung zu weniger massenhaften Formen der Repressionen eingeleitet. Eine gezügelte, wenngleich stets gewaltbereite Diktatur wurde mit einem Schuss Konsum etwas „schmackhafter“ gemacht – für diejenigen, die nicht so genau hinsehen wollten, und schon gar nicht in die Hinterzimmer. Wenn in LA SEMANA DEL ASESINO die Leichen brutal ermordeter Menschen für Dosensuppen „nutzbar“ gemacht werden, findet der Spätfranquismus seine bittere Bestimmung.

Die Motivation Marcos‘, als er seine Freundin Paula im Affekt tötet, ist, dass er nicht verhaftet werden möchte. Im weiteren Verlauf des Films stellt sich ein gewisser Automatismus in seinen Morden ein: wer die Leichen entdeckt, den bringt Marcos um – weil er Angst um seine Freiheit hat. Diese Angst entpuppt sich nach und nach als vollkommen unberechtigt. Die Gesellschaft um ihn herum ist viel zu „atomisiert“, als dass sich irgendjemand außer den allernächsten Bekannten ernsthaft um die Verschwundenen Sorgen machen würde. Vor allem aber braucht sich Marcos absolut nicht vor der Polizei zu fürchten. Denn diese interessiert sich nicht für Morde. Die kurze Szene, in der Marcos und sein Nachbar Néstor von Ordnungshütern kontrolliert werden, macht dies deutlich: die beiden gehen spätabends in ein Café, um etwas zu trinken. Sie sind die einzigen Gäste. Eine Gruppe von Polizisten (zwei in Uniform, einer in Zivilkleidung) erscheint, und will die Papiere der beiden Männer kontrollieren. Dem mehrfachen Mörder bricht schon der kalte Schweiß aus, als er dem Polizisten in Zivil seinen Ausweis gibt. Doch diesem fällt nichts besonderes auf (man kann annehmen, dass der Ausweis ein Bild hat und das Bild mit dem Mann am Cafétisch übereinstimmt – und fertig ist die Sache). Néstor jedoch hat seinen Ausweis nicht dabei, und bleibt dabei dennoch sichtlich gelassen. Der Caféhausbesitzer erklärt den Polizisten, dass er Néstor kenne und dieser „im neuen Hochhaus da drüben“ lebe. Die Polizisten geben sich mit dieser Erklärung rasch zufrieden, denn sie merken mit dem Hinweis auf das Hochhaus gleich, dass der Kontrollierte ohne griffbereiten Ausweis ein wohlhabender Mann ist. Der Chef der Truppe betont dann noch einmal schulmeisterlich, wie wichtig es sei, den Ausweis immer mit sich zu führen, denn man wisse ja nie, wer sich so auf den Straßen herumtreibe. In wenigen Sekunden werden faschistische Vorstellungen von „Ordnung“ entlarvt: Wichtiger als die Suche nach wirklichen Mördern ist eine reine Symbolpolitik auf den Straßen in Form pompöser Ausweiskontrollen, die sich zumal auch von Klassenkriterien leiten lässt. Klingt logisch: ein Staatssystem, das auf Massenmord aufbaut, will bei Mord lieber nicht so genau hinsehen. Am Ende des Films denunziert sich Marcos selbst als Mörder bei der Polizei. Und wartet. Und wartet. Offenbar mehrere Stunden, denn er sitzt zunächst im Dunkeln vor seinem Haus. Dann ist die Sonne aufgegangen. Und keine Polizei kommt, um ihn zu verhaften. Warum einen Mörder verhaften, wenn man doch „Stärke“ demonstrieren kann, indem man Ausweispapiere auf der Straße kontrolliert? Das Schlussbild von LA SEMANA DEL ASESINO entlarvt nicht nur ein mörderisches Regime, sondern wirkt auch „an sich“ als wunderbares Sinnbild existentieller Verzweiflung: ein Mörder, der für seine Taten nicht verfolgt und bestraft wird (angesichts der Politik des Stillschweigens nach der Transformation in Spanien aber auch ein unangenehm prophetisches Bild).

Markantes Schlussbild: ein Mörder wird nicht verhaftet
Das Klassenelement, gewissermaßen die Reibung zwischen zwei verschiedenen Spaniens (diese gibt es auch in der postfranquistischen Groteske EL PLACER DE MATAR, über die ich hier schon schrieb), schwingt in LA SEMANA DEL ASESINO immer mit. Marcos lebt zusammen mit seinem Bruder Esteban in einer recht heruntergekommenen, einstöckigen Hütte in einem Viertel, das im Zuge des Baubooms  der 1960er Jahre langsam „gentrifiziert“ wird: ein Steinwurf davon entfernt werden schon Hochhäuser mit schicken Wohnungen für die Reichen und Schönen hochgezogen und diese Hochhäuser vertreiben langsam die schäbigen Baracken. Dieses reiche und „andere“ Spanien findet mit Néstor Eingang in die Geschichte: ein besonders schillernder und ambivalenter Vertreter. Seine Homosexualität entfremdet ihn größtenteils von seiner Umgebung und seinem eigenen Milieu (die katholische Kirche war schließlich eine tragende Säule des Franquismus). Néstors sehr raffinierte, überlegte und intellektuelle Sprechweise trennt ihn auch kulturell vom proletarischen Marcos, der immer wieder etwas irritiert bei seinem Nachbarn nachfragt, was denn dieses oder jenes Fremdwort bedeute. Dies widerspiegelt auch das Unbehagen des Mörders: bis zum Schluss ist sich Marcos überhaupt nicht sicher, ob denn Néstor von seinen Verbrechen konkret weiß (und wenn ja, was er mit diesem Wissen denn anstellen möchte). Der Zuschauer übrigens auch nicht, denn Néstor wird als Voyeur in den Film eingeführt: mit einem Fernglas beobachtet er von seiner Wohnung aus immer wieder seine Nachbarschaft, darunter auch Marcos‘ Haus. Später wird klar, dass neben erotischer Schaulust (Marcos läuft aufgrund der Hitze immer wieder oberkörperfrei durch seine Wohnung) dahinter auch der Versuch steht, eine existentielle Entfremdung zu lindern: Néstor ist trotz Reichtum von der Welt fast komplett abgeschnitten, zumal er als freiberuflicher Schriftsteller keine „materiellen Werte“ schafft und Marcos ist seine einzige Verbindung.

Homosexuelle Ikonographie im Schwimmbad
Marcos und Néstor mögen hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Situation und ihrer kulturellen Sozialisation getrennt sein – aber Freundschaft, Zuneigung, und seitens Néstors vielleicht sogar Liebe kennen keine Grenzen! LA SEMANA DEL ASESINO ist ein knüppelharter Film, nicht primär wegen seiner durchaus auch vorhandenen grafischen Gewalt, sondern wegen des hoffnungslosen, tristen und fatalistischen Grundtons. Der schwarze Humor, der immer wieder durchscheint, wirkt stets eher gallig als auflockernd. Doch im letzten Drittel passieren schier unglaubliche Dinge, die man in einem in der Franco-Ära entstandenen spanischen Film nicht vermuten würde: LA SEMANA DEL ASESINO eröffnet die Hoffnung auf eine mögliche Liebschaft zwischen Néstor und Marcos. Oder zumindest auf eine Freundschaft ohne wenn und aber. Der reiche Intellektuelle lädt den Arbeiternachbarn in das Schwimmbad seines exklusiven Luxusclubs ein. Dort gehen sie zusammen schwimmen. In einer rauschhaften Montage, die vollkommen furchtlos und entfesselt in Kitsch schwelgt, feiert der Film diesen homophilen Bund: beide können sich zumindest im Bad komplett fallen lassen und in trauter Zweisamkeit den Moment genießen. Die Schwimmbad-Szene von LA SEMANA DEL ASESINO erweckt für kurze Zeit den Eindruck, dass „New Queer Cinema“ nicht in den späten 1980er Jahren in angelsächsischen Ländern seinen Ausgang nahm, sondern ausgerechnet im franquistischen Spanien (die restliche Filmografie Eloy de la Iglesias würde dafür ebenso sprechen – dazu gleich mehr): sie ist ein kurze, poetische Ode an eine in alle Richtungen befreite männliche Sexualität.

Gewalt / Konsum
Reflexionen über ein Land mit einem auf Massenmord aufgebauten politischen System, Denkanstöße über die Verbindungen von Gewalt und Konsum, über soziale Ungleichheiten, Gentrifizierung und sexuelle Identität: LA SEMANA DEL ASESINO stürzte trotz seiner offensichtlichen thematischen Dichte in das Ghetto für cinematographische Schmuddelkinder. Im Ausland wurde „Die Woche des Mörders“ meistens als „Cannibal Man“ vermarktet und entsprechend auch behandelt. Er gehört zu den Filmen, die etwa im Vereinigten Königreich zu Beginn der 1980er Jahre der „video nasty“-Schmähkampagne zum Opfer fielen. Das „Lexikon des internationalen Films“ kritisierte „Cannibal Man“ hingegen als „psychologisch nicht fundiert“, „blutdürstig“ und warf dem Film eine „verschwommene Bildsymbolik“ vor.

Ohne behaupten zu wollen, dass Verrisse im „Lexikon des internationalen Films“ Garanten für die hohe Qualität eines Films sind, so ist LA SEMANA DEL ASESINO ein äußerst sorgfältig und minutiös inszenierter Film, voller teils subtiler visueller Details. Er beginnt ohne Vorwarnung mit blutigen, dokumentarischen Bildern aus der Fleischfabrik, in der Marcos arbeitet. Kühe werden abgeschlachtet, der Boden ist komplett rot, ganze Blutfontänen schießen aus den Wunden der geschlachteten Tiere (ist diese ganze Szene eine Anspielung auf Georges Franjus LE SANG DES BÊTES?). Der Film schneidet dann zu Marcos, der draußen steht, offenbar Pause macht und beherzt in ein Wurstsandwich beisst. Er genießt hier das Endprodukt seiner Arbeit – oder um die „verschwommene Bildsymbolik“ schärfer zu machen: extreme Gewalt und Konsumismus, die beiden Hauptthemen von LA SEMANA DEL ASESINO, werden schon in den ersten Sekunden recht deutlich formuliert. Es folgen die Anfang-Credits. DIe Kamera fährt durch das Wohngebiet Marcos‘ – schicke, industriell gefertigte Hochhäuser stehen neben „handgemachten“ Bruchbuden: das „reiche“ Spanien verdrängt das „arme“. Gewalt, Konsum, Klassenspannungen – bis zum Ende der Anfang-Credits hat der Film gewissermaßen schon sein „Exposé“ ausgelegt.

Marcos, Carmen und Jesus
Dass die Schlachterei in der Fleischfabrik und die Schlachterei in Marcos‘ Haus zusammenhängen, ergibt sich natürlich rein inhaltlich. Wer genau hinsieht, wird entdecken, dass die geometrische Struktur der Deckenfenster in Marcos‘ Bruchbude (durch die Néstor von seinem Balkon aus mit einem Fernglas hineinblicken kann) und die Deckenstruktur in der Schlachterei eine gewisse Ähnlichkeit haben. Auch Marcos‘ Biss in das Wurstbrötchen bei der Arbeit wird später in seiner Wohnung „gespiegelt“: Rosa bringt ihm ein kleines Gebäck zum Frühstück mit. Dieses bleibt zunächst liegen, während Marcos mit Rosa redet, mit ihr Sex hat und sie schließlich tötet (man könnte auch sagen: schlachtet). Danach erst nimmt er das Gebäck, und isst es.

Ebenso unausgesprochen, aber keineswegs „verschwommen“, sind die religiösen Regalien in Marcos‘ heimischer Schlachterei. Ein Jesusabbild und eine Plakette mit der Aufschrift „Gott schützt dieses Haus“ ziert die Aussenfassade. Einzelne Rosenkränze und Madonnenfiguren zieren die Inneneinrichtung. Die katholische Kirche, eine der tragenden Säulen des Franquismus, gibt dem Treiben in Marcos‘ Haus implizit ihren Segen.


Das wilde Kino des Eloy de la Iglesia

„Years before Almodovar patented his own brand of ‚shock‘ cinema, the Basque director Eloy de la Iglesia was busy smashing every taboo of the Spanish screen.“ – so das Urteil eines Nutzers der imdb über den Regisseur von LA SEMANA DEL ASESINO.

Eloy de la Iglesia, Jahrgang 1944, ist mit dem jüngeren und wesentlich berühmteren Álex de la Iglesia nicht verwandt, kommt aber ebenfalls aus dem Baskenland. Der Spross einer wohlhabenden Familie wuchs in Madrid auf und wollte schon früh Filmemacher werden. Er besuchte Kurse am Institut des hautes études cinématographiques in Paris (ob er dort vielleicht LE SANG DES BÊTES sah?) und begann dann ein Studium der Philosophie und Literatur in der spanischen Hauptstadt, das er abbrach, um Kindertheater zu inszenieren und Drehbücher für Kindersendungen der RTVE zu verfassen. 1966, mit knapp 22 Jahren, drehte de la Iglesia seinen ersten Kinofilm: FANTASÍA... 3, ein Märchenfilm mit den Episoden „Die kleine Meerjungfrau“, „Der Zauberer von Oz“ und „Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“. Es folgten dann die zwei erfolglosen Melodramen ALGO AMARO EN LA BOCA und CUADRILATERO. Sein Thriller EL TECHO DE CRISTAL von 1971 (von einigen Leuten als spanischer Giallo bezeichnet), in dem eine Frau eine Nachbarin verdächtigt, ihren Mann ermordet zu haben, wurde von Publikum und Kritik hingegen wohlwollend aufgenommen. Es folgte LA SEMANA DEL ASESINO und im selben Jahr UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO, der oft als eine spanische Variante von A CLOCKWORK ORANGE bezeichnet wird: eine liebevolle Krankenschwester entpuppt sich als Serienkillerin, die ihre Liebhaber mit einem Skalpell absticht; ein Arzt möchte mittels Elektroschocktherapie Gewaltverbrecher in Musterbürger verwandeln; Gangs in Motorradlederoutfits und mit Bullenpeitschen terrorisieren wohlhabende Bürger – Sue Lyon (LOLITA) und Christopher Mitchum spielten mit. Ebenso im Jahr 1973 kam NADIE OYÓ GRITAR heraus, in dem ein Mörder (Vicente Perra) seine Nachbarin, eine Edelprostituierte, entführt und sie zwingt, ihn bei der Beseitigung der Leiche seiner Ehefrau zu helfen.

De la Iglesia brach nicht nur in seinen Filmen alle möglichen und unmöglichen Tabus, sondern auch im Leben. Er war selbst offen homosexuell, und das in einem Staat, der Homosexuelle zu Hunderten in Gefängnisse, Zwangsarbeitslager und Psychiatrien einsperrte. Er engagierte sich auch als Mitglied in der Kommunistischen Partei Spaniens, die Anfang der 1970er natürlich noch illegal war. Die Verbindung eines Slasher-Szenarios mit ätzender Kritik an der franquistischen Variante des Konsumismus fiel also nicht aus heiterem Himmel, und auch seine anderen Filme sind von diesem politischen Impetus geprägt. Kommentare zu UNA GOTA DE SANGRE PARA MORIR AMANDO und NADIE OYÓ GRITAR bestätigen, dass dies nicht nur schwindelerregende Genre-Fantasien sind, sondern auch implizit politische Filme.

Dies wird auch in JUEGO DE AMOR PROHIBIDO recht deutlich, der knapp zwei Monate vor Francos Tod in die spanischen Kinos kam und den ein imdb-Nutzer als thematischer Vorläufer von Pier Paolo Pasolinis SALÒ bezeichnete: ein Lehrer entführt zwei seiner Schüler, um sie mittels Folter einer Gehirnwäsche zu unterziehen. Mit der politischen Transition bewegte sich de la Iglesia von wuchtigen Horror- und Thriller-Stoffen hin zu sozialen Melodramen oder grotesken Komödien – ohne jedoch die politischen Komponenten zu vernachlässigen. LOS PLACERES OCULTOS (1977) handelt von der platonischen Liebe eines wohlhabenden Bankiers zu einem jungen Mann aus der Arbeiterschicht: es war einer der ersten spanischen Filme, die so offen von Homosexualität handelten (de la Iglesia musste mehrere Monate lang mit der Zensur verhandeln) und am Premierentag demonstrierten homosexuelle Aktivisten zum ersten Mal öffentlich in Spanien. Im selben Jahr flieht in LA CRIATURA eine Frau von den Zumutungen ihrer Ehe, in dem sie eine sexuelle Liaison mit ihrem Schäferhund beginnt (neun Jahre vor dem thematisch ähnlich gelagerten MAX MON AMOUR von Oshima Nagisa). Die Titelfigur von EL SACERDOTE (1978) ist hingegen ein Priester, der sich nach der Weihe nicht von seiner Sexualität lossagen kann. In seinem nächsten Film, EL DIPUTADO, entwickelt de la Iglesia ein Szenario, in dem ein linker Abgeordneter aufgrund seiner Homosexualität von seinen politischen Gegnern erpresst wird (einen ähnlichen Subplot gab es in Otto Premingers ADVISE & CONSENT, den ich hier schon besprochen habe). Interessanterweise hatte EL DIPUTADO einen großen Erfolg in Mexiko und in den USA und machte de la Iglesia auch außerhalb seiner Heimat bekannt. In amerikanischen Kritikerkreisen wurde er als „spanischer Fassbinder“ bezeichnet. 15 Millionen Zuschauer sahen in Spanien den Film bei der Erstausstrahlung im Fernsehen.

De la Iglesia thematisiert in seinen Filmen häufig
urbanen Wandel und soziale Ungleichheit.
Hier: Gentrifizierung in LA SEMANA DEL ASESINO
Mit NAVAJEROS (1980), COLEGAS (1982), EL PICO (1983) und EL PICO 2 (1984) schuf de la Iglesia einen Zyklus von Filmen über jugendliche Delinquenten, die in den subproletarischen Peripherien von Städten spielen, wo Kleinkriminalität, Prostitution und Drogensucht herrschen – gedreht mit geringem Budget an Originalschauplätzen mit Laiendarstellern. Diese Filme waren kommerziell verhältnismäßig erfolgreich, fielen aber größtenteils bei der spanischen Kritik durch, die de la Iglesias Filme als vulgär  und voyeuristisch bezeichneten. Es folgte dann 1985 die Adaption von Henry James'„Turn Of The Screw“ OTRA VUELTA DE TUERCA (auf den Roman basierte auch THE INNOCENTS). LA ESTANQUERA DE VALLECAS von 1987 ist eine Komödie über einen misslungenen Überfall auf einen Tabakladen, ein Film, den de la Iglesia einem Interview zufolge als reinen Mainstreamfilm drehte, um Geld für persönlichere Projekte zu sammeln. Trotz des kommerziellen Erfolgs des Films kam es dann aber nicht dazu: seit Beginn der 1980er Jahre war de la Iglesia heroinabhängig. Nach LA ESTANQUERA DE VALLECAS machte ihn seine Sucht komplett arbeitsunfähig und er verschwand  für die nächsten 16 Jahre von der Bildfläche. 2003 drehte er noch LOS NOVIOS BÚLGAROS über einen wohlhabenden Spanier, der sich in einen jungen bulgarischen Immigranten verliebt und von diesem nach und nach ausgenommen wird. 2006 verstarb der an Nierenkrebs erkrankte Regisseur nach einer Operation.



Verfügbarkeit – und der verlorene „de-la-Iglesia-Cut“?

LA SEMANA DEL ASESINO ist in Deutschand, Österreich, im UK und in den USA auf DVD erschienen. Keine der verfügbaren Versionen enthält jedoch die spanische Originalfassung, sondern lediglich englische und ggf. deutsche Synchronfassungen. In Spanien selbst ist der Film offenbar in keiner Edition erschienen.
Diese Besprechung beruht auf der DVD/Blu-ray-Combo-Edition von Subkultur Entertainment, die Ende letzten Jahres herausgekommen ist. Das Label hat den Film als Nr. 2 seiner „Grindhouse Collection“ herausgebracht (Nr. 1 war der amerikanisch-philippinische Rache-Exploiter VENGEANCE IS MINE – meine ausführliche Besprechung hier). Der Film liegt wie gesagt nur auf englisch und auf deutsch vor: die englische Synchronisation fällt meiner Meinung nach in die Kategorie „halbwegs okay“. Kurzes Reinhören in die deutsche lässt vermuten, dass es sich um eine dieser fürchterlichen selbst-vertrashenden Kalauer-Synchros handelt. Das beiliegende Booklet hat nur Kinoaushangbilder.

Klingt alles nach nicht sehr nennenswerten Extras. Aber überaus interessant sind die „Deleted Scenes“, die wie folgt eingeführt werden: „Sehen Sie nun erstmals weltweit bisher unveröffentlichte Szenen der ursprünglich von Eloy de la Iglesias (sic!) montierten Version. Diese Szenen wurden im Zuge des Filmverbots in Spanien aus dem Negativ entfernt und schafften es somit auch in keine internationale Schnittfassung des Films.“ Diese Einführung schafft zwar prinzipiell mehr Verwirrung als Klarheit, aber scheinbar gab es eine „Ur-Fassung“ des Films, bevor er durch die Zensur ging. Und offenbar sind diese unter „Deleted Scenes“ aufgeführte zehn Minuten stumme Bilder (die Tonspur fehlte) auf Druck der Zensur herausgenommen worden. Es sieht zumindest so aus, als würden die Fragmente „chronologisch“ nach Verlauf des Films gezeigt werden. Folgende Szenen sind zu sehen:
– Marcos sitzt mit Handschellen in einem Polizeiauto: dieser Ausschnitt ist komplett farbentsättigt, fast schwarzweiß. Sieht aus wie eine Traumsequenz, die die Angst Marcos‘ vor einer Verhaftung zeigt.
– Ein Establishing Shot mit einer recht simplen Kamerafahrt von einem unbefestigen Weg auf Rosas Bar. Störte sich die Zensur vielleicht daran, dass man zwei Polizisten auf dem Weg sieht?
– Gespräch Marcos‘ mit dem Chef der Fabrik: im fertigen Film wird Marcos von einem Kollegen mitten in einem Arbeitsschritt gebeten, zum Chef zu gehen, und offenbar ist diese Szene der „Anschluss“ daran. Besagter Chef, in Anzug und Krawatte, spricht die meiste Zeit auf Marcos ein (was er sagt, hören wir ja nicht). Dieser ist unkonzentriert, weil er ständig auf die Beine einer jungen Frau im Minirock starren muss, die mit im Büro sitzt (die Sekretärin?).
– Gespräch Marcos‘ mit einem Arbeitskollegen in der Fabrik, wobei überwiegend der Kollege spricht.
– Gespräch Marcos‘ mit Señor Ambrosio an der Tür seiner Wohnung (offenbar sollte dieses länger werden als letztlich im veröffentlichten Film zu sehen)
– Gespräch zwischen zwei Vorarbeitern in der Fabrik, die sich offenbar über Marcos unterhalten, in zwei Teilen: zwischen diesen beiden Teilen liegt der Moment, der im veröffentlichten Film ist und in dem der Vorarbeiter Marcos‘ Sporttasche (in der er die Leichenteile zur Fabrik bringt) untersucht (sie ist zu diesem Zeitpunkt dann schon leer) und ihn streng daran erinnert, dass sein Vorgänger wegen Fleischdiebstahl entlassen wurde.
– Sexszene zwischen Marcos und Rosa, bei der mehr nackte Haut zu sehen ist und bei einer Kamerafahrt auch die ganzen Raumdeodorants auf dem Couchtisch, mit denen Marcos seine Wohnung „erfrischt“.
– Alternative Bilder der Stadt-Montage gegen Ende, als Marcos verwirrt durch die Straßen läuft: zu sehen sind unter anderem in Schaufenstern ausgestellte Puppen.
– Marcos steht in der U-Bahn und denkt nach. Die Tür geht auf und die Passagiere, inklusive Marcos, strömen raus.

Mit Ausnahme der „erweiterten“ Sexszene ist es, nicht zuletzt mangels Ton, oft unklar, warum die Zensur diese Szenen raus haben wollte. Bei den letzten dreißig Sekunden sind die Motive natürlich wesentlich klarer.

– Marcos steht kurz davor, Néstors Wohnung zu verlassen. Néstor geht auf Marcos zu. Es folgt eine kurze Rückblende (oder Erinnerung?) des Aufenthalts im Freibad, bei dem sie sich unter Wasser küssen. Nun fangen sie auch in Néstors Wohnung an, sich stürmisch zu küssen, zunächst bekleidet, dann nackt, während die Kamera um sie herum kreist. Die homosexuelle Ikonografie von LA SEMANA DEL ASESINO sollte also im „de-la-Iglesia-Cut“ ganz explizit sein. Ob sie „wörtlich“ zu verstehen ist (die beiden Männer sich wirklich küssen) oder ob es sich nur um Néstors Fantasie handelt, ist jedoch unklar.
– Es gibt dann noch eine knappe Sekunde, in der man Néstor in seiner Wohnung sitzen sieht, bevor die Einblendung „Fin“ kommt. Vielleicht alternatives Ende, das im Schlussbild nicht mit Marcos, sondern mit Néstor den Film beschloss?

Zwischendurch immer wieder eingestreut sind:
– Weiß-auf-Schwarz-Texttafeln mit Angabe des Wochentags. Der veröffentlichte Film spielt vielleicht in einer Woche, vielleicht auch in einem Monat – das wird im Grunde offen gelassen: wie viele Tage zwischen den Schnitten vergehen, ist nie ganz klar. Der „de-la-Iglesia-Cut“ teilte offenbar den Film in sieben Kapitel ein, was ihm nicht nur eine strengere Form, sondern auch eine biblische Assoziation mit schwarzhumorig-galligem Unterton verliehen hätte.

Die kulturell bedeutendsten Filme - objektiv und automatisch ermittelt

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Funktioniert sowas überhaupt? Nun ja, wie man's nimmt. Zumindest für US-amerikanische Filme ist das Ergebnis recht brauchbar (sofern man einem solchen Kanon überhaupt etwas abgewinnen kann), für andere Länder eher nicht. Es geht um Folgendes: Eine Gruppe von Forschern, die meisten von der Northwestern University in Evanston (Illinois), nicht weit von Chicago, hat sich Gedanken darüber gemacht, ob und wie man eben die kulturelle Signifikanz von Filmen automatisiert ermitteln kann. Ihre Ergebnisse haben sie letztes Jahr in zwei Artikeln veröffentlicht, die man vollständig und kostenlos online lesen kann (aber Vorsicht: trockener Stoff mit viel Statistik). Frühere Versuche auf diesem Gebiet orientierten sich vorwiegend an finanziellen Parametern (z.B. Herstellungskosten, gesamtes Einspielergebnis, größtes wöchentliches Einspielergebnis) und erbrachten keine überzeugenden Resultate. Die Autoren um Max Wasserman und Luís A. N. Amaral kamen nun auf die Idee, ein Maß aus der Welt der Wissenschaft auf Filme zu übertragen. Die Bedeutung eines wissenschaftlichen Artikels wird üblicherweise daran gemessen, wie oft er von anderen Forschern in ihren eigenen Arbeiten zitiert wird. Übertragen auf Filme heißt das: Je öfter Elemente eines Films in späteren Filmen zitiert werden, desto bedeutender ist er. Da solche Zitate im Gegensatz zu wissenschaftlichen Artikeln bei Filmen nicht explizit annonciert werden, ersannen die Forscher ein Verfahren, die Daten aus der IMDb zu extrahieren (mehr zu der Technik weiter unten). Dann verglichen sie die damit erzielten Ergebnisse mit Verfahren, die auf den Bewertungen professioneller Filmkritiker sowie auf der "Schwarmintelligenz" vieler Amateur-Rezensenten beruhen. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Eine Variante der IMDb-Technik erzielte das beste Ergebnis.

Zunächst aber untersuchten die Forscher mit statistischen Verfahren, wie verschiedene in der IMDb gespeicherte Größen voneinander abhängen. Im Mai 2014 veröffentlichten sie diese Zwischenergebnisse im Journal of the Association for Information Science and Technology in einer Arbeit mit dem Titel "Correlations between user voting data, budget, and box office for films in the internet movie database". In der IMDb gibt es die Sektion Connections. Von den acht Kategorien, wie hier zwei Filme miteinander verknüpft sein können, berücksichtigten die Autoren nur drei, nämlich references, spoofs und features. References bedeutet, dass ein Film Handlungs- oder Stilelemente eines anderen Films zitiert. Spoofs ist ähnlich, nur wird hier der frühere Film karikiert (man denke etwa an die Hitchcock-Veräppelungen in HÖHENKOLLER). Features schließlich bedeutet, dass Ausschnitte des älteren Films im neueren zu sehen sind, z.B. als "Film im Film" auf einem Fernsehschirm oder einer Kinoleinwand. Die Forscher ermittelten einen Fundus von über 32.000 Filmen, die auf eine dieser drei Arten aufeinander verweisen. Davon verwendeten sie das größte direkt zusammenhängende Netzwerk, fast 29.000 Filme mit über 74.000 Verbindungen, für die weitere Analyse. Dieser Korpus wurde daraufhin auf drei Gruppen verteilt: US-Filme, englischsprachige Filme, die nicht aus den USA kommen, und alle anderen Filme. Damit wurde dann untersucht, ob und in welcher Form es zu systematischen, von der Sprache oder dem Herkunftsland abhängigen Verzerrungen bei den User-Votings und bei den Connections in der IMDb kommt. Und tatsächlich fanden die Forscher, dass sowohl US-Filme als auch sonstige englischsprachige Filme stärker repräsentiert sind, als zu erwarten wäre, wenn Sprache oder Land keine Rolle spielen würden. Um systematische Fehler durch sprach- und länderübergreifende Vergleiche zu vermeiden, betrachteten die Forscher im Folgenden nur noch rein amerikanische Filme. Von internationalen Coproduktionen mit amerikanischer Beteiligung berücksichtigten sie nur solche, die in den USA gedreht wurden (so ist etwa DR. STRANGELOVE noch dabei, A CLOCKWORK ORANGE dagegen nicht, obwohl beide britisch-amerikanische Produktionen sind). Das betrachtete Netzwerk reduzierte sich dadurch auf 15.425 Filme mit 42.794 Verknüpfungen. Mit diesem endgültigen Korpus führten die Forscher dann die im Titel der Arbeit schon genannten Untersuchungen über den statistischen Zusammenhang von User-Votes in der IMDb, Produktionskosten und Einspielergebnissen durch. Dieser Aspekt hat wich weniger interessiert (außerdem gibt es hier Statistik auf einem Niveau, das mir zu hoch ist), deshalb hier nur kurz das Hauptergebnis: Sowohl das Einspielergebnis als auch (noch etwas stärker) die Produktionskosten eines Films korrelieren stark mit der Zahl der abgegebenen Stimmen bei den User-Votes. Das kommt nicht wirklich überraschend, aber jetzt ist es auch bewiesen, zumindest für die USA (sofern die Autoren die statistischen Werkzeuge korrekt angewendet haben, was ich nicht beurteilen kann). Die Höhe der durchschnittlichen Bewertung bei den Votes hängt dagegen nicht von den beiden finanziellen Größen ab. Das Fazit des Artikels ist so schön, dass ich es wörtlich wiedergeben muss: "Therefore, budget is overwhelmingly the most relevant factor in determining a film's ultimate prominence. To make a film more notable, Hollywood does not need to spend more money on making it better; Hollywood just needs to spend more money."

Drei der ursprünglichen sechs Autoren legten dann im zweiten Artikel nach, erschienen letzten Dezember unter dem Titel "Cross-evaluation of metrics to estimate the significance of creative works" in den Proceedings of the National Academy of Sciences of the USA (PNAS). Vielleicht, weil die PNAS ein bekannteres Journal sind, oder auch, weil sich das Kernergebnis der zweiten Arbeit griffiger formulieren lässt als die Ergebnisse des ersten Artikels, wurde diese Arbeit nun auch außerhalb der Wissenschaftskreise wahrgenommen, und die Presse berichtete (auf Deutsch u.a. hier und hier). Nachdem die Autoren Max Wasserman, Xiao Han T. Zeng und Luís A. Nunes Amaral noch einmal rekapitulieren, wie sie zu ihrem Netzwerk aus über 15.000 Filmen mit fast 43.000 Verbindungen gekommen sind, geht es dann ans Eingemachte. Wenn man ermitteln will, wie gut eine Methode die kulturelle Bedeutung von Filmen erfassen kann, muss man bereits wissen bzw. definieren, was ein kulturell bedeutsamer Film sein soll. Die Autoren griffen dabei auf die Liste der Filme zurück, die in der National Film Registry (NFR) versammelt sind, die vom National Film Preservation Board für die Library of Congress nach einem sorgfältigen Auswahlverfahren erstellt wird. Zum Zeitpunkt der Untersuchung waren das 625 Filme, momentan sind es 650. Nun wurde also gemessen, wie gut verschiedene Verfahren die Liste der NFR reproduzieren können. Als Beispiel für professionelle Kritiker wurde Roger Ebert ausgewählt - weniger, weil er (beim breiten Publikum) der bekannteste amerikanische Kritiker war, sondern weil er über viele Jahre hinweg zahlreiche Filme mit einem einheitlichen und übersichtlichen Sterne-System bewertet hat, so dass sich seine Meinung gut in Statistik übersetzen ließ. Außerdem wurde die Website Metacritic ausgewertet, die viele verschiedene Quellen berücksichtigt und daraus einen Durchschnittswert bildet. Als Vertreter der "wisdom of the crowd" wurde einerseits die Zahl der abgegebenen Stimmen und andererseits die Durchschnittswertung bei den IMDb User-Votes herangezogen. Und schließlich wurden zwei automatische Verfahren getestet: das schon beschriebene mit den Movie Links, wobei zunächst alle Referenzen gezählt wurden, die in die genannten drei Kategorien fallen (in der Studie total citation count genannt), sowie schließlich ein PageRank-Algorithmus ähnlich dem, der von Google verwendet wird.

Und das Ergebnis: Roger Ebert schneidet schlecht darin ab, die NFR zu reproduzieren, die beiden Varianten der Schwarmintelligenz besser, und Metacritic noch besser. Die beiden automatisierten Verfahren sind ungefähr so gut wie Metacritic, und untereinander hat mal der total citation count und mal PageRank die Nase vorn, je nach der verwendeten statistischen Analysemethode. Doch es geht noch besser. Die beste Trefferquote erzielt der citation count, jedoch mit einer Modifikation: Es werden nicht mehr alle Referenzen gezählt, sondern nur noch die, bei denen zwischen dem referenzierten und dem referenzierenden Film mindestens 25 Jahre liegen. Durch diesen long-gap citation count werden die Effekte von kurzfristigen Hypes eliminiert und dadurch insgesamt die Qualität der Daten verbessert. Es bleiben dann sozusagen die zeitlosen Klassiker übrig. Die Lücke von 25 Jahren mag groß erscheinen, aber die Autoren haben mit ihren statistischen Analysen ermittelt, dass sich erst nach ungefähr dieser Zeit die Effekte kurzfristiger Überbewertung von Filmen verlieren. Die Autoren beschäftigen sich dann noch damit, ob eher ein Film als Ganzes oder eher einzelne ikonische Szenen referenziert werden. Diese Frage untersuchen sie zunächst an 15 ausgewählten Filmen und versuchen dann, das Ergebnis auf die Gesamtheit zu übertragen, gestehen dabei aber Schwierigkeiten ein, so dass sie zu keinen allgemeinen Aussagen fähig sind.

Und wie kamen die Forscher nun an die Daten für ihre Untersuchung? Die meisten Internet-affinen Filmfreunde kennen die IMDb. Weit weniger bekannt ist aber, dass es neben dem Web-Interface noch einen weiteren Zugang gibt. (Früher gab es noch einen bandbreitenschonenden dritten, nämlich per Mail, aber der scheint inzwischen abgeschafft worden zu sein.) Nicht alle, aber die meisten und wichtigsten Daten werden auch in Form von Listen in komprimierten Textdateien zur Verfügung gestellt. Diese Listen liegen auf drei frei zugänglichen FTP-Servern, einer in Schweden, einer in Finnland, und ein Server der Freien Universität Berlin, wo sie einmal wöchentlich (normalerweise in der Nacht von Freitag auf Samstag) aktualisiert werden. Entpackt haben alle Listen zusammen eine Größe von derzeit ca. fünfeinhalb Gigabyte (der Umfang wächst langsam, aber stetig). Die Informationen über die Connections stecken in der Liste movie-links.list. Mit diesen Listen kann man dann am heimischen PC oder Notebook arbeiten. Dafür gibt es verschiedene und unterschiedlich leistungsfähige Programme, die entweder direkt mit den Listen arbeiten oder daraus eine Datenbank (im technischen Sinn) erstellen, was deutlich flexiblere Abfragen erlaubt. Die Autoren der Studie arbeiteten permanent mit einer im Oktober 2012 heruntergeladenen Version der Daten, und sie benutzten zur Auswertung selbst geschriebene Python-Programme. Ich selbst benutze die Offline-Version der IMDb seit ungefähr 15 Jahren, und die längste Zeit davon mit dem Programm AMDbFront, das die Daten in eine MySQL-Datenbank überführt. Neben den leistungsfähigen Recherche-Möglichkeiten, die mit dem Online-Zugang überhaupt nicht möglich sind, erfreut auch eine übersichtliche und werbefreie Oberfläche das Auge. Leider wird AMDbFront seit vielen Jahren nicht mehr weiterentwickelt, und es ist inzwischen fast komplett aus dem Internet verschwunden (nur bei www.archive.org findet man es noch). Als Alternative mag JMDB dienen, das ich aber selbst nie getestet habe, und dessen Entwicklung inzwischen auch etwas zu stagnieren scheint. Leider haben die Maintainer der IMDb vor einigen Monaten das Format von movie-links.list geändert. Die Liste enthält jetzt nur noch die Link-Kategorien version of, follows und das passive Gegenstück followed by. References, spoofs und features (bzw. die passiven Gegenstücke dazu) sind nicht mehr enthalten, und damit sind die hier beschriebenen Untersuchungen überhaupt nicht mehr möglich. Ich hatte aber zum Glück ein Backup vom März 2013, auf das ich zurückgreifen konnte. Und damit ist es mir gelungen, ein Ergebnis der Studie, nämlich die Erstellung einer Liste mit Hilfe des long-gap citation count, weitgehend zu reproduzieren.

Einfache Anfragen erledigt man in AMDbFront per GUI, aber für komplexere Probleme kann man die Datenbank-Sprache SQL verwenden. Hier nun ohne weitere Vorwarnung mein SQL-Statement:

select movie1.title, count(movie1.title) as LGC
from movies as movie1, movies as movie2, movielinks, ml, moviecountries as mc1,
moviecountries as mc2, countries as country1, countries as country2
where movie1.title_id = mc1.title_id
and mc1.country_id = country1.country_id
and country1.country = 'USA'
and movie2.title_id = mc2.title_id
and mc2.country_id = country2.country_id
and country2.country = 'USA'
and movie2.date < 2012
and movie2.date - movie1.date > 24
and movie1.title_id = movielinks.title_id
and movielinks.title_ref = movie2.title_id
and movielinks.ml_id = ml.ml_id
and (ml.description = 'referenced in' or
ml.description = 'featured in' or
ml.description = 'spoofed in')
and movie1.title not like '"%'
and movie1.title not like '%(TV)'
and movie1.title not like '%(V)'
and movie1.title not like '%(VG)'
and movie2.title not like '"%'
and movie2.title not like '%(TV)'
and movie2.title not like '%(V)'
and movie2.title not like '%(VG)'
group by movie1.title
order by LGC desc
limit 50;

Ich bin kein SQL-Experte, und vielleicht kann man das noch eleganter oder performanter formulieren, aber so funktioniert es auch. Die Erstellung der Liste benötigt auf meinem alten PC (AMD Athlon XP 3000+, 1,5 GB RAM, keine SSD) beim ersten Mal ca. dreieinhalb Minuten. Bei wiederholter Ausführung, auch mit veränderten Parametern (z.B. einem anderen Land als den USA), geht es etwa viermal so schnell, weil ein Teil der Daten schon in einem Cache von MySQL (also im RAM) liegt und nicht mehr von der Platte geholt werden muss. Das lässt Luft zum Experimentieren, und das habe ich genutzt.


Listen, Listen und nochmal Listen


Die Liste nach dem long-gap citation count, genauer gesagt die ersten 41 Einträge (alle, die einen LGC von über 50 haben), findet sich im Supplement S1 zum Artikel (Tabelle S3). Hier der direkte Vergleich der "offiziellen" und meiner eigenen Liste:

USA - links Wasserman et al., rechts meine Liste
TitelLGCTitelLGC
The Wizard of Oz (1939)565 The Wizard of Oz (1939)607
Star Wars (1977)297 Star Wars (1977)324
Psycho (1960)241 Psycho (1960)278
Casablanca (1942)212 Casablanca (1942)234
Gone with the Wind (1939)198 Gone with the Wind (1939)214
King Kong (1933)191 King Kong (1933)206
Frankenstein (1931)170 Frankenstein (1931)186
The Godfather (1972)162 The Godfather (1972)183
2001: A Space Odyssey (1968)143 2001: A Space Odyssey (1968)162
Citizen Kane (1941)143 Citizen Kane (1941)161
Jaws (1975)129 Jaws (1975)139
Night of the Living Dead (1968)122 Night of the Living Dead (1968)126
It's a Wonderful Life (1946)109 It's a Wonderful Life (1946)120
The Graduate (1967)  97 The Graduate (1967)114
Vertigo (1958)  92 Vertigo (1958)103
Dr. Strangelove or: How I Learned ... (1964)  91 Dr. Strangelove or: How I Learned ... (1964)100
Snow White and the Seven Dwarfs (1937)  91 Snow White and the Seven Dwarfs (1937)97
Dracula (1931)  90 Dracula (1931)95
  --- A Clockwork Orange (1971)94
  --- Il buono, il brutto, il cattivo. (1966)91
The Maltese Falcon (1941)  80 The Exorcist (1973)84
Bambi (1942)  79 Bambi (1942)83
The Exorcist (1973)  78 The Maltese Falcon (1941)82
Taxi Driver (1976)  71 Sunset Blvd. (1950)80
Sunset Blvd. (1950)  70 Taxi Driver (1976)77
Planet of the Apes (1968)  69 Singin' in the Rain (1952)72
Deliverance (1972)  66 Deliverance (1972)70
The Sound of Music (1965)  61 Planet of the Apes (1968)69
Bride of Frankenstein (1935)  58 Bride of Frankenstein (1935)67
Singin' in the Rain (1952)  57 The Sound of Music (1965)66
The Texas Chain Saw Massacre (1974)  57 The Texas Chain Saw Massacre (1974)65
Apocalypse Now (1979)  57 Apocalypse Now (1979)64
Rebel Without a Cause (1955)  57 Rebel Without a Cause (1955)64
Star Wars: Episode V - The Empire ... (1980)  56 Star Wars: Episode V - The Empire ... (1980)62
Mary Poppins (1964)  54 Mary Poppins (1964)62
Rear Window (1954)  54 The Seven Year Itch (1955)60
North by Northwest (1959)  54 North by Northwest (1959)59
Pinocchio (1940)  53 Dirty Harry (1971)59
Willy Wonka & the Chocolate Factory (1971)  52 Rear Window (1954)59
The Seven Year Itch (1955)  51 Pinocchio (1940)57
Rosemary's Baby (1968)  51 Rosemary's Baby (1968)57
Dirty Harry (1971)  51 The Wolf Man (1941)57
West Side Story (1961)  51 West Side Story (1961)57

Wie oben schon erwähnt, sind in der offiziellen Liste außerhalb der USA entstandene Produktionen nicht vertreten, bei mir sind sie dagegen aufgrund der verwendeten SQL-Query drin. Das betrifft hier A CLOCKWORK ORANGE und IL BUONO, IL BRUTTO, IL CATTIVO. Ich habe darauf verzichtet, diese Titel nachträglich aus der Liste zu löschen, stattdessen habe ich in der offiziellen Liste zwei Leerzeilen eingefügt, um die Übersichtlichkeit beim Vergleich zu wahren. Wie man sieht, reproduziert mein Verfahren die Reihenfolge der offiziellen Liste recht gut. Dass meine Zahlen etwas höher sind, hat wahrscheinlich mehrere Gründe. Erstens sind meine Daten etwas neuer (März 2013 vs. Okt. 2012), und in der Zwischenzeit können neue Verknüpfungen in die IMDb eingetragen worden sein. Zweitens berücksichtige ich, wie eben erwähnt, etwas mehr Filme, und das betrifft nicht nur die referenzierten, sondern auch die referenzierenden Filme, so dass sich dadurch die Zahl der erfassten Verknüpfungen erhöhen kann. Weitere Abweichungen können sich dadurch ergeben, dass ich in meiner Liste Fernsehserien (sowohl ganze Serien als auch einzelne Folgen davon), TV-Filme und Shows, Videos und Videospiele ausgeschlossen habe, während ich nicht weiß, wie das die Autoren der Studie genau gehandhabt haben (sie erwähnen in dieser Hinsicht nur, dass sie Kurz- und Dokumentarfilme nicht ausgeschlossen haben). Klar ist aber immerhin, dass in der offiziellen Liste TV-Serien nicht berücksichtigt sind, denn ansonsten würde STAR TREK (die Original-Serie) auf Platz 3 landen, und weitere Serien wie SESAME STREET, THE FLINTSTONES, BATMAN und THE TWILIGHT ZONE wären vorne mit dabei. - Von den 41 ersten Filmen auf der offiziellen Liste waren zum Zeitpunkt der Untersuchung gerade mal vier nicht in der NFR vertreten, und zwei davon, nämlich ROSEMARY'S BABY und WILLY WONKA & THE CHOCOLATE FACTORY, wurden bei der letzten Erweiterung im Dezember 2014 aufgenommen, gerade mal zwei Wochen nach Erscheinen der Studie. Die beiden verbleibenden Filme, die es (noch) nicht in die NFR geschafft haben, sind THE SEVEN YEAR ITCH und THE TEXAS CHAIN SAW MASSACRE.

Nachdem ich mich also davon überzeugt hatte, dass meine Methode im Prinzip funktioniert, wollte ich sehen, ob ich einen weiteren "offiziellen" Kanon ähnlich der NFR reproduzieren kann. Dazu wählte ich Dänemark, denn es gibt seit 2006 einen Dänischen Kulturkanon, der jeweils zwölf Werke aus verschiedenen Kategorien enthält, darunter auch zwölf Filme. Zwar ist dieser Kanon nicht unumstritten, aber darum soll es hier nicht gehen. Die zwölf Filme sind (in chronologischer Ordnung):

Dänischer Kulturkanon:
Du skal ære din hustru (Carl Th. Dreyer, 1925)
Vredens Dag (Carl Th. Dreyer, 1943)
Ditte Menneskebarn (Bjarne Henning-Jensen, 1946)
Soldaten og Jenny (Johan Jacobsen, 1947)
Sult (Henning Carlsen, 1966)
Bennys Badekar (Jannik Hastrup, Flemming Quist Møller, 1971)
Matador (Erik Balling, 1978-1982)
Kundskabens træ (Nils Malmros, 1981)
Babettes gæstebud (Gabriel Axel, 1987)
Pelle Erobreren (Bille August, 1987)
Festen (Thomas Vinterberg, 1998)
Idioterne (Lars von Trier, 1998)

Mein Versuch, diese Liste halbwegs zu reproduzieren, schlug komplett fehl:

Dänemark:
TitelLGC
Afgrunden (1910)4
Engelein (1914)3
Afsporet (1942)2
Café Paradis (1950)2
De nåede færgen (1948)2
Den sorte drøm (1911)2
Det perfekte menneske (1967)2
Dilemma (1962/II)2
Far til fire (1953)2
Gertrud (1964)2
Mød mig paa Cassiopeia (1951)2

Danach folgen noch ca. 40 Filme mit jeweils einem Punkt, von denen wenigstens vier im Kanon vertreten sind. Das Schlimmste an diesem kläglichen Ergebnis sind die mickrig kleinen Zahlen, die die ganze Liste von vornherein wertlos machen. Um es vorwegzunehmen: Mit anderen Ländern sieht es nicht viel besser aus. Immer werden die Zahlen schnell sehr klein, so dass keine wirklich brauchbaren Listen zustandekommen. Deshalb mein schon am Anfang verkündetes Fazit, dass die Methode nur für die USA brauchbar ist, aber nicht für andere Länder. Die Forscher diskutieren dieses Problem nicht - sie beschränkten sich ja eben auf amerikanische Filme, wo die Zahlen groß genug sind.

Doch ich ließ mich nicht entmutigen, sondern ich habe unverdrossen weitere Listen erstellt, aus reiner Neugier. Zunächst hat mich natürlich Deutschland interessiert. Hier wird es etwas kompliziert. Deutschland ist in der IMDb als "Germany", "West Germany" und "East Germany" vertreten. "West" und "East Germany" bezeichnen die BRD (bis 1990) bzw. die DDR, dagegen sind die westlichen und die sowjetische Besatzungszone bis 1949 einfach "Germany", ebenso wie Deutschland bis 1945 und das wiedervereinigte Deutschland. Man muss sich also überlegen, welche Liste man genau haben will und wie man daran kommt. Es hätte beispielsweise wenig Sinn, eine Liste bis 1949 zu erstellen und dafür sowohl für die referenzierten als auch die referenzierenden Filme (movie1 und movie2 im SQL-Statement) nur solche bis 1949 zuzulassen, denn durch den time gap von 25 Jahren könnten dann überhaupt nur Filme bis 1924 auf der Liste landen, was nicht Sinn der Sache wäre. Deshalb habe ich eine Liste bis 1949 erstellt, aber bei den referenzierenden Filmen solche aus allen Zeiträumen und allen deutschen Staaten zugelassen.

Deutschland bis 1949:
TitelLGC
Der blaue Engel (1930)13
Nosferatu, eine Symphonie des Grauens (1922)13
Triumph des Willens (1935)13
Metropolis (1927)12
M (1931)11
Olympia 1. Teil - Fest der Völker (1938)8
Dr. Mabuse, der Spieler - Ein Bild der Zeit (1922)6
Der ewige Jude (1940)5
Kolberg (1945)5
Olympia 2. Teil - Fest der Schönheit (1938)5
Die Büchse der Pandora (1929)4
Die Nibelungen: Siegfried (1924)4
Der Golem (1915)3
Die 3 Groschen-Oper (1931)3
Die Drei von der Tankstelle (1930)3
Die Mörder sind unter uns (1946)3
Die Nibelungen: Kriemhilds Rache (1924)3
Die große Liebe (1942)3
Jud Süß (1940)3
Ohm Krüger (1941)3
Sumurun (1920)3

Auch bei BRD und DDR habe ich alle späteren deutschen Filme als Referenz zugelassen. Es sei daran erinnert, dass auch internationale Coproduktionen auf den Listen auftauchen können, ungeachtet der "gefühlten" Herkunft der Filme.

BRD (bis 1990):
TitelLGC
Il buono, il brutto, il cattivo. (1966)11
Per un pugno di dollari (1964)5
Angst essen Seele auf (1974)4
Abschied von gestern - (Anita G.) (1966)3
Aguirre, der Zorn Gottes (1972)3
La caduta degli dei (Götterdämmerung) (1969)3
Alice in den Städten (1974)2
Der Schatz im Silbersee (1962)2
Der Zinker (1963)2
Die Brücke (1959)2
Fontane Effi Briest (1974)2
Les parapluies de Cherbourg (1964)2
Liebe ist kälter als der Tod (1969)2
Lola Montès (1955)2
Tiefland (1954)2
Warnung vor einer heiligen Nutte (1971)2
Winnetou - 3. Teil (1965)2
Winnetou und das Halbblut Apanatschi (1966)2

DDR:
TitelLGC
Die Legende von Paul und Paula (1973)2
Geliebte Weiße Maus (1964)2
Solo Sunny (1980)2
Spur der Steine (1966)2
Berlin - Ecke Schönhauser (1957)1
Berlin um die Ecke (1965)1
Das Kaninchen bin ich (1965)1
Der geteilte Himmel (1964)1
Die Antike Münze (1965)1
Eine Handvoll Noten (1961)1
Ernst Thälmann - Führer seiner Klasse (1955)1
Ernst Thälmann - Sohn seiner Klasse (1954)1
Heißer Sommer (1968)1
Ich war neunzehn (1968)1
Jahrgang '45 (1965)1
Karla (1965)1
Kocicí princ (1979)1
Meine Frau macht Musik (1958)1
Revue um Mitternacht (1962)1
Sterne (1959)1

Beim wiedervereinigten Deutschland kann die Forderung nach einer Lücke von 25 Jahren aus naheliegenden Gründen nicht aufrechterhalten werden. Ich habe deshalb hier den Wert willkürlich auf 10 Jahre herabgesetzt. Trotzdem fiel die Liste recht mickrig aus.

Wiedervereinigtes Deutschland:
TitelLGC
Fight Club (1999)2
Kein Pardon (1993)2
Amjad's Village (1991)1
Beruf Neonazi (1993)1
Bis ans Ende der Welt (1991)1
Das Leben ist eine Baustelle. (1997)1
Das Versprechen (1995)1
Der Totmacher (1995)1
Europa (1991)1
Ich bin meine eigene Frau (1992)1
La cérémonie (1995)1
La vie de bohème (1992)1
Lola rennt (1998)1
Malina (1991)1
Poussières d'amour - Abfallprodukte der Liebe (1996)1
Prinz in Hölleland (1993)1
Resident Evil (2002)1
Schattenboxer (1992)1
The Hudsucker Proxy (1994)1
Werner - Beinhart! (1990)1

Und schließlich eine gesamtdeutsche Schau, über alle Zeiten und Systeme hinweg.

Deutschland (gesamt):
TitelLGC
Der blaue Engel (1930)13
Nosferatu, eine Symphonie des Grauens (1922)13
Triumph des Willens (1935)13
Metropolis (1927)12
Il buono, il brutto, il cattivo. (1966)11
M (1931)11
Olympia 1. Teil - Fest der Völker (1938)8
Dr. Mabuse, der Spieler - Ein Bild der Zeit (1922)6
Der ewige Jude (1940)5
Kolberg (1945)5
Olympia 2. Teil - Fest der Schönheit (1938)5
Per un pugno di dollari (1964)5
Angst essen Seele auf (1974)4
Die Büchse der Pandora (1929)4
Die Nibelungen: Siegfried (1924)4
Abschied von gestern - (Anita G.) (1966)3
Aguirre, der Zorn Gottes (1972)3
Der Golem (1915)3
Die 3 Groschen-Oper (1931)3
Die Drei von der Tankstelle (1930)3
Die Mörder sind unter uns (1946)3
Die Nibelungen: Kriemhilds Rache (1924)3
Die große Liebe (1942)3
Jud Süß (1940)3
La caduta degli dei (Götterdämmerung) (1969)3
Ohm Krüger (1941)3
Sumurun (1920)3

Deutschlands südliche Nachbarn agieren auf sehr niedrigem Niveau.

Österreich:
TitelLGC
Sissi (1955)2
Die große Liebe (1931)1
Jugendspiele (1907)1
Mozart (1955)1
Schleiertanz (1907)1
Sissi - Die junge Kaiserin (1956)1
Sissi - Schicksalsjahre einer Kaiserin (1957)1
Sklavenraub (1907)1

Schweiz:
TitelLGC
La salamandre (1971)1
Polizischt Wäckerli (1956)1
Polizist Wäckerli in Gefahr (1967)1
Uli, der Knecht (1954)1
Wachtmeister Studer (1939)1

Am erfreulichsten sind die Zahlen noch bei Großbritannien. Vielleicht, weil es für das britische Publikum, das die Links ja in erster Linie erkennen und eintragen muss, keine Sprachbarriere bei der Bedienung der IMDb gibt. Und natürlich heben britisch-amerikanische Coproduktionen mit vielen Verknüpfungen den Schnitt.

Großbritannien:
TitelLGC
2001: A Space Odyssey (1968)35
A Clockwork Orange (1971)31
Dr. Strangelove or: How I Learned ... (1964)18
Goldfinger (1964)14
The Shining (1980)14
Alien (1979)12
Brief Encounter (1945)11
Lawrence of Arabia (1962)11
Monty Python and the Holy Grail (1975)11
The Third Man (1949)11
A Matter of Life and Death (1946)8
Dr. No (1962)7
A Hard Day's Night (1964)6
Barry Lyndon (1975)6
Blade Runner (1982)6
The Italian Job (1969)6
Don't Look Now (1973)5
From Russia with Love (1963)5
Lolita (1962)5
Straw Dogs (1971)5
Superman (1978)5
The Bridge on the River Kwai (1957)5
The Dam Busters (1955)5
The Omen (1976)5
The Red Shoes (1948)5
The Spy Who Loved Me (1977)5
Doctor Zhivago (1965)4
Get Carter (1971)4
On Her Majesty's Secret Service (1969)4
Peeping Tom (1960)4
Repulsion (1965)4
The 39 Steps (1935)4
The African Queen (1951)4
The Chronicle History of King Henry the Fift ... (1944)4
The Ipcress File (1965)4
The Man with the Golden Gun (1974)4
The Terminator (1984)4

Einige weitere europäische Länder.

Frankreich:
TitelLGC
Les quatre cents coups (1959)15
L'Atalante (1934)13
Jules et Jim (1962)12
Un chien andalou (1929)12
Le mépris (1963)10
À bout de souffle (1960)10
8½ (1963)9
Les enfants du paradis (1945)9
Zéro de conduite: Jeunes diables au collège (1933)9
La dolce vita (1960)7
Les vacances de Monsieur Hulot (1953)7
Belle de jour (1967)6
Jour de fête (1949)6
Le samouraï (1967)6
Le voyage dans la lune (1902)6
Les parapluies de Cherbourg (1964)6
Bande à part (1964)5
L'année dernière à Marienbad (1961)5
L'âge d'or (1930)5
La nuit américaine (1973)5
La passion de Jeanne d'Arc (1928)5
La règle du jeu (1939)5
Le quai des brumes (1938)5
Lola (1961)5
Nanook of the North (1922)5
Pierrot le fou (1965)5
Hôtel du Nord (1938)4
L'arrivée d'un train à La Ciotat (1896)4
La grande illusion (1937)4
La notte (1961)4
Le jour se lève (1939)4
Les demoiselles de Rochefort (1967)4
Pickpocket (1959)4
Un homme et une femme (1966)4
Vivre sa vie: Film en douze tableaux (1962)4

Italien:
TitelLGC
8½ (1963)8
La dolce vita (1960)8
Ladri di biciclette (1948)8
Paisà (1946)8
I vitelloni (1953)6
Il buono, il brutto, il cattivo. (1966)6
Per un pugno di dollari (1964)5
Rocco e i suoi fratelli (1960)5
Amarcord (1973)4
Le mani sulla città (1963)4
C'era una volta il West (1968)3
Catene (1949)3
Diabolik (1968)3
Divorzio all'italiana (1961)3
Fellini - Satyricon (1969)3
Il gattopardo (1963)3
Il sorpasso (1962)3
L'oro di Napoli (1954)3
La cena delle beffe (1942)3
La grande guerra (1959)3
Le samouraï (1967)3
Lo sceicco bianco (1952)3
Miracolo a Milano (1951)3
Ro.Go.Pa.G. (1963)3
Stromboli (1950)3
Suspiria (1977)3

Spanien:
TitelLGC
Viridiana (1961)4
Bienvenido Mister Marshall (1953)3
Il buono, il brutto, il cattivo. (1966)3
Lo verde empieza en los Pirineos (1973)3
Tristana (1970)3
Adiós, cigüeña, adiós (1971)2
El espíritu de la colmena (1973)2
Esa mujer (1969)2
La Lola se va a los puertos (1947)2
Sor Citroen (1967)2

Schweden:
TitelLGC
Det sjunde inseglet (1957)6
Körkarlen (1921)6
Elvira Madigan (1967/I)5
Viskningar och rop (1972)4
Flickorna (1968)3
Sommaren med Monika (1953)3
Att angöra en brygga (1965)2
Dom kallar oss mods (1968)2
Fängelse (1949)2
Gösta Berlings saga (1924)2
Karin Ingmarsdotter (1920)2
Kvarteret Korpen (1963)2
Persona (1966)2
Sången om den eldröda blomman (1919)2
Änglar, finns dom? (1961)2

Bei der Sowjetunion bin ich ähnlich verfahren wie mit Deutschland: Bei den referenzierenden Filmen habe ich auch das postsowjetische Russland berücksichtigt (jedoch keine weiteren früheren Sowjetrepubliken, das war mir zu aufwändig). Die Liste ist trotzdem ziemlich dürftig ausgefallen.

Sowjetunion:
TitelLGC
Aleksandr Nevskiy (1938)3
Vesyolye rebyata (1934)3
Chapaev (1934)2
Protsess o tryokh millionakh (1926)2
Traktoristy (1939)2

Nun zu Asien.

Indien:
TitelLGC
Sholay (1975)24
Mughal-E-Azam (1960)14
Mother India (1957)9
Shree 420 (1955)9
Deewaar (1975)8
Bobby (1973)6
Dil Apna Aur Preet Parai (1960)6
Zanjeer (1973)6
Amar Akbar Anthony (1977)5
Sangam (1964/I)5
Awaara (1951)4
Gol Maal (1979)4
Guide (1965)4
Haré Raama Haré Krishna (1971)4
Madhumati (1958)4
Ram Aur Shyam (1967)4
Apna Desh (1972)3
Don (1978)3
Hum Kisise Kum Naheen (1977)3
Johny Mera Naam (1970)3
Junglee (1961)3
Muqaddar Ka Sikandar (1978)3
Pyaasa (1957)3

Japan:
TitelLGC
Gojira (1954)16
Shichinin no samurai (1954)8
Sora no daikaijû Radon (1956)6
Kumonosu-jô (1957)4
Mosura (1961)4
Yôjinbô (1961)4
Tôkyô monogatari (1953)3
Banshun (1949)2
Gojira no gyakushû (1955)2
Gojira tai Mekagojira (1974)2
Kaidan (1964)2
Kaijûtô no kessen: Gojira no musuko (1967)2
Karumen kokyo ni kaeru (1951)2
Kingu Kongu tai Gojira (1962)2
Mosura tai Gojira (1964)2
Muhomatsu no issho (1943)2
Rashômon (1950)2
Todake no kyodai (1941)2
Yôsei Gorasu (1962)2
Zatôichi monogatari (1962)2

Südkorea:
TitelLGC
Beongeoli Sam-ryong (1964)1
Gaetmaeul (1965)1
Hanyo (1960)1
Kim yakgukjib daldeul (1963)1
Mabu (1961)1
Maenbaleui cheongchun (1964)1
Man chu (1966)1
Obaltan (1961)1
Park Sa-bang (1960)1
Seong Chunhyang (1961)1
Taekoesu Yonggary (1967)1
Toraoji annun haebyong (1963)1
Uisa Ahn Jung-geun (1972)1
Yeonsangun (1961)1

Als einzigen Vertreter Lateinamerikas habe ich Brasilien betrachtet.

Brasilien:
TitelLGC
Deus e o Diabo na Terra do Sol (1964)4
Alô Alô Carnaval (1936)2
Banana-da-Terra (1939)2
Bang Bang (1971)2
Limite (1931)2
O Dragão da Maldade contra o Santo Guerreiro (1969)2
O Ébrio (1946)2
Orfeu Negro (1959)2
Terra em Transe (1967)2

Und zu guter Letzt Afrika, vertreten durch zwei der wichtigsten Filmnationen des Kontinents, mit Regisseuren wie Youssef Chahine und Ousmane Sembène.

Ägypten:
TitelLGC
Bab el hadid (1958)1

Senegal:
TitelLGC

O weh, war das etwa alles? Ja, leider. Ein bzw. gar kein Eintrag. *seufz*


Das soll es erst mal gewesen sein. Wer aber eine Liste für sein Lieblingsland haben will, der möge jetzt vortreten oder für immer schweigen!


Dorothy kehrt aus Vietnam zurück: einige Gedanken zu UNIVERSAL SOLDIER

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UNIVERSAL SOLDIER
Regie: Roland Emmerich
Darsteller: Jean-Claude Van Damme (GR44, Luc Deveraux), Dolph Lundgren (GR13, Andrew Scott), Ally Walker (Veronica Roberts), Ed O‘Ross (Colonel Perry), Jerry Orbach (Dr. Christopher Gregor), Ralf Möller (GR76)


Im vorigen Text auf diesem Blog sprach Manfred über eine statistische Methode zur Ermittlung der kulturell bedeutendsten Filme. Unbestrittener Platz 1 in der USA-Liste war THE WIZARD OF OZ. Tatsächlich hat der Technicolor-Film von 1939 über 2.000 „referenced in“-Eintragungen in der IMDb – Roland Emmerichs US-Einstand fehlt in dieser Aufstellung allerdings. Schade, denn UNIVERSAL SOLDIER ist eine höchst interessante Adaption des Oz-Stoffs, zumal er die Thematik der langen Heimkehr aus einem fantastischen Land mit Motiven des Vietnamheimkehrer-Dramas verbindet.

THE WIZARD OF OZ und UNIVERSAL SOLDIER erzählen die Geschichte eines kleinen Farmkindes, das aus seiner idyllischen Heimat von einem gewaltigen Sturm weggeblasen wird. Es landet in einem fremden Land, wo es viele Abenteuer erlebt. Trotzdem will das Kind nach Hause zurückkehren. Auf dem Weg dorthin trifft es sowohl hilfsbereite Freunde wie auch bösartige und teils gewaltbereite Feinde.
Das Farmkind heißt nun nicht mehr Dorothy, sondern Luc (mit Jean-Claude Van Damme als Judy Garland). Die idyllische Heimat ist ebenfalls eine Farm, die sich allerdings in Louisiana befindet. Der Sturm ist kein Tornado, sondern der Vietnamkrieg. Das fremde Land heißt nicht mehr Oz, sondern Vietnam und findet seine logische Weiterführung in den zeitgenössischen USA der frühen 1990er Jahre: ein Ort, an dem der Krieg mit anderen Mitteln und teils anderem Personal fortgeführt wird und der für Luc nicht minder fremd ist, weil er mittlerweile zu einer Armee-Killermaschine umgestaltet worden ist und die Welt nicht mehr mit den Augen eines Menschen sehen kann. Wie Dorothy hat auch Luc/GR44 großes Heimweh: „I just want to go home“ wird er immer wieder im Laufe des Films sagen. Auf seiner Reise nach Hause trifft er ein hilfsbereites Wesen mit einer großen goldenen Mähne: kein „feiger“ Löwe, sondern eine sehr neugierige Journalistin (die allerdings  verständlicherweise von Schießereien und Verfolgungsjagden leicht eingeschüchtert wird). Und statt der bösen Hexen aus dem Osten und dem Westen erweisen sich der skrupellose Oberst Perry und Lucs geradezu unverwüstlicher Armee- und UniSol-Kollege Andrew Scott/GR13 als hartnäckige Gegner.

Der "feige" Löwe und Dorothy: intime Untersuchungen
Luc Deveraux ist nicht nur ein Farmjunge (daran erinnert ihn Andrew Scott immer wieder in einem verächtlichen Ton), sondern in einem fast wörtlichen Sinne ein kleines Kind. Ein eigentlich erwachsener Soldat, der aufgrund seiner traumatischen Erfahrungen im Krieg und aufgrund seines Todes und der anschließenden physischen Manipulationen und Gehirnwäschen eine Regression zum Jungen durchgemacht hat: präpubertär, auch im Sinne von präsexuell. Wenn er zwischendurch nackt vor Veronica herumläuft und sie sogar darum bittet, seinen Körper nach einem Peilsender zu untersuchen („Look for something unusual. Something hard.“), dann kann er gar nicht verstehen, warum der Journalistin etwas komisch zumute ist.

Seine Reise nach Hause ist ein Abenteuer, weil er vielerlei Sachen entdeckt, die für „normale“ Menschen ganz alltäglich sind, für ihn aber ebenso gut aus einer anderen Dimension stammen könnten. Dies kommt wunderbar in der relativ plot-irrelevanten Diner-Szene zum Ausdruck. Veronica geht mit Luc Mittag essen. Schon das Menü ist absolut faszinierend für ihn. So viele Sachen. Seine Reisegefährtin bestellt ihm eine Limo und das Tagesmenü. Als das Essen kommt, weiß er gar nicht, was er damit soll. Er guckt sich um und ein alter Mann dient ihm als gute Orientierung: Messer und Gabel in die Hand nehmen, schneiden, zum Mund führen, reinstecken. Eine ganz neue Erfahrung für GR44 alias Luc im regressiven Zustand. Und eine schöne Erfahrung: das Essen schmeckt ihm offensichtlich.
Mittagessen im Diner:
ein Abenteuer voller neuer Sinneseindrücke
Kurzer Zwischengedanke: Mittlerweile gilt man nicht mehr als grenzdebil, wenn man Jean-Claude Van Damme als tollen Schauspieler bezeichnet, oder als großen Melancholiker und Künstler des Actionkinos. Doch schon in UNIVERSAL SOLDIER zeigt er mine de rien, was in ihm an Ausdrucksmöglichkeiten stecken. Mit nur kleinen mimischen Nuancen macht er in der Diner-Szene deutlich, wie faszinierend Luc so etwas wie Hackbraten mit Kartoffelbrei findet.
Zurück: das Essen im etwas ranzigen Diner schmeckt Luc so gut, dass er das ganze Menü hoch- und runterprobiert, während Veronica draußen telefoniert. Was natürlich die Aufmerksamkeit der anderen Gäste auf sich zieht, und schließlich den Zorn von Kellnerin und Koch, die bezahlt werden möchten, was Luc nur weiter verwirrt. Es entspinnt sich eine kleine Keilerei zwischen Luc und den lokalen Rednecks, die der Farmjunge dank seiner besonderen Kräfte als GR44 locker für sich entscheidet. Danach kommt gleich die nächste Entdeckung für Luc: diese faszinierenden, kleinen, weißen Dinger zum Naschen, die ihn in ganz neue Geschmackswelten bringen. Veronica, inzwischen etwas alarmiert, weil ein Einheimischer durch die Frontscheibe des Diners geflogen ist, fragt sarkastisch nach, ob ihm das Essen geschmeckt habe. Der Farmjunge nascht an einer Schüssel Popcorn, seufzt voller Wonne und lächelt – das vielleicht schönste Bild in UNIVERSAL SOLDIER.

Luc macht im Laufe des Films einen Prozess der Reifung und der Vermenschlichung durch. Das beginnt mit den Blackouts und kognitiven Störungen, die er während der Mission am Staudamm zu Beginn hat: ein ostasiatisches Teenager-Paar unter den Geiseln lässt in seinem Kopf Erinnerungsbruchstücke aus dem Vietnamkrieg hochkommen. Die eigentliche Wende kommt dann im Motel, das er mit Veronica auf der Flucht aufsucht. Im Zimmer schaut er ein bisschen fern. Die Bilder einer Doku – offenbar über Richard Nixon und/oder den Vietnamkrieg – lösen in ihm etwas aus: er wird sich seiner selbst bewusst, und aus der ohnehin störungsanfälligen Kriegsmaschine GR44 wird (wieder) Luc Deveraux. Eine im übrigen vom viel gescholtenen Roland Emmerich wunderbar ökonomisch gefilmte Szene in nur vier Einstellungen.

Die Selbstbewusstwerdung des Luc Deveraux
UNIVERSAL SOLDIER erzählt auch von der Verarbeitung des Vietnamkriegs: Ein Aspekt, der nur selten in den Besprechungen des ohnehin nicht oft gelobten Films aufgegriffen wird. Mit dem Erscheinungsjahr 1992 ist er eher ein Nachzügler unter den Vietnamheimkehrer-Filmen, und dass er oberflächlich ein Actionfilm mit Jean-Claude Van Damme und Dolph Lundgren als durch die Gegend ballernde Cyborg-Soldaten ist, hat wohl nicht geholfen, ernst genommen zu werden. Aber gerade an besagten Cyborg-Soldaten stößt er Denkimpulse über das US-Trauma Vietnam an, indem er zeigt, wie diese auf den Krieg reagieren: mit extremen Schuldkomplexen und unbeirrbarem Revanchismus. So fühlt sich Luc schuldig für den Tod einer jungen Vietnamesin, die Andrew mit einer Granate in die Luft gesprengt hat. Nach seinem Tod und seiner Wiederauferstehung als GR44 (ein anderes Feld von UNIVERSAL SOLDIER: die Bilder, die – zugegeben actionfilmtypisch – von biblisch-christlicher Leidens-Ikonographie inspiriert sind) ist diese Episode zunächst weg, verdrängt – und drängt aber dann dennoch wieder an die Oberfläche. Es ist dieses extreme Schulgefühl, das Luc dazu bringt, Veronica zu retten und sie unter allen Umständen zu beschützen. Andrew macht im Laufe des Films eine ähnliche Wandlung durch. Er steht jedoch für den Revanchismus: unter keinen Umständen will er akzeptieren, dass der Krieg vorbei und verloren ist. In Reaktion darauf inszeniert er seinen ganz persönlichen Vietnamkrieg in den zeitgenössischen USA der 1990er, in denen er als GR13 gelandet ist. Würde man so etwas wie Rambo bekommen, wenn man Luc und Andrew zu einer Figur fusionieren würde?

Martialische Kriegsrede im Supermarkt
Sehr bemerkenswert ist die Szene, in der das Vietnam-Trauma mit moderner kapitalistischer Konsumkultur konfrontiert wird: Andrew und seine UniSol-Kollegen stürmen einen Supermarkt (um die schwer verletzten UniSols im Tiefkühlraum inmitten von Kuhhälften zu regenerieren), und hier geht der Sergeant „an die Öffentlichkeit“. Hier, zwischen den Auslagen, den Preisschildern, den Schnäppchenangeboten und den Kitschregalien der Fischtheke hält er vor versammelten Publikum eine kriegerische Durchhalte-Rede, während im Hintergrund GR76 rohe Steaks aus der Fleischtheke verputzt. Ein fast schon surreal-irrsinniger Moment.

Das ur-amerikanische Thema des 20. Jahrhunderts wird dabei durch die Augen von Europäern gefiltert. Je ein Deutscher auf dem Regiestuhl und an der Kamera (Karl Walter Lindenlaub), ein Schwede und ein frankophoner Belgier in den Hauptrollen. Letzterer spielt einen frankophonen Farmer aus Louisiana, also jener französischen Kolonie, die die USA Anfang des 19. Jahrhunderts von Frankreich kauften und wenig später in die Union aufnahmen. Die USA, ein Bund ehemaliger Kolonien, der in einem Kolonialkrieg und einem Bürgerkrieg entstanden war, „übernahm“ anderthalb Jahrhunderte später dann von Frankreich einen Kolonialkrieg und überführte ihn in den Vietnamkrieg – wo wiederum der Louisianische Farmerjunge Luc kämpfte.

UNIVERSAL SOLDIER ist auch eine Utopie über den Sieg des Menschlichen über das Maschinelle. Egal, wie viel Technik in die Körper der toten Soldaten reinsteckt wurde: das Menschliche findet letztlich seinen Weg. Wie dies bei Luc geschieht, habe ich nun glaube ich deutlich genug gemacht. Der Film geht diesen Weg aber konsequent, in dem er auch GR13 zum Menschen macht – zu einem gewalttätigen, rassistischen, bösartigen Menschen (wie er schon zu Beginn ist), aber zu einem Menschen. Die endgültige Menschwerdung des GR13 zu Andrew Scott wird spürbar, als Colonel Perry ihm einen Befehl zubellt und dabei GR13 nennt. Laut ruft der Angesprochene „My name is Sergeant Andrew Scott!“. Das kann man als Zornbekundung eines Soldaten sehen, der mit korrektem Armeegrad und Namen angesprochen werden will, aber meiner Meinung nach ist es naheliegender, sie als Ausbruch eines Menschen zu sehen, der nach zu langer unmenschlicher Behandlung endlich wieder als Mensch behandelt werden möchte. Ein weiterer großer Moment in einem tollen Film.

Das schönste Bild zum Schluss
UNIVERSAL SOLIDER gibt es in allen möglichen DVD- und Blu-ray-Editionen. Diese Besprechung beruht auf der deutschen Studiocanal-DVD von 2013.

In eigener Sache: Alles nur geklaut ...

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Im August 2013 habe ich hier über den schönen neuseeländischen Film UTU berichtet. Vor ungefähr einem Monat erschien UTU nun unter dem Titel DIE LETZTE SCHLACHT DER MAORIS in Deutschland auf einer DVD der Edel Germany GmbH. Als Inhaltsangabe ist Folgendes auf der Rückseite des Covers abgedruckt:
Neuseeland 1870: In der britischen Kolonie gibt es bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen den Kolonialtruppen und europäischen Siedlern (von den Maori Pakeha genannt) einerseits und den Maori andererseits. Aber nicht wenige Maori dienen auch als Soldaten und Scouts in der britischen Armee, darunter Te Wheke. Am Anfang wird ein Maori-Dorf ohne Anlass von einer Einheit der Armee überfallen und alle Einwohner - Alte, Frauen, Kinder - niedergemetzelt. Kurz darauf erscheint ein weiterer Trupp, der nichts davon weiß, und Te Wheke erkundet mit zwei anderen Soldaten die Lage. Entsetzt betrachtet er das Resultat des Gemetzels, dem auch sein Onkel zum Opfer gefallen ist, und er wechselt auf der Stelle die Fronten...
Diese Sätze kamen mir gleich irgendwie bekannt vor - kein Wunder, ich hatte sie ja selbst geschrieben. Das ist exakt der Anfang meines Artikels. Ich hatte aber weder der Edel Germany GmbH noch sonst jemandem Verwertungsrechte dafür eingeräumt. Die Edel Germany GmbH ist eine 100-prozentige Tochter der Edel AG, die nach Angaben auf ihrer Website über 800 Mitarbeiter beschäftigt. Es handelt sich also nicht um unbedarfte Amateure, die keine Ahnung vom Urheberrecht haben. Der fragliche Textteil von mir tauchte auch in Produktbeschreibungen der DVD auf Amazon, Ebay und in diversen anderen Online-Shops auf, wo man die DVD bestellen kann.

Irritiert bat ich Edel über ein Kontaktformular auf ihrer Website um eine Erklärung, erhielt jedoch keine Antwort. Das wurde mir nach einigen Tagen zu bunt, und ich beauftragte einen im Urheberrecht bewanderten Anwalt. Nach einer kostenlosen ersten Beratung verfasste der Anwalt eine Abmahnung gegen Edel. Diese enthielt die Forderung, Schadensersatz zu zahlen und eine strafbewehrte Unterlassungserklärung abzugeben. Außerdem sollte die Gegenseite, wie in solchen Fällen üblich, das Honorar meines Anwalts übernehmen. Die Abmahnung enthielt auch ein Angebot zu einer gütlichen Einigung: Gegen Zahlung von 600 Euro an mich (sowie der Anwaltskosten) sollte der Schaden abgegolten und die weitere Nutzung meines Textes erlaubt sein. Zur Erfüllung der Forderungen wurde eine Frist von einer knappen Woche gesetzt. Edel hat das Einigungsangebot im Prinzip angenommen, aber noch ein bisschen gefeilscht (was in solchen Fällen wohl nicht unüblich ist) und den Betrag auf 450 Euro heruntergehandelt. Auch der Gegenstandswert wurde von 10.000 auf 7500 Euro reduziert, wodurch das Honorar meines Anwalts (das sich laut einschlägigem Gesetz (RVG) am Gegenstandswert orientiert) etwas geringer ausfiel. Diese Verhandlung wurde telefonisch zwischen den beiden Anwälten geführt. Ich nahm daran nicht teil, sondern gab nur nachträglich meine Zustimmung zum Ergebnis. Ich hatte aber auch schon im Vorfeld meinem Anwalt signalisiert, dass es mir nicht unbedingt darum geht, eine maximale Summe herauszuholen, und dass ich mit einem Betrag im mittleren dreistelligen Bereich durchaus zufrieden bin. Die Edel Germany GmbH zahlt nun also 450 Euro an mich und ca. 730 Euro an meinen Anwalt (und wenn der Anwalt von Edel nicht einer ihrer Hausjuristen ist, sondern, wonach es aussieht, eine externe Kanzlei beauftragt wurde, dürften der Firma dadurch noch weitere Kosten entstehen). Damit ist die Angelegenheit zu meiner Zufriedenheit erledigt.

Es wäre übrigens auch möglich gewesen, nicht nur gegen den Hersteller der DVD vorzugehen, sondern auch Amazon, Ebay-Verkäufer und alle anderen Shops, in denen mein Text auftaucht, abzumahnen und auf Unterlassung zu verpflichten. Davon habe ich Abstand genommen, weil die alle den Text ja in dem guten Glauben übernommen haben, dass sie es dürfen. Aber merke: Man kann auch unwissentlich eine Urheberrechtsverletzung begehen und dafür abgemahnt und zur Kasse gebeten werden. - Ein Aspekt hat bei der juristischen Betrachtung keine Rolle gespielt, ich möchte ihn aber nicht unerwähnt lassen. Auf dem Cover der DVD steht auch noch Folgendes:
"GROSSES KINO ÜBER UNSERE UREINWOHNER" NZ NEWS
"EIN GENIALER MAORI-WESTERN, TARANTINO HÄTTE SPASS DARAN" WHOKNOWSPRESENT.DE
Ich weiß nicht, ob es die NZ News wirklich gibt, und ob darin etwas über UTU geschrieben steht. Das zweite Zitat ist jedenfalls nicht authentisch. Zwar ist die URL falsch (hier hat copy&paste plötzlich nicht mehr funktioniert), es ist aber offensichtlich, dass wir damit gemeint sind. Der fragliche Satz steht aber überhaupt nicht in meinem Artikel, und auch sonst nirgends auf Whoknows Presents. Und ich hätte diesen Blödsinn auch nie geschrieben, denn wenn man ausgerechnet Tarantino als Referenz heranzieht, dann suggeriert man damit ja, dass UTU so etwas wie eine vergessene Trash-Perle ist - und das ist er bestimmt nicht. Hier wird mir also ein frei erfundenes Zitat mehr oder weniger in den Mund gelegt, auch wenn mein Name nicht genannt wird.

Zum Schluss noch ein paar Gedanken zur Höhe des Betrags von 450 Euro. Das ist viel und wenig zugleich, je nach Blickwinkel. Wenn man bedenkt, wieviel (oder eher wie wenig) viele Autoren und Journalisten nicht für fünf oder sechs Sätze, sondern für ganze Artikel bekommen (siehe beispielsweise hier), dann ist 450 Euro für einen Absatz mit gerade mal etwas über 100 Wörtern fast schon absurd hoch. Doch andererseits: Erstens hätte der Schuss für mich theoretisch auch nach hinten losgehen können. Edel war ja nicht verpflichtet, die Abmahnung zu akzeptieren. Wenn sie sich verweigert hätten, hätten wir vor Gericht ziehen und eine einstweilige Verfügung beantragen müssen. Und wenn wir vor Gericht gescheitert wären, wäre ich natürlich auf den Kosten sitzengeblieben, die zudem noch deutlich höher ausgefallen wären als bei einer bloßen Abmahnung (nämlich irgendwo im vierstelligen Bereich). Zwar war offensichtlich, dass der fragliche Text von mir stammt, aber es war nicht 100-prozentig sicher, ob er lang genug ist, um urheberrechtlich geschützt zu sein. Mein Anwalt war sich hier zwar ziemlich sicher, aber eben nicht absolut sicher, auch wenn es schon einschlägige Urteile in unserem Sinn gab. Als Ausgleich für dieses Kostenrisiko, das bei einem normalen Autorenhonorar natürlich nicht besteht, scheint mir 450 Euro durchaus angemessen zu sein. Und zweitens ist der Betrag ja das Ergebnis einer Einigung mit Edel. Ohne Einigung hätte sich unsere Schadensersatzforderung nach der Zahl der verkauften DVDs bemessen. Hier besteht ein Auskunftsanspruch, Edel hätte uns die Zahlen also übermitteln müssen (das hat sich durch die Einigung aber erübrigt, so dass ich nichts über die Verkaufszahlen weiß). Außerdem hätten wir dann Unterlassung verlangt, Edel hätte das Cover also durch ein anderes ersetzen müssen. Das alles wäre sicher deutlich teurer gewesen, Edel hat sich durch die Einigung also wahrscheinlich viel Geld gespart, ohne dass ich das jetzt beziffern könnte.

Trotzdem wurde es für Edel nicht ganz preiswert. Nun, die Firma wird dadurch nicht gleich in den Ruin getrieben. Billiger wäre es allerdings gewesen, wenn Edel auf meine erste Kontaktaufnahme reagiert und mir ein Angebot unterbreitet hätte. Dann hätte ich mich auch mit einem geringeren Betrag zufrieden gegeben, vor allem aber wären keine Anwaltskosten entstanden. Noch billiger wäre es geworden, wenn mich Edel von vornherein um Erlaubnis gefragt hätte - dann hätten sie diese paar Zeilen wohl für einen zweistelligen Betrag bekommen. Am allerbilligsten wäre es freilich gewesen, wenn sich ein Mitarbeiter von Edel selbst irgendeinen Text aus den Fingern gesaugt hätte - doch dazu hat es offenbar aus irgendwelchen Gründen nicht gereicht. So bin ich also nun um 450 Euro und eine interessante Erfahrung reicher. Und die Moral von der Geschicht: Fürcht' den Gang zum Anwalt nicht!     :-Þ

Falls jemand einen Kommentar dazu abgeben will, bitte ich sehr darum, sachlich zu bleiben!
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