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Die Schuld(en) der Vergangenheit

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ÉLISA
Frankreich 1995
Regie: Jean Becker
Darsteller: Vanessa Paradis (Marie), Clotilde Courau (Solange), Sekkou Sall (Ahmed), Gérard Depardieu (Jacques Desmoulin / Jacques Lébovitch / „Lébo“), Philippe Léotard (fumeur de Gitanes), Florence Thomassin (Élisa)

Es beginnt mit der Ermordung eines kleinen Mädchens und einem anschließenden Selbstmord. Eine Wohnung geht in Flammen auf. Zur Weihnachtszeit. Der allein erziehenden Mutter gelingt der Selbstmord, ihre Tochter hat sie jedoch nur in eine Ohnmacht erstickt. Die kleine Marie kommt in ein Waisenheim. Von da an folgt die schiefe Bahn.

Zusammen mit ihrer besten Freundin Solange und dem Straßenjungen Ahmed macht Marie Paris unsicher. Dabei geht es ihr nicht nur darum, sich mit kleinen Diebstählen und Betrügereien über Wasser zu halten. Vielmehr will Marie sich an ihrer Umwelt für ihr Schicksal rächen und ihr die Maske heiler Glückseligkeit entreissen, damit nicht nur „immer dieselben glücklich sind“. Am deutlichsten wird dies, als sie mit ihren Kumpanen eine Hochzeit stört. In einem geklauten Ballkleid getarnt schnappt sie bei kleinen Tratsch-Grüppchen ein bisschen Gossip auf: das Kleid der Braut sei angesichts der ihrer kleinen Brüste unpassend, der Onkel der Braut vögelt gerne mit der Bediensteten fremd u.ä. Lächelnd greift Marie zum Bühnenmikro und gibt die Zitate mit entsprechender Zuordnung der Urheber vom besten.

Wissen! Wissen über ihre Mitmenschen und ihre Angewohnheiten und ihre Gelüste macht Marie scheinbar stark. Die reichen, beleibten und notgeilen Geschäftsmänner, die sie verführt, breiten ihren Beruf, ihre Familie, ihr Leben vor ihr aus. Marie weiß, wie sie ticken. Sie erpresst und demütigt die Eklinge dann, nachdem sie sich als minderjährig outet. Doch gerade über sich selbst, über ihre Herkunft und ihre Vergangenheit, weiss das vor allem äußerlich harte Mädchen kaum etwas. So begibt sie sich zwischen Kleindiebstählen und Erpressung auf Erinnerungssuche.

Ihr Vater, Jacques Desmoulin, war scheinbar nicht nur Barpianist. Er war auch wegen diverser Delikte, darunter Zuhälterei, vorbestraft. Seine Ehefrau Élisa hat er — unfähig, einen Lebensunterhalt zu verdienen — wohl zur Prostitution gezwungen und sie und die Tochter im kritischen Moment sitzen lassen. Für Marie scheint die Schuld des Vaters an der verzweifelten Lage ihrer Mutter, und letztlich an ihrem Selbstmord, erwiesen. Eine Postkarte mit einem Hafendorf-Motiv und eine darauf notierte Klaviermelodie — die letzte Lebensspur des Jacques Desmoulin — verraten den wahrscheinlichen Aufenthaltsort ihres Erzeugers. Mit einer Pistole ausgerüstet sucht die junge Frau ihn auf, wild entschlossen, sich an ihm zu rächen.

„Élisa“ von Jean Becker — der sich im Schatten seines Vaters Jacques selbst einen Vornamen erarbeiten musste — ist bei genauer Betrachtung eigentlich kein besonders guter Film. Denn eigentlich ist das Drehbuch trotz Realismus-Anspruch hanebüchen, voller Logiklöcher und an den Haaren herbeigezogen. Der aufmerksame Zuschauer merkt auch, dass sich eigentlich ziemlich viele Klischees in den Film eingeschlichen haben. Trotz einiger lustiger Momente gefällt sich „Élisa“ eigentlich zu oft in überemotionalen, melodramatisch-pathetischen Szenen. Bei der mittlerweile fünften oder sechsten Sichtung kann man auch schnell den Überblick darüber verlieren, was an welcher Stelle eigentlich vorhersehbar war. Die Figurenzeichnung gibt sich eigentlich tiefer, als sie tatsächlich ist: Maries individuelle Vergangenheitsbewältigung ist eigentlich nichts anderes als ein dünn aufgetragener, zerstörerischer Vaterkomplex. Und das ganze auch noch auf 110 Minuten ausgedehnt?

On s‘en fout! „Élisa“ ist trotz all dem ein wunderbarer Film, was nicht zuletzt am Charisma der Hauptdarsteller Vanessa Paradis und Gérard Depardieu liegt. Von „Darstellung“ kann hier kaum die Rede sein, da beide — besonders aber Depardieu — jenseits einer solch banalen Kategorie wirken. Vanessa Paradis, in ihrem bürgerlichen Leben vor allem als Sängerin zweitklassiger und charts-stürmender Pop-Ballädchen bekannt, verkörpert auf wunderbare, überzeugende und glaubhafte Weise diese eigenartige Mischung aus abgebrühtem Nihilismus, Verletzlichkeit und street smarts der Marie. Da wir fast den kompletten Film aus ihrer Perspektive der Dinge folgen, stellt sich schnell eine große Empathie für sie ein, auch wenn man die Figur wohl im wahren Leben selbst nicht unbedingt kennen lernen möchte.
Im zweiten Teil kommt Depardieus großer Auftritt als Desmoulin, geborener Jacques Lébovitch: Holocaust-Überlebender, Pianist, Komponist, genialer Künstler, der durch seine absolute Weltentfremdung seine geliebte Frau Élisa — wohlgemerkt unfreiwillig! — ins Verderben gebracht hat. Im Film sehen wir ihn als das, was von ihm an Fragmenten übrig geblieben ist: ein am Boden zerstörter Mann, ein menschliches Wrack, ein cholerischer Alkoholiker, der sich in einem verlassenen Dorf als Fischer verdingt. Seine pianistischen Fähigkeiten verschwendet „Lébo“ bei der Wochenend-Dorfdisco als Begleiter für eine drittklassige Retro-Band, wenn er nicht gerade in der Dorfkneipe eine Schlägerei anzettelt und sich später auf der Straße übergibt. Mit anderen Worten: eine wahrlich ungnädige Rolle, die Depardieu dank seinen 150 Kilo Charisma mit tiefster Menschlichkeit auszufüllen vermag. Wenige Minuten nach seinem ersten Auftritt, den Marie voller Ekel mit beobachtet, beginnt „Lébo“ einen jugendlichen Kneipengänger anzupöbeln. Unter anderem sagt er ihm: „Pour jouer les déséspérés, il faut du talent.“ Eine überaus treffende Meta-Aussage über die Rolle Depardieus im Film.
Élisa, das berühmte Lied Serge Gainsbourgs, wird zwischendurch in impressionistischen Variationen gespielt, bildet jedoch als Original am Anfang und am Schluss einen drastischen, fast schockierenden Kontrapunkt zu den Bildern des Films. Der Widmungsträger selbst, dessen Lebensgeschichte zum Teil inspirierend auf die Figur des „Lébo“ gewirkt hat, hat als Gitanes-rauchender Pianist in der Verkörperung Philippe Léotards einen „Cameo-Auftritt“.

In Deutschland ist „Élisa“ nicht auf DVD erhältlich. Ab und zu wird der Film auf „TV5 Monde“ ausgestrahlt. Wer nicht warten will, kann je nach Grad der Französisch-Kenntnisse auf die französische Fassung (ohne Untertitel) oder auf die britische Fassung (mit englischen Untertiteln) zurückgreifen.

Kleine Erklärung, die bestimmt zum Epos ausarten wird

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Liebe Leserin, lieber Leser! Werte Freunde (so es euch gibt)!


Ihr werdet das kurze Schweigen von Whoknows/Zodiac bestimmt nicht vermisst haben, gibt es doch viele und wesentlich klügere Stimmen zum Thema „Film“ im virtuellen Raum. Speziell für meine Freunde (insbesondere für den, der sich via PN nach meinem Verbleib erkundigte) möchte ich aber doch den Grund für meine Abwesenheit erläutern:

Stellt euch vor, ihr leidet seit Wochen unter einer Lethargie,die sich später als unerklärlicher Abfall des Hämoglobins erweist! Ihr fragt euch, weshalb ihr euch einfach nicht an die Besprechung  eines versprochenen Buñuel machen könnt, obwohl ihr genau wisst, was ihr schreiben wollt – und kompensiert eure Müdigkeit mit dummen Sprüchen (@The Critic: Weisst du noch, wie du dich über meine Bemerkung, der Arzt habe mich mit einem „Hallo Leiche!“ begrüsst, geärgert hast?), die man im Nachhinein als Vorahnung interpretieren könnte.

Dann setzt an einem Sonntag die leichte Temperatur ein, begleitet von Gliederschmerzen und einem unangenehmen Husten. Ein Grund, zum Doktor zu gehen? Besonders jetzt, wo ihr eure Mutter am Mittwoch zum Friseur begleiten sollt (das alte Mädchen behauptet nämlich, es sei nicht in der Lage, den Bahnhofplatz allein zu überqueren). - Am Mittwoch steht ihr mit einem starken Schwindelgefühl auf. Nach dem dritten Versuch kommt ein heiseres „Du musst den Termin verschieben!“ raus. Splatti  ruft den Hausarzt an, und der will augenblicklich eine Ambulanz.

Noch im Ambulanzwagen stöhnt ihr, es wäre auch mit Taxi gegangen, und ihr jammert, jetzt gehe Mutti bestimmt nicht zum Friseur. Der Sanitäter beruhigt. – Auf der Notfallstation meint nach Stunden die Oberärztin, sie hätten im Blut Anzeichen einer kleinen Infektion entdeckt; und sie fragt: Was machen wir nun mit Ihnen, Herr Vögelin? Schicken wir Sie nach Hause, und Sie werden in zwei Tagen erneut eingeliefert? Oder behalten wir Sie für zwei Nächte hier? – Da Splatti mir mittlerweile am Handy mitgeteilt hat, sie habe den Sprung über den Bahnhofplatz doch gewagt und befinde sich mit neuem Haarschnitt bereits auf dem Heimweg, ist mir jetzt wurscht, was sie mit mir machen.

Ich werde in den 6. Stock verfrachtet, wo ich erst noch unter den  Fittichen des HIV-Spezialisten gesunden soll. Der denkt sich – wie er mir später erzählt - nach der Untersuchung, ich sei ein Fall für zwei Nächte. Dass ich ihm den Schock seines jungen Lebens verpassen werde, ahnt er noch nicht. - In meinem Zimmer befindet sich ein Herr aus dem Waldenburgertal, dessen öde Sprüche ich mit höflichem Lächeln über mich ergehen lasse. Ich höre mir an, wie viele Mieter er und seine Frau schon aus dem Haus vertrieben haben, in dem sie eine Eigentumswohnung (mit verglastem Balkon!) besitzen, nehme zur Kenntnis, dass der Spitalkoch keine Ahnung habe, wie  man für unter Zölliakie Leidende koche – und schwebe mit meinen Gedanken davon. Nach dem Essen kann ich mich wenigstens auf die Seite drehen und schlafe ein.

Mitten in der Nacht muss ich zur Toilette gehen.  Ich will aufstehen, huste zugleich – und falle aus dem Bett. Trotz aller Versuche gelingt es mir nicht, mich wieder halbwegs aufzurichten, und ich muss förmlich auf dem Arsch zur Türe hopsen, damit ich mich in den Korridor legen und auf eine Schwester hoffen kann. Irgendwann kommt tatsächlich eine vorbei und ruft: „Was ist denn mit Ihnen los, Herr Vögelin?“ Ich murmle etwas von Husten; aber sie fasst mir an die Stirn und meint, es sei das hohe Fieber. – Wer nicht nach einer Schwester läutete, sondern meine Versuche genussvoll beobachtete, war der Herr aus dem Waldenburgertal. Er wird dafür umgehend ein eigenes Zimmer verlangen, weil er es mit einem Schwerstkranken wie mir nicht aushält. Dafür bin ihm dankbar. Mit seinen öden Sprüchen im Hintergrund wäre ich nicht in der Lage gewesen, zu meiner Gesundung beizutragen. (Man steckte ihn in ein Viererzimmer.)

Ich weiss vieles von  dem, was folgte, nicht, oder habe nur bruchstückhafte  Erinnerungen. Man soll mich auf die onkologische Untersuchungsstation gebracht haben, ich konnte nur noch unter stärksten Schmerzen schlucken, und die Hälfte des Geschluckten kam wieder hoch. Der HIV-Spezialist (es gab später ein paar „intimere“ Gespräche, und ich lernte einen unglaublich lieben Menschen kennen, für den der Beruf Arzt nicht Titel und Karriere bedeutet) wollte Krebs bei meiner Vorgeschichte unbedingt ausschliessen. Ich wurde im Rollstuhl in die HNO-Abteilung gefahren (dies trotz meines Protests, dazu sei ich nicht in der Lage) und dachte auf dem holprigen Weg: „Jetzt fahren sie mich sogar im Rollstuhl zum Krematorium!“). Man verlieh mir eine Tapferkeitsmedaille bei der Knochenmarkentnahme, obwohl ich – naiv – dachte, die andere Seite würde ich nicht mehr aushalten. Die Schwester war entsetzt, weil ich nur die Hälfte des Kontrastmittels für die CT zu trinken vermochte, was aber dort unten cool zur Kenntnis genommen wurde – Zusätzlich verdonnerte man mich, als das Fieber langsam auf 39° Grad runterging, zum Inhalieren mit einer Wasserpfeife und Cortison. Mein HIV-Spezialist schaute vorbei und sagte, er wolle nun noch eine Lungenspiegelung machen, um jede Form von Krebs ausschliessen zu können. Dann würde ich nämlich unter etwas leiden, was sich bei einem nicht immungeschwächten Menschen als schwere bakterielle Bronchitis äussere, bei mir – vermutlich ohne es zu wollen – tödlich hätte  verlaufen können. Ich fragte nach dem Namen des Bakteriums, weil ich wenigstens via Internet mit ihm abrechnen wollte. Er meinte, wir würden seinen Namen wohl nie erfahren, weil ich es schon  vor Wochen eingeatmet hätte und es nach getaner Arbeit wieder entschwunden sei. Zurückgeblieben war ein Körper,  bereit für die schwere Entzündung.

Nach der Lungenspiegelung (völlig abwesend) fragte mich die Schwester, die am Morgen meinen Blutdruck (75/35) zu überwachen hatte, ob ich hungrig sei. Erstaunlicherweise  war ich es, musste aber vorher ein Stündchen ruhen. Dann kam sie mit dem Tablett herein und meinte entschuldigend, es sei eben das Eintrittsmenu. Ich sah Kalbsgeschnetzeltes und schmale Nudeln, zwei gedämpfte Tomatenhälften und Karotten in Ringen. Zum Dessert ein Schoko-Flan. – Und ich frass und frass, soff literweise Wasser (obwohl ich wegen meiner Austrocknung doch intravenös mit  genügend Flüssigkeit versorgt wurde). Die Schwester soll (kleine  Indiskretion einer Kollegin!) beinahe hysterisch in der  Gegend herumgerannt sein und gerufen haben: „Er hat alles aufgegessen! Er hat alles aufgegessen!“ – Ich begann unsere Spitalküche zu würdigen und bekam am Sonntag Hirschragout mit Spätzli und Rosenkohl in einer Qualität vorgesetzt, für  die man sonst in eine Nobel-Spelunke gehen müsste.

Dass ich langsam lernen musste, wie das Gehirn die richtigen Befehle an die Beine weiterleitet, versteht sich. Am Anfang lief ich rum wie ein besoffener Donald Duck; als ich gestern nach meiner Entlassung unbedingt die verordneten Medikamente im Städtchen Liestal holen wollte, schaffte ich schon John Wayne in „Rio Bravo“. Und jetzt sitze ich vor meinem Laptop und schreibe den Bericht, den ich im Blog  und bei filmforen.de (dort im Off-Topic) veröffentlichen möchte.

Ihr werdet verstehen, dass ich mit noch immer bescheidenen Hämoglobin-Werten, aber hoffentlich rasch ansteigenden CD4-Helferlein noch nicht in der Lage bin, über Filme zu schreiben, sondern mich zuerst mal ein wenig erholen muss. Erholen heisst jetzt insbesondere: Ich werde mir abends gemütlich einen Film reinziehen. Unter anderem wurde extra für Mutti „Ferris Bueller’s Day Off“ bestellt, weil mich der junge Matthew Broderick an meinen HIV-Spezialisten erinnert, der sich grün und blau ärgerte, wenn ich ihn neckisch als „Koryphäe“ bezeichnete. --- Ich verspreche aber (dies @Bastro/mono.micha): Der erste Film, den ich hier wieder bespreche, wird „Los olvidados“ sein. Gelobte ich sogar in der Spitalkapelle, die ich – wie bei mir in religiösen Dingen üblich – am Montag mit einem Tag Verspätung besuchte.  Und sollte Gott zufällig gerade anwesend gewesen sein, dürfte ihn  mein „Danke!“-Flennen definitiv vertrieben haben.

Euer
Whoknows, Zodiac, Bruno Vögelin

13.9.2012

Bizarr, bizarr! Ein sonderbarer Fall!

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EIN SONDERBARER FALL (DRÔLE DE DRAME)
Frankreich 1937
Regie: Marcel Carné
Darsteller: Michel Simon (Irwin Molyneux), Louis Jouvet (Archibald Soper), Françoise Rosay (Margaret Molyneux), Jean-Louis Barrault (William Kramps), Jean-Pierre Aumont (Billy), Nadine Vogel (Eva), Pierre Alcover (Chief Inspector Bray), Jeanne Lory (Tante McPhearson)

Ein scheinheiliger Bischof
London um 1900. Eine schlimme Unsitte hat sich zur Wende vom viktorianischen zum edwardianischen Zeitalter breitgemacht: Der Kriminalroman! Zu denen, die gegen diese verwerfliche Schundliteratur ankämpfen, gehört Archibald Soper, der anglikanische Bischof von Bedford. In einer allerdings nur spärlich besetzten Versammlungshalle hält er eine Rede, in der er vor allem Felix Chapel anprangert, den erfolgreichsten und geheimnisumwitterten Autor von Mördergeschichten, den noch niemand, nicht einmal sein Verleger, zu Gesicht bekommen hat. Neben alten Jungfern zollt ihm auch ein junger Mann mit Fahrrad Beifall. Es handelt sich um William Kramps, einen gesuchten Massenmörder, der mit Vorliebe Metzgern den Bauch aufschlitzt und sie ausweidet, so wie sie es mit geschlachteten Tieren tun. Seiner Meinung nach ist er erst durch die Lektüre von Chapels Roman "Das perfekte Verbrechen" auf die schiefe Bahn geraten, und dafür will er sich nun rächen, indem er auch Chapel den Magen aufschlitzt. Ebenfalls anwesend ist Sopers Cousin Irwin Molyneux, ein biederer gutsituierter Botaniker, der sich scheinbar nur für seine fleischfressenden Mimosen interessiert. Wie sich jedoch schnell erweist, ist Molyneux niemand anderer als der Autor, der unter dem Pseudonym Chapel jene Romane verfasst. Das Einkommen daraus sichert ihm und seiner eingeweihten Frau ihren großbürgerlichen Lebensstil, denn seine halbsenile Erbtante hat offenbar vor, mindestens 100 Jahre alt zu werden. Allerdings stellt sich noch später heraus, dass das mit der Autorschaft nicht ganz stimmt. Der sympathische junge Milchmann Billy stellt sich auffallend oft im Haus von Molyneux ein, weil er dessen hübscher Assistentin Eva schöne Augen macht. Bei der Gelegenheit unterhält er die Hausangestellten immer mit selbst erfundenen erschröcklichen Schauergeschichten, die über den Umweg Eva den eigentlich fantasielosen Molyneux inspirieren.

Ein Botaniker, ein Mörder und ein als Matrone verkleideter Polizist unter den Zuhörern
Soper nutzt die Begegnung mit Molyneux, um sich bei diesem selbst zum Essen einzuladen. Das kommt zum denkbar schlechtesten Moment, denn die Köchin und der Butler haben gerade im Streit den Haushalt verlassen. Um gegenüber dem öligen und blasierten Soper die Fassade aufrechtzuerhalten, kocht Molyneux' Frau Margaret heimlich selbst, und Irwin erzählt eine Räuberpistole von einem Besuch seiner Frau bei masernkranken Freunden. Dabei verwickelt er sich schnell in Ungereimtheiten, Soper wird misstrauisch und quittiert Molyneux' fadenscheinige Erklärungen mit einem mehrmals geäußerten "bizarre, bizarre". Die Szene ist so grandios gespielt, dass der englische Titel des Films BIZARRE, BIZARRE lautet. Als sich der überforderte Molyneux nächtens zu einem Treffen mit Margaret davonschleicht und von Soper dabei beobachtet wird, zieht der Bischof falsche Schlüsse: Er ist überzeugt, dass sein Cousin seine Frau vergiftet hat und nun die Flucht ergreift, und er informiert Scotland Yard. Der herbeigeeilte Chief Inspector Bray hat leider überhaupt keinen Durchblick. In Ermangelung des abwesenden Molyneux verhaftet er den zufällig vorbeigekommenen Billy - denn man weiß ja, dass Milch ein Gegenmittel für verschiedene Gifte ist, und wer soviel Milch vorbeibringt, muss ein Komplize des sinistren Molyneux sein! Unterdessen bemerkt Archibald Soper ein Missgeschick: Bei seinen detektivischen Bemühungen ist ihm ein Programmheft eines Varietés mit dem Bild einer leicht bekleideten Tänzerin abhanden gekommen, das eine persönliche Widmung dieser Dame für "ihren" Soper enthält. Wenn das Programm in die falschen Hände geriete, wäre der Bischof als scheinheiliger Patron entlarvt.

Billy erzählt Schauergeschichten
Molyneux und seine Frau sind inzwischen in Londons Chinatown untergetaucht, aber hier treibt sich auch William Kramps herum. Molyneux erhält in seiner Inkarnation als Chapel von seinem Verleger den telefonischen Auftrag, einen Artikel über den "Mordfall Molyneux" zu schreiben und dafür am Tatort zu recherchieren. Mit einem angeklebten falschen Bart getarnt macht er sich auf zu seinem eigenen Haus, mehr wegen seiner Mimosen als wegen des Artikels. Der "Fall" ist mittlerweile allgemeiner Gesprächsstoff. Schaulustige belagern das Haus, eine Bänkelsängerin trägt schon eine Moritat über Molyneux' bevorstehende Hinrichtung vor, und Eltern drohen ihren Kindern, dass sie von Molyneux geholt werden, wenn sie ihre Suppe nicht aufessen. Im Haus wimmelt es von Journalisten und Polizisten, aber der vertrottelte Chief Inspector merkt immer noch nichts. Er erzählt "Felix Chapel" noch, die Theorie, dass Mörder immer an den Ort der Tat zurückkehren, sei nichts als Unsinn, und zieht dann mit seinen Mannen ab. Unterdessen trifft Kramps auf die allein zurückgebliebene Margaret Molyneux. Der etwas übergeschnappte, aber eigentlich recht liebenswürdige Bauchaufschlitzer verliebt sich in sie, ohne zu ahnen, dass es sich einerseits um das vermeintliche Mordopfer und andererseits um die Frau des von ihm noch immer gesuchten "Felix Chapel" handelt. Doch dann liest er in der Zeitung eine Notiz, dass sich Chapel zu Ermittlungen im Haus Molyneux aufhält, und er macht sich dorthin auf, um ihn hinzumeucheln. Und noch jemand bricht zu Molyneux' Haus auf: Bischof Soper hat seiner sittenstrengen Frau Gemahlin den Verlust des kompromittierenden Programmhefts gebeichtet und wird nun von ihr abkommandiert, es unter allen Umständen wiederzubeschaffen, damit die Familienehre nicht befleckt werde. In einer absurden Verkleidung mit Sonnenbrille und schottischer Uniform schleicht er ins Haus, doch damit bringt er sich erst richtig in die Bredouille. Die Ereignisse überschlagen sich, und am Ende versucht ein wütender Mob, das Haus zu stürmen und abwechselnd mal diesen und mal jenen der Anwesenden für seine Untaten zu lynchen ...

Showdown zwischen Kramps und "Chapel"
Marcel Carné war bekanntlich ein Hauptvertreter des "Poetischen Realismus", der den französischen Film der 30er Jahre dominierte. Neben dem fast schon mythischen Über-Film LES ENFANTS DU PARADIS (KINDER DES OLYMP) war es vor allem eine Serie von drei düster-fatalistischen Dramen, bei denen jeweils mindestens einer der Protagonisten am Ende eines gewaltsamen Todes stirbt, die ihn in die Filmgeschichte eingehen ließen: LE QUAI DES BRUMES, HÔTEL DU NORD und LE JOUR SE LÈVE, die alle 1938/39 herauskamen. Da mag es erstaunen, dass es sich bei seinem 1937 erschienenen zweiten Spielfilm um eine ausgelassene, um nicht zu sagen durchgeknallte Farce handelt. Wie bei den obengenannten Filmen, abgesehen von HÔTEL DU NORD, und bei einigen Filmen Carnés nach dem zweiten Weltkrieg, stammt auch bei DRÔLE DE DRAME das Drehbuch von Jacques Prévert. Als Vorlage diente der Roman "His First Offense" des britischen Schriftstellers und Historikers J. Storer Clouston. DRÔLE DE DRAME vereint Elemente des Schwanks mit satirischer Schärfe, sprühendem Witz und etwas Frivolität (in einer Szene ist kurz Jean-Louis Barraults nackter Hintern zu sehen - in einem deutschen oder amerikanischen Film jener Zeit völlig undenkbar) zu einer schwarzhumorigen Groteske von hohem Tempo. Vor allem aber lebt der Film von seinen grandiosen Darstellern. Mit Michel Simon, Louis Jouvet und Jean-Louis Barrault kommt es zu einem Gipfeltreffen von gleich drei Legenden der französischen Theater- und Filmlandschaft, die nicht nur in dramatischen Rollen glänzen konnten, sondern die auch begnadete Komödianten waren, und auch die weiteren Rollen sind ausgezeichnet besetzt. Wer Filmen wie beispielsweise ARSEN UND SPITZENHÄUBCHEN etwas abgewinnen kann, wird auch diesen SONDERBAREN FALL genießen können.


DRÔLE DE DRAME ist in den USA, England und Frankreich auf DVD erschienen, jeweils mit engl. Untertiteln (auch in den ersteren beiden Fällen unter dem Originaltitel und nicht als BIZARRE, BIZARRE).

Archibald Soper als Schotte verkleidet

Diktaturgeschichte für Cinephile, Teil 1: Vom Destillieren des Arschschweißes

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DAS LEBEN DER ANDEREN
Deutschland 2006
Regie: Florian Henckel von Donnersmarck
Darsteller: Ulrich Mühe (Gerd Wiesler), Sebastian Koch (Sebastian Koch/Georg Dreyman), Martina Gedeck (Martina Gedeck/Christa-Maria Sieland), Ulrich Tukur (Ulrich Tukur/Anton Grubitz)


Ich mag „Das Leben der Anderen“ nicht. Die Gründe dafür sind vielfältig: Von der Hauptrolle abgesehen sind die Schauspieler im allerbesten Fall mittelmäßig und der Film strotzt nur so vor kitschigen Klischees, auch wenn er das kläglich zu verbergen versucht. Er ist mindestens zwanzig Minuten, wenn nicht gar eine halbe oder dreiviertel Stunde zu lang und seine geradezu verkrampfte Bierernstigkeit lässt ihn fast wie ein bildungspolitischer Lehrfilm aussehen – oder wie eine schlecht gemachte Parodie davon. Nicht zuletzt ist er in seiner Verknüpfung von geschichtspolitischem Statement und Filmkunst grandios gescheitert, was mich dazu verführt hat, ihn neben Andrzej Wajdas „Katyń“ zu meinem Lieblings-Beispiel für schlechte „Vergangenheitsbewältigungs“-Filme zu ernennen – und ihn in einigen Texten auch als solches zu gebrauchen.

Als positive Gegenbeispiele nannte ich einmal „Gomarët e kufirit“ (Der Grenzesel,Kosovo 2010), eine absurde Komödie über Sex- und Politik-Intrigen an der jugoslawisch-albanischen Grenze; „Churgoschin“ (Blei, Uzbekistan 2011), eine Mischung aus expressionistischem film noir, romantischem Liebesfilm und experimentellem Theater über den stalinistischen Terror in Uzbekistan; und nicht zuletzt „Balada triste de trompeta“ (Mad Circus, Spanien 2010), ein groteskes Splatterhorror-Komödien-Liebesmelodrama über die Franco-Diktatur. Keiner der drei Filme ist ein Meisterwerk oder perfekt. Aber alle drei zeigen, dass kryptische Genre-Verwirrungen und absurder und politisch garantiert unkorrekter Humor eine ernsthafte intellektuelle Beschäftigung mit problematischer Diktaturgeschichte keinesfalls behindern, sondern dieser sogar sehr viel förderlicher sein können als ein (meist nur oberflächlich) „ernster“ Zugang – und letztlich Werke schaffen, die cinematographisch weitaus interessanter und geglückter sind. Aus diesen Motiven und aufgrund der verfügbaren Recherche-Materialien werde ich also den bissigen „Balada triste de trompeta“ „Das Leben der Anderen“ gegenüberstellen.

Florian Henckel von Donnersmarck Debütfilm wurde bekanntlich vielseitig gelobt. In einem kollektiven „Wir sind Oscar“-Rausch konnte „man“ in Deutschland froh sein, dass endlich sich jemand jenseits von so genannter Spreewaldgurken-Ostalgie „ernsthaft“ mit der DDR und ihren politischen Repressionsmechanismen beschäftigte. Da war von „Geschmackssicherheit“ die Rede, von „Perfektion, ein „schauspielerischer Glamour“ wurde ausgemacht, Donnersmarck hätte seinen Film „wie ein Historiker recherchiert“ und ihn „authentisch“ – „als wäre er selber dabei gewesen“ –, „mit großem Gespür für Spannungsdramaturgie“, „wie ein Musikstück“ und ohne „die üblichen Klischees“ inszeniert. Ihm sei „großes Kino, wie man es hierzulande nur selten hinbekommt“ und ein „emotional erschütternder DDR-Geheimdienst-Thriller“ gelungen. Ach ja: und in dem Film gäbe es „keine Spreewaldgurken“.

„Authentizität“: ein sehr schönes Wort. Auf Filme angewendet jedoch auch ein sehr dünnes Kleid, das sich sehr schnell Risse einfangen und beim geringsten Luftzug rasch zu Staub zerbröseln kann. Wer wie Donnersmarck „mit unzähligen Zeitzeugen und Wissenschaftlern“ gesprochen hat, muss sich nun einmal die Frage gefallen lassen, warum die ostdeutsche Staatssicherheit wie ein Ein-Mann-Unternehmen dargestellt wird, dessen primäre Existenzberechtigung darin besteht, fetten Klischee-Parteibonzen sexuelle Befriedigung zu verschaffen. Gerade der dargestellte „OV“ (nur um Verwechslungen vorzubeugen, hier: Operativer Vorgang), den die Hauptfigur Gerd-„Ich bin die Super-Stasi“-Wiesler organisiert, sieht sehr verdächtig aus: der Hauptmann richtet sich mit seiner Hightech-Anlage im Dachboden über seinem Observierungsziel, dem Schriftsteller Georg Dreymann, ein. Tage- und nächtelang hört Wiesler ihn und seine Freundin, die Schauspielerin Christa-Maria Sieland, ab, postiert sich stundenlang vor deren Wohnung, rennt durch die Treppen des Hauses hoch und runter und tippt mit einer guten, alten und tönenden Schreibmaschine seine Berichte knapp drei Meter über den Köpfen seiner Observierungsobjekte. Konspirativer hätte es selbst Lenin nicht hinbekommen!


Nebenbei muss Wiesler aber auch noch Nachwuchs-Stasis darin unterrichten, wie man „Feinde des Sozialismus“ im Verhör so kleinkriegt, bis nur noch Arschschweiß von ihnen übrig bleibt und seinem Vorgesetzten in der Kantine Bericht erstatten. Bei einem solch dichten Terminplan grenzt es an ein Wunder, dass da noch Zeit übrig bleibt, um Brecht-Gedichte zu lesen und volkeigene Huren zu vögeln. Angesichts der Arbeitsbelastung hätte der Stasi-Hauptmann also die Pillen, mit denen sich sein weibliches Neben-Observierungsobjekt „CMS“ volldröhnt, wohl irgendwie dringender nötig gehabt.

Eine etwas klischeebeladene Darstellung der Berliner Stasi also, in der solche Dinge wie Arbeitsteilung anscheinend nicht existiert haben sollen! Nebenbei verwechselt „Das Leben der Anderen“ auch Ursache und Wirkung in der Beziehung zwischen Ideologie, Opportunismus und sexueller (Selbst-)Befriedigung. Zur mangelnden Arbeitsteilung und völligen Überbelastung materieller Ressourcen und mittlerer Offiziere kommt hinzu, dass die Stasi keineswegs als das bürokratische Repressionsorgan dargestellt wird, die sie in den 1980er Jahre war, sondern als ein Ersatz-Hofstaat für Samenstau-geplagte Parteibonzen. Mit anderen Worten: das Politische ist privat, und politische Repression in der DDR wird im Grunde genommen auf das Niveau einer Sexkomödie heruntergebrochen. Die Stasi-Unterdrückung als erotischen Klamauk zu inszenieren, ist an und für sich keine schlechte Grundidee, hätte aber besser zu einem Film gepasst, der auf FSK-12-Kennzeichnung, Lobhudelei der Bundeszentrale für politische Bildung, den Oscar und nicht zuletzt auf „Authentizitäts“-Anspruch verzichtet.

„Das Leben der Anderen“ scheitert aber nicht nur an seinen eigenen geschichtspolitischen Ansprüchen, sondern auch als figuren-zentriertes Drama. Das in der zeitgenössischen Kritiker-Publizistik immer wieder als Negativfolie genutzte „Good Bye, Lenin“ bringt im Vergleich zu „Das Leben der Anderen“ hochgradig komplexe Figuren mit vielschichtigen Problemen hervor. Denn Donnersmarcks Debüt erstickt den Zuschauer geradezu mit ganzen Lastwagenladungen an Klischees, auch wenn viele das gar nicht gemerkt haben – „den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen“ müsste man wohl sagen. Da ist zunächst Dreymann: ein zweifelndes Weichei ohne großes Talent, das keine eigene Meinung hat, bei niemandem anecken will, sondern es vielmehr allen recht machen möchte (und dadurch letztlich niemandem!). Kein Wunder, dass er nach der Wende so erfolgreich ist: sagt die Figur doch mehr über die entideologisierte, entpolitisierte und „alternativlose“ Schröder-Merkel-Große-Koalitions-Ära aus, als über die DDR. Warum Dreymann doch noch ein Paar Eier in seiner Hose findet (wenngleich nicht seine ganze Potenz), muss hingegen ein Rätsel bleiben. Sebastian Koch spielt ihn konsequent, „alternativlos“ und zum Gähnen langweilig mit genau einem einzigen Gesichtsausdruck und dem immerzu gleichen Dackelblick.

Ganz im Gegensatz zu Dreymann steht sein Schriftsteller-Kollege Hauser: geradezu eine Karikatur des idealistischen, strengen und asketischen Dissidenten, der ganz genau weiß, dass er immer recht hat und die anderen nicht. Dieser wahrscheinlich unfreiwillige „comic-relief“ wird hingegen von Hans-Uwe Bauer ganz passabel dargestellt. Martina Gedeck spielt jedoch Martina Gedeck, gemäß Drehbuch aber Christa-Maria Sieland: die geile, künstlerisch und promiskuitiv veranlagte Liebhaberin mit einem viel zu schwachen Charakter und einem viel zu starken Drogenproblem, die den Mitleid der Zuschauer erregen soll, aufgrund ihrer Verfehlungen aber natürlich am Ende sterben muss. Nicht zuletzt, weil sie sich vom fetten, altersgeilen und sexbesessenen Kulturminister besteigen lässt, dessen narrative Funktion im Film hauptsächlich darin besteht, fett, altersgeil und sexbesessen zu sein. Und ab und zu noch seinen Hofstaat rumzukommandieren. Hier kommt Ulrich Tukur als Ulri... als Anton Grubitz ins Spiel: ein Typus des prinzipienlosen, prollig-dumpfbackigen und im Grunde völlig unfähigen Karriere-Opportunisten. Er soll deutlich machen, dass es in der – hier so „authentisch“ dargestellten – Stasi keine „gewöhnlichen“ Menschen gab, sondern, na ja, nur Dumpfbacken und leblose Berufspedanten.

Es ist paradox, dass Ulrich Mühe mit seiner tatsächlich großartigen schauspielerischen Leistung (das Interessanteste am ganzen Film) das größte Klischee des Films darstellen muss: ein kaltes, pflichtbewusstes, gefühlloses, pedantisches, blind gehorchendes Repressionsinstrument ohne eigenes Privatleben, das doch noch sein goldenes Herz entdeckt und zum Menschen wird. Damit gerät nicht nur die Figur grob holzschnittartig, sondern damit wird politische Repression in der DDR entpolitisiert, entbürokratisiert sowie jeglichen historischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen entrissen: Das Böse war böse weil es böse war. Und plötzlich wurde es doch gut. Andreas Dresen meinte dazu einmal, dass die Darstellung eines „normalen“ Stasi-Beamten mit Frau und Kindern und einem „normalen“ Arbeitsalltag sehr viel lohnender gewesen wäre; und sehr viel schmerzhafter. Da der Böse am Schluss ja nicht mehr der Böse ist, sondern der Gute, braucht er sich hingegen nicht mehr mit seinen früheren Taten auseinander zu setzen: CMS ist dann eh schon lange tot!


Auch die hochgelobte Inszenierung von „Das Leben der Anderen“ entpuppt sich bei genauer Betrachtung als Mogelpackung. Was sich als „subtil“ geben möchte, fühlt sich an manchen Stellen wie ein in den Rachen geschobener Mastschlauch an. Die DDR war ganz unlustig: deshalb wird der ganze Film von „dezenten“ Grau- und Brauntönen so „durchherrscht“, wie es sich die SED von ihrem Staat nur träumen konnte. Der Stasi-Mann ist böse: deshalb ist seine Wohnung auch grau-braun und ungemütlich. Der nette Schriftsteller mit dem Dackelblick ist gut: deshalb sind seine vier Wände gemütlich eingerichtet, mit wärmerem Licht und wärmeren Brauntönen. Die Zwischeneinblendungen, Straßen- und Gebäudeschilder, Zeitungsausschnitte, die eingangs und besonders in der letzten Viertelstunde gehäuft auftreten, um Ort und Zeit der Handlung zu definieren, sollen die tiefe Verwurzelung der Handlung in deutsch-deutsche Historie „dezent“ aufzeigen, demonstrieren aber vor allem Unfähigkeit Donnersmarcks, dies über das rein Visuelle zu vermitteln.

An manchen Stellen zerplatzt die „subtile Un-Subtilität“ jedoch regelrecht und legt einen geradezu unfassbaren Klamauk an den Tag. Wenn CMS auf die Straße rennt, direkt in den einzigen Lastwagen, der durch die sonst während des ganzen Films völlig verkehrsfreie Straße fährt. Wenn Herbert Knaup auftaucht und aussieht, als würde Heiner Lauterbach einen Spiegel-Redakteur spielen (oder war es ein anderer? Jedenfalls irgendeines der Gesichter, die die deutsche Fernseh- und Kinolandschaft bevölkern wie groteske, fast unbewegliche Figuren den Hintergrund von David-Lynch-Filmen). Wenn Volker Michalowski als Zack, der sächsische Stasi-Schreibmaschinenexperte von nebenan bzw. aus der Sat.1-Sendung „Zack! Comedy nach Maß“ auftaucht. Diese Momente wirken unglaublich befreiend, beseitigen sie doch jeglichen Zweifel daran, dass man „Das Leben der Anderen“ einfach in keiner Weise Ernst nehmen kann.


Ja: es gibt keine Spreewaldgurken in „Das Leben der Anderen“. Doch in einem Punkt unterschiedet sich dieser Film nicht besonders grundlegend von „Good Bye, Lenin!“ oder „Sonnenallee“: auch hier wird die DDR nicht als „Normalität“, sondern als Märchen dargestellt, als „Märchen vom guten Menschen“. Nur, dass Donnersmarcks Debüt aufgrund seiner Authentizitäts-Aura sehr viel heuchlerischer ist.

„Das Leben der Anderen“ scheitert kläglich an seinem Wunsch, ein ambitionierter Film zu sein: es sei denn, er wollte von Anfang an ein für Schüler ab der 10. Klasse produzierter „pädagogisch wertvoller“ Streifen sein, der sich auf seinen auf nationale und internationale Preisverleihungen ausgerichteten glattgebügelten Look mächtig einen runter... ähm, was einbildet. Ein Look, der übrigens auch nicht mehr bietet als TV-Niveau (die entsprechenden Schauspieler hat er ja). Einen Vorteil gängiger Fernsehfilme hätte sich „Das Leben der Anderen“ jedoch gerne zum Vorbild nehmen können: die Dauer von 90 Minuten. Selbst die Überlänge soll Seriosität vorgaukeln...

Zwei psychotische Clowns versuchen, sich gegenseitig mit Fäusten, Fleischerhaken, Vorschlaghämmern, Maschinenpistolen und Trompeten zu massakrieren. Warum der groteske Splatter-Rachethriller „Balada triste de trompeta“ als Kino-Film besser und interessanter ist als "Das Leben der Anderen" und diesen als künstlerische Beschäftigung mit Diktaturgeschichte bei weitem schlägt, folgt in Kürze im zweiten Teil des Beitrags „Diktaturgeschichte für Cinephile“...

Ditte - Neorealismus auf Dänisch

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DITTE MENNESKEBARN (BRD-Titel DITTE - EIN MENSCHENKIND, DDR-Titel DITTE MENSCHENKIND)
Dänemark 1946
Regie: Bjarne Henning-Jensen
Darsteller: Tove Maës (Ditte), Edvin Tiemroth (Lars Peter Hansen), Karen Lykkehus (Sørine), Karen Poulsen (Maren), Rasmus Ottesen (Søren), Ebbe Rode (Johannes), Maria Garland (Karen), Preben Neergard (Karl), Kai Holm (Wirt), Jette Kehlet (= Jette Ziegler, Ditte als Kind)


Das mit dem Neorealismus sollte man nicht zu wörtlich nehmen: DITTE MENNESKEBARN ist keine Kopie italienischer Klassiker wie OSSESSIONE oder ROM, OFFENE STADT; andere Hauptwerke des Neorealismus wie FAHRRADDIEBE oder BITTERER REIS entstanden ohnehin etwas später. (Wenn ich überhaupt irgendeinen italienischen Film als Vergleich heranziehen müsste, dann vielleicht am ehesten LA STRADA.) Aber DITTE MENNESKEBARN durchzieht in Handlung und Bildsprache ein realistischer Gestus; der Film reiht sich damit nahtlos ein in die realistische Strömung, die in etlichen europäischen Ländern, vor allem eben in Italien, den Film der Nachkriegszeit prägte - laut dem Filmhistoriker Ib Monty ist DITTE MENNESKEBARN der erste dänische Film, für den das zutrifft. Einzelne Szenen scheinen dem zuwiderzulaufen, vor allem eine kurze Traumsequenz, in der sich Ditte als Aschenputtel sieht, die vom Prinzen erwählt wird. Doch das ist nur ein scheinbarer Widerspruch: Es ist gerade die im Film geschilderte bittere soziale Not, die solche Träume gebiert. Es gibt keinen einzelnen großen Spannungsbogen, sondern der episodisch aufgebaute Film folgt dem Leben seiner Heldin von der Geburt bis zum Alter von vielleicht 16 oder 17 Jahren.

Mit Geld regelt sich alles
DITTE MENNESKEBARN ist eine Verfilmung des gleichnamigen Romans von Martin Andersen Nexø (gelegentlich auch Nexö geschrieben), des bedeutendsten dänischen Arbeiterschriftstellers, von dem auch die Romanvorlage zu Bille Augusts PELLE, DER EROBERER stammt. Um genau zu sein, der Film beruht auf den ersten drei Bänden des Romans, der von 1917 bis 1921 in fünf Banden erschien. Andersen Nexø war zunächst Sozialdemokrat, nach dem ersten Weltkrieg dann Kommunist (er verbrachte seine letzten Jahre in der DDR, wo er etliche Ehrungen erhielt), und er schildert in seinen Romanzyklen die harschen Lebensbedingungen der dänischen Arbeiter, Bauern und Fischer und die krassen Klassengegensätze in den Zeiten vor und nach der vorletzten Jahrhunderwende. Während etwa seine Romanhelden Pelle oder Morten Kämpfernaturen sind, übernimmt Ditte die Opferrolle, mit der sie alle Unbill klaglos erträgt.

Klein-Ditte und ihre Großmutter
Der humanistische Geist, der Martin Andersen Nexøs Romane durchzieht, wurde von den Henning-Jensens souverän auf den Film übertragen. DITTE MENNESKEBARN ist ein Familienunternehmen: Bjarnes Frau Astrid Henning-Jensen, seit 1938 mit ihm verheiratet, war Regieassistentin. Beim nächsten und drei weiteren Spielfilmen des Paars fungierte Astrid als gleichberechtigte Co-Regisseurin, wie schon zuvor bei einigen Dokumentarfilmen, und auch bei DITTE MENNESKEBARN dürfte ihr Anteil an der Inszenierung größer gewesen sein, als es der offizielle Titel der Regieassistentin nahelegt. DITTE MENNESKEBARN machte das Paar auch international bekannt, und Astrid überflügelte Bjarne bald an Bedeutung. Während er sich nach den gemeinsamen Filmen mit Astrid in den 50er Jahren wieder dem Dokumentarfilm zuwandte, mit dem er Anfang der 40er Jahre begonnen hatte, inszenierte sie seitdem ihre Spielfilme alleine, und sie wurde die bekannteste dänische Regisseurin ihrer Zeit. Nach einigen Flops in den 60er Jahren sank ihr Stern, aber mit Alterswerken wie VINTERBØRN (dt. WINTERKINDER) lief sie wieder zu großer Form auf. Für diesen Film gewann sie 1979 bei der Berlinale einen Silbernen Bären für die beste Regie, und 1981 saß sie in Berlin in der Jury.

Ditte bekommt einen Papa
DITTE MENNESKEBARN beginnt mit Dittes Geburt. Ihre Mutter Sørine, die Tochter eines armen Fischers, ist nicht verheiratet. Der Vater des Kindes ist der Sohn eines reichen Gutsbesitzers, und er denkt nicht daran, Sørine zu ehelichen. Ihr Vater Søren bricht entschlossen zum Gutshof auf, um den Kindsvater zur Hochzeit mit seiner Tochter aufzufordern, aber als er kleinlaut zurückkehrt, hat er nur ein Bündel Geldscheine in der Hand, mit dem er abgespeist wurde, und damit ist die Sache erledigt. Die uneheliche Geburt wird auch offiziell in der Geburtsurkunde festgehalten - ein Stigma, das Sørine und Ditte ein Leben lang anhaften wird. Um die 200 Kronen vom Gutsbesitzer nicht vorschnell aufzubrauchen, werden sie in eine Bettdecke eingenäht, und Søren, der sich eigentlich schon aufs Altenteil zurückgezogen hat, beginnt wieder als Fischer zu arbeiten. Doch die schwere Arbeit zehrt an seinen Kräften, und nach einigen Jahren stirbt er an Erschöpfung. Ditte, jetzt ca. vier oder fünf Jahre alt, lebt nun allein bei ihrer Großmutter Maren, der Witwe von Søren. Sørine lebt und arbeitet anderswo, um dem Gerede im Dorf zu entgehen, und hat kaum Kontakt zu ihrer Mutter und ihrer Tochter. Ditte und Maren stützen sich im schweren Alltag gegenseitig und haben ein inniges Verhältnis zueinander, aber Ditte leidet darunter, dass sie keinen Vater hat wie all die anderen Kinder. Umso mehr freut sie sich, als der Fisch- und Lumpenverkäufer Lars Peter Hansen bei Maren auftaucht und erzählt, dass er mit Sørine zusammenlebt und sie heiraten will. Lars Peter ist ein einfacher, aber ungemein liebenswerter Mann, der sich sofort mit Maren und Ditte versteht. Etwas später will Sørine Ditte zu sich holen. Lars Peter ist der Meinung, dass sie eigentlich bei Maren besser aufgehoben ist, aber Sørine setzt sich durch, und so zieht Ditte zu Lars Peter und ihrer durch die lange Trennung entfremdeten Mutter.

Familienleben im Krähennest
Einige Jahre später. Lars Peter und Sørine, inzwischen verheiratet, haben drei weitere Kinder bekommen, und Ditte muss bei der Versorgung ihrer Stiefgeschwister mithelfen, was sie aber gerne übernimmt. Sørine ist durch die Arbeit und die Armut permanent überlastet, durch den niedrigen sozialen Status ihrer Familie verbittert, und ihr Verhältnis zu Ditte bleibt unterkühlt. Als sie Ditte wegen einer Lappalie übel verprügelt, verhindert Lars Peters energisches Eingreifen weitere derartige Exzesse. Eines Tages erinnert sich Sørine an die 200 Kronen, die noch immer in der Bettdecke eingenäht sind, und teils aus Not, teils aus Gier fordert sie von Maren die Herausgabe. Diese weigert sich, weil sie das Geld erst der erwachsenen Ditte als eine Art Mitgift aushändigen will. Es kommt zum Kampf um das Geld, und im Tumult erwürgt Sørine die eigene Mutter, mit Ditte als unfreiwilliger Zeugin. Ditte sagt zu niemandem etwas, und Sørine tut so, als ob nichts gewesen sei. Aber Nachbarn haben ihre Anwesenheit bemerkt, und bald wird Sørine von der Polizei abgeholt und zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt.

Sørine; neues Familienmitglied: Johannes
Ditte muss jetzt vollends die Mutterrolle für ihre Geschwister ausfüllen. Im bescheidenen Anwesen der Hansens, das von den Nachbarn abfällig "Krähennest" genannt wird, taucht ein viriler und flamboyanter Scherenschleifer auf. Wie sich herausstellt, handelt es sich um Lars Peters Bruder Johannes, zu dem er schon sehr lange keinen Kontakt mehr gehabt hat. Johannes wird zum Bleiben eingeladen, und er revanchiert sich mit der Geschäftsidee, sich zusammen mit Lars Peter als Abdecker und Pferdemetzger für die reicheren Bauern der Gegend zu betätigen. Zunächst kommt dadurch tatsächlich Geld herein, doch der unstete Johannes bringt letztlich kein Glück. Durch das Hantieren mit den stinkenden Tierkadavern sinkt das ohnehin schon sehr niedrige Prestige von Lars Peter und seiner Familie noch weiter ab, und als Johannes betrunken Lars Peters Pferd schlägt, kommt es zum Kampf und fast zur Messerstecherei zwischen den Brüdern. Johannes wird fortgejagt, und dabei stellt sich auch heraus, dass er die gemeinsamen Einnahmen aus dem Geschäft durchgebracht hat.

Dänische Landschaften
Lars Peter steht jetzt vor dem Ruin, und er lässt das Krähennest und einen Teil der Einrichtung versteigern. Mit den Habseligkeiten, die auf seinen Pferdewagen passen, zieht er mit seinen Kindern in ein Dorf an der Küste. Dort verdingt er sich als Fischer bei einem reichen und schmierigen alten Gastwirt, den alle in der Gegend nur "Menschenfresser" nennen. Ditte, inzwischen eine Jugendliche, muss nun auch Geld verdienen. Nach ihrer Konfirmation geht sie als Dienstmädchen auf den Bakkegård-Hof, der von der rustikalen Witwe Karen geführt wird. Deren Sohn Karl ist ein sensibler und nicht unsympathischer junger Mann, aber auch ein frömmelnder Schwächling, der sich in keiner Weise gegen seine Mutter durchsetzen kann. Eines Tages taucht auf dem Hof Johannes auf, macht Karen schöne Augen, und die lässt sich auf ihn ein. Nach einem Fress- und Saufgelage der beiden gibt es eine Fortsetzung im Schlafzimmer. Karl ist wegen des "sündhaften" Verhaltens seiner Mutter aufs äußerste deprimiert und zerknirscht. Ditte versucht, ihn zu trösten, und daraus ergibt sich, dass sie mit ihm schläft. Karls schwache Stunde bleibt nicht ohne Folgen: Ditte wird schwanger. Und nun zeigt sich, dass diejenigen, die das Geld haben, auch bestimmen, was "Moral" ist: Ditte wird wegen ihrer "Sünde" von Karen mit Schimpf und Schande vom Hof gejagt, und Karl sieht nur tatenlos zu.

Ditte badet nackt - 1946 in Dänemark kein Skandal
Ditte bleibt nichts anderes übrig, als zu Lars Peter zurückzugehen, wo sie immer willkommen ist und auch jetzt Verständnis findet. Dort ist inzwischen auch Sørine angekommen, die kürzlich aus dem Gefängnis entlassen wurde. Das Wiedersehen von Mutter und Tochter verläuft zunächst kühl, aber dann gibt es doch spröde Signale einer Wiederannäherung zwischen Ditte und der durch die Haft sichtlich gealterten und geschwächten Sørine. Vielleicht wird aus den Hansens wieder eine richtige Familie - und damit endet der Film. (Dieser verhalten positive Ausblick wird im Roman nicht eingelöst. Im 4. und 5. Band muss Ditte ihr erstes Kind an eine Pflegefamilie abgeben. Sie geht nach Kopenhagen, wo sie zum Lumpenproletariat gehört, und nach viel Mühsal und Entbehrungen stirbt sie schon mit 25 Jahren.)


Wie oben schon geschrieben, ist DITTE MENNESKEBARN trotz mancher poetischen Verzierung ein durchweg realistischer Film. Überzeugend gefilmte Schauplätze, authentische Ausstattung und glaubwürdig und natürlich agierende Darsteller tragen dazu bei, dass der Film im Trend der damaligen Zeit lag und in Dänemark ebenso wie im Ausland Erfolg hatte. Einige Quellen berichten, dass er 1946 bei den Festspielen in Venedig einen Preis gewonnen hat, aber das könnte eine Ente sein. Laut ital. Wikipedia lief er nicht 1946, sondern 1947, zusammen mit DE POKKERS UNGER (VERFLIXTE RANGEN), dem gemeinsam inszenierten nächsten Film der Henning-Jensens, und letzterer gewann dort einen Regie-Preis, DITTE MENNESKEBARN dagegen nicht. Unbestritten ist dagegen eine andere Ehrung: In einem vom dänischen Kultusministerium erstellten "Kulturkanon", der herausragende nationale Kulturleistungen ehren soll, ist DITTE MENNESKEBARN einer der zehn enthaltenen Filme.

Karen und Johannes; Wiedersehen mit Sørine
DITTE MENNESKEBARN ist in Dänemark auf einer DVD mit engl. Untertiteln erschienen. - Kuriosum am Rande: Ein Asteroid, der 1979 von einem russischen Astronomen entdeckt wurde, wurde von diesem zu Ehren von Martin Andersen Nexø und seiner Heldin auf den Namen Ditte getauft.

Diktaturgeschichte für Cinephile, Teil 2: Madrid Machete Massacre

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BALADA TRISTE DE TROMPETA (Mad Circus – Eine Ballade von Liebe und Tod)
Spanien/Frankreich 2010
Regie: Álex de la Iglesia
Darsteller: Carlos Areces (Javier, der traurige Clown), Antonio de la Torre (Sergio, der lustige Clown), Carolina Bang (Natalia)


Ein Soldat tötet mehrere Dutzend gegnerische Krieger in einem Gefecht – in einem entfesselten und gnadenlosen Bürgerkrieg keine wirklich bemerkenswerte Tatsache. Eher außergewöhnlich ist jedoch, dass es sich um einen lustigen Clown in einem Frauenkleid handelt, der sein blutiges Handwerk mit einer Machete verrichtet. Wenige Minuten zuvor hatte er noch kleine Kinder mit einer etwas traditionelleren Clowns-Aufführung unterhalten. Die republikanische Einheit, die ihn rekrutiert hatte, verliert das Gefecht und der Clown wird von den Faschisten gefangen genommen. Seinen kleinen Sohn schwört er darauf ein, sein Dasein fortan als traurigen Clown zu fristen und ihn zu rächen. Jahrzehnte nach der Etablierung der franquistischen Diktatur heuert der nun erwachsene und leicht pummelige Javier bei einem Wanderzirkus als trauriger Clown an. Sein Vorgesetzter, der lustige Clown Sergio, entpuppt sich als unberechenbarer Psychopath, der seine Umgebung und ganz besonders seine Freundin, die Trapez-Künstlerin Natalia, mit unkontrollierten Gewaltausbrüchen terrorisiert. Natalia erträgt den Zirkus-Tyrannen mit geradezu stoischer, sogar latent masochistischer Gelassenheit, versucht aber auch offen mit Javier anzubandeln. Der lustige Clown findet dies alles andere als lustig und bearbeitet den traurigen Clown mit einem Vorschlaghammer. In dem Moment, wo er wieder auf zwei Beinen stehen kann, flüchtet Javier (in einem Hinten-Ohne-Krankenhaushemd) aus dem Hospital. Er überrascht Sergio und Natalia beim Liebesspiel (oder bei einer Vergewaltigung) und bearbeitet wiederum seinen Vorgesetzten mit einer Trompete.


Dies ist der Moment, wo es erst richtig absurd wird. Nach dem Angriff auf Sergio flieht Javier in den Wald und lebt von da an monatelang völlig nackt, wie ein Urmensch, in einer Jägerhöhle. Hier wird er von einem Oberst aus dem direkten Umfeld des Diktators Franco bei der Jagd entdeckt. Javier wird zum Jagdhund degradiert, der das geschossene Wild in seinem Maul apportieren soll. Doch er rebelliert und beisst dem Caudillo höchstpersönlich in die Hand. Er schmeckt Blut und nach einer Halluzination, in der Natalia ihn auffordert, zum Todesengel zu werden, verpasst er sich ein schickes „permanent make up“, schlüpft in ein karnevaleskes Bischofskostüm und zieht schwer bewaffnet und wild um sich ballernd durch die Straßen Madrids.

„Balada triste de trompeta“ ist keineswegs ein Meisterwerk, aber sowohl als künstlerisch anspruchsvoller Film wie auch als Auseinandersetzung mit der diktatorischen Vergangenheit Spaniens sollte man den Film jedoch ernst nehmen. Gerade die Opening Credits (hier zu sehen) erscheinen als ein Manifest für einen kreativen cinematographischen Umgang mit Geschichte, der auch aus der Perspektive der Erinnerungskultur absolut sinnvoll erscheinen kann. Die Vermengung von verfremdeten Fotografien aus dem Bürgerkrieg und der franquistischen Zeitgeschichte mit faschistischen Insignien, Darstellungen des katholischen Klerus sowie spanischer Kulturpersönlichkeiten, Fahndungsfotos von ETA-Terroristen, Werbebilder für Strandurlaub und nicht zuletzt Screenshots angelsächsischer Horrorfilme in einer Montage-Sequenz ist zwar oberflächlich gesehen geschmacklos, provozierend, und politisch unkorrekt. Der Zeitzeuge Iglesia kann sich aber gut daran erinnern, dass er als Kind an einem Abend eine Komödie und einen Horrorfilm im Fernsehen sah, mit dazwischen ausgestrahlten Nachrichten, ohne, dass er diese Eindrücke analytisch ordnen und filtern konnte. Die Horrorfratze von Frankensteins Monster neben das Antlitz Francos zu stellen erscheint vor diesem Hintergrund nicht nur aus künstlerischer Perspektive anregend. Iglesia hat eben nicht „mit unzähligen Zeitzeugen und Wissenschaftlern“ gesprochen, weil er überhaupt nicht nach Authentizität sucht, sondern zutiefst persönliche Erinnerungen, Visionen und Obsessionen cinematographisch umsetzt – damit versucht eben nicht wie manch anderer, seinen Film als „authentisch“ zu legitimieren und zu adeln. Davon abgesehen weist der Regisseur in den Opening Credits auf sehr provokante Art und Weise auf die enge Verflechtung der katholischen Kirche mit dem Franco-Regime.


Nichtsdestotrotz liegt natürlich die Allegorie auf die Diktatur Francos auf der Hand: das franquistische Spanien erscheint hier als chaotischer Zirkus, das von einem tyrannischen lustigen Clown regiert wird – eine Vorstellung, die Menschen mit akuter Coulrophobie wohl ganz besonders beunruhigend finden dürften. Dieses System erscheint als die Hölle auf Erden: die Untertanen, die alle wie kleine Kinder behandelt werden, sind gezwungen, die ganze Zeit über die schlechten Witze des Oberclowns lachen. Das Nichtlachen erscheint dabei als Akt radikalen Widerstandes. Javier ist beim ersten auswärtigen Essen mit seinen neuen Arbeitskollegen der einzige, der über Sergios Witz mit dem zermatschten Kind nicht loslacht. „Ein Volltrottel versaut uns den Abend, weil er den Witz nicht versteht“, meint der lustige Clown daraufhin und verprügelt vor den Augen aller anwesenden Zirkuskollegen seine Freundin Natalia. Über die Mechanismen passiver Akzeptanz gegenüber einer Diktatur durch Gruppendynamik, ja gar über den Rückhalt oder die Massenbasis des Franquismus in der spanischen Gesellschaft ist diese schockierende Szene wahrscheinlich sehr viel aussagekräftiger, als man auf den ersten Blick denken könnte – auf jeden Fall aussagekräftiger als so „realistische“ „Das Leben der Anderen“, in dem es keinerlei Gesellschaft gibt, sondern nur böse Individuen und gute Individuen.

Die gemarterte Natalia drängt sich geradezu als Inkarnation der spanischen Nation auf. Regelmäßig wird sie von Sergio verprügelt und vergewaltigt. Ihre Reaktionen auf die Gewalttaten sind ambivalent. Sie nimmt ihren brutalen Freund in Schutz: er würde nur unter Alkoholeinfluss gewalttätig (dabei trinkt er natürlich jeden Tag). Sie scheint auf fast masochistische Weise die Gewalt zu genießen, leckt ihr eigenes Blut. Und doch rennt sie immer wieder vor dem Gewalttäter weg, zu Javier: „Bei dir fühl ich mich anders, so geborgen.“ Javier selbst ist schließlich das ungerade Element, das in einem Iglesia-Film natürlich nicht fehlen kann. Vielleicht ist gerade er noch mehr die Verkörperung Spaniens als Natalia, da er im Film nacheinander multiple Rollen ausfüllt: Bürgerkriegs-Waise, resignierter Untertan, politischer Oppositioneller, Öko-Eskapist, Terrorist, Faschist, Pieta der Nation.

„Balada triste de trompeta“ kann auch als Rache- bzw. Amoklauf-Thriller gesehen werden, geht es doch letztlich auch um einen Mann, der unter den Bedingungen der Diktatur seine Trauer, seinen Zorn und seine Frustrationen in sich fressen musste und zur tickenden Zeitbombe wurde. Und der schlußendlich mit einem Schlag wirklich explodiert und fürchterliche Gewalttaten begeht. In seinem Blutrausch wird Javier selbst zum Faschisten und er gibt dies schließlich Natalia gegen Ende des Films offen zu: er wolle wie Sergio werden, auf dass sie ihn, den traurigen Clown, begehre. Im Gegensatz zu Gerd Wiesler wird Javier für seine Sünden vom Regisseur auf eine fast klassisch moralische Art zur Verantwortung gezogen: er wird zum ewigen Traurigsein verurteilt. Dem Schlachtfeld, das Javier und Sergio in ihrem Endkampf (hochsymbolisch: auf dem Heiligen Kreuz beim "Tal der Gefallenen") gegeneinander gelassen haben, ist schlussendlich auch Natalia/Spanien zum Opfer gefallen: durch eine Zweiteilung. In der erschütternden finalen Filmszene sitzen sich die beiden völlig entstellten Clowns in einem Polizeiwagen gegenüber. Der arg entstellte Leichnam Natalias wird vor ihnen Augen abtransportiert. Sergio fängt an zu lachen, während Javier bitter zu weinen beginnt. Lachen und Weinen können aber nahe beieinander liegen: bei der Erstsichtung schien mir, dass beide lachten. Erst die Zweitsichtung machte deutlich, dass Javier von einem hysterischen Lachen in ein verbittertes Weinen gleitet. Wie diese ambivalente Schlussszene auch immer zu interpretieren ist – vielleicht als zynischer Kommentar darüber, dass sich die führenden Franquisten lachend vor der Verantwortung für ihre Massenverbrechen entziehen konnten –, sie entlässt den Zuschauer mit einem höchst unguten Gefühl aus dem Film. Dieses extreme Unbehagen ist ein weiterer Punkt, der „Balada triste de trompeta“ emotional radikaler und intellektuell anregender macht als „Das Leben der Anderen“.


Vielleicht ist aber Iglesia trotzdem mit der Transition zufrieden – nicht in allen Aspekten, jedoch in ihrer grundlegenden, friedlichen Form. Sein Film lässt sich schließlich auch als ein kontrafaktisches Experiment sehen: was, wenn es einen zweiten Bürgerkrieg gegeben hätte? „Balada triste de trompeta“ spielt dabei auch sehr direkt auf den urbanen Terrorismus der baskischen ETA an (Iglesia ist übrigens selbst baskischer Herkunft). Diese wählte einen gewaltsamen Weg des Widerstandes gegen den Franquismus. Ihr berühmtestes Attentat in der Franco-Zeit war die Ermordung des Regierungspräsidenten und informellen Stellvertreter Francos, Luis Carrero Blanco. Das Bombenattentat auf seine Limousine wird im Film auch dargestellt und bildet einen Hintergrund für den urbanen Amoklauf Javiers. Während dieser zum Titelthema aller Medien avanciert, wird Sergio zu einer fast bemitleidenswerten Figur. Die Bearbeitung seines Gesichts mittels einer Trompete hat eine erstaunliche Wandlung herbeigeführt. Sie hat ihm die hübsche Maske des lustigen Verführer-Playboys und Alpha-Männchens entrissen. Übrig geblieben ist ein hässlicher Freak, der kleine Kinder mit seinem entstellten Gesicht zwar erschrecken kann, von den Erwachsenen jedoch ausgelacht und gemieden wird. Dies ist ein überaus interessanter Kommentar des Zeitzeugen Iglesia auf den seit Anfang der 1970er Jahre immer offensichtlicheren körperlichen Verfall Francos, der sich vor allem gegen Ende zunehmend als geradezu groteskes und latent peinliches öffentliches Spektakel gestaltete. Der Clown hatte ausgedient, der Clown ging.

Die Gewalt im Film ist omnipräsent, extrem, unberechenbar und zerstört manchmal jäh Momente des Lachens oder der Rührung. Was manch Zuschauer als unnötige Übertreibungen ansieht, fängt im Grunde sehr viel ein über die latente Gewalt des Franquismus, einem Regime, das zwar ab den 1950er Jahren individuellere Formen der Repression ausübte, dessen Gründungsjahre jedoch von Massenterror geprägt waren. Subtil ist eine solche Darstellung nicht, doch sie drückt wahrscheinlich einiges über die Traumatisierungen der spanischen Gesellschaft nach dem Bürgerkrieg aus.

Wie eingangs erwähnt ist „Balada triste de trompeta“ keineswegs ein Meisterwerk. Das liegt vor allem an einem sehr grundlegenden Problem seiner Machart – der Film leidet an einer Wohlstandskrankheit, die seit mehreren Jahren vor allem in Actionfilmen grassiert: Shakycameritis. Die Wackelkamera wird ja immer wieder gerne zwecks „Realismus“ oder „Immersion“ herangezogen („als wäre man mittendrin im Geschehen“). Dabei wird gerne übersehen, dass es für die meisten Menschen nicht sehr realistisch ist, mit drei Promille Blutalkoholkonzentration durch die Gegend zu torkeln (das Gefühl, dem die ausgerechnet dafür von Karl Freund und Friedrich Wilhelm Murnau erfundene Shakycam wohl am nächsten kommt). Richtig unerträglich, mittlerweile aber von manchen Kritikern gar als „state of art“ bezeichnet, wird die Wackelkamera in Kombination mit Nah- bzw. Extremnahaufnahmen und Stakkato-Schnitt im Dreiviertelsekunden-Takt. Leider sabotiert sich „Balada triste de trompeta“ selbst, indem er diesem völlig lächerlichen und nervenden Trend immer wieder nachgibt. Das führt dazu, dass die Eingangs-Szene mit dem Macheten-Clown ein unübersichtliches Misch-Misch aus zittrig-unfokussierten Bildern ist, statt eine gute Action-Sequenz, die der Absurdität ihres Inhalts entsprechen würde. Immer wieder dringt diese Tendenz durch, und zerstört damit sowohl jegliche plastische Räumlichkeit der Bilder wie auch Entfaltungsmöglichkeiten für die durchgehend überzeugenden Darsteller.

Nicht zuletzt verlängert Shakycameritis auch die gefühlte Länge des Films massiv. Wer vor einer Leinwand voller Bilder sitzt, deren visueller Informationsgehalt gegen Null tendiert, langweilt sich tendenziell schneller. Das liegt aber sicherlich auch daran, dass dem Film eine gewisse Straffung des Drehbuchs gegen Ende wohl gut getan hätte. Was die Bilder an Emotionen jedoch nicht einfangen können, kann die absolut großartige Musik Roque Baños‘ zum Teil wieder wettmachen (hier ein Hörbeispiel). Sie etabliert sich mit ihrem einfachen Leitmotiv als ruhigen, melancholischen und nachdenklichen Kontrapunkt gegen den grotesken Gehalt der Handlung.

„Balada triste de trompeta“ spielt auf das Lied „Balada de la trompeta“ aus dem spanischen Musical-Film „Sin un adios“ aus dem Jahre 1970 an (hier der Ausschnitt). Dieser Film läuft in einem Kino, das Javier während seines Amoklaufes besucht. Der Ausschnitt des Films, den er sieht, rührt ihn zu Tränen: seit seiner Verwandlung der einzige Moment, in dem er kurz innehält – bevor er wenige Sekunden später freilich einem anderen Kinozuschauer die halbe Hand wegreisst. Der deutsche Verleihtitel ist vielleicht griffiger und kürzer als der Originaltitel, dieser jedoch fängt die tiefe Grundmelancholie und die Traurigkeit – die immer wieder von Groteske und Gewalt unterbrochen werden – des Films sehr viel passender ein. Endet „Balada triste de trompeta“ doch schließlich damit, dass eine Figur weint, wie vielleicht noch nie jemand in einem Film geweint hat...

"Whoknows" Bruno Vögelin ist tot

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Leider muss ich euch mitteilen, dass Bruno, der in der Blogger-Szene als "Whoknows" auftrat, am letzten Sonntag gestorben ist. Er hatte vor ungefähr einem Monat einen Schlaganfall und lag seitdem im Krankenhaus. David und ich hatten nur indirekt über Telefonate mit seiner Mutter, die er hier gelegentlich als "Splatter-Mutti" vorstellte, Informationen über seine Lage. Besserung war nicht in Sicht, aber er war bei klarem Verstand, und sein Zustand schien stabil, aber heute habe ich wieder angerufen und musste erfahren, dass er nach Komplikationen gestorben ist. Die meisten von euch haben ja schon seinen Berichtüber seine letzte größere Krise gelesen und wussten, dass er gesundheitlich angeschlagen war. Schon zuvor hatte sich abgezeichnet, dass er vielleicht bald keine Artikel mehr schreiben würde, weil er durch seine Krankheit und die Medikamente, die er nehmen musste, die nötige Energie und Konzentration nicht mehr aufbrachte. Aber dass es jetzt so kam, war vor ein paar Wochen noch nicht absehbar.

Im Dashboard stehen schon seit längerem zwei fertige Artikel von Bruno. Die wollte er eigentlich erst nach einem Text über einen Film von Buñuel bringen, den er begonnen hatte, aber nicht mehr fertigstellen konnte. Ich denke, es ist in seinem Sinn, wenn diese beiden Artikel noch veröffentlicht werden, deshalb werde ich sie in nächster Zeit reinstellen.

Tja, was soll ich noch sagen? Ich habe Bruno nicht persönlich gekannt, die Kommunikation verlief per Email. Meine Aufnahme hier Anfang letzten Jahres war sehr herzlich und verlief völlig problemlos. Meinungsverschiedenheiten hatten wir eigentlich nie. So kann ich mich nur nachträglich für die gute Zusammenarbeit bedanken.

Eine Weimarer Pizza geht nach Wien oder zur Psychopathologie österreichischer Toiletten: Bericht von der Viennale 2012

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Am Donnerstag, den 25. Oktober, bin ich in Richtung Österreich gereist, um dem 50. Internationalen Filmfestival Wien (25. Oktober bis 7. November 2012), auch als Viennale bekannt, einen Besuch abzustatten. Der Weg führte mich von Weimar, über Jena, Leipzig, Dresden, Prag bis in die ehemals kaiserliche Hauptstadt. Drei Tage voller Filme erwarteten mich: neue, alte, gute und nicht so gute. Und extrem gute Kaffees. Und merkwürdige Bekanntschaften mit österreichischen Toiletten. Und nasse Füsse. Und eine hirnverbrannte Festival-Organisation... aber dazu später.

Donnerstag 25. Oktober 2012

Bei einem dreistündigen Halt in Leipzig stimmte ich mich Kino-technisch etwas auf die Viennale ein und ließ mich in einer Pressevorführung vom neuen James-Bond-Film begeistern. Diese hatte zwar nichts mit dem österreichischen Filmfestival zu tun, wird in meinem Gedächtnis aber immer mit meiner ersten Viennale-Reise verbunden sein. An anderer Stelle habe ich mich schon etwas über den nunmehr 23. (bzw. je nach Perspektive 24., 25., 26.) Bond-Film ausgelassen. Hier also eine Zusammenfassung meiner durch und durch positiven Eindrücke in freier Assoziation.

10.00 Uhr, Cinestar Leipzig
Skyfall
UK/USA 2012, 143 Minuten
Regie: Sam Mendes

James Bond goes Apocalypse Now. James Bond goes art house. James Bond goes avant garde. James Bond goes back to childhood. James Bond goes back to the roots. James Bond goes bi (maybe). James Bond goes Caspar David Friedrich. James Bond goes crazy deadly drinking games. James Bond goes dada. James Bond goes expressionistic. James Bond goes for a swim. James Bond goes Freudian. James Bond goes Gothic. James Bond goes Greek tragedy. James Bond goes greyish. James Bond goes Heineken. James Bond goes hunting knife. James Bond goes introspective. James Bond goes James Bond. James Bond goes meta. James Bond goes neon signs. James Bond goes Oedipus. James Bond goes Oskar Fischinger. James Bond goes sawed-off shotgun. James Bond goes self-aware. James Bond goes shadow play. James Bond goes sicko. James Bond goes vintage. James Bond goes weirdo.
James Bond goes Skyfall!
P.S.: „Q“ goes hipster-nerd. Bond villain goes Hannibal Lecter. Bond side villain goes Stromberg.


Nach einer sehr langen Reise (Start: 07:20 Uhr in Weimar) kam ich also kurz nach 22.00 Uhr in Wien an. Nach einem Bier und einem Wodka mit meinem Gastgeber, dem ich vom neuen Bond-Film und von der kommenden Fritz-Lang-Retrospektive vorschwärmte, ging es zur Eröffnungsparty der Viennale. Zu der Eröffnungsparty oder vielleicht auch zu einer Eröffnungsparty. Mehr noch als die fürchterliche Musik, die Kälte und die horrenden Bierpreise brachten mich die Toiletten zur rasenden Verzweiflung. Vor ihnen stand eine gefühlt vierzig Meter lange Schlange. Dixie-Klos im Innenhof waren die Alternative. Sie waren zwar nicht beleuchtet, aber hier konnte ich mich zum letzten Mal während meines Wien-Aufenthalts ohne Klaustrophobie-Anfall erleichtern...


Freitag 26. Oktober 2012

Nach vierstündigem Schlaf ging es weiter. Zunächst durch die Innenstadt etwas spazieren. Beim Stephansdom einen Cappuccino to go genommen, der mich bei der ersten Berührung mit meinen Geschmacksknospen in den Himmel geführt hat. Was ich letztes Jahr in Graz erlebt hatte, wiederholte sich nun in Wien: österreichischer Kaffee ist der beste der Welt, oder zumindest der beste, den ich kenne. Die Österreicher haben Mut zur Bohne, und das ist gut so!
Weiter zum Hilton Hotel Wien, wo die Presse-Karte abgeholt wurde. Die Freude über das kostenlose Festivalkatalog, das kostenlose Fritz-Lang-Buch und über die Viennale-Umhängetasche verflog zunächst angesichts des Info-Blattes für „Teilnehmer“. Irgendetwas von 4,50 Euro pro Film stand da. Es stellte sich später glücklicherweise heraus, dass auch die niedrige Journaille kostenlos in die Filme gehen durfte. Als schwerwiegenderes Problem stellte sich später allerdings das ineffiziente Reservierungs-System für Pressekarten heraus.
Schwer bepackt ging ich zusammen mit meinem lieben Mitreisenden, luzifus von the-gaffer.de, zum Metro-Kino, wo um 11 Uhr unser erster Festivalfilm begann. Wir hatten nicht „reserviert“ und mussten deshalb über die „Warteliste“ rein, bekamen dann aber trotzdem Karten.
An den Kino-Toiletten hing ein stolzes Schild über den gelungenen Umbau des Örtchens zu einer behinderten-gerechten Einrichtung. Diesen Wienerischen Witz habe ich leider nicht verstanden, denn eine Warnung für Klaustrophobiker wäre angesichts der unglaublichen Enge der Örtlichkeit angemessener gewesen. Ein Ort, der wirklich nur in einem sehr basisch-physischen Sinne Erleichterung brachte.
Der Kino-Saal jedoch war prunkvoll, mit schönen roten Sitzen und Seitenlogen ausgestattet. Die eher mäßige Beinfreiheit stellte sich später als für Wienerische Verhältnisse absolut extravagant heraus...


11.00 Uhr, Metro-Kino Wien
Vous n‘avez encore rien vu
Frankreich/Deutschland 2012, 115 Minuten
Regie: Alain Resnais

Ein Theater-Regisseur stirbt. Sein Butler ruft eine ganze Horde an berühmten Schauspielern an (Michel Piccoli, Pierre Arditi, Sabine Azéma, Lambert Wilson, Mathieu Amalric, Anny Duperey, Hippolyte Girardot etc.), um sie zur Trauerfeierlichkeit und Nachlass-Erklärung einzuladen. Der letzte Wunsch: die Geladenen mögen bitte das Probevideo einer unbekannten Theatergruppe, die das berühmteste Stück des Regisseurs spielt, bewerten und eine Empfehlung geben. Während das Video abgespielt wird, erinnern sich die anwesenden Schauspieler – die wohlgemerkt alle sich selbst spielen – an ihre respektiven Rollen in dieser Adaption der griechischen Sage um Orpheus und Eurydike und beginnen, selbst das Stück im Austausch mit der Leinwand zu spielen.
Was als spannender Film über die Interaktion von Kino mit dem „wahren“ Leben erscheint, entpuppt sich als eine brachiale Tortur von einem „Film“, der über das Niveau eines abgefilmten (schlechten) Theaterstücks nicht hinausreicht. Der Genuss, so viele tolle französische Schauspieler auf einem Haufen zu sehen, wird einem gründlich verdorben. Grottenschlechte CGI-Effekte widerspiegeln entweder den Wunsch des nunmehr 90-jährigen Regisseurs, auch mal moderne Technologie zu nutzen, oder sollen wohl zweck Verfremdungs-Effekt absichtlich „beschissen“ aussehen. Nur mäßig verklausuliert erschien der Film auch als eine völlig ungehemmte und neunmalkluge Selbstbeweihräucherung Resnais‘. Nach gefühlten zwei Stunden lud der Film zum Sekundenschlaf ein, obwohl noch über eine halbe Stunde übrig blieb. Kein schönes Festivaleröffnungs-Erlebnis.


Zwanzig Meter vom Metro-Kino entfernt befand sich eine Imbissbude, bei der der hungrige Festival-Besucher einen ganz ausgezeichneten Dürum (u. a. mit einer scharfen Sauce aus frischen Chillies) genießen konnte. Gleich daneben die Café-Version eines internationalen Fastfood-Konzerns, dessen doppelter Espresso jedoch durchaus „österreichisch“ schmeckte und den Verfasser dieser Zeilen noch vor gar zu schlimmen Sekundenschlaf-Anfällen retten sollte.
In der Zwischenzeit kam heraus, dass die Journaille ausschließlich Wartelisten-Plätze erhält, wenn sie nicht vorher ihre Karten bei der zentralen telefonischen Presse-Reservierung bestellt. Dies sollte sich später noch als echtes Problem erweisen.


13.30 Uhr, Metro-Kino Wien
Pearblossom Highway
USA 2012, 80 Minuten
Regie: Mike Ott

Mit einem nunmehr etwas günstigeren Platz begann der zweite Film in Anwesenheit des überaus sympathischen Regisseurs. Plakate habe er mitgebracht, und wer den Film möge, könne sich im Anschluss eins bei ihm holen. Wer den Film nicht möge, könne sich aber ebenfalls eins holen.
Zwei junge Menschen am Wüstenrand von Los Angeles stehen im Mittelpunkt dieses kleinen Independent-Films. Cory redet ständig und filmt ein Videotagebuch, das er gerne einmal zu einer Reality-Show ausbauen möchte. Atsuko bzw. Anna, eine immigrierte Japanerin, spricht hingegen kaum und bereitet sich auf ihren Einbürgerungs-Test vor. Außer ihrem besten Freund Cory, dessen geistige Gesundheit fraglich und soziale Kompetenz gänzlich unausgeprägt ist, ist die junge Frau völlig von ihrer Umwelt entfremdet. Ihr Nebenjob als Prostituierte verbessert diese soziale Isolation nicht gerade. Erleichterung findet sie nur in den Telefongesprächen mit ihrer Großmutter in Japan, die jedoch zunehmend erkrankt. Derweilen hat Cory immer größere Probleme mit seinem älteren Bruder, einem Armee-Veteranen.
Die scheinbar absolute Loslösung dieses größtenteils eher still vor sich hinplätschernden Films erklärte sich im nachhinein daraus, dass er ein Sequel zu Mike Otts „Littlerock“ ist, der die Figuren Cory und Anna übernimmt. Der Film plätscherte in der Tat: Langweilig, rührend, lustig, emotional, nervig, öde, quicklebendig – all dies war „Pearblossom Highway“, und manchmal sogar gleichzeitig. Nervend waren die immer wiederkehrenden, von einem verfremdeten Polaroidkamera-Klickgeräusch begleiteten Montage-Verdichtungen, die etwas übermäßig bemüht den ansonsten eher realistischen Stil des Films konterkarieren wollten. Atsuko Okatsuka (auch Drehbuchautorin des Films) als Atsuko-Anna bot hingegen eine sehr überzeugende minimalistische Darstellung der entfremdeten Japanerin.
Auch wenn ich mich stellenweise schwer gelangweilt habe, so bleibt im Nachhinein doch ein tendenziell eher netter Eindruck. Das liegt vielleicht am unterhaltsamen Q & A mit dem Regisseur, der sich ganz natürlich, völlig unprätentiös und absolut sympathisch mit dem Publikum austauschte. Ott versprach etwa einer Zuschauerin, die nach einer DVD-Veröffentlichung von „Littlerock“ gefragt hatte, einen Link zu einem Download zu geben.


Nach dem dritten Kaffee des Tages ging ich ins Wiener Filmmuseum, um meinen ersten Film der Fritz-Lang-Retrospektive zu schauen. Luzifus ging derweilen – am 26. Oktober ist österreichischer Nationalfeiertag – zu irgendeinem feierlichen Empfang in der österreichischen Nationalbibliothek, wo der Bundespräsident dem anwesenden Pöbel die Hand schütteln sollte... Gähn! Langweilig! Wer will schon dem österreichischen Staatsoberhaupt die Hand schütteln, wenn er stattdessen einen Fritz-Lang-Film in Kino sehen kann?
Vor „Hangmen Also Die!“ trank ich im Filmmuseum den größten und teuersten und schmackhaftesten doppelten Espresso meines Lebens. Doch auch in diesem Kino spielten mir die Toiletten einen bösen Streich: sie hatten nur eine winzige Kabine und drei Pissoirs, die so eng nebeneinander gestellt waren, dass Mann sie alle gleichzeitig hätte nutzen können. Ein sehr junger Zuschauer besetzte eine halbe Stunde lang die Kabine unter der Aufsicht seines Vaters, der den Rest der Örtlichkeit blockierte. Natürliche Bedürfnisse werden angesichts eines Filmfestivals selbstverständlich völlig überschätzt, aber trotzdem...


16.00 Uhr, Filmmuseum Wien
Hangmen Also Die!
USA 1943, 135 Minuten
Regie: Fritz Lang

„Hangmen Also Die!“ ist einer der drei offenen Anti-Nazi-Filme, die der Emigrant Lang in den USA drehte und basiert auf einem Drehbuch von Bertolt Brecht, der sich wenig später vom Film distanzierte. Er ist eine Hommage an den tschechoslowakischen Widerstand gegen die nationalsozialistische Okkupation und behandelt die Ermordung des „Henkers von Prag“ Reinhard Heydrich.
Jeder Film verlangt natürlich eine filmhistorisch kontextualisierte Sichtung, doch „Hangmen Also Die!“ sicherlich in einem ganz besonderen Maße. Wir kennen alle das Klischee des überbösen und dämonischen Nazis bis zum Überdruss. Dieses wurde unter anderem gerade hier „erfunden“ und ikonographisch in Zelluloid gebrannt – wohlgemerkt zu einem Zeitpunkt, als eben die Nazis noch an der Macht waren und halb Europa besetzten und terrorisierten! Langs Nazis sind mit ihren Pickeln im Gesicht wirklich hässlich. Sie verhalten sich ur-“deutsch“, wenn sie zum Kaffee eine Wurst essen und diese in zwei Hälften so knacken, dass Fleisch und Fett durch das ganze Zimmer fliegen. Sie sind gnadenlos grausam, etwa in Prügelszenen, die selbst mit heutigen Zuschauergewohnheiten noch äußerst brutal wirken. Sie tragen (ironischerweise) Monokel. Zugleich sind sie feige, verantwortungslos und kriecherisch, womit Lang im Prinzip auch das spätere reale „Ich habe nur Befehle ausgeführt“-Narrativ cinematographisch vorweggenommen hat.
Den „Lang im Film“ erkennt man durch die subtile Psychologisierung der Figuren: Schuldgefühle, moralische Dilemmata und Rachegelüste. Der Attentäter Svoboda lebt mit dem unlösbaren moralischen Dilemma, sein Leben zu retten und dabei unschuldige Menschen (Geiseln der Nazis) auf dem Gewissen zu haben oder aber sich zu ergeben und damit zugleich die Widerstandsbewegung in Gefahr zu bringen. Gerade das Thema des Unschuldigen, der in die Knochenmühle der Gewalt gerät, wird hier vielfältig variiert. Lang geht schließlich so weit, dass ein tschechischer Kollaborateur für seine Sünden damit bezahlt, dass er durch eine Verschwörung des Widerstands für ein Verbrechen gerichtet wird, das er nicht begangen hat!


Nach drei Filmen völlig erschöpft und kaum noch fähig, einen verständlichen Satz zu verstehen oder gar selbst zu formulieren, entließ ich mich in eine Dinier-Pause mit einem originalen Wiener Schnitzel und einem Gespräch mit Einheimischen über die Bedeutung des Nationalfeiertages und der österreichischen Neutralität. Gestärkt und mit einem leichteren Geldbeutel ausgestattet kehrte ich, diesmal mit luzifus, in das Wiener Filmmuseum zurück.


21.00 Uhr, Filmmuseum Wien
You Only Live Once
USA 1937, 135 Minuten
Regie: Fritz Lang

Langs zweiter US-amerikanischer Film um einen ehemaligen Kleinkriminellen (ein junger Henry Fonda), der nach drei Jahren Gefängnis nach kurzer Zeit des Glücks zu Tode verurteilt wird, schwankt zwischen einem “amerikanischen“, kontroversen Thema und einer „deutschen“ Ästhetik.
Gerade die barock-expressionistischen Momente wirken auf einer Kino-Leinwand großartig. Nachdem die Hauptfigur Eddie seine Geliebte Joan geheiratet hat, spricht er über seine Kindheitserlebnisse. Dazwischen geschnitten werden Nah- und Extremnahaufnahmen von Fröschen in einem kleinen Gartenteich (vielleicht ein visuelles Vorbild für das spätere „Night Of The Hunter“?), während das Paar durch gebrochenes Wasser umgekehrt gespiegelt wird. Auch die Isolations-Todeszelle, deren Gitterschatten sich in alle Richtungen ausbreiten, markieren visuell beeindruckend die Verlorenheit der Hauptfigur. Als Eddie kurz vor seiner Hinrichtung ausbricht, flieht er durch ein dichtes, atmosphärisches Nebelmeer mit seiner Geisel in Richtung Ausgangstor. Die Flucht des Paares endet in einem offensichtlich im Studio nachgebauten und deshalb so hochstilisierten Wald: eine schöne und hoffnungsvolle Idylle, aber letztlich ein Trugschluss.
Auch wenn das persönliche Schicksal eines Außenseiters im Mittelpunkt steht, so lässt sich „You Only Live Once“ auch als sehr starkes und nicht wenig subversives Plädoyer gegen die Todesstrafe in den USA sehen: Verbrechen entstehen aus sozialen Ursachen, über Schuld besteht keine Garantie, es gibt keine Gerechtigkeit (daher die anfänglich deplatziert wirkende Figur des italienischen Obsthändlers, der sich darüber beklagt, dass patrouillierende Polizisten ihm Äpfel klauen), und die Todesstrafe zerstört nicht nur Leben, sondern auch das gesellschaftliche Gefüge. Die drückende, fast nihilistische Atmosphäre wird schließlich mit einer christlichen Erlösung gedämpft, die jedoch keine richtige Erleichterung zu bringen vermag.
Fritz Lang war die wichtigste Vermittlungsfigur zwischen dem deutschen (expressionistischen) Stummfilm und dem US-amerikanischen film noir. „You Only Live Once“ ist dabei eines der wichtigsten Glieder dieser Verbindungskette, ein spätes strukturelles Sequel zu „M“, ein Vorläufer des Schuld-und-Reue-Melodrams „Scarlet Street“, und dabei doch ein eigenständiges Meisterwerk. Eindeutig ein Höhepunkt der Viennale.


Mittlerweile nicht mehr ganz so frisch erfolgte der Umzug zum Gartenbau-Kino am Stubenring, wo mich erwartete:


23.30 Uhr, Gartenbau-Kino Wien
Double Feature Room 237 & The Shining

Bereits kurz nach 23.00 Uhr traf ich im Gartenbau ein und holte mir meine (reservierte) Pressekarte für das große Shining-Double-Feature. Das Foyer des Kinos füllte sich immer mehr mit Zuschauern, es wurde immer enger, und schließlich so eng, dass jemand, der ob der schlechten Luft ohnmächtig geworden wäre, nicht hätte auf den Boden fallen können. 23.40 Uhr kündete ein Mitarbeiter an, dass sich der Einlass wegen der vorherigen Veranstaltung noch um zehn Minuten verzögern würde. Bis zum Einlass 20 Minuten später also weiter klaustrophobische Unruhe und Ströme an Schweiß...


23.30 Uhr (faktisch etwa um 00.15 Uhr), Gartenbau-Kino Wien
Room 237
USA 2012, 102 Minuten
Regie: Rodney Ascher

„The Shining“ ist zwar ein Kultfilm eigenen Rechts, aber er wäre vielleicht nicht das Werk des Stanley Kubrick, das einem als erstes für eine abendfüllende Dokumentation einfallen würde... zu unrecht, wie sich herausstellte.
Der anwesende Regisseur Rodney Ascher hat mehrere Leute – dass man nicht erfährt, wen genau, kann man je nach dem als irrelevant oder als Schwäche sehen – zur Verfilmung von Stephen Kings Roman befragt und dabei Erstaunliches erfahren: von Kleindetails bis zu umfassenden Interpretationen.
Eine mögliche Sichtweise auf „The Shining“ wäre zum Beispiel, dass es sich um Kubricks allegorische Verarbeitung der Vertreibungen und Massaker an den amerikanischen Ureinwohnern handelt. Dafür spricht nicht nur die Tatsache, dass das „Overlook“ auf einem Indianerfriedhof gebaut wurde. Während des ganzen Films im Hintergrund verteilte Regalien (Calumet-Backpulverdosen, ausgestopfte Büffel-Köpfe, Häuptling-Portraits, Teppichkunst etc.) lassen diese Interpretation in Ansätzen plausibel wirken.
Stanley Kubrick hatte in den frühen 1990ern bekanntermaßen angefangen, mit „Aryan Papers“ einen Film über den Holocaust zu drehen. Mit „Schindler‘s List“ ließ er sein Projekt als obsolet fallen. Möglich wäre auch – so einer der Interviewten –, dass Kubrick mit „The Shining“ seinen Holocaust-Film bereits gedreht hatte: die apokalyptischen Blutfluten sprechen am offensichtlichsten dafür. Mehrere Überblenden von Personen auf Reisekoffer-Haufen (eine der vielen Holocaust-Ikonographien) und umgekehrt an einer und derselben Stelle weisen subtiler auf eine solche potentielle Interpretation. Dass die riesigen Büchsen „kosher dill“ in der Speisekammer oder das Arrangement der Fleischhaufen im Kühlraum (das tatsächlich an Lager-Schlafbarracken-Bilder erinnerte) keinem Interviewten aufgefallen ist, scheint überaus verwunderlich.

Erheblich abstruser scheint die Interpretation von „The Shining“ als Kubricks persönliche Bewältigung seiner Beteiligung an der Fälschung der Mondlandungs-Bilder, wozu man über Dannys Apollo-Pullover und diverse Zahlenspielereien mit der Raumnummer 237 kommt. Lacher waren hier garantiert.
Mehrere Interpretationen waren zumindest sehr viel ergebnisoffener. Kubrick sei als Mensch mit überdurchschnittlichen intellektuellen Kapazitäten seit Anfang der 1970er Jahre zutiefst gelangweilt gewesen und habe daher angefangen, seine Filme mit noch erheblich mehr mit elaborierten, geradezu manischen Details zu spicken. „The Shining“ sei in diesem Sinne ein strukturelles Sequel von „Barry Lyndon“: ein Meta-Film über ein gelangweiltes, weil intellektuell unterfordertes Genie. Deshalb gäbe es auch in der Szene des Vorstellungsgesprächs einfach mal eine Phallus-Konstruktion, die sich aus dem Kamerawinkel in Verbindung mit einer dunklen Papierablage ergäbe. Auch relativ ergebnisoffen ist die Deutung von „The Shining“ als philosophisches Essay über Vergangenheit.
Wenngleich „Room 237“ vielleicht 20 Minuten weniger ganz gut getan hätten, so war er doch eine schöne Erfahrung. Zunächst hat er die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf einen Film gelenkt, der manchmal wohl etwas zu schnell als „Kubricks Horrorfilm“ abgetan wird und ihm damit eine schöne Hommage geschenkt. Zweitens hat er auch gezeigt, dass ein gutes Kunstwerk in seiner Ausdeutung sich immer sehr schnell von den möglichen Intentionen des Künstlers freimachen kann. Genauso, wie Kubrick den King-Stoff auf persönliche Weise verarbeitet hat, eignet sich der Zuschauer den Film in ganz eigener Art an... Der Beweis erfolgte in einem Q & A mit dem vielleicht großartigsten Zuschauerkommentar aller Zeiten: ob Rodney Ascher bemerkt habe, dass die Deckenverzierung des Kinosaals den Teppichmustern in „The Shining“ ähnlich sei...


Nach spätestens einer halben Stunde bemerkte nicht nur ich, sondern auch luzifus und mein lieber Wien-Gastgeber, dass die Sitze des Gartenbau-Kinos zu streng quadratisch geformt (und daher sehr unbequem) sind und dass Füße und Knie sich permanent an den Vordersitz anstoßen. Länger als anderthalb Stunden hier zu sitzen, sollte sich also theoretisch als die reinste Tortur erweisen. Wir haben aber zu diesem Zeitpunkt noch über drei Stunden vor uns! Dosenbier kann vielleicht etwas Erleichterung schaffen (was sich später als Illusion erweist).


etwa um 02.00 Uhr, Gartenbau-Kino Wien
The Shining
UK/USA 1980, 119 Minuten
Regie: Stanley Kubrick

Die ganzen Lacher und Ahas und Ohhs, die während der Vorführung durch das Publikum gingen, wenn eine in „Room 237“ prominent besprochene Stelle kam, waren sicherlich besonders bemerkenswert und der Beweis, dass Filme im Kino geschaut werden sollten. Doch erst richtig einmalig war die 35-mm-Filmkopie: vollkommen ausgewaschen, rotstichig, mit permanenten tiefen Kratzern und teils so schweren Beschädigungen, dass man in manchen Momenten einen Filmriss erwartete.
Meine zweite Sichtung von „The Shining“ war also ein großartiges, einmaliges, und wirklich niemals wiederholbares Erlebnis. Manch Schock-Effekt wurde zwar dank der Verfremdung der schlechten Kopie minimal gedämpft, doch nur im Kino kann man wohl erleben, was für ein PHÄNOMENAL LAUTER Film „The Shining“ eigentlich ist.
Mir ist übrigens aufgefallen, dass auf der roten Männer-Toilette eine Toilettenschüssel im Hintergrund viel zu nahe an der Trennwand der Kabine montiert ist, und daher – zumindest für große Geschäfte – unmöglich nutzbar wäre. Sehr irritierend! Sehr beunruhigend!



... ... zum ersten Mal in meinem Leben das Kino um vier Uhr morgens verlassen. Gehirn fühlt sich wie Matschepampe an. Füße und Knie ebenso. Ins Bett gekommen um 04.30 Uhr, jedoch noch eine Stunde gebraucht, um einzuschlafen...


Samstag 27. Oktober 2012

Das diesjährige Viennale-Tribute befasste sich mit Michael Caine und zeigte zehn Filme des charismatischen britischen Schauspielers. Zwei von ihnen sollten jeweils den Einstieg in den Tag bilden.


12.00 Uhr, Gartenbau-Kino Wien
Hannah And Her Sisters
USA 1986, 105 Minuten
Regie: Woody Allen

Ein typischer 1970er- und 1980er-Jahre Woody-Allen-Film: es wird massenweise geredet (über Sex, Neurosen und den ganzen üblichen Rest), zwischendurch die Bettpartner gewechselt, es gibt ein bisschen Lustiges, ein bisschen Trauriges, und das ganze plätschert in kleinen Episoden nett vor sich hin. Manch begeistertes und überschwängliches Kritikerlob für Woody Allen kann ich nicht so recht nachvollziehen. Im Kino „Hannah And Her Sisters“ auf einer 35-mm-Kopie zu sehen, war nichtsdestotrotz ein nettes Erlebnis. Nicht mehr, aber auch nicht weniger!


Club-Mate wird auch in Österreich verkauft, wenngleich etwas überteuert. Eine willkommene Pause zu den ganzen üblichen doppelten Espressi.


14.30 Uhr, Gartenbau-Kino Wien
Sinapupunan (Thy Womb)
Philippinen 2012, 106 Minuten
Regie: Brillante Mendoza

Eine nicht mehr blutjunge Geburtshelferin in einem philippinischen Fischerdorf ist selbst unfruchtbar und fordert ihren Mann dazu auf, sich eine neue Ehefrau zu suchen, die ihm Nachwuchs gebären kann.
Was zunächst narrativ, atmosphärisch und ästhetisch eher wackelig beginnt, entwickelt sich nach einiger Zeit zu einem exzellenten ethnographischen Tableau über Glück und Mühen des Lebens in einem isolierten Fischerdorf. Man könnte, wie etwa mein lieber Kollege luzifus, bedauern, dass der Film über weite Strecken und ganz besonders im Mittelteil seine „eigentliche Story“ und sogar seine beiden Hauptfiguren vergisst. Dieser Verlust des Fokus kann aber auch als große Chance begriffen werden, als Möglichkeit, ein umfassendes Panorama dörflichen Lebens in Südostasien in sorgfältig komponierten Weitwinkelbildern zu entfalten. Den Höhepunkt bildet die lange Vorbereitung einer Hochzeitsfeier (wohlgemerkt: nicht der männlichen Hauptfigur, sondern eines unbekannten jungen Paars) und ihre Durchführung: Einkaufen am Markt, Schlachtung der Tiere, Kochen, die religiöse Vermählung, Baderitual im Meer, die Tanz- und Sing-Zeremonie... Entrückt schöne Bilder aus einer anderen Welt. Ganz ruhig nimmt dann der Film seinen „eigentlichen“ roten Faden wieder auf.
Nebst der wunderbaren Photographie, deren zeitweilige Wackelästhetik allein der Tatsache geschuldet ist, dass der Film entweder in Booten oder auf wackligen Pfahlhütten spielt, sei hier besonders die großartige Darstellung der berühmten philippinischen Schauspielerin Nora Aunor erwähnt. Sie verleiht mit ihrem differenzierten Spiel der Figur der kinderlosen Geburtshelferin und Fischerin eine besondere Würde und Willensstärke. Ein sehr sperriger, aber schöner Film.


Dank der unbequemen Sitze herrscht kurz nach dem Film eine gewisse Unsicherheit darüber, ob ich überhaupt noch Knie und Beine besitze. In die Pause raustorkelnd lässt sich die Frage knapp bejahen. Wir nehmen uns vor, den nächsten Film mit Beinfreiheit in der ganz ersten Reihe zu sehen.


17.00 Uhr, Gartenbau-Kino Wien
Meanwhile
USA 2011, 60 Minuten
Regie: Hal Hartley

Ups! Wenn man ganz vorne sitzt, ist die Leinwand wirklich riesig. Dürfte aber zu einem kurzen Film passen.
Hal Hartley, eine Gallionsfigur des US-amerikanischen Independent-Kinos der 1990er Jahre, zeigt knapp 24 Stunden im Leben eines End-Dreißiger New Yorkers. Er fliegt aus der Wohnung seiner erheblich jüngeren Freundin raus, unterhält sich an der Brooklyn Bridge mit einer möglicherweise suizid-gefährdeten Frau, kann aufgrund einer Kontensperrung kein Geld abheben und streitet sich deshalb mit einer Gläubigerin, repariert die Schreibmaschine eines Schriftstellers in einer Bar, plant ein großes Geschäft um den Import europäischer Isolierfenster, bietet chiropraktische Hilfestellung an, tritt als Schlagzeuger bei einer Band-Audienz auf und macht noch diverse andere Sachen. Einen Roman mit dem Titel „Meanwhile“, der mindestens um die 700 Seiten hat, hat er auch schon geschrieben.
„Meanwhile“ war gewissermaßen das Gegenstück zu „Vous n‘avez encore rien vu“, der alles verkörperte, was man an Kunstkino hasst. Hartley Film hat hingegen vieles, was wir an Kunstkino mögen: eine augenzwinkernde Leichtigkeit, eine Freude am Filmemachen und an skurrilen Figuren sowie eine Bereitschaft, die Dinge einfach mal assoziativ geschehen zu lassen. Das wirkte nicht zuletzt deshalb erfrischend, weil der Film sich selbst nicht allzu ernst nimmt, und dem Zuschauer gerade deshalb erlaubt, ihn für voll zu nehmen. Vom Mut, nach einer Stunde einfach mal fertig zu sein, könnte sich manch Film eine Scheibe abschneiden. Kein unvergessliches Meisterwerk, sondern eher der nette kleine Indie-Film von nebenan (und mit nebenan meine ich natürlich: New York).


Die Beine und die Knie sind für die tolle Idee, mich in der ersten Reihe hinzusetzen, höchst dankbar. Der Nacken möchte mich hingegen am liebsten umbringen. So was nennt man wohl ausgleichende Ungerechtigkeit.
Auf dem Weg zum bislang noch unbekannten Stadtkino habe ich auf Anraten von luzifus eine Käsekrainer gegessen. Dazu ein Gösser getrunken. Es stellte sich als eine gute Möglichkeit heraus, sich für den nächsten Film zu stärken. Getrübt wurde diese Erhebung lediglich durch den wieder einmal völlig depperten Preis für Wurst und Bier und durch die Tatsache, dass Löcher in meinen Sohlen der Trockenheit meiner Füße in einem überaus regnerischen Wien nicht gerade zuträglich waren.
Auch das Stadtkino drückte mit seinen sanitären Einrichtungen das psychopathologische Malaise der Österreicher gegenüber ihren Toiletten aus, der dem demonstrativen Wienerischen Prunk diametral entgegensteht.


20.30 Uhr, Stadtkino Wien
Student
Kasachstan 2012, 90 Minuten
Regie: Darezhan Omirbayev

Es lässt sich nicht leugnen. Sowjetisches bzw. postsowjetisches Kino hat eine komplett eigene Ästhetik, die sich nur schwer erklären lässt. Verzicht auf Dialoge, absurde Situationen, unverständliche Handlungen ohne Motive und eine Kadrierung, die nur selten das zeigt, was man zu sehen erwartet...
Auch „Student“, der sechste Film des Kasachen Darezhan Omirbayev, weist diese Merkmale auf. Sein Anspruch war es, Dostoevsjkijs „Schuld und Sühne“ auf das moderne Kasachstan zu übertragen. Der titelgebende Student ist von der Transformation der Gesellschaft angeekelt: sozialdarwinistischer Egoismus wird in den Vorlesungen gepredigt, bullige Mafiosi prügeln sich herbei, was sie wollen, während Dichter und Denker in Sozialwohnungen am Rande des Existenzminimums darben. Dass der Student ausgerechnet einen unbedeutenden Kleinladen-Verkäufer und eine junge Kundin erschießt, erscheint völlig sinnlos. Von seinen Motiven erfahren wir nichts, da er von seiner Umwelt so stark entfremdet ist, dass er kaum mit ihr spricht – tatsächlich dürfte der Hauptdarsteller in 90 Minuten vielleicht allerhöchstens zwei mit Großbuchstaben bedruckte A4-Seiten an Dialogzeilen haben. Ein bizarrer und teils verstörender Film: eine Szene, in der ein Gangster mit einem Golfschläger einen Esel erschlägt, der sein Auto aus einem Flussbett gezogen hat, mutet wie viele andere wie absurdes Theater an. Trotzdem vermag „Student“ es nicht, einen mit ungebrochener Anspannung durch die ganzen 90 Minuten hindurch zu fesseln.


Auf dem Weg zum Gartenbau-Kino zurück geht der ohnehin feuchte Regen in ekelhaft matschig-nassen Schneeregen über. Die nassen Füße sorgen für eine entsprechende Stimmung und für die schlechteste Vorbereitung zum Abschlussfilm des Tages.


23.00 Uhr, Gartenbau-Kino Wien
Che Sau (Motorway)
Hongkong 2012, 90 Minuten
Regie: Soi Cheang

Ein Gangster spielt gerne mit Autos rum. Ein Polizist spielt ebenfalls gerne mit Autos rum, und sein älterer Streifendienst-Partner hat das früher auch gemacht. Dann gibt es irgendeine Flucht aus dem Gefängnis, bei der irgendein geklauter Diamant auch noch eine Rolle spielt.
Mit anderen Worten: das Drehbuch von „Che Sau“ kann man getrost in die Tonne kloppen. Auch die Figuren sind nur holzschnittartige Klischees und daher nur wenig interessant. Bleibt also die Autoverfolgungsjagd-Action. Tatsächlich stellt sich heraus, dass auch da der Regisseur keinen richtigen Bock hatte und die Arbeit einfach seiner anscheinend hyperaktiven Cutter-Crew überlassen hat. Der „Höhepunkt“ des Films ist die wahrscheinlich lächerlichste, dämlichste, bescheuerteste, unansehnlichste, unvisuellste und vor allen Dingen unübersichtlichste Autoverfolgungsjagd aller Zeiten. Ein völlig konsternierender Tagesabschluss. Dabei hatte ich mich so auf einen Autoverfolgungsjagd-Hongkong-Actioner gefreut...


Sonntag 28. Oktober 2012

Die Zeit habe ich umgestellt und wollte anschließend meinen Tagesplan über die Presse-Reservierungshotline zusammenstellen. Von 10.00 Uhr bis kurz vor 11.00 Uhr habe ich wohl mindestens ein Dutzend mal angerufen, nur um das Besetzt-Zeichen zu hören. Und genau an diesem Morgen ist mir aufgefallen, wie absurd schlecht die Viennale organisiert ist. Sogar der City-Pizza-Lieferdienst in Weimar ist mit zwei Nummern besser aufgestellt als der Presse-Service des Internationalen Filmfestivals Wien. Dies sollte sich später am Tag noch an mir rächen.


11.00 Uhr, Metro-Kino Wien
The Quiet American
USA/UK/Australien/Deutschland/Frankreich 2002, 101 Minuten
Regie: Phillip Noyce

Trotz zweier Kaffees intus schaute ich diesen Film mehr in einem dauerhaften Dämmerzustand als wirklich wach. Vielleicht angesichts der tropischen Hitze, des permanenten Saufens, der schwülen Liebesgeschichte und der bedrückenden politischen Lage gar nicht so unpassend. Ein Film, der meiner Meinung nach aus seinem Setting durchaus mehr hätte tun können und letztlich vor allem von der exzellenten Darstellung und der Dynamik seiner beiden Hauptdarsteller Michael Caine und Brendan Fraser lebt.


Ein Dürum-Döner, anschließend ein doppelter Espresso. Hunger gestillt. Müdigkeit nur oberflächlich angekratzt.
„They Wanted To See Something Different. Eine kleine Geschichte des Unheimlichen“ hieß bei der diesjährigen Viennale ein Spezialprogramm mit Retrospektiven-Charakter, der vom deutschen Horrorfilm-Regisseur und Filmkritiker Jörg Buttgereit vorbereitet worden ist. Unter anderem sollten Beispiele des „Kinos des Abseitigen“ wie „Cannibal Holocaust“, „The Hills Have Eyes“, „The Texas Chain Saw Massacre“ und andere gezeigt werden, die in der ganzen Welt als Klassiker gelten, in Deutschland aber teils indiziert bzw. beschlagnahmt sind. Die Terminplanung brachte uns zu einem anderen Film.


13.30 Uhr, Metro-Kino Wien
The Thing From Another World
USA 1951, 87 Minuten
Regie: Christian Nyby

John Carpenters Splatter-Horror „The Thing“ von 1982 ist das Remake dieser Howard-Hawks-Produktion. Die Geschichte ist bekannt: ein komischer Außerirdischer taucht in einer Eisstation auf und randaliert rum.
Angeblich ist der Film deshalb so berühmt, weil man das Monster kaum je sieht. Tatsächlich taucht der Mann im lächerlichen Kostüm etwas zu oft auf. Der Rest des Films sieht bzw. hört sich wie die Adaption eines Hörspiels. So unfassbar dialoglastig und unvisuell er war, lud er dazu ein, seine Augen zu schließen und dem Sekundenschlaf nachzugeben. Ed Wood-Filme sind vielleicht noch erheblich unkohärenter, aber wenigstens sehr viel unterhaltsamer!


„Was hätte sein können, Teil 1“: nach „The Quiet American“ wäre wahrscheinlich für ein Dürum und ein Espresso keine Zeit mehr geblieben, da wir zum Gartenbau-Kino hätten rennen müssen, um folgendes zu sehen:


13.00 Uhr, Gartenbau-Kino Wien
Donovan‘s Reef
USA 1963, 109 Minuten
Regie: John Ford

Die Vorstellung, einen John-Wayne-Film von John Ford auf einer 35-mm-Kopie in einem großen Kino zu sehen, entbehrt nicht eines gewissen Reizes... um es mal im Sinne eines Understatements auszudrücken. Nicht zuletzt terminliche Gesichtspunkte haben für „The Thing From Another World“ gesprochen, aber auch natürlich die relative Bequemlichkeit der Sitze im Metro-Kino und der ganz eigene Reiz, einen Sci-Fi-Klassiker mit Trash-Elementen auf einer 35-mm-Kopie in einem großen Kino sehen zu können. Im Nachhinein ist man immer klüger!


Aufgrund der vorher geschilderten Reservierungsprobleme kamen wir für eine geplante Vorstellung im Urania-Kino um 16.00 Uhr nur auf die Warteliste. Ich war die Nummer 6, luzifus die Nummer 7. Um 15.55 wurde die Liste aufgerufen und die Tickets verteilt... und zwar bis zur Nummer... 5! Die beiläufige Bemerkung der Mitarbeiterin, dass wir hätten reservieren müssen, führte fast zum Amoklauf: unter Schlafmangel leidende Filmfreaks, die durch einen Overkill an Filmen und einer Überdosis an starkem Kaffee völlig zugedröhnt sind, sollte man eigentlich nicht so freimütig provozieren. Das Niederbrennen des Urania-Kinos erschien uns als Rache zwar ganz sinnvoll, zumal hier völlig überdimensionierte, ewig lange und verschwenderisch prunkvolle Treppen wieder einmal zu Toiletten führten, die das Wort Klaustrophobie neu definiert haben. Wir suchten dann aber doch nach weniger gewalttätigen Alternativen. Während luzifus für Fäkalstreiche optierte, entschied ich mich für die dadaistische Variante: ich überlegte, bei City Pizza Weimar eine Bestellung für das Urania-Kino in Wien aufzugeben. Was schließlich folgte, war ein Aufenthalt in unserem Lieblingscafé bei starkem Kaffee und leckerem Kuchen. Leider auch keine richtige Alternative zu „Was hätte sein können, Teil 2“:


16.00 Uhr, Urania-Kino Wien
Killer Joe
USA 2011, 103 Minuten
Regie: William Friedkin

Am 2. November erscheint der Film in Deutschland auf DVD und Blu-Ray. Insofern zeugt auch „Killer Joe“ davon, dass die Viennale nicht immer das Allerfrischeste an Filmen präsentiert. Eine überaus sprachgewaltige, metaphernreiche  und lustmachende Kritik, die wir im Zug in Richtung Wien gelesen hatten, versprach jedoch ein lustig-durchgeknallt-krankes Kinovergnügen. Stattdessen also: bis bald auf DVD.


18.30 Uhr, Filmmuseum Wien
Man Hunt
USA 1941, 100 Minuten
Regie: Fritz Lang

Noch einmal etwas mit Lang und Nazis. Diesmal dreht sich die Geschichte um den Briten Thorndike, der an der deutsch-österreichischen Grenze mit einem Zielfernrohr-Jagdgewehr unterwegs ist und Adolf Hitler ins Visier nimmt (ein früher und spannender POV durch ein Fernrohr mit Fadenkreuz). In Gefangenschaft geraten, wird der Jäger gefoltert und dazu animiert, ein Geständnis zu unterschreiben, wonach er im Auftrag der britischen Regierung Hitler ermorden sollte. Dies lehnt er ab und kann schließlich fliehen. Doch die Nazis heften sich dicht an seine Fersen.

Ein eher unbekannterer Film des Meisters, der wegen seiner eindeutigen Anti-Nazi-Haltung in den damals noch neutralen USA nur ungern gesehen wurde, zumal auch noch das Production Code Office an der Figur der Prostituierten, die Thorndike bei der Flucht hilft und sich in ihn verliebt, Anstoß nahm. Eine Nähmaschine musste also in ihr Zimmer gestellt werden, damit der Zuschauer sie für eine Näherin hielt!
Ganz ohne die großen Ambitionen von „Hangmen Also Die!“, der vergleichsweise sperriger ist, inszenierte Fritz Lang hier einen überaus spannenden Hetzjagd-Thriller, der von den herrlichen komödiantischen und romantischen Szenen mit der Cockney-sprechenden Prostituierten aufgelockert wird – teilweise gar zu stark. Was an psychologischen Tiefgang fehlt, macht Lang mit seinen kontrastreichen Hell-Dunkel-Kompositionen wieder wett. Der Action-Höhepunkt ist eine Verfolgungsjagd in der Londoner U-Bahn, die mit einem tödlichen Kampf auf der Fahrtbahn endet. „Man Hunt“ ähnelt ein wenig dem ein Jahr zuvor präsentierten „Foreign Correspondent“ Alfred Hitchcocks, und sollte den Vergleich keineswegs scheuen.


Vor dem nächsten Fritz-Lang-Film mit Hitchcock-Vergleichs-Potential ging es in eine eisige Kälte raus, um bei einer Würstchen-Bude um die Ecke den cinephilen Hunger zu stillen. Ein Filmmuseum-Espresso später konnte es dann auch weiter gehen.


21.00 Uhr, Filmmuseum Wien
Secret Beyond The Door
USA 1947, 99 Minuten
Regie: Fritz Lang

Blaubart trifft auf Fritz Lang trifft auf Hitchcocks „Rebecca“: Eine junge Frau in Trauer namens Celia – sie hat gerade ihren Bruder verloren – heiratet Hals über Kopf den dahergelaufenen Architekten Mark. Schnell merkt sie, dass etwas nicht in Ordnung ist: die Hochzeitsnacht läuft im weitesten Sinne „unbefriedigend“, Mark verheimlicht seine geschäftlichen Probleme, in seinem Anwesen tauchen plötzlich skurrile Figuren wie eine überaus dominante Schwester, ein nicht erwähnter Sohn aus erster Ehe, eine Sekretärin mit entstelltem Gesicht sowie der Geist einer wohl nicht ganz natürlich verstorbenen ersten Ehefrau auf und der Ehemann sammelt gerne Zimmer, in denen berühmte Morde stattgefunden haben. Kein Wunder, dass in jeder Szene mindestens einmal ein Schatten Joan Bennetts Gesicht verdeckt.

„Secret Beyond The Door“ ist ein Film, bei dem man das Gefühl nicht los wird, dass mehr dahinterstecken könnte oder sollte. Tatsächlich sollte ursprünglich das Voice-Over von Celias innerer Stimme nicht von der Celia-Darstellerin Joan Bennett gesprochen werden, sondern von einer anderen Frau, um damit die Zerrissenheit der Hauptfigur auf beunruhigendere Weise deutlich zu machen. Auch der Schluss vermag angesichts seiner fast konsternierenden Banalität kaum zu überzeugen. Dies wiegt umso mehr, als dass der konsequent aus der Sicht Celias erzählte Film etwa 20 Minuten vor Schluss – nach einer Bedrohungssituation mit offenem Ende – die Perspektive radikal ändert und Mark zum Erzähler macht. Für einige wahrhaftig großartige Minuten verläuft „Secret Beyond The Door“ in einer Art schlafwandlerischen und verrückten Autopilot voller Ambivalenzen, löst sich dann aber leider wieder in Wohlgefallen auf, statt konsequenter und mutiger im kompletten Wahnsinn zu enden.
Aus dem Vergleich mit dem thematisch und atmosphärisch sehr ähnlichen „Rebecca“ (der sich freilich ebenso am Schluss in Wohlgefallen auflöst) geht „Secret Beyond The Door“ eindeutig als Verlierer hervor. Zurück bleibt kein schlechter Film, aber einer, bei dem man das Gefühl nicht los wird, dass er sein Potential nicht ausgenutzt hat. 


Antriebslos und müde raus. Was nun?


23.30 Uhr, Urbania-Kino Wien
Gimme The Loot
USA 2012, 81 Minuten
Regie: Adam Leon

Was es so mit „Gimme The Loot“ auf sich hat, habe ich vorerst nicht erfahren. Er hätte als letzte Spätvorstellung noch gut gepasst. Müdigkeit und unsichere U-Bahn-Pläne haben letztlich dazu geführt, dass die letzten physischen Ressourcen für die Suche nach einer Kneipe verwendet wurden... für ein überteures und nicht übermäßig gutes Bier... Gute Nacht und wieder aufstehen um 07.00 Uhr, diesmal für die Heimfahrt.


Fazit
Insgesamt hatte ich ein bisschen mehr von der Viennale erwartet. Richtige Knaller jenseits der Retrospektiven sind im Grunde ausgeblieben und irgendwie blieb das unangenehme Gefühl, dass der beste aktuelle Film dieser Reise... „Skyfall“ war. „Sinapupunan“, „Meanwhile“ und „Student“ waren bestimmt sehr interessante Filme, die jedoch eine Reise von über 700 Kilometern (bzw. über 1500 Kilometern mit Rückfahrt) nicht vollends zu rechtfertigen vermögen. Der Anteil der absoluten Totalgurken war mit einem Film pro Tag gut sichtbar, während das wohlige Gefühl, mehrere Filme auf 35-mm-Kopien zu sehen, meine subjektive Bewertung der Filme selbst oft übertraf – von „The Shining“ abgesehen. Ich kann mich jedoch sehr über meine Fortschritte im Bereich des „Amerikaners Fritz Lang“ freuen. Vor drei Jahren hätte ich mich wohl noch zu der blödsinnigen, banausigen und vorurteilsbeladenen Aussage verführen lassen, dass Fritz Lang in den USA nur noch Grütze inszeniert hat. Im Rahmen einer persönlichen film noir-Retrospektive habe ich dieses Jahr mit „Scarlet Street“ und „The Big Heat“ einen überaus interessanten und spannenden Fritz Lang jenseits von „Metropolis“ und „M“ entdeckt. Die vier bei der Viennale gesichteten Langs haben meine Absicht bekräftigt, mich mehr mit seinen „Amerikanern“ zu beschäftigen, die schließlich quantitativ fast zwei Drittel seines Oeuvres umfassen. Das ist immerhin etwas. Eine Wiederholung der Reise dürfte also vom Retrospektiven-Programm abhängen... denn Wien wird bis dahin nicht günstiger werden und seine Toiletten wahrscheinlich nicht geräumiger.

Randnotizen zu Zwillingsschwestern und Olivia de Havilland

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Wie ich schon angekündigt habe, gibt es noch zwei Besprechungen von Bruno, die wir euch nicht vorenthalten wollen. Diese hier ist die erste, die zweite folgt dann nach meinem nächsten Text in ungefähr zehn Tagen.

Manfred




Der schwarze Spiegel
(The Dark Mirror, USA 1946)

Regie: Robert Siodmak
Darsteller: Olivia de Havilland, Lew Ayres, Thomas Mitchell, Richard Long, Charles Evans, Lela Bliss u.a.

Wen hätte es erstaunt, wenn Olivia de Havilland nach ihrer für einen Oscar nominierten Melanie Hamilton in “Gone With the Wind” (1939) nur noch als sich aufopfernde Frau mit engelhaftem Gesicht zu sehen gewesen wäre? - Tatsächlich sollte ihre Karriere jedoch einen anderen Verlauf nehmen, was nicht zuletzt mit einem Prozess zusammenhing, den sie gegen Warner Brothers führte und im Gegensatz zu ihrer Freundin Bette Davis, die in den 30ern etwas Ähnliches versucht hatte, auch gewann. Dieser Prozess ging zwar mit einer dreijährigen Zwangspause einher , ermöglichte der Schauspielerin, von der man behauptet, sie sei privat alles andere als “engelhaft” gewesen (sie soll mit ihrer Schwester Joan Fontaine zeit ihres Lebens kein Wort mehr gewechselt haben, weil diese vor ihr einen Oscar erhielt), aber anschliessend ein wesentlich vielfältigeres Rollenspektrum.

Olivia de Havilland ging schon früh einen jener berüchtigten Siebenjahresverträge mit Warner ein und wurde in der Folge mit Vorliebe als Partnerin von Errol Flynn besetzt, der dafür bekannt war, dass er sämtliche gut aussehenden Frauen und Männer, mit denen er spielte, ins Bett zu kriegen versuchte, während ausgerechnet die Schauspielerin, in die er sich hoffnungslos verliebte, nicht an ihm interessiert war. - Es kam zu einem ersten Konflikt mit ihrem Studio, als man sie für “Gone With the Wind” nicht an Selznick ausleihen wollte. Anfangs der 40er Jahre wurde de Havilland von Warner suspendiert, weil sie sich weigerte, eine Rolle anzunehmen. Gleichzeitig entliess man sie nicht aus ihrem mittlerweile abgelaufenen Vertrag. Gegen diese Allmacht der Studios zog die Schauspielerin bis vor den Obersten Gerichtshof der USA. Ihr Sieg läutete den Beginn einer neuen Ära ein.

Nach ihrer Rückkehr ins Filmgeschäft war de Havilland zwar weiterhin auch in Melodramen zu sehen (ihren ersten Oscar erhielt sie für die Mitchell Leisen-Schnulze “To Each His Own”, 1946); aus heutiger Sicht interessanter dürfte jedoch ihre Entscheidung sein, vor allem auch zwielichtige, zwiespältige, ja in sich gebrochene Charaktere zu spielen - denn solche Rollen ermöglichten es ihr, in der zweiten Hälfte der 40er Jahre Gestalten auf die Leinwand zu bringen, wie man sie bis anhin nicht gesehen hatte. Dass solche Rollen überhaupt in den Bereich des Möglichen gerieten, hatte mit dem aufflammenden Interesse Hollywoods am Psychoanalytischen zu tun, das dank über 400 aus Europa emigrierter Psychiater und Psychoanalytiker dabei war, die USA zu erobern. Und es waren, was wohl nicht erstaunlich ist, vor allem ursprünglich aus Europa stammende Regisseure, die das Interesse mit zum Teil kleinen Meisterwerken zu bedienen wussten. --- Hier soll an einen Film erinnert werden, mit dem Olivia de Havilland nach ihrem Comeback das Publikum überraschte: "The Dark Mirror".


Es war nicht zuletzt der amerikanischen Kriminalfilm, der sich psychoanalytischer Elemente begeistert annahm und dem von John Huston und Billy Wilder (“Double Indemnity”, 1944) geprägten Modell (desillusionierter Mann erliegt einer “femme fatale”) ein zweites entgegenstellte, das sich ebenfalls einiger Stilelemente des "Film noir" bediente und in dem ursprünglich psychologische Elemente von Drehbuchautoren oft derart popularisiert wurden, dass sie kaum mehr etwas mit der eigentlichen Wissenschaft zu tun hatten (Hitchcocks “Spellbound”, 1945, Langs “Secret Beyond the Door”, 1947, Ophüls’ “The Reckless Moment”, 1949). - Robert Siodmak, ein Regisseur, dem ein typisch deutsches Emigranten-Schicksal beschieden war (er hatte 1929 in Deutschland als Co-Regisseur mit dem Meisterwerk “Menschen am Sonntag” begonnen und endete auch in Deutschland mit Karl May-Filmen!), drehte im Exil in Hollywood einige Klassiker des psychologisch angehauchten Krimis, darunter einen der grossen Nägelkauer der Filmgeschichte, “The Spiral Staircase” (1945). - “The Dark Mirror” zeigt schon zu Beginn, dass er diesem Subgenre zuzuordnen ist, machen doch bereits hinter dem Vorspann die berühmten Rorschach-Tintenkleckse auf sich aufmerksam. Ein Arzt wird in seiner Wohnung ermordet aufgefunden, und der Fall scheint für Lieutenant Stevenson auf den ersten Blick so gut wie gelöst zu sein: Mehrere Zeugen sagen aus, der Ermordete habe mit Terry Collins ein Verhältnis gehabt, und diese sei nach der Tat beim Verlassen der Wohnung beobachtet worden. Plötzlich tauchen aber auch Zeugen (darunter ein Polizist) auf, die Terry zur Tatzeit in einem weit entfernten Park gesehen haben. Die junge Frau scheint also ein perfektes Alibi zu haben. Der verzweifelte Lieutenant begibt sich noch einmal in die Wohnung der ursprünglich Verdächtigten - und es erwartet ihn eine Überraschung: Terry hat eine (identische) Zwillingsschwester namens Ruth! Von nun an zeigen sich die beiden Frauen (beide gespielt von Olivia de Havilland) wenig kooperativ, was den Polizisten dazu veranlasst, die Hilfe des Psychologen Dr. Scott Elliott in Anspruch zu nehmen. Dieser soll es mithilfe “psychologischer” Ermittlungsverfahren ermöglichen, zwischen einer “guten” und einer “bösen” Zwillingsschwester zu unterscheiden.

Der Film musste mit einem kleinen Budget gedreht werden, was man ihm an vielen Details anmerkt: Lew Ayres, der nach seiner Hauptrolle in Lewis Milestone's "All Quiet On the Western Front" (1930) vor allem mit seinen Dr. Kildare-Filmen eine gewisse “Berühmtheit” erlangt hatte, wirkt als sich langsam in die unschuldige Schwester verliebender - langweiliger - Psychiater so deplaziert wie manche andere Darsteller, die man wohl verzweifelt akzeptieren musste; das Drehbuch, dessen Pseudo-Anleihen bei der Psychoanalyse gelegentlich zum Lachen reizen und Mark Rutland's nächtliche Analyse seiner Frau in Hitch’s “Marnie (1964) direkt professionell erscheinen lassen, strotzt vor Ungereimtheiten (der “Kenner” der Materie negiert die Möglichkeit, dass Zwillinge die gute und die böse Seite im Menschen repräsentieren können, was aber genau der Clou dieser Neuauflage von “Dr. Jekyll and Mr. Hyde” mit weiblicher Besetzung ist, der man allerdings zugute halten muss, dass sie nicht darauf aus ist, einem klassischen “Whodunit” Konkurrenz zu machen). Auch die Musik von Dimitri Tiomkin übertreibt es in gewissen Szenen (beim Test mit dem Lügendetektor wird jeder Ausschlag mit der Nadel musikalisch derart hysterisch unterstützt, dass der Eindruck entsteht, man eile dem unausweichlichen Höhepunkt, einer Katastrophe entgegen). Sogar Siodmak scheint sich einige Nachlässigkeiten zu erlauben: Warum etwa muss er die beiden Schwestern durch Halsketten und Broschen mit Namen voneinander unterscheiden, wo Olivia de Havilland’s Gestik und Mimik doch bereits mehr als deutlich verraten, mit wem wir es gerade zu tun haben (die unschuldige Schwester tritt stets freundlich, aber mit gesenktem Blick und unruhig gefalteten Händen, die schuldige selbstbewusst, sich ihrer zu sicher, auf). Ein typisches B-Movie eben! Oder doch nicht so ganz?

“The Dark Mirror” beeindruckte mich als kleinen Knirps, der sich in den 60ern auch Krimis erlaubte, zutiefst. Eine kürzlich erfolgte Neusichtung  liess mich ihn vor allem als Kind seiner Zeit verstehen und früher nicht bemerkte Details schätzen: Ich denke etwa an die in vielen Szenen unauffällig platzierten Spiegel und das raffiniert eingesetzte Schüfftan-Verfahren, mit dessen Hilfe eine hervorragend spielende Olivia de Havilland als Zwillingsschwestern Terry und Ruth im gleichen Bild gezeigt werden konnte. Und noch immer weist die beängstigende Entwicklung zwischen den Schwestern (die Mörderin versucht ihre zunehmend besorgt reagierende Schwester in den Wahnsinn zu treiben, indem sie ihr einredet, sie leide unter Halluzinationen) auf die dunkle Seite der menschlichen Psyche hin, lässt uns an Freuds “Das Unheimliche” denken. Als dann gegen Schluss die eine (böse) Variante von de Havilland der Polizei einzureden versucht, ihre tot geglaubte Schwester habe den Mord begangen, blitzt der blanke Wahnsinn aus ihren Augen. Diese schauspielerische Meisterleistung (wer hätte sie von “Melanie Hamilton” je erwartet?) kann man nur bewundern. - Sie lässt das tatsächliche Zerbrechen eines Spiegels am Ende des Films wie eine Erlösung erscheinen.


Der zügig inszenierte Thriller erhielt immerhin eine Oscar-Nominierung für das Drehbuch, was zeigt, dass er dem entsprach, was die Zuschauer damals von einem psychologisch angehauchten Krimi erwarteten. Wenn man ihn kritisiert, dann muss man es auf hohem Niveau tun, ihn etwa mit den oben genannten Filmen von Hitchcock oder Lang vergleichen. Dass ein 1984 gedrehtes Remake mit Jane Seymour in der Hauptrolle in die Hosen (der Geschichte!) gehen musste, liegt auf der Hand.

Fūkeiron - Landschaft mit Serienmörder

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A.K.A. SERIAL KILLER (RYAKUSHŌ RENZOKU SHASATSUMA)
Japan 1969/75
Regie: Masao Adachi


Um es vorwegzunehmen: A.K.A. SERIAL KILLER hat mit dem Genre des Serienkillerfilms nichts zu tun, obwohl die reale Geschichte eines vierfachen Mörders nacherzählt wird. Der Film wird gelegentlich als Dokumentation bezeichnet, aber das trifft es auch nicht ganz. Es gibt keine Aufnahmen des Mörders aus Fernseh- oder Wochenschauberichten zu sehen, keine aktuellen Aufnahmen der unmittelbaren Tatorte, keine Interviews mit Zeugen, Polizisten, Anwälten oder Angehörigen der Opfer. Was es zu sehen gibt, sind Bilder der Orte, in denen der Mörder im Lauf seines Lebens gelebt hat, und von denen er - nach Ansicht Adachis und seiner Mitstreiter - geprägt wurde. Ich würde A.K.A. SERIAL KILLER am ehesten als Essayfilm bezeichnen. Tatsächlich hat er mich etwas an SANS SOLEIL von Chris Marker erinnert, der als der Essayfilm schlechthin gilt und zu einem großen Teil in Japan gedreht wurde. Sein (nicht unberechtigtes) Image als Vertreter des unabhängigen japanischen Sexfilms (pink film, japan. pinku eiga) hat Adachi mit diesem Film unterlaufen, und sein (erst recht berechtigtes) Image als politischer Radikalinsky scheinbar auch - aber nur scheinbar.


Der Film beginnt mit einer Texttafel: "Im Herbst letzten Jahres gab es vier Mordfälle, die in vier Städten mit derselben Schusswaffe begangen wurden. Diesen Frühling wurde ein 19-jähriger Mann verhaftet. Er wurde als der "Schusswaffen-Serienmörder" bekannt". Der Name des Täters wird weder hier noch später im Film genannt, aber das war auch nicht notwendig, weil damals in Japan auch so jeder wusste, wer gemeint war. Zwischen dem 11. Oktober und dem 5. November 1968 erschoss der 19-jährige Norio Nagayama bei vier Überfällen jeweils einen Mann. In einem Land mit einer so geringen Verbrechensquote wie damals in Japan war das ein ungemein spektakulärer Vorgang. Bei einem erneuten versuchten Überfall im April 1969 wurde Nagayama festgenommen. Er wurde zum Tod verurteilt, und nach langwierigen Gerichtsverhandlungen wurde das Todesurteil 1990 endgültig bestätigt. Nagayama, der im Gefängnis ein erfolgreicher Schriftsteller geworden war, wurde 1997, fast 29 Jahre nach seinen Taten, gehängt, auf die in Japan übliche Art: Der Delinquent erfährt erst am Tag der Hinrichtung von seinem unmittelbar bevorstehenden Ableben, Angehörige und Anwälte erfahren erst hinterher davon, und die Öffentlichkeit wird von den Behörden überhaupt nicht informiert.


Doch das lag 1969 noch in weiter Zukunft. Nach der Texttafel wird die Geschichte Nagayamas bis zu seiner Verhaftung von einem Sprecher verlesen: Adachi selbst, der mit sachlicher Stimme, ohne Anteilnahme oder Sensationalismus, in kleinen Texthäppchen die wichtigsten äußeren Stationen von Nagayamas Biographie vorträgt: Ort und Jahr der Geburt, Zahl der Geschwister, wann die Familie von dieser in jene Stadt umzog. Dialoge oder sonstigen gesprochenen Text außer diesen kurzen Statements gibt es nicht. Schon als Grundschüler reisst Nagayama zum ersten Mal aus, wird wieder eingefangen und zurückgebracht. Über die Gründe dafür, allgemein über Nagayamas Innenleben, erzählt der Text nichts. Mehrere Anläufe Nagayamas, eine höhere Schule zu besuchen, bricht er schnell wieder ab, und in den Gelegenheitsjobs, die er dazwischen ausübt, hält er es auch nicht lange aus. Er wohnt in irgendwelchen provisorischen Unterkünften, und es gibt weitere Ausreissversuche, sogar als blinder Passagier auf einem Schiff, aber alle scheitern. Er wird mehrfach durch kleine Diebstähle auffällig, aber immer glimpflich oder gar nicht bestraft. Meist hilft ihm einer seiner Brüder aus der Patsche. Als er nichts besseres mehr mit sich anzufangen weiß, meldet er sich freiwillig zur Armee, aber er wird abgewiesen. Anfang Oktober 1968 stielt er in einer amerikanischen Militärbasis den kleinkalibrigen Revolver, mit dem er kurz darauf mit den Überfällen beginnt.


Dazu gibt es, wie gesagt, dokumentarische Bilder von den jeweiligen Orten: Angefangen mit der Kleinstadt in Hokkaido, in der Nagayama geboren wurde, über seine verschiedenen Stationen bis Harajuku in Tokyo. Es gibt Straßen und Gebäude zu sehen, öffentliche Verkehrsmittel, Passanten, Menschen bei der Arbeit, zwischen den meist urbanen Schauplätzen gelegentlich auch ländliche Gegenden. Statische Aufnahmen, Zooms, lange Schwenks, Aufnahmen aus dem fahrenden Auto heraus. Wer mag, kann die Stationen hier nachvollziehen. Adachi und sein Team brauchten vier Monate, um sie abzuklappern. Die wichtigste Erkenntnis, die sie dabei für sich selbst gewannen, war der Eindruck einer weit fortgeschrittenen Homogenisierung, einer Uniformisierung der Landschaften: Überall im japanischen Archipel sah es im Grunde gleich aus. Das unterschied ihre Reise von derjenigen Nagayamas - dessen "Reise" hatte ja 19 Jahre gedauert.


Der gesprochene Text nimmt zusammengenommen nur einen sehr kleinen Teil der Laufzeit des Films ein. Dazwischen gibt es lange bis sehr lange wortlose Passagen, in denen neben den Bildern auch der free-jazzige Soundtrack dominiert, der Schlagzeug und traditionelle japanische Schlaginstrumente mit Saxophon vereint. Neben ruhigen Passagen gibt es dabei immer wieder schrille Misstöne und jähe Crescendi, die die Bilder wirkungsvoll akzentuieren. Eingespielt wurde der Score vom Schlagzeuger Masahiko Togashi und dem Saxophonisten Mototeru Takagi, und der Musikkritiker Hisato Aikura war auch irgendwie an der Entstehung beteiligt.


Nach einer guten Dreiviertelstunde, etwas mehr als Halbzeit des Films, sagt der Sprecher folgendes: "Der erste Zwischenfall ereignete sich am 11. Oktober beim Tokyo Prince Hotel, der zweite am 14. Oktober beim Yasaka-Schrein in Kyoto, der dritte am 26. Oktober auf einer Straße in einer Vorstadt von Hakodate in Hokkaido, und der vierte am 5. November auf einer Straße in Nagoya." Die "Zwischenfälle" sind die Überfälle mit den Morden, und mehr als das erfährt man über die Tathergänge nicht. Nach diesem Angelpunkt des Films folgt die mit 24 Minuten bei weitem längste wortlose Passage. Danach gibt es nur noch zwei Texthäppchen: Nach den Morden vergräbt der Täter die Waffe in einem Versteck, und nach einigen Monaten gräbt er sie wieder aus, um den Überfall zu begehen, bei dem er dann geschnappt wird. Am Ende des Films schließt sich der Kreis: Es wird nochmal dieselbe Texttafel wie am Anfang eingeblendet.


Was will uns Adachi mit diesem Film sagen? Will er überhaupt etwas sagen? Ja, er will. Adachi, dessen Anfänge um 1960 im studentischen Experimentalfilm lagen, verfolgte schon damals Ansätze zum Kollektivfilm, in dem der einzelne Autor (oder auteur) in den Hintergrund tritt. 1969 nahm er diese Tendenzen wieder auf, wohl inspiriert von der Groupe Dziga Vertov, die Jean-Luc Godard, Jean-Pierre Gorin und andere 1968 aus der Taufe hoben. Adachi, der Drehbuchautor Mamoru Sasaki, der Filmkritiker Masao Matsuda und einige weitere Gleichgesinnte gründeten die Gruppe "Kritische Front" (Hihyō Sensen) und entwarfen gemeinsam eine "Theorie der Landschaft" (fūkeiron). Unter "Landschaft" verstanden sie nicht nur natürliche Landschaften, sondern auch und vor allem die vom Menschen geschaffenen Kultur- und Stadtlandschaften, die, so die Theorie, die herrschenden politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse widerspiegeln, und die einen bestimmenden Einfluss auf die darin lebenden Menschen ausüben. Gesellschaftskritische Filme sollten sich nun nicht mehr mit "Situationen", sondern mit diesen "Landschaften" auseinandersetzen. A.K.A. SERIAL KILLER war der erste und prototypische Film, der die Prinzipien von fūkeiron in die Tat umsetzen sollte. In einer Filmzeitschrift, die die Gruppe 1970 gründete, wurden fūkeiron und andere Aspekte linken Filmschaffens weiter diskutiert. Der kürzlich verstorbene Kōji Wakamatsu, mit dem Adachi jahrelang eng zusammenarbeitete, gehörte zwar nicht zu Hihyō Sensen, aber zumindest sein RUNNING IN MADNESS, DYING IN LOVE von 1969, zu dem Adachi das Drehbuch schrieb, ist auch von fūkeiron geprägt. Ungefähr zur selben Zeit entwickelte auch Nagisa Ōshima (mit dem Adachi ebenfalls zusammengearbeitet hat) ähnliche Ideen, die einige seiner Filme beeinflussten, v.a. BOY (1969).


Ich muss gestehen, dass mir Adachis Absichten beim ersten Sehen von A.K.A. SERIAL KILLER weitgehend verborgen blieben. Da ich seine radikalen politischen Ansichten schon länger kannte, erwartete ich etwas in der Richtung "der Mörder wurde erst vom Staat oder der Gesellschaft dazu gemacht" - allein, ich konnte es aus dem Film nicht herauslesen. Allenfalls Bilder von Militär und martialisch auftretender Polizei gegen Ende des Films schienen Gesellschaftskritik zu transportieren. Der gesprochene Text vermeidet jede Schuldzuweisung oder Erklärung für Nagayamas Taten, und die Gesamtheit der Bilder, unterstützt vom Soundtrack, wirkte auf mich wie ein Filmgedicht oder eine filmische Meditation über die japanische Gegenwart von 1969, ohne klare politische Stoßrichtung. Das wurde dadurch befördert, dass ein Teil der Bilder trotz ihres dokumentarischen Charakters von erlesener Schönheit ist - da war ein Könner an der Kamera am Werk. (Kameramann Yutaka Yamasaki gibt mir übrigens Rätsel auf. Laut IMDb war A.K.A. SERIAL KILLER sein erster Film, und sein zweiter war AFTER LIFE (1998) von Hirokazu Koreeda, für den Yamasaki seitdem noch mehrmals arbeitete. Was hat Yamasaki in den 29 Jahren zwischen seinem ersten und zweiten Film gemacht? Ich weiß es nicht.) Trotz oder vielleicht auch wegen seiner Uneindeutigkeit hat mich A.K.A. SERIAL KILLER schon bei der ersten Sichtung fasziniert. Nachdem ich nachgelesen habe, was es mit fūkeiron auf sich hat, und ihn dann nochmals ansah, hat sich die Faszination durchaus gehalten, wenn nicht sogar noch gesteigert. Aus Gründen, die mir nicht bekannt sind, wurde A.K.A. SERIAL KILLER nach seiner Fertigstellung zunächst nicht veröffentlicht, sondern er kam erst 1975 heraus. Mich würde interessieren, inwieweit das damalige japanische Publikum Adachis Absichten verstand, ohne vorher in Interviews oder Manifesten davon gelesen zu haben, aber leider weiß ich nichts darüber.


Nachdem im Juli 1973 Terroristen der "Japanischen Roten Armee" (Nihon Sekigun oder JRA für Japanese Red Army) ein japanisches Flugzeug über den Niederlanden entführt hatten, trat Adachi als Sprecher dieser Gruppierung in Erscheinung. Die JRA war u.a. für das Gemetzel im Flughafen von Tel Aviv im Jahr 1972 (26 Tote und Dutzende Verletzte) verantwortlich. 1974 tauchte Adachi im Libanon unter, um sich endgültig der JRA anzuschließen. Erste Kontakte zu der Gruppe hatte er schon 1971 geknüpft. Adachi und Kōji Wakamatsu legten auf der Rückreise von Cannes einen Zwischenstopp in Beirut ein und drehten dort (wiederum mit fūkeiron im Hinterkopf) die Propaganda-Doku SEKIGUN - PFLP: SEKAI SENSŌ SENGEN (RED ARMY - PFLP: DECLARATION OF WORLD WAR) über die JRA, die sich gerade erst im Libanon etabliert hatte, und ihre Gastgeber von der "Volksfront zur Befreiung Palästinas" (PFLP). Adachis Leben im Untergrund dauerte bis 1997. Dann wurden er, die JRA-Gründerin und -Führerin Fusako Shigenobu und drei weitere Mitglieder im Libanon verhaftet und zu einer dreijährigen Haftstrafe wegen Passfälschung verurteilt. Im Jahr 2000 wurden dann vier der fünf, darunter Adachi und Shigenobu, nach Japan ausgeliefert. Weil man ihm keine direkte Beteiligung an Anschlägen nachweisen konnte, wurde Adachi in Japan wiederum wegen Passfälschung zu einer weiteren kurzen Haftstrafe verurteilt, und seit September 2001 ist er frei (Shigenobu wurde dagegen zu einer 20-jährigen Haftstrafe verurteilt). Was genau Adachi in den 23 Jahren im Untergrund gemacht hat, ist noch ziemlich im Dunkeln. In den Interviews, die er seit 2001 gegeben hat, wird das Thema weitgehend umschifft (zumindest in denen, die ich gelesen habe). Man könnte fast den Eindruck gewinnen, er sei nur auf einem sehr langen Abenteuerurlaub gewesen. Die Journalistin Regine Igel schreibt aber in einem Artikel in Telepolis, dass sich anhand von Stasi-Dokumenten nachweisen lasse, dass Adachi sich als Strippenzieher der JRA im Hintergrund betätigte. Mindestens seit 1987 und wahrscheinlich schon vorher waren Adachi und Shigenobu auch als Agenten der Stasi registriert, so Igel in ihrem Artikel. Was immer Adachi da nun tatsächlich getrieben hat - er ist und bleibt eine schillernde Figur.


Mehr über Masao Adachi gibt es hier auf Deutsch und hier auf Englisch. 2011 drehte der Künstler Eric Baudelaire als Teil einer Ausstellung, die in Frankreich, Spanien und England gezeigt wurde, den Dokumentarfilm L'ANABASE DE MAY ET FUSAKO SHIGENOBU, MASAO ADACHI ET 27 ANNÉES SANS IMAGES (Mei oder May Shigenobu ist die Tochter von Fusako), und zwar interessanterweise nach den Prinzipien von fūkeiron. Der Miterfinder der "Theorie der Landschaft" wird also selbst zum Untersuchungsobjekt seiner Theorie. Ob man daraus wirklich etwas Konkretes über Adachis Aktivitäten erfährt, weiß ich aber nicht. - 1970 drehte Kaneto Shindō den Spielfilm HEUTE LEBEN, MORGEN STERBEN (HADAKA NO JŪKYŪ-SAI), der eng an die Geschichte von Norio Nagayama angelehnt ist.

Lantana

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Dies ist nun die letzte Besprechung, die Bruno geschrieben hat, vor ungefähr drei Monaten.

Manfred




Lantana
(Lantana, Australien/Deutschland 2001)

Regie: Ray Lawrence

Obwohl die Figuren im Abräumer bei den AFI-Awards 2001 zu komplex sind, als dass sich der Film von Ray Lawrence auf ein einzelnes Thema festlegen liesse,  kann man doch sagen, die Bereitschaft, sich über sich selber zu täuschen und sich von anderen täuschen zu lassen, spiele eine grosse Rolle. Die Täuschungsproblematik überträgt sich sogar auf den Zuschauer, der Erwartungshaltungen aufbaut, die sich schlicht als falsch erweisen. Denn „Lantana“ spielt nicht in einem nach Australien verlegten Twin Peaks, hat überhaupt nur auf den ersten Blick etwas mit David Lynch zu tun. Er lässt sich auch nicht mit Robert Altman’s „Short Cuts“ (1993) vergleichen, schon gar nicht mit dem Krötenregner „Magnolia“ (1999) von P.T. Anderson. Wer solche verlockenden Vergleiche, wie sie vom Criticus Roger Ebert angeboten werden, einmal überwunden hat, wird das dichte, auf einem Bühnenstück von Andrew Bovell mit dem passenden Titel „Speaking in Tongues“ beruhende Werk in seiner Eigenständigkeit zu würdigen lernen.


Im Mittelpunkt von „Lantana“ stehen vier Paare. Der unter dem Verlust seiner Gefühle leidende Polizist Leon Zat betrügt seine Frau Sonja mit Jane O’May, die sich von ihrem Mann getrennt hat. O’May wiederum beneidet ihren arbeitslosen Nachbarn Nik Daniels und dessen Frau um ihre offen gezeigte, uneingeschränkte Liebe zueinander. Sonja versucht Leidenschaft in ihre Ehe zurückzubringen, indem sie ihren Mann für einen wöchentlichen Salsa-Abend begeistern will, an dem allerdings auch die Frau teilnimmt, mit der er zweimal Sex hatte. Doch auch Sonja verheimlicht etwas vor Leon: Sie besucht die Psychotherapeutin Valerie und erzählt ihr von ihren Ängsten, betrogen zu werden. Valerie, die die Ermordung ihrer Tochter nie überwunden hat, ist allerdings selber vor Täuschungen nicht gefeit: Als ihr ein schwuler Patient zunehmend herausfordernd von seiner Beziehung zu einem verheirateten Mann berichtet, überkommt sie das Gefühl, er spiele auf ihren verschlossenen Gatten John an. – Und über all dem schwebt unheilvoll die Leiche einer Frau, zu der uns die Kamera am Anfang im dichten Tropengestrüpp, das dem Film seinen Titel gab, geführt hat.


Diese Leiche ist es, die den Zuschauer vom eigentlichen Problem der Vorstadtbewohner, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, ablenkt. Sie verlockt ihn zu gewohnten Vorstellungen vom Ablauf eines Krimis, und er rätselt während der ersten Hälfte von „Lantana“, um wen es sich bei dieser Leiche handeln möge, während er die zweite Hälfte der Frage widmet, ob und von wem die entdeckte Tote ermordet worden ist. Denn Jane, die von ihrem Liebhaber verlassen wurde und ihren Mann nicht zurück haben will, entdeckt, das Glück anderer Menschen nicht ertragend, an ungewöhnlicher Stelle einen Schuh… - Erst mit der Zeit erkennt man, dass der Toten im Gestrüpp eine ganz unerwartete Funktion zukommen könnte: Sie ist vielleicht das Opfer, das die Figuren benötigten, um wenigstens für eine gewisse Zeit ihrem Beziehungsgestrüpp zu entkommen und zu dem zu finden, was ihnen entgangen war oder von ihnen verdrängt wurde. Am Ende sieht man eine Jane O’May, die sich ihre Einsamkeit durch konsequent falsches Handeln unbewusst erstritten hatte, sich ganz alleine dem Salsa hingeben, während ein anderes Paar seine Probleme überwunden hat und eng umschlungen tanzt. Ein Schwuler beobachtet im Regen seinen kurzfristigen Liebhaber, der zu seiner Frau zurückgekehrt ist, während sich ein anderer Mann endlich der stillen Trauer um sein verlorenes Kind hingeben darf, die er vor seiner Frau verheimlichte.


Einzelne geradezu erlösend wirkende Szenen deuten an, was eigentlich im Zentrum steht: die Unfähigkeit der von Anthony LaPaglia, Geoffrey Rush, Barbara Hershey und  anderen hervorragend verkörperten Charaktere,  Gefühle einander mitzuteilen und sie offen auszuleben: Ein Mann, der beim Joggen mit dem Polizisten Leon zusammenstösst, sich plötzlich an ihn klammert und hemmungslos zu weinen beginnt, ein verstörter Mann, der von der sich befreiend ihrer Hysterie ergebenden Valerie nachts auf der bevölkerten Strasse angeschrien wird, weil er sie angesprochen haben soll. – Versuche, den Ensemblefilm mit „Short Cuts“ oder dem Krötending zu vergleichen, sind nicht berechtigt: Das Hauptthema und die sich daraus ergebenden Beziehungsprobleme halten die  Geschichte enger zusammen als die lockeren, verschiedenen Erzählungen von Raymond Carver entnommenen Episoden in Altman’s Meisterwerk. Und das unaufgeregte Fortschreiten mit scheinbar  dem echten Leben entnommenen Figuren zeigt, wie wenig sich „Lantana“  der Küche Hollywood mit ihrem gelegentlich unerträglichen Pathos anpasst. Hier wird in einer eigenen Liga gespielt, die derjenige für entdeckenswert halten wird, der seine Erwartungen ablegt und sich – Missverständnisse überwindend - dem Salsa hingibt.

Kommissar Maigret gibt seinen Einstand

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Jean Renoir, einer meiner Lieblingsregisseure, drehte seine ersten Filme Mitte der 20er Jahre, er war also noch ein Kind der Stummfilmzeit. Doch zu richtig großer Form lief er erst mit seinen Tonfilmen der 30er Jahre auf. Durch Renoirs Emigration nach der deutschen Besetzung Frankreichs 1940 und die völlig anderen Produktionsbedingungen, die er in Hollywood vorfand, bilden die 15 Filme von 1931 bis 1939 einen in sich geschlossenen Teil von Renoirs Werk. Von diesen 15 Filmen kenne ich bislang neun, und einen Teil davon werde ich in einer losen Reihe chronologisch vorstellen. Dabei konzentriere ich mich auf Filme, die hier zu Lande etwas weniger bekannt sind als die Großtaten DIE GROSSE ILLUSION, BESTIE MENSCH und DIE SPIELREGEL. Vielleicht bespreche ich danach noch zwei oder drei von Renoirs späteren Filmen, aber das überlege ich mir noch. Es beginnt mit einem für Renoir ungewöhnlichen Stoff, nämlich einem Krimi.



LA NUIT DU CARREFOUR
Frankreich 1932
Regie: Jean Renoir
Darsteller: Pierre Renoir (Kommissar Maigret), Winna Winifried (als Winna Winfried, Else Andersen), Georges Koudria (Carl Andersen), Dignimont (Oscar), Jean Gehret (Michonnet), Georges Térof (Inspektor Lucas), G.A. Martin (Inspektor Grandjean)

"... der Geruch des Regens und der in Nebel gehüllten Felder, jedes Detail, in jedem Augenblick jeder Einstellung macht aus LA NUIT DU CARREFOUR den einzigen großen französischen Kriminalfilm, was sage ich, den einzigen großen französischen Abenteuerfilm." (Jean-Luc Godard, zitiert nach Meinolf Zurhorst: Lexikon des Kriminalfilms)

Kommissar Maigret
Von allen Roman- und Filmkommissaren ist Jules Maigret nicht nur einer der bekanntesten, sondern auch einer derjenigen, die von den meisten verschiedenen Schauspielern dargestellt wurden. Wer bei der Frage nach dem ersten Film-Maigret etwa an Jean Gabin denkt, liegt weit daneben, denn schon rund 26 Jahre vor Gabin blickte ein Maigret von der Leinwand, und es war Pierre Renoir, der ältere Bruder des Regisseurs. Georges Simenon, ein bereits durch Groschenromane einigermaßen bekannter Schriftsteller, begann 1931, die ersten Maigret-Romane in Buchform zu publizieren, und wurde damit zum Shootingstar der französischsprachigen Literaturszene. "La Nuit du carrefour", im April 1931 verfasst, war bereits der sechste Maigret-Roman des Schnellschreibers Simenon. Renoir verfolgte Simenon, der sich damals häufig auf Reisen befand, im Herbst 1931 regelrecht, um an die Filmrechte zu kommen. Die Mühe hat sich gelohnt - er bekam nicht nur die Rechte, und Simenon schrieb gemeinsam mit Renoir das Drehbuch, das Zusammentreffen wurde auch zum Beginn einer langjährigen Freundschaft. Aber Renoir gewann das Rennen um den ersten Maigret-Film nur knapp: Rund zehn Wochen nach LA NUIT DU CARREFOUR erschien mit LE CHIEN JAUNE bereits der nächste, Anfang 1933 der dritte. Dann dauerte es aber bis 1943 bis zum vierten (mit dem vierten verschiedenen Maigret-Darsteller). Danach, aber noch vor Jean Gabin, spielten beispielsweise auch noch Charles Laughton und Michel Simon den bedächtigen Kommissar mit der Pfeife.

Carl und Else Andersen
Stilistisch ist LA NUIT DU CARREFOUR ein Vorläufer des Film noir, gelegentlich wurde er sogar als der erste Film noirüberhaupt bezeichnet. Der Titel, der übersetzt "Die Nacht an der Kreuzung" bedeutet, beschreibt den Schauplatz treffend. An einer Straßenkreuzung in einer ziemlich einsamen und trostlosen Gegend, ungefähr 30 Kilometer südlich von Paris, stehen drei Anwesen: Eine Autowerkstatt und Tankstelle mit der Wohnung des Besitzers Monsieur Oscar samt Gattin, flankiert von zwei großbürgerlichen Wohnhäusern. In dem einen wohnt der dickliche Versicherungsagent Michonnet mit seiner ebenso dicklichen Frau, im anderen der verschlossene Däne Carl Andersen mit seiner wesentlich jüngeren Schwester Else. Andersen, früher ein Offizier und Flieger aus nobler Familie, lebt jetzt davon, dass er einmal im Monat Stoffmuster an eine Firma in Paris verkauft. Else, die Carl gegenüber einen ziemlich dominierenden Ton an den Tag legt, zeigt eine Mischung aus (gespielter?) Naivität und Laszivität (Godard schreibt in dem Text, aus dem das obige Zitat stammt, von ihrem "altmodischen Sex wie bei einer rauschgift- oder philosophiesüchtigen Russin"). Eines Tages ist in Michonnets Garage sein Wagen verschwunden, dafür steht überraschenderweise der von Andersen darin. Als man daraufhin gemeinsam in Andersens Garage nachsieht, findet man tatsächlich Michonnets Wagen - mit einer Leiche darin.

Verqualmtes Büro
Der Tote mit Kopfschuss ist, wie sich erweist, ein holländischer Diamantenhändler namens Goldberg. Der einzige Verdächtige ist zunächst Andersen, und Maigret, der die Ermittlungen übernimmt, lässt ihn ins Hauptquartier der Pariser Kriminalpolizei am Quai des Orfèvres bringen. Doch bei einem stundenlangen zermürbenden Verhör beteuert er nur seine Unschuld und sagt sonst wenig. So lässt ihn Maigret wieder laufen und begibt sich an den Tatort, um sich dort ein Bild zu machen und alle Beteiligten nochmals zu verhören. Als der Abend hereinbricht, beginnen sich die Ereignisse zu überschlagen. Goldbergs Witwe, die zur Identifizierung ihres Gatten anreist, wird vor Maigrets Augen mit einem Gewehr aus dem Hinterhalt erschossen. Andersen, der seine monatliche Fahrt nach Paris unternimmt, kehrt nicht zurück - hat er sich abgesetzt, oder ist ihm etwas zugestoßen? Else, die allein im großen Haus zurückgeblieben ist, wirft sich jetzt Maigret an den Hals, doch der alte Fuchs hält sie auf Distanz. Mitten in der Nacht - alle Beteiligten sind aber noch wach und beschäftigt - fährt eine offene Limousine vor, und die Insassen beginnen, im Stil von Chicago-Gangstern wild in die Werkstatt hineinzuballern (wie gut, dass Maigret 30 Mann Verstärkung aus Paris kommen ließ). Und das ist noch lange nicht alles. Irgendjemand versucht anscheinend, Else mit Veronal in einer Bierflasche zu vergiften - oder galt der Anschlag etwa Maigret? Carl Andersen wird in der Nähe seines Hauses angeschossen aufgefunden, womit die Frage nach seinem Verbleib geklärt wäre; Michonnet wird beim Versuch, in Andersens Haus einzudringen, festgenommen; Maigret findet heraus, dass Else gar nicht Carls Schwester ist, und mit ihrer noblen Herkunft ist es auch nicht weit her; und als Maigrets Leute die Autowerkstatt auseinandernehmen, finden sie nicht nur Juwelen, die Goldberg anderswo gestohlen und mit sich geführt hat, sondern auch jede Menge Kokain. Am Ende wird eine ziemlich umfangreiche Bande verhaftet, der Mörder Goldbergs überführt, und der Fall ist gelöst - so halbwegs jedenfalls.

Trostlose Gegend bei Regen und Nebel
Denn die Handlung des Film glänzt nicht gerade durch Klarheit, und am Ende bleiben viele Fragen offen. Man könnte sich ja auf den Standpunkt stellen, dass ein verwirrender Plot zum Konzept eines Film noir gehört (man denke etwa an Howard Hawks' THE BIG SLEEP), aber natürlich macht man es sich damit etwas zu einfach. Jean Mitry hat eine Erklärung für die Konfusion vorgebracht (der spätere Filmtheoretiker und Regisseur von PACIFIC 231 war als Schnittassistent und Nebendarsteller am Film beteiligt): Er habe während oder kurz nach dem Dreh versehentlich zwei bereits belichtete Filmrollen von LA NUIT DU CARREFOUR für einen eigenen Kurzfilm verwendet, den er gerade drehte, so dass sie durch Doppelbelichtung unbrauchbar wurden und für den Schnitt nicht mehr zur Verfügung standen. Diese Geschichte ist aber angezweifelt worden. Der Produzent Pierre Braunberger, der in den 20er und 30er Jahren etliche Filme Renoirs produzierte (nicht jedoch LA NUIT DU CARREFOUR), soll bei einer Probevorführung gegenüber Renoir geäußert haben, dass bei der Verfilmung ungefähr zwölf Seiten des Scripts (das Braunberger kannte) schlicht vergessen worden seien. Pascal Mérigeau, der gerade eine nagelneue Renoir-Biographie von 1100 Seiten vorgelegt hat, hält Mitrys Version für falsch, ist aber auch nicht sicher, ob die Braunberger-Version stimmt - so bleibt die Frage vorerst (und vielleicht für immer) offen. (Für hilfreiche Informationen zu diesem Punkt danke ich Prof. Chris Faulkner von der Carleton University, Ottawa.)

Else umgarnt Maigret
Wie dem auch sein mag - Logik und eine stringente Handlungsführung gehören nicht zu den Stärken von LA NUIT DU CARREFOUR. Dafür punktet der Film im Atmosphärischen. Wie schon geschrieben, besitzt er Ingredienzien eines Film noir. Starke Schwarzweißkontraste; verqualmte Polizeibüros im Halbdunkel am Quai des Orfèvres; der ebenso verqualmte Salon im Haus der Andersens; die meisten Szenen im Freien bieten Regen, Nebel, Dämmerung oder eine Kombination daraus, und ein beträchtlicher Teil des Films spielt sowieso in der Nacht. Und es gibt eine echte femme fatale. Die Dänin Winna Winifried ist fast so mysteriös wie die von ihr gespielte Else Andersen. Das beginnt schon mit ihrem Geburtsdatum - in der IMDb findet man nur "ca. 1914". Ich nehme an, dass Renoir selbst die Quelle dafür ist, denn er hat irgendwann mal geäußert, dass sie beim Dreh erst 17 war. Die Unsicherheit setzt sich bei ihrem Künstlernamen fort. In den Credits erscheint sie als "Winna Winfried", in den meisten Quellen jedoch als "Winna Winifried", in manchen aber auch als "Winna Winifred". Immerhin scheint festzustehen, dass sie als Amalie Nielsen in Kopenhagen geboren wurde. (Godard hielt übrigens ihren dänischen für einen englischen Akzent - da kannte er wohl Anna Karina noch nicht.) LA NUIT DU CARREFOUR war ihr erster Film, dem laut IMDb sechs weitere folgten - zuerst drei in England, dann wieder drei in Frankreich. Sie scheinen allesamt ziemlich obskur und vergessen zu sein. Nach 1940 verliert sich dann offenbar Winifrieds Spur.

Ein Zeitungsstand als "Uhr"
Ich bin zwar nicht so enthusiastisch wie Godard, aber sehenswert ist LA NUIT DU CARREFOUR allemal. Renoir zeigt sein Gespür für Stimmungen und glänzt mit kleinen Details. Beispielsweise verdeutlicht er die stundenlange Dauer von Andersens Verhör durch mehrmalige Zwischenschnitte zum unteren Teil eines Zeitungsstands. Man sieht nur die Beine der Kunden, aber man hört ihre Bestellungen: Beim ersten Mal "Le Matin" (eine Morgenzeitung), beim nächsten Mal "Paris-Midi" (ein Mittagsblatt), schließlich - man ahnt es schon - mit "Paris-Soir" eine Abendzeitung. Am Schluss liegen die Zeitungen gelesen und weggeworfen im Rinnstein. Gekonnt ist auch Renoirs Umgang mit Direktton (in der Frühzeit des Tonfilms keine Selbstverständlichkeit) in der Autowerkstatt und auf der Straße. Gelegentlich gewinnt die Geräuschkulisse die Dichte von Musique concrète. Und nicht zuletzt ist Pierre Renoir mit seinem "faulen Falkenauge" (Godard schon wieder) ein ganz ausgezeichneter Maigret. Simenon soll ihn sogar mal als den überzeugendsten Maigret bezeichnet haben, allerdings ist andernorts auch zu lesen, dass er diese Ehre Gabin und Rupert Davies zuerkannte. - LA NUIT DU CARREFOUR ist unter seinem Originaltitel in den USA auf DVD erschienen.

Subtiler Terror in den schwarzen Bergen

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POSLJEDNJE POGLAVLJE (THE ASCENT)
Montenegro 2011
Regie: Nemanja Bečanović
Darsteller: Amar Selimović (Jovan), Vlado Jovanovski (Zeko), Dejan Ivanić (Vuk), Ana Vučković (Vidrana), Inti Sraj (Vesna)

Den nachfolgenden Text habe ich in der Nacht vom 10. auf den 11. November 2011 geschrieben, etwa zwischen 01.30 Uhr und 02.30 Uhr. An diesem Abend hatte das Erste SouEuF-Festival Jena (Southeastern European Film Festival) begonnen, unter anderem mit der Projektion eines montenegrinischen Films, der mich (und wahrscheinlich auch andere Zuschauer) zutiefst beeindruckte. Der Text endete in der „Schublade“ und diente lediglich als Gedankenbasis für zwei meiner Festivalberichte. Dies ist nun eine redigierte, teils gekürzte und teils ergänzte Fassung des Artikels.


Das kleine, studentische Jenaer Südosteuropa-Filmfestival hat viele Besucher gefunden, zumindest genügend, um seinen Vorführraum aus allen Nähten platzen zu lassen. Die Atmosphäre ist familiär, die Organisation auf fast rührende Art und Weise dilettantisch: Rotwein und Weißwein waren um acht Uhr Abends schon alle, das ganze fing natürlich erst c.t. an und ein wirkliches Cinemascope-Erlebnis sieht grundsätzlich anders aus als eine Projektion auf eine viel zu kleine Leinwand. Alles nicht schlimm, wenn das mit Liebe rübergebracht wird, und das wurde es auch. Da kann man auch einen Filmriss gut verkraften, und mit Filmriss meine ich jetzt: CD-Kratzer bei 51min03sec. Kurz: es war eng, es war stickig, es gab keine stimulierende Flüssigkeiten. Die richtige Atmosphäre, um THE ASCENT, das Spielfilmdebüt des montenegrinischen Regisseurs Nemanja Bečanović zu schauen.
Stell dir vor, du bist Schriftsteller, hast eine Third-Life-Crisis, und sitzt an einem Roman, den du trotz deiner anstrengenden und aufreibenden Frühaufsteher-Gewohnheiten einfach nicht fertig kriegst – und du lebst in Podgorice, der Hauptstadt Montenegros. Was tun? Die Lösung: in ein abgelegenes Dorf der schwarzen Berge ziehen, um dort in einer Wohngemeinschaft mit Schafhirten ein wenig abzuschalten und jene Ruhe zu finden, die dir eine bessere Fokussierung ermöglicht. Gesagt, getan: der Bus ruckelt dich dann zu einer verlorenen Straßenkreuzung hin.
Das Dorf: vollkommen verlassen! Der Empfang: kühl wäre durchaus eine Untertreibung! Du musst dich etwa fünf Mal als Jovan vorstellen, damit dich deine wenig gesprächigen ländlichen Gastgeber endlich als Vuk und Vidrana begrüßen. Die schöne Vesna, die du vorher beim Abwaschen am Fluss aufgescheucht hast, grüßt aufgrund ihrer Stummheit nicht zurück, zumindest nicht verbal. Der Hausherr, Zeko, kommt schließlich auch noch dazu. Ja, montenegrinische Berghirten sind etwas befremdlich, ihre Haare sind struppelig und ihre Gesichter sind beängstigend kadaverbleich – dabei liegt Siebenbürgen doch so weit weg. Aber vielleicht wird doch noch was draus.
Wirklich? Jeder kennt das Gefühl. Man ist zu Gast bei jemandem zu Hause, und die Gastgeber streiten sich die ganze Zeit. Eheprobleme und Vater-Sohn-Beziehungen werden einem quasi nebenbei unter die Nase gerieben. Hinzu kommt noch eine leichte Anspannung, die von den scheinbar leicht inzestuösen Situationen herrühren. Dabei ist man sich gar nicht so sicher, wer von den Gastgebern in welcher Weise mit den anderen verwandt sind. Klar: Vuk und Vidrana sind anscheinend ein Ehepaar – oder zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit? Vesna ist die Schwester von einem der beiden mutmaßlichen Ehepartner – vielleicht? Wirklich sicher ist nur, dass Zeko als übermächtiger Patriarch über alles thront.
Eigentlich bist du ja ziemlich apolitisch, aber trotzdem halten es die Bewohner dieser verlassenen Berghütte für wahnsinnig wichtig, dir ihre tiefe Verbundenheit mit der Natur unter die Nase zu reiben. Dein Problem: es kommt als totales Hinterwäldlertum und extremistische Landideologie bei dir an. Diese Leute hassen Stadtbewohner, sie hassen Intellektuelle, sie hassen Menschen, die offensichtlich keiner „ordentlichen“ Beschäftigung nachgehen (zum Beispiel Schriftsteller), und sie hassen Raucher. Dumm, dass diese ganzen Attribute auf dich zutreffen. Aber Zeko ist durchaus bereit, sich für deine Ehre einzusetzen. Als Vuk dich verbal etwas in die Mangel nimmt, nimmt Zeko ihn in den Schwitzkasten, mit einer deutlichen Bereitschaft, ihm das Genick zu brechen, nur, damit Vuk sich bei dir entschuldigt. So viel hattest du eigentlich gar nicht erwartet!
Die Gesamtsituation ist auch sonst beunruhigend. Diese Menschen treiben dich zu beängstigenden und teils ziemlich blutigen Alpträumen. Sie schlachten ihre ganze Schafherde ab. Sie nehmen die Spiegel in deinem Zimmer weg, um sie in einem Schrank zu verstauen. Und zu sehen, wie Vesna im nahegelegenen Wald bei einem Hügel frisch aufgegrabener Erde in Größe und Form eines Menschen trauert, ist zwar rührend, aber auch nicht gerade vertrauenserweckend.
Aber die Macht des Wortes ist unendlich. Und dank dieser Macht kannst du schließlich auch die Herzen dieser verschlossenen Bergleute öffnen. Wirklich? Wirklich?? WIRKLICH???
THE ASCENT kann man einem Genre zuordnen, den ich mal als „poetischer Symbolismus“ bezeichnen könnte. Grundmuster: kaum Handlung im engeren Sinne, größtenteils sehr starre Kamera, sperrige Darstellungskunst. Was dabei herauskommt: meist prätentiöser Bockmist! Viele Regisseure bringen es mit ihrer Darstellung karger Landschaften, gesprächsloser zwischenmenschlicher Austausche und wenig dynamischer Kameraeinstellungen nur zu einem nebenwirkungslosen Schlafmittel-Surrogat. Nicht so Bečanović. Mit sehr minimalistischen Mitteln erzeugt er eine extrem dichte und spannungsgeladene Atmosphäre voller latenter Gewalt, Klaustrophobie und Paranoia. Vieles, was passiert, nein, sogar das meiste, ist bedeutungsschwanger. Misstrauen entsteht nicht so sehr durch verbale Attacken, als durch penetrantes Schweigen. In dieser Berghütte wird deutlich: „Nicht-Kommunikation“ ist vielleicht die extremste Form von Kommunikation. Da wir als Zuschauer mit Jovan mitfühlen, wird das Gefühl der Bedrohung immer sehr intensiv aufrecht erhalten. Denn so einfach die Ziegenhirten im Film auch scheinbar gestrickt sind, so absolut unberechenbar sind sie letztlich für den Städter Jovan. Und zwar im bösen wie auch im guten Sinne. Und schließlich auch im bösen Sinne...
Der Schluss des Films übertrifft an Radikalität das Allerschlimmste, das man sich im Verlaufe von etwa 80 Minuten erträumen konnte. Zugleich wirkt er aber auch auf seltsame Art und Weise logisch und folgerichtig.
Wer sich jetzt fragt, wie Jovan seinen Laptop über eine Woche lang in einer Berghütte nutzen kann, ohne ihn aufzuladen: keine Ahnung! Aber der Film ist ja sowieso symbolisch. Und vielleicht hat ihn die spannungsgeladene Atmosphäre aufgeladen.

BOUDU: Flaches Wasser und deep focus

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BOUDU - AUS DEN WASSERN GERETTET (BOUDU SAUVÉ DES EAUX)
Frankreich 1932
Regie: Jean Renoir
Darsteller: Michel Simon (Boudu), Charles Granval (Édouard Lestingois), Marcelle Hainia (Emma Lestingois), Séverine Lerczinska (Anne Marie), Jean Gehret (Vigour), Max Dalban (Godin), Jean Dasté (Student), Jacques Becker (Dichter)


Renoirs vierter Tonfilm beginnt mit einem kurzen Prolog, in dem - sichtlich in Theaterkulissen - ein Pan oder Priapos einer Nymphe nachstellt. Damit wird ein Rahmen gesetzt, eine Meta-Ebene, die den gesamten Film "theatralisiert" - ein Motiv, das Renoir in den 30er Jahren gern verwandte (so beginnt auch schon LA CHIENNE (1931) mit einer Grand-Guignol-Vorstellung), und auf das er etwa in DIE GOLDENE KAROSSE (1952) mit seinem "Theater im Theater" zurückkam. Zugleich verweist der Prolog auf den Charakter des Films: Es ist ein Satyrspiel, ein erotisch aufgeladenes Bäumchen-wechle-dich, dessen Wendungen man nicht wirklich ernst nehmen sollte. Eine Satire auf bürgerliche Wert- und Moralvorstellungen ist BOUDU - AUS DEN WASSERN GERETTET auch, aber eine sehr milde, die ihre Protagonisten nicht denunziert, sondern liebevoll karikiert.

Monsieur Lestingois und Anne Marie
Nach dem Prolog folgt der direkte Umschnitt zum gutsituierten Pariser Buchhändler Édouard Lestingois, wie er mit seinem Hausmädchen Anne Marie, die zugleich seine Geliebte ist, herumschäkert und sich selbst dabei als "Priapos" und sie als seine "Chloé" bezeichnet, womit die Verbindung vom Rahmen zur Haupthandlung unmissverständlich etabliert ist. Lestingois, dessen Buchhandlung mit darüberliegender Wohnung direkt am Ufer der Seine liegt, ist verheiratet, aber seine Frau Emma ist am Eheleben nicht mehr interessiert, dafür achtet sie umso mehr aufs Geld. Lestingois dagegen ist im Grunde noch Idealist, der auch schon mal Bücher an einen armen Studenten verschenkt, der sie sich nicht leisten kann (gespielt von Jean Dasté, der seinen größten Auftritt 1934 in Jean Vigos L'ATALANTE hatte, hier in seinem ersten Film). Es ist auch von Anfang an klar, dass das Verhältnis von Lestingois und Anne Marie nicht nur sexueller Natur ist, sondern dass sie sich einfach mögen.

Jacques Becker mit einem Kurzauftritt
Szenenwechsel in einen großen Pariser Park, wohl der Bois de Boulogne. Einer seiner Bewohner ist der zottelige Clochard Boudu mit seinem ebenso zotteligen schwarzen Hund "Black". Als ihm dieser davonläuft und er ihn trotz Suche nicht wiederfindet, will er sich in der Seine ertränken. Doch just in dem Moment, als er von einer Brücke springt, erspäht ihn Lestingois von seiner Wohnung aus, und nun ist es an ihm, den Lebensmüden zu retten. Beherzt springt er ins Wasser, und unter den Blicken von dutzenden, wenn nicht hunderten Zuschauern zieht er den halbtoten Boudu aus dem Wasser. Mit Hilfe seines Nachbarn Vigour (der gerne am offenen Fenster Flöte spielt und damit für einige musikalische Überleitungen im Film sorgt) bringt ihn Lestingois in seine Buchhandlung, um die Schaulustigen abzuschütteln und die Wiederbelebung zu vollenden. Vigour ist Mitglied in einem "Lebensrettungsclub", obschon er noch nie an einer Lebensrettung teilgenommen hat, und geht nun mit entsprechender Begeisterung zu Werk, so dass Boudu gar nichts anderes übrigbleibt, als wieder zu sich zu kommen.

Spektakuläre Rettung vor großem Publikum
Jetzt wird beschlossen, dass Boudu erst mal als Gast im Hause Lestingois bleiben soll, auch wenn Madame Lestingois und Anne Marie den neuen Hausgenossen sehr skeptisch beäugen. Und ihre Vorbehalte sind nicht ohne Grund, wie sich bald erweist. Denn Boudu ist ein respektloser, um nicht zu sagen anarchischer Zeitgenosse, der sich als undankbar erweist und von vielen Segnungen der Zivilisation nichts hält. Insbesondere beginnt er schnell, Anne Marie zu begrapschen, er setzt die Küche unter Wasser und richtet Verwüstungen an, die ein Loriot nicht besser hingekriegt hätte, er wischt sich seine mit Schuhcreme beschmierten Hände an Madames Nachtwäsche ab, er spuckt in der Wohnung auf den Boden und so weiter. Lestingois' nächtliche Schäferstündchen mit Anne Marie müssen vorerst ausfallen, weil der zwischen den jeweiligen Schlafzimmern einquartierte (und auf dem Boden schlafende) Boudu den Weg blockiert. Als Lestingois entdeckt, dass Boudu sogar in ein Buch gespuckt hat (Balzacs leicht zynisches Ehehandbuch Physiologie du mariage - ein trockener Seitenhieb Renoirs auf die Ehe der Lestingois), ist auch bei ihm das Fass übergelaufen: Boudus sofortige Ausweisung ist beschlossen.

Madame Lestongois streckt die Zunge raus, und Monsieur Vigour
geht mit Einsatz an Boudus Wiederbelebung
Doch es kommt anders. Um seine Chancen bei Anne Marie zu erhöhen, vollzieht Boudu eine partielle Annäherung an die Zivilisation: Er geht zum Friseur. Und als ihm Madame seinen Rauswurf in ihrem Schlafzimmer mitteilen will, verführt er sie in Windeseile mit sanfter Gewalt. Während auf der Straße Marschmusik gespielt wird, bläst Boudu Madame den Marsch - und danach ist sie wie verwandelt. Wie ihr Gesichtsausdruck und ihre Körpersprache deutlich machen, hat die eben noch ziemlich frigide Madame ihre Lebenslust und den Spaß am Sex wiedergefunden. Gleichzeitig trifft die Nachricht ein, dass Lestingois für seine Rettungstat eine Medaille erhält, wodurch auch er milde gestimmt ist. So darf Boudu also vorerst bleiben. Während nun Madame kaum noch von Boudu lassen kann, hat nun auch Lestingois wieder Gelegenheit, sich mit Anne Marie zu beschäftigen. So geht das einige Tage dahin, doch dann treffen die beiden Paare unverhofft im selben Zimmer in eindeutiger Lage aufeinander, so dass der doppelte Ehebruch offenbar wird. Doch der (nach bürgerlichen Maßstäben) doppelte Skandal wird erstaunlich souverän gehandhabt: In einer geradezu rasanten Umgruppierung finden die wiedererblühte Madame und ihr Gatte wieder zusammen, während Boudu und Anne Marie nicht nur ein Paar werden, sondern - ermöglicht durch einen Lotteriegewinn Boudus über 100.000 Francs - sogar heiraten. So ist denn auch die nächste Szene nach dem Rearrangement der Paare gleich der Hochzeitsausflug: Eine sonntägliche Kahnfahrt von Boudu und Anne Marie, dem Ehepaar Lestingois und Monsieur Vigour auf der Marne.

Boudu richtet Verwüstungen an
Doch das allzu platte Happy End wird von Renoir abgesagt. Boudu schafft es, sich selbst und die anderen Insassen des Ruderboots ins Wasser der äußerst gemächlich dahinfließenden Marne zu befördern, indem er sich nach einer Seerose ausstreckt. Ob nun geplant oder einem spontanen Impuls folgend: Boudu nutzt das Durcheinander, um sich schwimmend von der Gruppe abzusetzen, zu den hier ziemlich ironisch anmutenden Klängen des Walzers "An der schönen blauen Donau". An einer unbeobachteten Stelle des Ufers geht er an Land und vollzieht seine Rückverwandlung in einen Clochard - er tauscht seine feinen Hochzeitskleider gegen das zerschlissene Gewand einer Vogelscheuche und lässt als krönenden Abschluss seine Melone in die Marne segeln. Nun ist er wieder ganz der Alte und hat seine Freiheit wiedergewonnen. Zwar fehlt ihm noch sein Hund, dafür schließt er jetzt Freundschaft mit einer Ziege. Unterdessen sitzt Lestingois auch wieder an Land, flankiert von seiner Frau und Anne Marie, und sie fragen sich, was wohl aus Boudu geworden ist. Beide Frauen sind eng an ihn gekauert. Der Beginn einer Ménage-à-trois? Wer weiß ...

Vor und nach dem Friseur
Man hat Boudus Rolle zu Recht mit einem Katalysator verglichen: Er geht am Ende unverändert aus der Reaktion hervor, aber er hat in seinem Substrat, dem Haushalt Lestingois, erhebliche Veränderungen bewirkt: Etliche Verklemmungen und Scheinheiligkeiten wurden beseitigt. Dass Boudu am Ende wieder auf der Straße landet, ist im französischen Film der 30er Jahre nichts Ungewöhnliches. Schon in LA CHIENNE endete Michel Simon als Landstreicher, dort allerdings ins Tragische gewendet. Auch in René Clairs Film mit dem programmatischen Titel À NOUS LA LIBERTÉ (ES LEBE DIE FREIHEIT) von 1931 suchen die beiden Helden am Schluss ihr Heil auf der Straße, und in Renoirs LES BAS-FONDS (NACHTASYL) von 1936 wird der Held (Jean Gabin) am Ende zwar kein Landstreicher im eigentlichen Sinn, aber er wandert mit seiner Geliebten auf Schusters Rappen in eine ungewisse, aber wahrscheinlich bessere Zukunft.

Voller Körpereinsatz bei Michel Simon
Als Komödie ist BOUDU kein Schenkelklopfer, aber es gibt doch einige komische Szenen, vom visuellen Kalauer (Lestingois sagt bei Boudus Wiederbelebung zu seiner Frau, dass die Zunge raus müsse, und sie streckt daraufhin ihre eigene Zunge raus) bis zu einigen absurden Umkehrungen. So gibt am Anfang im Park eine Frau Boudu 5 Francs, "damit er sich Brot kaufen kann", wie sie ihrer kleinen Tochter erklärt. Als kurz darauf ein feiner Pinkel in einem protzigen offenen Wagen im Park hält, öffnet ihm Boudu wie ein Chauffeur die Tür. Der Schnösel sucht in seinen Taschen nach Trinkgeld, aber als er nicht schnell genug etwas findet, gibt Boudu ihm die 5 Francs - damit er sich Brot kaufen kann, wie jetzt Boudu zur Verblüffung des Mannes und des Publikums erklärt. Als Boudu am Essenstisch Wein verschüttet, streut Madame Lestingois Salz darüber, um den Wein aus dem Tischtuch zu ziehen, wie sie zu Boudu sagt, der sich das nicht erklären konnte. Als dann Lestingois versehentlich den Salzstreuer umkippt, gießt Boudu einen Schwall Wein darüber - "um das Salz herauszuziehen", wie nun er erläutert. Renoirs Regieassistent Jacques Becker hat einen sehr schrägen ungenannten Kurzauftritt als ein Dichter im Park, der wild gestikulierend theatralischen Unsinn verzapft, als ihn Boudu nach dem Hund fragt. Als Satire ist BOUDU, wie schon erwähnt, recht mild. Der einzige negativ besetzte Charakter ist zunächst Madame Lestingois, aber nach ihrer Läuterung durch Boudu ist auch das Geschichte. Gesellschaftskritik ist nicht das vordringliche Anliegen des Films, aber den einen oder anderen sozialen Kommentar platziert Renoir doch. So fragt etwa Boudu im Park einen Polizisten, ob er seinen Hund gesehen hat, doch der bedeutet ihm nur, er solle sich verziehen, damit er ihn nicht einbuchtet. Als unmittelbar darauf auch einer feinen Dame ihr Hündchen abhanden kommt, holt derselbe Polizist seine Kollegen herbei, damit sie bei der Suche behilflich sein können.

Boudu gibt ein Trinkgeld; Madame und ein armer Student;
Madame nach ihrer Verwandlung durch Boudu
Deep focus cinematography heißt auf Englisch das Drehen mit großer Tiefenschärfe (oder Schärfentiefe, wie Puristen sagen), das es ermöglicht, die handelnden Personen sich in der "Tiefe des Raumes" bewegen zu lassen, und in Bildvorder- und -hintergrund sogar voneinander unabhängige Teile der Handlung stattfinden zu lassen. Als Paradebeispiel für diesen Stil wird oft, und nicht zu Unrecht, CITIZEN KANE genannt, aber Orson Welles und sein Kameramann Gregg Toland waren keineswegs die ersten, die das virtuos beherrschten. Auch Renoirs LA RÈGLE DU JEU (DIE SPIELREGEL) von 1939 ist ein perfektes Beispiel. Und natürlich ist Renoir die Technik nicht 1939 in den Schoß gefallen, sondern er hat schon vorher damit experimentiert, z.B. in LA CHIENNE und auch in BOUDU. Zwar nicht durchgehend, aber immer wieder mal setzt Renoir Tiefenschärfe ein, um beispielsweise in der Wohnung von Lestingois Räume im Vorder- wie im Hintergrund ebenso wie den verbindenden Flur scharf abzubilden und auch überall Handlung zu zeigen. Und in der Szene, als Lestingois aus seinem Arbeitszimmer heraus Boudu mit einem Fernrohr beobachtet, bevor dieser in die Seine springt, sind Lestingois und die Einrichtung des Zimmers im Vordergrund, der Quai im Mittelgrund und fahrende Autos und wuselnde Fußgänger im Hintergrund jenseits der Seine scharf zu sehen.

Ein Hochzeitsausflug und sein Ende
Aber die große Attraktion von BOUDU ist weder die Handlung noch die Kameraarbeit, sondern das ist Michel Simon. Mit Renoir und Simon hatte sich ein Traumpaar gefunden, und BOUDU ist ihr vierter und letzter gemeinsamer Film, nach TIRE AU FLANC (1928), ON PURGE BÉBÉ (Renoirs erster Tonfilm, 1931) und LA CHIENNE. (1940 arbeitete Renoir in Italien an TOSCA, in dem Simon ebenfalls mitspielt, aber Renoir brach die Arbeit daran ab und emigrierte in die USA. Den Film drehte dann Renoirs Freund Carl Koch, der Ehemann von Lotte Reiniger.) 1966 drehte Jacques Rivette für die Fernsehserie CINÉASTES DE NOTRE TEMPS ein dreiteiliges Portrait von Renoir, und der 90-minütige mittlere Teil widmete sich nur der Zusammenarbeit von Renoir und Michel, die auch beide darin auftraten. Michel Simon schätzte Renoir sehr dafür, dass er einer der wenigen Regisseure war, die ihn bei seinem Drang zum Improvisieren nicht bremsten, sondern bestärkten. Renoir wiederum schrieb einmal: "BOUDU, das ist Michel Simon. Das heißt, einer der größten lebenden Schauspieler und einer der größten Schauspieler der Geschichte des Theaters und des Kinos. BOUDU ist eine Hommage an Michel Simon." Die Rolle des Boudu ist ihm tatsächlich wie auf den Leib geschrieben. Das Drehbuch entstand nach einem 1925 erschienenen Theaterstück, und schon damals spielte Simon die Rolle auf der Bühne und erhielt dafür Lobeshymnen. Er war es auch, der Renoir die Verfilmung des Stoffes vorschlug, und er war dann der Hauptproduzent des Films (Jean Gehret, der Darsteller von Vigour, war ebenfalls an der Finanzierung beteiligt). Den Boudu spielt er mit entfesselter, anarchischer Freude und mit vollem Körpereinsatz. Er fläzt sich am Boden und auf dem Mittagstisch, er turnt und kaspert herum, er krächzt und grölt und grinst. Von seinen Rollen, die ich sonst noch kenne, ist nur sein Père Jules in L'ATALANTE damit vergleichbar. Wenn man nur diese beiden Filme von ihm kennen würde, könnte man wohl glauben, dass er tatsächlich so ist, aber wenn man zum Vergleich andere Rollen heranzieht, etwa den skurrilen, aber gesitteten Molyneux in DRÔLE DE DRAME oder den sinistren Zabel in Carnés LE QUAI DES BRUMES, dann erkennt man seine Bandbreite.

Rückverwandlung mit Vogelscheuche und Ziege
BOUDU SAUVÉ DES EAUX ist in den USA und in England (als BOUDU SAVED FROM DROWNING) sowie in Frankreich auf DVD erschienen. - 1986 drehte Paul Mazursky mit DOWN AND OUT IN BEVERLY HILLS (ZOFF IN BEVERLY HILLS) ein ganz brauchbares Hollywood-Remake, mit Nick Nolte als kalifornischem Boudu und Richard Dreyfuss und Bette Midler als seinen Gastgebern. Daraus entstand 1987 eine erfolglose 13-teilige Fernsehserie (mit anderen Hauptdarstellern). 2005 schließlich inszenierte Gérard Jugnot ein weiteres Remake, mit Gérard Depardieu in der Titelrolle und mit sich selbst als Lestingois (der hier Lespinglet heißt).

Wie wird es weitergehen?

Frohe Weihnachten!

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In den letzten beiden Jahren hat Bruno hier jeweils einen "Weihnachtsfilm" besprochen, aber ich hab es eigentlich nicht so mit Weihnachten, deshalb gibt es heuer keinen Film, sondern nur einen YouTube-Clip, und es geht darin auch nicht um das Fest des Kaufens, äh, der Liebe, sondern um eine unserer Lieblingsbeschäftigungen. Hier sind also die Kinks mit "Celluloid Heroes".



Wie heißt es doch so schön am Schluss: Celluloid heroes never really die! Genau. Nächstes Jahr geht es mit einem großen Jahresrückblick weiter, den David beisteuert. Bis dahin, gehabt Euch wohl!

2012 – Manisch-epischer Reiseführer durch ein Filmjahr mit Statistiken und Listen, oder: Wie ich auf einen Spiritisten reinfiel

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Und... wieder ein Jahr rum!
Ein filmreiches Jahr. Viele Filme gesehen: in vielen Kinos, auf DVD, im Fernsehen und – ja auch das! – in den großen Weiten dieses so genannten Internets; gute Filme, Meisterwerke, schlechte Filme, totale Gurken, schwarz-weiß, farbig, 2D, 3D, kurz, sehr kurz, lang, episch... Wahrscheinlich habe ich noch nie so viele Filme in einem Jahr gesehen... zumal so viele mir unbekannte Werke.

Statistik, Statistik, wer ist die schönste Liste im ganzen Land?
Klar: Statistiken sagen oft nicht viel aus, üben aber trotzdem eine große Faszination aus. Bei mir entspringt dieses Bedürfnis nach statistischen Auswertungen dem Drang, mich und meine Umwelt in eine Ordnungsstruktur zu erfassen. Wer weiß, wie mein Zimmer aussieht, wird wahrscheinlich irgendetwas von „Überkompensierung“ murmeln. Sei‘s drum. Vielleicht steht auch die Neugierde dahinter, solche Fragen wie „Wie oft gehe ich ins Kino?“, „Wie viele Kinosäle lerne ich neu kennen?“, „Wie viele DVDs sehe ich?“ und „Wie groß ist der statistische Anteil an Stummfilmen in meinen Filmsichtungen?“ nicht nur rhetorisch zu stellen.
2012 habe ich 399 Filme gesehen. Alpha und Omega bildeten Viscontis SENSO und Powells PEEPING TOM. 340 der Filme waren Neusichtungen, das sind nicht ganz 90 %. Insgesamt 90 Filme (also über ein Fünftel) habe ich im Kino geschaut. Von diesen wiederum waren 42 Stück aktuelle Filme, Premieren und Vorschauen.

Vado ad cinematographico
Ob 90 Filme im Kino in einem Jahr nicht etwas teuer sind? Nicht, wenn man in mehr als die Hälfte (52 um genau zu sein) kostenlos reingekommen ist.
Dazu gehören zunächst alle Besuche bei Filmfestivals, in meinem Fall dem go East Festival in Wiesbaden, der Viennale und dem Weimarer trekoulor-Festival. Mit einem charmanten Lächeln und einer Presseakkreditierung ausgestattet, konnte ich auf diese Weise 44 Filme in neun verschiedenen Kino-Locations sehen.
Zu meinen kostenlosen Kinobesuchen gehören auch vier Pressevorführungen mit einem großartigen Film (SKYFALL), einem exzellenten Film (SHAME) und zwei dämlich-peinlich-schlechten Gurken (BLACK GOLD und TOTAL RECALL). Auch eine Aufführung von BRONENOSEC POTEMKIN mit Orchesterbegleitung im Deutschen Nationaltheater Weimar konnte ich dank Pressekarte erleben.

Eine kostenlose Vorstellung von Manfred Noas NATHAN DER WEISE gab es am 16. November im Weimarer mon ami-Kino im Rahmen des „Weimarer Rendez-vous mit der Geschichte“ – die befremdlichen antisemitischen Kommentare eines Senioren nach Ende des Films kamen als unerfreuliche und ärgerliche Zugabe ebenfalls kostenlos dazu. Je einen Film von Chaplin (EASY STREET) und Keaton (COPS) sah ich im Jenaer Haus auf der Mauer: Der Pianist Richard Siedhoff begleitete seine eigenen, selbst zusammen geschnittenen und vervollständigten 8-Millimeter-Fassungen. Als Werbeveranstaltung für das Magazin unique war der Eintritt kostenfrei, aber nicht umsonst. Last but not least hat mich der nette luzifus mit einer Freikarte in das Weimarer Cinemagnum zu THE DARKEST HOUR eingeladen.
So kommt man als Cinephiler auch kostenlos an seinen Filmgenuss. Aber keine Angst: einerseits wurden durch Fahrt- und teilweise auch Übernachtungskosten diese Gewinne wieder gut ausgeglichen, andererseits habe ich zur Mehrheit dieser Filme auch Artikel verfasst – und die schreiben sich bekanntlich nicht von alleine. Für den Rest habe ich wie alle anderen Normalsterblichen bezahlt: zwischen vier Euro Ermäßigungs-Flatrate im mon ami-Kino und rekordverdächtigen 12,80 Euro für einen 3D-Film mit Überlänge an einem Samstag-Abend im CineStar Weimar (HUGO) – die 3D-Brille natürlich noch nicht mit eingerechnet...

18 Kino-Locations
Lichthaus-Kino im Straßenbahndepot Weimar: 26
Kino mon ami Weimar: 12
Caligari FilmBühne Wiesbaden: 9
Apollo-Kinocenter Wiesbaden: 8
Gartenbaukino Wien: 6
CineStar Weimar: 4
Filmmuseum Wien: 4
Metro-Kino Wien: 4
Murnau-Filmtheater im Deutschen Filmhaus Wiesbaden: 4
Café Wagner Jena (35-Millimeter-Projektion): 2
CineStar Leipzig: 2
Haus auf der Mauer Jena (8-Millimeter-Projektion): 2
Passage-Kino Leipzig: 2
Cinemagnum 3D-Kino Weimar: 1
Congress Centrum Neue Weimarhalle (35-Millimeter-Projektion): 1
Deutsches Nationaltheater und Staatskapelle Weimar (Stummfilm-Aufführung mit Orchester): 1
Stadtkino Wien: 1
Weimarhallenpark (Open Air-Kino): 1

Das perfekte Kino zu finden ist nahezu unmöglich.
Der prunkvolle Saal der Caligari FilmBühne in Wiesbaden hat eine Sitzbequemlichkeit und eine Beinfreiheit, die als fürstlich, nein geradezu als kaiserlich zu bezeichnen ist. Die Leiste zum Abstellen der Getränke („Caligaris Bierrampe“) ist eine tolle Idee. Und doch: die Leinwand ist gerade groß genug, wenn man ganz vorne sitzt, die Getränkepreise sind völlig horrend und zu den Toiletten muss man gefühlte 100 Treppenstufen steigen. Trotzdem ist die Caligari FilmBühne das wohl beeindruckendste Kino, das ich 2012 kennen gelernt habe. Zumal der allererste hier jemals gezeigte Film... Murnaus FAUST war!
Ein großer Favorit ist und bleibt das Lichthaus, mit seiner kleinen Lounge, seinem heruntergekommenen Charme, seinen immer wieder wechselnden und gut bezahlbaren Angeboten an „exotischen“ Bieren, seinem exklusiven Stummfilm-Programm... Kern ist nach wie vor die Urigkeit von Saal 1 mit seinen Sofas und Sesseln, die wie vom Sperrmüll aufgelesen aussehen (weil sie es wahrscheinlich sind): individueller Sitzkomfort für jeden einzelnen Zuschauer! Aus dreier solcher Reihen (die klassischen Kino-Sitzreihen dahinter beachte ich nicht) wurden kürzlich zwei gemacht, und damit die Beinfreiheit in der zweiten und von mir bevorzugten Reihe erhöht. Das liegt hoffentlich nicht an Einbussen – zum Beispiel MOONRISE KINGDOM war gerade hier ein fulminanter und im wörtlichen Sinne heißer Hit –, sondern am Anbau eines zusätzlichen Kinosaals: Saal 3, den ich zum leicht enttäuschenden WE NEED TO TALK ABOUT KEVIN in seiner provisorischen Form und Lage kennen gelernt habe. Ein kleiner Minuspunkt ist jedoch die weiterhin eklatante Unterrepräsentation von OV-Aufführungen, die nur selten durchbrochen wird... Cine-Wüste Thüringen halt.
Cinematographische Primzahl
Für Stummfilme ist der Saal 1 jedoch unschlagbar – 2012 sah ich hier acht Stück: METROPOLIS (zwei Mal), DER LETZTE MANN, VARIETÉ, FAUST – EINE DEUTSCHE VOLKSSAGE, FRAU IM MOND, GEFAHREN DER BRAUTZEIT, GENERAL‘NAJA LINIJA und SPIONE. Dabei ist es bezeichnend für mich, dass ich in diesem Jahr drei 3D-Filme gesehen habe (THE DARKEST HOUR, HUGO, THE PIRATES), jedoch insgesamt 51 Stummfilme (knapp ein Achtel aller Sichtungen) .

Dass ich als Mensch gelegentlich zu Einzelgängertum neige, färbt sich auch auf meine Art des Kinobesuchs. Dieser war
alleine: 40 X
in Begleitung von
1 Person: 32 X
2 Personen: 11 X
3 Personen: 3 X
5 Personen: 1 X
6 Personen: 1 X
Bei zwei der von mir in Kino-Aufführung gesichteten Filme war ich hingegen Co-Organisator (und daher weder „alleine“ noch „begleitet“ im klassischen Sinne).

Kino alleine oder in Begleitung?
Beides hat Vorteile und Nachteile. Mit einer oder mehreren Personen, die man im Idealfall gut leiden kann, etwas zu unternehmen, ist an sich erfreulich. Zusätzlich kann man sich unterhalten, bevor der Film beginnt (ein Vorteil, wenn der Film zu spät startet). Oder man kann sich noch während der Vorstellung des Gefühls vergewissern, im falschen Film gelandet zu sein, oder bei Toilettengängen gegenseitig auf Jacken, Taschen und Getränke aufpassen oder Kekstüten, die für eine Person zu groß sind, gemeinschaftlich leer futtern. Man kann nach der Vorstellung in Gesellschaft essen, trinken und den Film diskutieren.
Jedoch neigt manch Kinobegleiter dazu, Geräusche zu machen: etwa mit geschmuggelten Chipstüten oder mit dem nervösen Tick, die Filmmusik mittels rhythmischen Klopfens auf einer Flasche zu unterstützen. Größere Gruppen haben auch ochlokratische Neigungen und setzen sich aller Vernunft zum Trotz viel zu weit hinten im Kinosaal.
Ebenso sei hier auf das Meditative, ja fast Kontemplative, aber auch sehr Intime der Filmrezeption verwiesen...
Vielleicht sollte man folgende Regel aufstellen: je „anspruchsvoller“ der Film ist, desto alleiner sollte man ihn schauen. Doch was bedeutet schon „anspruchsvoll“? Tarr Belás A TORINÓI LÓ alleine zu schauen und im Anschluss etwas verwirrt, verstört und in persönlichen Gedanken versunken durch Weimar zu spazieren war genau so richtig, wie THE EXPENDABLES 2 in Begleitung von fünf Kollegen zu sehen: im Anschluss wurde bei einem Bier in aller Ausführlichkeit das bestmögliche Casting für THE EXPENDABLES 3 besprochen. Eine der Erkenntnisse: Michael Dudikoff und Lorenzo Lamas dürfen nicht fehlen!

Bleiben immer noch die restlichen Dreiviertel der Filme, die ich in folgenden Formaten gesehen habe:
DVD:240 (≈ 60 %)
gWdsgI:54 (≈ 14 %)
TV-Ausstrahlung:15 (≈ 4 %)

Scribo ergo sum oder: Cinephilie funktioniert wie Heroinsucht!
Das einzige Mittel gegen das Virus des Films ist: mehr Film. Die Vorteile liegen auf der Hand: auf die Dauer ist Cinephilie weniger teuer als Toxikomanie, sie ist sozial etwas verträglicher, und eine Überdosis führt nicht zum Tod, sondern höchstens zu Müdigkeit, Sekundenschlaf-Attacken und Schlaf.
Seit April 2012 fungiert luzifus als mein größter DVD-Dealer, der mich regelmäßig versorgt: sowohl die Qualität der Filme selbst als auch die Präsentationsform sind großen Schwankungen unterworfen. Vom Meisterwerk bis zur fast körperlich schmerzhaften Gurke, von wundervollen, üppigen DVD-Boxen bis zum miserablen Screener in schlechter Qualität und mit bildfüllenden Wasserzeichen war alles dabei. Meine Gegenleistung: zu jedem Film eine Besprechung schreiben, die je nach Rubrik zwischen 1.500 und 7.000 Zeichen schwankt und irgendwann bei multimania. Das Magazin für zeitgenössische multimediale Kultur veröffentlicht wird (oder auch nicht).
Insgesamt habe ich 2012 147 Filme gesehen (global also etwa 37 %), die ich im weitesten Sinne besprochen habe – vom häufigsten Format der 1.500-Zeichen-Kurzrezension bis hin zur ausführlichen 25.000-Zeichen-Besprechung, von einer konzentrierten Abhandlung bis zu einem peripherem Kommentar in einem Sammeltext.

Zur Herkunft, nach Häufigkeit geordnet
211: USA
28: Frankreich
26: Deutschland (ausgehendes Kaiserreich und Weimarer Republik)
18: Deutschland (alte und neue Bundesrepublik)
17: UK
12: Italien, UdSSR
7: Polen
6: Hongkong, Kanada, Russland
4: SFR Jugoslawien
3: ČSSR, Japan, Korea (Süd), Neuseeland, Spanien, Ungarn
2: Belgien, Dänemark, Serbien
1: Argentinien, Australien, Brasilien, Bulgarien, China, Deutschland (DDR), Finnland, Griechenland, Kazachstan, Kosovo, Kuba, Mexiko, Niederlande, Norwegen, Österreich, Philippinen, Schweden, Schweiz, Slowenien, Tschechische Republik, Ukraine, Uzbekistan


Ein Amerikaner namens David
Der aufmerksame Leser wird gemerkt haben, dass US-amerikanische Werke die Mehrheit der Filme bildet, die ich gesehen habe. In der Tat gehen einige meiner größten Entdeckungen des Jahres auf die USA zurück. Darunter finden sich Werke von Regisseuren, die mir bis dahin entweder unbekannt oder sehr wenig vertraut gewesen sind: Gregg Araki, Budd Boetticher, Charles Chaplin, Roger Corman, Samuel Fuller, Elia Kazan, Fritz Lang, Joseph Lewis, Anthony Mann, Otto Preminger, Nicholas Ray, Robert Siodmak, Jacques Tourneur, Orson Welles.
Meine relative Vernachlässigung des ostasiatischen Raums ist im Gegenzug nach wie vor sträflich und wird mir immer wieder – dankenswerterweise! – durch Manfred Polak in Erinnerung gerufen, wenn er eine Besprechung zu einem japanischen Film veröffentlicht. Noch viel sträflicher ist die völlige Abwesenheit des afrikanischen Kinos: widerspiegelt dies vielleicht die Veröffentlichungspolitik deutscher (westeuropäischer) Filmverleihe? Bin ich selbst gegenüber den spärlichen Angeboten blind? Ich hoffe, dass diese Kinoregion, die ich in den Jahren zuvor zumindest bruchstückhaft kennen gelernt habe, bei mir 2013 nicht leer ausgehen wird.
Besser vertreten ist hingegen das osteuropäische Kino, dessen Qualitäten ich immer wieder verteidigen werde! Dies hat mir mein erstmaliger (und hoffentlich nicht letzter) Besuch beim go East Festival Wiesbaden vollends bestätigt.
Lateinamerika und Skandinavien sind wiederum selten in meinen diesjährigen Sichtungen vertreten. Zumindest aber ersteres taucht ein Mal (im weitesten Sinne sogar zwei Mal) in meiner aktuellen Top-10-Liste auf.

Zum Erscheinungsjahr, nach Häufigkeit geordnet und in Jahrzehnten gruppiert
772010er Jahre
621950er Jahre
542000er Jahre
481940er Jahre
411920er Jahre
311990er Jahre
271960er Jahre
191970er Jahre
191980er Jahre
111930er Jahre
81910er Jahre
21900er Jahre

Die starke bis sehr starke Überrepräsentation von Filmen der 1920er, 1940er und 1950er Jahre ist teilweise (aber keineswegs absolut) eine Erklärung dafür, dass knapp 41 % aller 2012 gesehenen Filme schwarz-weiß waren, nämlich 163 Stück!

Du sitzt also den ganzen Tag im Kino und schaust einen Film nach dem anderen? ...
... fragte mich etwas ungläubig die Mitbewohnerin meines Gastgebers bei der Viennale. Manche Menschen denken, dass es eine Verschwendung sei, seine Zeit mit Filmen zu verbringen. Mir fallen hingegen Hunderte Dinge ein, mit denen man seine Zeit noch sinnloser vergeuden kann (z. B. Joggen, eine Dorfdisco besuchen, Fußball gucken, Gesichts-Buchen und vieles mehr).
Zur Ehrung dieser netten jungen Dame, die mir trotz großer Zweifel an meiner geistigen Gesundheit liebenswürdigerweise einen Pausen-Apfel mitgab...

Der filmreichste Tag des Jahres: Samstag, 21. April, oder: ein typischer Filmfestival-Tag
An diesem Tag habe ich beim go East Festival zehn Filme in sechs Filmblöcken geschaut. Auch qualitativ erwies sich der Tag als außergewöhnlich.
1. Filmblock – DEDUNA, russ.: SVETLJAČKI (Dato Janelidze, UdSSR 1987): Vom Alltag eines kleinen Mädchens in einem georgischen Bergdorf. Filmpoesie in Reinform.
2. Filmblock – GRATINIRANI MOZAK PUPILIJE FERKEVERK / ZDRAVI LJUDI ZA RAZONODU / O LJUBAVNIM VEŠTINAMA ILI FILM SA 14441 KVADRATOM / NEDOSTAJE MI SONJA HENI (Karpo Godina, Jugoslawien 1970-1972): Vier formal strenge, aber wundersame Experimental-Kurzfilme aus dem Lande Titos.
3. Filmblock – GOMARËT E KUFIRIT (Jeton Ahmetaj, Kosovo 2010): Der erste von und in der unabhängigen Republik Kosovo produzierte Film handelt von absurd-komischen jugoslawisch-albanischen Grenzstreitigkeiten, in denen unter anderem ein der Spionage verdächtiger Esel (der titelgebende „Grenzesel“) eine Rolle spielt.
4. Filmblock – FABRIKA / BLOKADA (Sergej Loznica, Russland 2004-05): Zwei sehr unterschiedliche Experimentaldokus – ein faszinierender, meditativer Blick in eine russische Metall-Fabrik und eine grundlegend misslungene Soundcollage zu historischen Bildern der Leningrader Blockade.
5. Filmblock – GAAMER (Oleg Sencov, Ukraine 2011): Wenig beeindruckende psychologische Studie eines jugendlichen Spielsüchtigen.
6. Filmblock – PRAKTIČNI VODIĆ KROZ BEOGRAD SA PEVANJEM I PLAKANJEM (Bojan Vuletić, Serbien/Deutschland/Frankreich/Ungarn/Kroatien 2011): Wunderbare romantische Komödie der etwas anderen Art, die nicht umsonst drei Mal frenetischen Applaus vom Publikum erhielt.


Robert, Roman, Buster & Charlie
Manch ein Regisseur ist mir 2012 genug oft begegnet, um die Sichtungen im Rückblick zu fragmentarischen Werk-Retrospektiven erklären zu können – inklusive persönlicher Rangliste mit Wertungen.

Robert Siodmak
Den gebürtigen Dresdener lernte ich mit THE KILLERS im Rahmen meiner film noir-Retrospektive kennen, die unser aller liebster deutsch-französischer Sender im Januar ausgelöst hatte. Möglicherweise war es vollkommen beknackte Synchro, die sich wie ein hässlicher kakophonischer Schleier über den ganzen Film legte, die meine Begeisterungsstürme in Grenzen hielt. Doch Siodmak drehte vier Jahre später fast genau den selben Film (Überfall-Story mit femme fatale und Burt Lancaster) noch einmal, mit meiner Meinung nach erheblich größerem Erfolg. Dass er nicht nur noirs und freudianische Schocker drehen konnte, bewies er auch in einem „trivialen“, aber soliden Piraten-Abenteuer und in einem frühen Proto-Neorealismus/Proto-Nouvelle-Vague-Film.

1 CRISS CROSS, USA 1949, 5/5
2 THE SPIRAL STAIRCASE, USA 1946, 4,5/5
3 THE DARK MIRROR, USA 1946,4,5/5
4 MENSCHEN AM SONNTAG (Co-Regie mit Edgar G. Ulmer), Deutschland 1930, 4/5
5 THE FILE ON THELMA JORDON, USA 1950, 3,5/5
6 THE CRIMSON PIRATE, USA 1952, 3,5/5
7 THE KILLERS, USA 1946, 3/5

Roman Polański
Drei zu besprechende Rezensions-Exemplare (die polnische, die britische und die aktuellste Produktion) führten zu einer Ausleihe aus der Stadtbücherei (dem Shakespeare-Stoff) und zu einer im Vergleich zur Erstsichtung überaus erfreulichen Neuentdeckung des Neo-Noirs. Den Satanisten-Film gab es etwas früher unabhängig von den anderen. Fazit: „Polańskis Horrorfilm“ wird für mich von nun an immer REPULSION sein und der gute Mann sollte nie wieder Hörbuch-Adaptionen von Theaterstücken verfilmen.

1 NÓŻ W WODZIE, Polen 1962, 5/5
2 REPULSION, UK 1965, 5/5
3 CHINATOWN, USA 1974, 4,5/5
4 MACBETH, UK/USA 1971, 4/5
5 ROSEMARY‘S BABY, USA 1968, 3/5
6 CARNAGE, Frankreich/Deutschland/Polen/Spanien, 0/5

Buster Keaton
THE GENERAL blieb auch bei der zweiten Sichtung auf großer Leinwand und der vielleicht fünften oder sechsten insgesamt ein unschlagbares Filmerlebnis. Er zeugt vom visuellen Genie eines Mannes, dessen zeitgenössische Erfolglosigkeit vielleicht am ehesten durch seinen „trockenen“ und sogar „zynischen“ Humor erklärbar ist. Mit der Verschmelzung von Kino-Realität, Kino-Projektion und Traum in SHERLOCK JR. schuf er im wörtlichen Sinne todesmutig etwas, was man heute wohl als postmoderne Reflexion über das Medium Film bezeichnen würde. Selbst seine Filme, die an laschen Drehbüchern leiden, weisen eine visuelle Phantasie auf, die mir persönlich bei einem gewissen schnurrbärtigen Zeitgenossen etwas fehlt: genannt sei eine Point-Of-View-Kamerafahrt aus der Perspektive eines wütenden Bullen (in GO WEST wohlgemerkt, nicht in COPS), die möglicherweise Eisenstein zu einer Sex-Szene in GENERAL‘NAJA LINIJA inspirierte.

1 THE GENERAL, USA 1926, 5/5
2 SHERLOCK JR., USA 1924, 5/5
3 STEAMBOAT BILL JR., USA 1928, 4,5/5
4 COPS, USA 1922, 4,5/5
5 OUR HOSPITALITY, USA 1923, 4/5
6 THREE AGES, USA 1923, 3,5/5
7 THE NAVIGATOR, USA 1924, 3,5/5
8 GO WEST, USA 1925, 3,5/5
9 COLLEGE, USA 1927, 3/5

Charles Chaplin
Wenn wir den Keaton-Chaplin-Dualismus als existierend anerkennen mögen, dann bin ich definitiv ein Keaton-ist! Dafür gibt es mehrere Gründe. Chaplin filmt keine Drehbücher, sondern reiht oft nur Gags und Kurz-Sequenzen aneinander, die für sich genommen manchmal ganz nett sind (und manchmal eben nicht), zur Summe addiert jedoch kein sinnvolles Ganzes ergeben: als hätte er beliebige Szenen beliebig und vor allem ohne dramaturgischen Rhythmus montiert. Gerade bei MODERN TIMES, CITY LIGHTS und THE GOLD RUSH wurde ich das Gefühl nicht los, dass diese Filme ebenso gut vierzig Minuten länger hätten sein können... oder eben vierzig Minuten kürzer: was freilich nichts an der großartigen Schönheit (die Einführung des Blumenmädchens in CITY LIGHTS) oder überaus erquicklichen Komik einzelner Sequenzen (der Tramp experimentiert mit Kokain in MODERN TIMES) ändert. Doch selbst der Kurzfilm THE IMMIGRANT fühlt sich wie zwei willkürlich aneinander geklatschte Episoden an (was er tatsächlich auch war!). THE CIRCUS scheint mir eine Ausnahme zu sein: ein starkes und stringentes Drehbuch, das nicht in lose Einzelteilchen zerfällt, wird verknüpft mit einer visuell ausdrucksstarken Bildgestaltung, die so konsistent ist wie in keinem anderen Werk Chaplins. Ironischerweise fühlte sich THE CIRCUS ein bisschen wie ein Film von Buster Keaton an... und teilt sich nun mit THE GREAT DICTATOR, dem einzigen Chaplin-Film, den ich vor 2012 kannte, das erste Treppchen auf meinem Chaplin-Podest.

1 THE CIRCUS, USA 1928, 5/5
2 THE IMMIGRANT, USA 1917, 4/5
3 EASY STREET, USA 1917, 3,5/5
4 MODERN TIMES, USA 1936, 3/5
5 CITY LIGHTS, USA 1931, 3/5
6 THE GOLD RUSH, USA 1925, 2,5/5


Die Top-10-Liste der aktuellen Kino-Filme 2012
Das Kerngeschäft bei „Whoknows Presents“ liegt seit jeher nicht bei aktuellen Kinoproduktionen. Trotzdem folgt hier, zwecks Vollständigkeit, meine persönliche Top-Ten der aktuellen Filme (deutscher Kinostart bzw. Kino-Uraufführung bzw. Direct-to-Video-Auswertung im Jahre 2012).

001
PRAKTIČNI VODIĆ KROZ BEOGRAD SA PEVANJEM I PLAKANJEM (Reiseführer durch Belgrad mit Singen und Weinen), Bojan Vuletić, Serbien/Deutschland/Frankreich/Ungarn/Kroatien 2011
Vier Paare mit jeweils einem Belgrader und einem nicht-serbischen Partner erleben die Freuden und Mühen der Liebe mit Alkohol, Autoverfolgungsjagden und S&M-Spielchen.
Bojan Vuletićs Debütfilm ist eine herrliche Dekonstruktion der Rom-Com als verspielte Experimental-Agitprop für den Beitritt Serbiens zur EU. Wunderbar vergnüglich und vergnüglich wunderbar entfaltet sich ein Werk von einer unbändigen Energie, das Genre-Unterhaltung und hoher cinematographischer Anspruch verknüpft. Wir dürfen alle hoffen, dass in der westeuropäischen und angelsächsichen Hemisphäre sich irgendein Filmverleih findet, das bereit ist, diese Perle von einem Film unter mehr Leute zu bringen!

002
SKYFALL, Sam Mendes, UK/USA 2012
Ein britischer Geheimagent wird wieder mal auf die Welt losgelassen und erlebt Abenteuer, die ihn in den (provisorischen) Tod, in die Vergangenheit und in ödipale Neurosen führen.
Ein Mann wird von einer Menge dazu angefeuert, ein Glas Whiskey zu trinken. Auf der Hand, die das Getränk hält, krabbelt ein sichtlich gereizter Skorpion. Unser Held zögert kurz, trinkt auf ex und stellt Gefäß und Arachnidum wieder ab. Dies, aber auch die restlichen 142 Minuten des Films erlauben diesem, neben THE SPY WHO LOVED ME und YOU ONLY LIVE TWICE, sowohl auf dem Podest meiner Lieblings-Bond-Filme aller Zeiten wie auch auf diesem Jahres-Podest zu kuscheln.

003
KILLER JOE, William Friedkin, USA 2011
Der Mordkomplott einer Trailer-Trash-Familie läuft außer Kontrolle, als der beauftragte Profikiller mit der Tochter anfängt anzubandeln.
In Wien verpasst, bei der Direct-to-DVD-Auswertung in Deutschland nachgeholt... Das Versprechen des deutschen Covers (Action-Thriller) führt noch mehr in die Irre als die Tag-Line des Original-Plakats: „A totally twisted deep-fried Texas redneck trailer park murder story“. Vielmehr ist KILLER JOE eine völlig irrsinnige Groteske, ein schockierendes Prinzessinnen-Märchen, das sich offen und hemmungslos in seinem abstoßenden Sadismus und seiner abartigen Lüsternheit suhlt und zugleich ein hysterisch-komischer Abgesang auf den Amerikanischen Traum, dessen heftige Lacher einem manchmal (ja: wie ein Hähnchen-Schenkel) im Hals stecken bleibt... Und ein großartiges Ensemble-Stück, aus dem freilich Matthew McConaughey mit seiner vollkommen wahnsinnigen und Oscar-reifen Darstellung am überraschendsten hervorsticht!

004
A TORINÓI LÓ (Das Turiner Pferd), Tarr Belá/Hranitzky Ágnes, Ungarn/Frankreich/Deutschland/Schweiz/USA 2011
Ein Kutscher, seine Tochter und ihr Pferd erleben die letzten Tage vor dem windig angekündigten Weltuntergang.
Eine Abfolge von hypnotischen, minutenlangen und präzise choreographierten Plansequenzen baut mit Víg Mihálys Cello-Musik eine unheimliche Bedrohungskulisse auf, die für über zwei Stunden aufrechterhalten wird. Tarrs letzter Film (so angekündigt) ist ein herausforderndes, sehr extremes, aber letztlich auch sehr lohnendes Kino-Erlebnis.

005
COSMOPOLIS, David Cronenberg, Kanada/Frankreich/Portugal/Italien 2012
Ein Börsenmakler-Yuppie lässt sich mit seiner Limousine zu seinem Friseur chauffieren. Dabei läuft einiges schief.
Nach drei konsternierend schlechten Filmen (der „Viggo-Mortensen-Trilogie des Grauens“), kehrt David Cronenberg wieder zu ganz großer Form zurück. Aspekte des im vorangehenden Mainstream-und-Ödnis-Gesuhle verloren geglaubten „Body Horrors“ kehren leicht verzerrt zurück, verknüpft mit einer Hauptfigur, die in ihrer absurden Odyssee etwas an Pavel Čičikov erinnert: kryptische Dialoge reihen sich aneinander, gerahmt von kryptischen Handlungen. Diese sollte man vielleicht trotz vieler sozialer Implikationen am besten jenseits gesellschaftlicher Rahmenbedingungen rezipieren, als reines „l‘art pour l‘art“ – wie die Prosa des Nikolaj Gogol‘.

006
MONEYBALL (Die Kunst zu gewinnen – Moneyball), Bennett Miller, USA 2011
Ein frustrierter Trainer und ein Wirtschafts-Mathe-Nerd stellen mit Hilfe von Statistiken die beste Baseball-Mannschaft des Jahres zusammen.
Bennett Millers drittes Werk ist der ultimative Film für intellektuelle Sportmuffel, da es sich nicht um einen richtigen Sport- oder Baseball-Film handelt: Weg mit Sportler-Kitsch, Champion-Märchen, und epischen Endspielen, her mit Mathematiker-Nüchternheit, Wirtschafts-Nerd-Berechnungen und Stochastik-basierten Kulissen-Gesprächen! Der Höhepunkt des Films ist daher kein Baseball-Spiel (von denen sieht man sowieso kaum etwas), sondern ein telefonisches Konferenz-Gespräch, bei dem ein desillusionierter Trainer und ein Yale-Absolvent über Sieg und Niederlage entscheiden.

007
MEDIANERAS, Gustavo Taretto, Argentinien/Spanien/Deutschland 2011
Ein junger Mann und eine junge Frau suchen in Buenos Aires die große Liebe und merken dabei gar nicht, dass sie nebeneinander aneinander vorbei leben.
Eine romantische Komödie zeigt normalerweise, wie sich ein Paar kennenlernt, zunächst nicht versteht, dann zusammenkommt, dann Konflikte meistern muss und schließlich doch „happy ever after“ lebt. In seinem ersten abendfüllenden Film zeigt Gustavo Taretto hingegen den Prolog dazu: den parallel verlaufenden Lebensalltag zweier Personen, die sich erst ganz am Schluss überhaupt begegnen. Eine äußerst fruchtbare Idee, die zwischen leichter Komödie und sowjetisch anmutenden Montage-Sequenzen nebenbei auch die Stadt Buenos Aires portraitiert. Als experimentelle Rom-Com die perfekte Ergänzung zur Nummer eins der Liste.

008
CHICO & RITA, Tono Errando/Javier Mariscal/Fernando Trueba, Spanien/UK 2010
Ein kubanischer Pianist teilt eine Nacht und einen Musikhit mit einer Sängerin, die daraufhin sehr viel erfolgreicher als er Karriere in den USA macht.
Ein Animationsfilm, der Jazz-, Latin-Music-, Musical-, Melodrama- und Kuba-Liebhaber gleichermaßen erfreuen dürfte: seelische Konflikte, Abwägungen zwischen Kunst und Kommerz, Milieu-Studien, Liebesgeschichten und Musik bringen die warmen gezeichneten Bilder auf wunderbare Weise nahe. CHICO & RITA ist wahrscheinlich der schönste „kleine“ Film, der (erst) 2012 in Deutschland zu sehen war.

009
THE EXPENDABLES 2, Simon West, USA 2012
Einige alte Männer brechen auf, um einige Bösewichter wegzurotzen.
In einem bestimmten Moment gegen Ende des Films wird eine Milchglasscheibe zerschossen. Sie bricht zusammen und offenbart 188 Jahre geballter Actionkraft: Sly, Arnie und Bruce ballern sich, nebeneinander stehend, ihren Weg frei! Natürlich hat man auf diesen Moment die ganze Zeit gewartet. Aber auch bis dahin bekam man eine blutig-schmackhafte Schlachtplatte mit einer Portion Ironie, einem Klecks Selbstreferentialität und einer vollhumorigen Sättigungsbeilage serviert, die besser mundete als der erste Menü-Teil. Was nicht so glücklich verlief: eine Kobra biss Chuck Norris, und nach fünf Tagen voller Schmerzen und Agonie... starb die Kobra.

010
THE DARKEST HOUR, Chris Gorak, USA 2011
Zwei verblödete Yuppies und einige extrem dämliche Party-Touristinnen wehren in Moskau eine Invasion elektromagnetischer Aliens ab.
Dieser wackere Bewerber um einen Platz in der Flop-Liste scheiterte letztlich in diesem Bestreben, weil er sich als herrliches SciFi-Trash-Vehikel entpuppt hat. Kein Wunder, dass der 3D-Blödsinn in dem Moment weitestgehend weggelassen wird, als es mit dem Tohuwabohu richtig losgeht. Und wenn gerade keine nonchalant spannende und effizient inszenierte Action-Sequenz läuft, kann man sich über die irrsinnigen Filmfehler (Faradayischer Käfig für Dummies) und sonstige Dämlichkeiten köstlich amüsieren – zwar unfreiwillig, aber köstliches Amüsement bleibt köstliches Amüsement! Und von der gekonnten Inszenierung des Raumes (ein komplett menschenleeres Moskau) durch Chris Gorak hätte Fledermaus-Chris was lernen können.

À propos Fledermäuse...
Wer Top sagt, muss auch Flop sagen können:

1 zerschnittene Gurke
THE DARK KNIGHT RISES, Christopher Nolan, USA/UK 2012
Ein Ex-Vigilant mit Hinkebein holt sein Fledermaus-Gummikostüm aus der Mottenkiste und macht sich daran, einen bösen Bodybuilder mit komischer Maske und einer Kehlkopf-Krankheit zu schnappen.
Ein einstündiger Film mit einem unnötigen und dämlichen 90-Minuten-Prolog, der dem Zuschauer fünf Mal das bisher Geschehene wiederkäut und in den Rachen stopft... mit unfassbar dilettantisch gefilmten Action-Szenen... mit unzähligen unnötigen Figuren (unter anderem eine Frau mit einem Katzen-S&M-Fetisch)... mit einem so unsubtilen wie unentschlossenen Subtext... gefilmt von einem Regisseur, der trotz enormer Budget-Ausgaben für das Setdesign scheinbar noch nie in seinem Leben etwas von „deep focus photography“ gehört hat – soll das Blockbuster-Kinoereignis des Sommers gewesen sein?

2 Joghurt
TOTAL RECALL, Len Wiseman, USA/Kanada 2012
Ein langweiliger Hänfling mit zu wenig Phantasie will sich Urlaubersatz-Erinnerungen ins Gehirn implantieren lassen. Plötzlich verfolgen ihn seine Frau und andere unangenehme Erscheinungen und wollen ihn töten.
Ein typischer „Der-alte-Film-bringts-nicht-mehr-aber-wir-sind-so-geil-und-machen-‘n-neueren-und-besseren-Film-und-sahnen-nebenbei-schön-ab“-Remake: die sind meistens fürchterlich. Da freut es einen riesig, wenn das mit dem Absahnen nicht geklappt hat. Das lag hoffentlich auch am mangelnden Talent von so ziemlich allen Beteiligten: Regisseur, Drehbuchautor, Kameramann, Cutter, Darsteller... Ob der Setdesigner talentiert ist, kann man nur schwer sagen, denn „deep focus photography“ und „establishing shots“ sind hier Fremdwörter. Ob die Action-Sequenzen gut sind, ist ebenso schwierig zu sagen: dazu wackelt die Kamera zu stark und offenbar wurde der ohnehin unfähige Cutter nicht stundenweise, sondern im Akkord bezahlt.

3 Salz & Pfeffer
WILLIAM BURROUGHS: A MAN WITHIN, Yoni Leyser, USA 2010
Ein junger Dokumentarfilm-Regisseur, der sich für unglaublich hip hält, interviewt ein paar aufmerksamkeitsbedürftige Promis und montiert dieses Material mit Stopmotion-Arbeiten aus dem Kinderg... ersten Semester und Wochenschau-Clips aus Yout... Filmarchiven.
Falls sich jemand ob der Synopsis im Kontrast zum Titel wundert: ja, es soll im Film eigentlich um den Beat-Poeten und Kult-Schriftsteller William Burroughs gehen! Stattdessen gibt es eine der unzähligen Dokus, die mangelnde Recherche über und fehlendes Verständnis für das Subjekt mit einem Schnittgewitter aus Promi-Interviews („ja, also damals bla-bla-blub-blub...“), Zeitkolorit-Clips („60er Jahre, ich sage jetzt einfach mal ‚Kubakrise‘ und fühl mich dabei klug“) und „impressionistischen“ Bildern („Bin ich ein geiler Künstler oder bin ich ein geiler Künstler?“) zu übertünchen versucht. Material und Informationen über das eigentliche Thema können bei dieser masturbatorischen Selbstdarstellung eigentlich nur stören.

4 Essig & Öl
BLACK GOLD, Jean-Jacques Annaud, Frankreich/Italien/Katar/Tunesien 2011
Ein arabischer Fürst übergibt seinen Sohn einem rivalisierenden Fürsten zur Erziehung. Wegen des Öls, der im Niemandsland zwischen ihren Territorien gefunden wird, gibt‘s später Zoff und der Milchbubi, der mittlerweile einen netten kleinen Milchbubi-Bart hat, mischt auch ein bisschen mit.
Kaum zu glauben, aber wahr: einer der interessantesten europäischen Regisseure der 1980er Jahre hat einen dämlichen Lawrence von Arabien-Verschnitt mit billigem CGI, lausigen Darstellern, einer „hippen“ Wackel-„Ästhetik“, lächerlicher Ethno-Musik mit gelegentlichen Maurice Jarre-Versätzen und Dialogen jenseits von Gut und Böse gedreht. Über 130 Minuten lang balancierte der Film zwischen unfreiwilliger, schreiender Komik und fast körperlich fühlbaren Schmerzen ob des unfassbaren Blödsinns.

...und fertig ist der Gurken-Salat!

Ein süßer Nachtisch gefällig?
JACK & JILL, Dennis Dugan, USA 2011
Adam Sandler (gespielt von Adam Sandler in einem Adam-Sandler-Kostüm) bekommt Besuch von seiner nervigen Zwillingsschwester (gespielt von Adam Sandler in Frauenkleidern) und ein Al Pacino am Rande des Nervenzusammenbruchs (gespielt von Al Pacino in verschiedenen Theater- und Alltagskostümen) verliebt sich in Adam Sandler (also in jene Fassung mit Frauenkleidern)...
Die große Befriedigung, die ich beim hemmungslosen redaktionellen Zerreissen dieses erbärmlichen Dings verspürte, war geradezu orgiastisch... und rechtfertigt eine privilegierte Sonderkategorie. Das Resultat: wahrscheinlich der beste Text, den ich 2012 geschrieben habe.


Die große und tolle und wunderbare Top-52-Liste
Nun folgt das emotionale Zentrum, der Kern dieses manisch-epischen Reiseführers: meine persönliche Bestenliste nicht-aktueller Filme, nach Präferenz geordnet. Die Regeln: es handelt sich ausschließlich um Neusichtungen (ich habe also keinen der gelisteten Filme vor dem Jahr 2012 je gesehen) und um Produktionen von vor 2011. Die Zahl 52 bietet sich als banale Zahl ohne besondere Eigenschaften an und steht am ehesten für die Anzahl der Wochen im Jahr...

1 THE AMAZING MR. X aka THE SPIRITUALIST, Bernard Vorhaus, USA 1948
2 DEDUNA [russ.: SVETLJAČKI], Dato Janelidze, UdSSR 1987
3 THE BIG COMBO, Joseph H. Lewis, USA 1955
4 JOHNNY GUITAR, Nicholas Ray, USA 1954
5 HANGOVER SQUARE, John Brahm, USA 1945
6 SUNRISE – A SONG OF TWO HUMANS, Friedrich Wilhelm Murnau, USA 1927
7 FAUST – EINE DEUTSCHE VOLKSSAGE, Friedrich Wilhelm Murnau, Deutschland 1926 
8 DETOUR, Edgar G. Ulmer, USA 1945
9 GENERAL‘NAJA LINIJA aka STAROE I NOVOE, Sergej Ėjzenštejn/Grigorij Aleksandrov, UdSSR 1929
10 DIE NIBELUNGEN, Fritz Lang, Deutschland 1924
11 THE LIVING END, Gregg Araki, USA 1992
12 THE INTRUDER aka SHAME aka I HATE YOUR GUTS!, Roger Corman, USA 1962
13 THE LADY FROM SHANGHAI, Orson Welles, USA 1947
14 VARIETÉ, Ewald André Dupont, Deutschland 1925
15 LE PLAISIR, Max Ophüls, Frankreich 1952
16 THE RED SHOES, Michael Powell/Emeric Pressburger, UK 1948
17 IMITATION OF LIFE, Douglas Sirk, USA 1959
18 YOU ONLY LIVE ONCE, Fritz Lang, USA 1937
19 FORTY GUNS, Samuel Fuller, USA 1957
20 ZDRAVI LJUDI ZA RAZONODU, Karpo Godina, Jugoslawien 1971
21 RIDE LONESOME, Budd Boetticher, USA 1959
22 THE LONG, HOT SUMMER, Martin Ritt, USA 1958
23 CHEMI BEBIA [russ.: MOJA BABUŠKA], Kote Mikaberidze, UdSSR 1929
24 SHERLOCK JR., Buster Keaton, USA 1924
25 POINT BLANK, John Boorman, USA 1967
26 SUSPIRIA, Dario Argento, Italien 1977
27 PSYCHO 2, Richard Franklin, USA 1983
28 FERRIS BUELLER‘S DAY OFF, John Hughes, USA 1986
29 KISS ME DEADLY, Robert Aldrich, USA 1955
30 SZEGÉNYLEGÉNYEK, Jancsó Miklós, Ungarn 1966
31 OBLOMOK IMPERII, Fridrich Ėrmler, UdSSR 1929
32 OUT OF THE PAST, Jacques Tourneur, USA 1947
33 CRISS CROSS, Robert Siodmak, USA 1949
34 AKAI TENSHI, Masumura Yasuzō, Japan 1966
35 ADVISE & CONSENT, Otto Preminger, USA 1962
36 KLADIVO NA CARODEJNICE, Otakar Vávra, ČSSR 1970
37 THE THIN RED LINE, Andrew Marton, USA 1964
38 IN A LONELY PLACE, Nicholas Ray, USA 1950
39 THE LONG GOODBYE, Robert Altman, USA 1973
40 DOUBLE INDEMNITY, Billy Wilder, USA 1944
41 BODY HEAT, Lawrence Kasdan, USA 1981
42 THE IRON HORSE, John Ford, USA 1924
43 BLOOD BEACH, Jeffrey Bloom, USA 1980
44 HEAVENLY CREATURES, Peter Jackson, Neuseeland/Deutschland 1994
45 LAWRENCE OF ARABIA, David Lean, UK/USA 1962
46 KONTO AUSGEGLICHEN, Franz Peter Wirth, BRD 1959
47 BOUDU SAUVÉ DES EAUX, Jean Renoir, Frankreich 1932
48 CAT PEOPLE, Jacques Tourneur, USA 1942
49 IM SCHATTEN DER MADE, John Bock, Deutschland 2010
50 MYSTERIOUS SKIN, Gregg Araki, USA/Niederlande 2004
51 THE BIG RED ONE, Samuel Fuller, USA 1980
52 THE STRANGE LOVE OF MARTHA IVERS, Lewis Milestone, USA 1946

Auch hier gilt: wer topt, muss auch floppen können.

Flop-Seven der nicht mehr ganz frischen Filme (chronologisch geordnet)
Knapp die Hälfte der Liste bilden Filme, die ich 2011 nicht gesehen und nun 2012 nachgeholt habe; könnte also einiges dafür sprechen, dass 2011 das schlechtere Kinojahr war...

1 DER GEISTERZUG, Rainer Wolffhardt, BRD 1957
2 LA COLLECTIONNEUSE, Eric Rohmer, Frankreich 1967
3 THE THIN RED LINE, Terrence Malick, USA 1998
4 BLACK SWAN, Darren Aronofsky, USA 2010
5 HOTEL LUX, Leander Haußmann, Deutschland 2011
6 CARNAGE, Roman Polański, Frankreich/Deutschland/Polen/Spanien 2011
7 THE IDES OF MARCH, George Clooney, USA 2011

Aber das traumatischste Filmerlebnis des Jahres war mit großer Wahrscheinlichkeit...
SUNRISE – A SONG OF TWO HUMANS: Eine „besondere“ Projektion mit einer „ganz“ „besonderen“ Live-„Musik“-„Begleitung“... oder wie ich lieber sage: SONNENUNTERGANG – EIN LIED VON ZWEI TÖLPELN
7. August, Tatort Kulturarena Jena: eine Projektion von Murnaus Meisterwerk wird von einem Schlagzeuger und einem DJ-Elektronik-Sampling-Typen „begleitet“, oder besser gesagt in elektroakustischem Müll mit brutalster Gewalt erstickt...
Wenn ich nach Metaphern suchen müsste, würde ich wohl irgendetwas von Folter-Session mit Schlagbohrer und Fleischerhaken oder lebendiger Vivisektion mit einem rostigen Suppenlöffel erzählen. Am unerträglichsten war diese nonchalante „Wir-peppen-den-ollen-Film-mal-n‘-bissel-auf“-Attitüde, die den (Un-)Geist solcher Veranstaltungen ausmachen: Konzerte, bei denen sich die Musiker selbst in den Mittelpunkt stellen und die Filmprojektion lediglich als Schmuckwerk dient. Eine ungeheure und argumentations-arme Respektlosigkeit gegenüber Filmkunst. Schockierend, grenzenlos empörend und traumatisierend bis heute.


Die Reihen und Entdeckungen des Jahres


Die düstere Seite Hollywoods
Der film noir oder der Anfang des modernen Kinos?
Auf die Frage, was eigentlich einen film noir ausmacht, kann es so viele Antworten geben wie... Zeichen in diesem Text. Ist es die barock-expressionistische Photographie? Dann müsste der visuell gemäßigt inszenierte THE BIG SLEEP wohl rausfallen. Ist es die verwirrte bis gar fast vollkommen unverständliche Geschichte? Der minimalistische DETOUR wäre dann wohl kein noir. Ist es die femme fatale? Dann zählt THE RECKLESS MOMENT mit seiner Hausfrau-Protagonistin wohl nicht dazu. Ist es die Darstellung einer Welt der Verzweiflung, des Misstrauens, der Paranoia, der triebhaften Begierde, der irrationalen Gewalt und der Todessehnsucht, in der es keine Zukunft, sondern nur eine unerträgliche Gegenwart und eine abscheuliche Vergangenheit gibt? Vielleicht. Ein Universum der existentiellen Angst, in der es keine Klarheiten, keine Sicherheiten, keine Antworten gibt. Möglich. Eine Umwelt, in der das unaufhaltsame Schicksal mahlt und aus guten Menschen Mörder macht. Auch... Die noirs sind jedenfalls Filme, in denen visueller Stil und ungewöhnliche Erwählweisen einer klassischen erzählerisch-dramaturgischen Kohärenz übergeordnet sind: das „wie“ siegt über das „was“.
Ein Double-Feature THE LADY FROM SHANGHAI/DOUBLE INDEMNITY am 16. Januar im Rahmen einer kurzweiligen noir-Reihe bei arte regte mich dazu an, in den nächsten Monaten möglichst viele Filme aus dieser spannenden Stilrichtung zu sehen. Darunter waren viele Meisterwerke, jedoch keine einzige Niete – höchstens mittelmäßig gute Filme. Am Schluss des Jahres zähle ich 43 klassische noirs, drei Proto-noirs und elf Neo-noirs. Eine Liste nach Präferenz soll hier dem Hinweis weichen, dass zwölf der ersten, zwei der zweiten und drei der dritten Kategorie in meiner Top-52-Liste zu finden sind.


Der geheimnisvolle Deutsche und der unbekannte Amerikaner
Fritz Lang jenseits von M und METROPOLIS

Es ist eine Schande, aber wahr: bis zu Beginn des Jahres 2012 hatte ich lediglich drei Filme Fritz Langs gesehen: M, METROPOLIS, und DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE. Nun sind es 21 Stück, und statt einer Spanne von sechs Jahren seines Schaffens überblicke ich nun (zumindest fragmentarisch) 40 Jahre der umfangreichen Filmografie.
Mehrere Faktoren haben zu häufigen Begegnungen mit diesem österreichisch-deutsch-amerikanischen Ausnahmeregisseur geführt: meine persönliche film-noir-Schau, die Retrospektive bei der Viennale, eine über mehrere Wochen ausgedehnte Reihe beim dritten französischen Fernsehen FR3, mehrere Aufführungen in Weimarer und Jenaer Kinos, eine zu Rezensionszwecken zur Verfügung stehende DVD... alle haben dazu beigetragen, dass Fritz Lang für mich zum meist gesehenen Regisseur des Jahres wurde... und gewissermaßen auch zu meinem persönlichen 2012er-Star.
Meine Grunderkenntnis, die ich schon kurz nach der Viennale geäußert habe, hat sich bestätigt: Abwägungen zwischen dem „deutschen“ und dem „amerikanischen“ Lang sind nicht gerechtfertigt! Oder einfacher ausgedrückt: Naserümpfen vor seinen amerikanischen Filmen ist genau so dämlich, wie sein frühes deutsches Schaffen unterschiedslos auf einen Podest zu stellen.
So hat mich ein Werk, in dem ein Meisterverbrecher Verwirrung und Chaos stiftet, sehr beeindruckt: die Rede ist hier vom relativ unbekannten SPIONE, während alle drei DR. MABUSE-Filme mich nur wenig überzeugt haben. Über den tollen YOU ONLY LIVE ONCE schrieb ich hier bereits. Sehr langsam, in einem klassischen Sinne fast völlig spannungslos, dafür umso unerbittlicher entwickelt sich SCARLET STREET, der sich als der (bislang) emotional verstörendste Film Langs entpuppt hat. Eher enttäuschend, da meiner Meinung nach nur „solide“, war das andernorts in den Himmel gelobte Plädoyer eines Österreichers zum verantwortungsvollen Kaffeegenuss: THE BIG HEAT. Die gerne als dümmlicher Kitsch verschrieene Indien-Dilogie punktete hingegen mit erstaunlich klaren und scharfen Farb-Bildern, die eine irreale, (alp)traumhafte Atmosphäre schufen... und natürlich auch mit „a costume that definitely pushes the envelope on 1950s movie dress codes“ (Tom Wiener, allmovie.com).
Eine dritte und vierte Sichtung von METROPOLIS waren mir diesmal wieder im Kino gegönnt. Bei der ersten Aufführung döste ich stellenweise fast weg (was auch an meiner Tagesform lag). Die zweite Aufführung drei Wochen später erwies sich als großartiges Kinoerlebnis. Der Pianist Richard Siedhoff spielte zwar den gleichen, selbst komponierten, äußerst düsteren Score, jedoch sehr viel ungestümer: die Musik verwandelte sich in entscheidenden Momenten von einer ohnehin exzellenten Begleitung in einen Katalysator, der die Emotionen der Bilder in einem völlig wahnsinnigen Ausmaß potenzierte (eine Kostprobe, die der tatsächlichen Live-Aufführung naturgemäß nicht gerecht werden kann, gibt es hier).

5/5
1 M, Deutschland 1931
2 METROPOLIS (Sichtung am 19. Februar), Deutschland 1927
3 DIE NIBELUNGEN, Deutschland 1924
4 YOU ONLY LIVE ONCE, USA 1937
– SCARLET STREET, USA 1945

4,5/5
6 FRAU IM MOND, Deutschland 1929
7 SPIONE, Deutschland 1928
8 MAN HUNT, USA 1941
9 HANGMEN ALSO DIE!, USA 1943
10 THE WOMAN IN THE WINDOW, USA 1944

4/5
11 METROPOLIS (Sichtung am 29. Januar), Deutschland 1927
12 DER TIGER VON ESCHNAPUR, BRD/Frankreich/Italien 1959
13 DAS INDISCHE GRABMAL, BRD/Frankreich/Italien 1959
14 HOUSE BY THE RIVER, USA 1950
15 DER MÜDE TOD, Deutschland 1921

3,5/5
16 THE BLUE GARDENIA, USA 1953
17 SECRET BEYOND THE DOOR, USA 1948

3/5
18 DAS TESTAMENT DES DR. MABUSE, Deutschland 1933
19 THE BIG HEAT, USA 1953
20 DR. MABUSE, DER SPIELER, Deutschland 1922

2,5/5
21 DIE 1000 AUGEN DES DR. MABUSE, BRD/Frankreich/Italien 1960

2/5
22 DAS WANDERNDE BILD, Deutschland 1920


Sex, Gewalt und Drogen mit Homos, Bis, Heteros... und Aliens
Gregg Araki: Queer-Ikone, Independent-Rebell, Kino-Visionär
Was wäre, wenn Jean-Luc Godard ein knapp drei Jahrzehnte jüngerer bisexueller japanisch-stämmiger Amerikaner wäre, der Filme über desillusionierte queere Jugendliche und Alien-Invasionen dreht? Die Antwort lautet: Gregg Araki. 
Als vielleicht radikalster und konsequentester Vertreter einer Independent-Filmbewegung, für die der Name „New Queer Cinema“ geprägt wurde, verteilte Gregg Araki seit Beginn der 1990er heftige cineastische Ohrfeigen an alle Homophoben, Konservativen und religiösen Extremisten in den USA. In seinem dritten Film THE LIVING END (seine ersten beiden gelten als quasi verschollen) weigern sich die beiden Homosexuellen Luke und Jon, einer homophoben Gesellschaft klein beizugeben und schlagen gegen diese bei einem Roadtrip mit aller Gewalt zurück. Zu Unrecht als „schwule Variante“ von THELMA & LOUISE abgetan, erinnert Arakis Film mit seiner rohen, ungezügelten und explosiven Energie eher an Godards À BOUT DE SOUFFLE.
In dieser rohen Energie liegt auch der Reiz von Arakis Werk. Alleine sein thematischer Mut würde ihn zu einem beachtenswerten Regisseur machen. Doch es ist die besondere Ästhetik seiner Filme, die ihn einzigartig macht und den Begriff „Visionär“ rechtfertigt: der fragmentierte Erzählstil, die extremen subjektiven Perspektiven seiner Protagonisten (oft an der Grenze zum Voyeuristischen), der zutiefst schwarze Humor deren Lacher oft im Halse stecken bleiben, die exaltierte Farbdramaturgie mit ihren extremen Übersättigungen. Nicht zuletzt pflegt der Regisseur eine Motivik, die wohl als „Araki-Raum“ bezeichnet werden könnte: weitwinklig fotografierte Totale mit bizarren Setdesigns, in denen sich die Figuren in ihrer Einsamkeit verlieren.
Araki ist ein ungezügelter amerikanischen Independent, der vieles von jenen Sachen, die uns heutzutage gerne als „Indie“ verkauft werden, blass aussehen lässt...

1 THE LIVING END, USA 1992, 5/5
2 MYSTERIOUS SKIN, USA/Niederlande 2004, 5/5
3 SMILEY FACE, USA/Deutschland 2007, 4,5/5
4 KABOOM, USA/Frankreich 2010, 4,5/5
5 NOWHERE, USA/Frankreich 2010, 4,5/5
6 TOTALLY FUCKED UP, USA 1993, 4/5
7 THE DOOM GENERATION, USA/Frankreich 1995, 3,5/5
8 SPLENDOR, UK/USA 1999, 3,5/5

Ein exzessiver und gigantomanischer Rückblick auf das Filmjahr 2012 an sich und auf mein ganz persönliches Filmjahr 2012 findet hier sein Ende. Der eine oder andere Film oder Regisseur wird sich bestimmt in der einen oder anderen künftigen Besprechung bei „Whoknows Presents“ finden.
Mein Ausblick für 2013: viele Filme...

TONI - Proto-Neorealismus und gedämpfte Tragödie

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TONI
Frankreich 1934
Regie: Jean Renoir
Darsteller: Charles Blavette (Toni), Celia Montalván (Josefa), Jenny Hélia (Marie), Max Dalban (Albert), Édouard Delmont (Fernand), Andrex (Gabi), Michel Kovachevitch (Sebastian)

Ankunft in Martigues
Wenn man nach stilistischen Vorläufern des Neorealismus sucht, dann wird man u.a. im Frankreich der 30er Jahre fündig. Schon 1929 drehte etwa Jean Epstein FINIS TERRAE, der unter den Bewohnern abgelegener bretonischer Inseln spielt und auch komplett dort mit einheimischen Laiendarstellern produziert wurde. Auch einige Filme von Marcel Pagnol wie JOFROI (1933) und ANGÈLE (1934) entstanden außerhalb des Studios in Dörfern der Provence, mit meist wenig bekannten Schauspielern, die durch Laiendarsteller verstärkt wurden. Und auch Renoirs TONI wird in diesem Zusammenhang öfters genannt - nicht nur wegen einer Personalie: Luchino Visconti war bei den Dreharbeiten Praktikant (bei PARTIE DE CAMPAGNE und LES BAS-FONDS war er dann einer der Regieassistenten, ebenso wie bei TOSCA, den Renoir 1940 in Angriff nahm, dann aber abgab, um in die USA zu emigrieren).

Herbergssuche
Über ein Eisenbahn-Viadukt fährt ein Zug in den Bahnhof von Martigues ein, eine Kleinstadt zwischen Marseilles und der Rhône-Mündung. Sie liegt am Étang de Berre, einer großen Salzwasser-Lagune, die über einen schmalen natürlichen Kanal mit dem Mittelmeer verbunden ist. Dem Zug entsteigt eine Schar von Südländern - Italiener, Spanier, Portugiesen -, die sich in Südfrankreich Arbeit und damit ein besseres Leben als in der Heimat erhoffen. Zwei Polizisten greifen einen heraus, kontrollieren seine Papiere, lassen ihn wieder gehen. Damit wurde wie zufällig der Held der Geschichte ausgewählt: Es ist der Italiener Antonio Canova, genannt Toni. Die Kamera folgt den Arbeitssuchenden auf ihrem Weg vom Bahnhof in die Stadt, hält dann inne, bis sie aus dem Bild sind, und schwenkt auf den Viadukt. Dann sehen wir wieder Toni, wie er in der Pension der Französin Marie ein Zimmer nimmt. Ein Zwischentitel - der einzige im Film - verkündet das Ende des Prologs, und die Handlung springt einige Monate in die Zukunft.

Fernand und Marie
Wie die anderen Bewohner von Maries Pension, darunter sein Freund Fernand, arbeitet Toni im Steinbruch von Martigues. Toni und Marie sind jetzt ein Paar, aber es kriselt bereits. Tonis Zuneigung zu Marie ist erkaltet, während sie ihn eifersüchtig liebt und ihn verdächtigt, anderen Frauen nachzustellen - nicht ganz ohne Grund. Denn er hat ein Auge auf die Spanierin Josefa geworfen, die bei ihrem Onkel Sebastian, einem Weinbauern, nicht weit von Maries Pension wohnt. Als er ihr eines Morgens auf dem Weg zur Arbeit begegnet und mit ihr flirtet, gerät eine Wespe unter ihr Kleid und sticht sie in den Nacken. Toni zieht nicht nur den Stachel heraus, sondern saugt auch gleich das Gift heraus, was nahtlos in eine Umarmung übergeht. Solchermaßen ermutigt, macht sich Toni ernsthaft Hoffnungen, und er sondiert schon mal bei Sebastian, ob er Josefa heiraten kann. Doch es kommt anders, weil ihm Albert, der Vorarbeiter des Steinbruchs, dazwischenfunkt. Der arrogante, aber letztlich schwache und unsichere Nordfranzose Albert ist unter den Südfranzosen und den Immigranten ein Fremdkörper und Außenseiter. Als er Josefa am selben Tag ihrer Begegnung mit Toni nachstellt, schläft sie mit ihm, obwohl er ihr nur begrenzt sympathisch ist, und Toni, der sie überrascht, kann nur mit Mühe davon abgehalten werden, Albert an Ort und Stelle umzubringen. Aber Albert schafft nun vollendete Tatsachen, indem er mit Sebastian seine Hochzeit mit Josefa arrangiert. Marie überredet den resignierten Toni, sie zu heiraten, und um Geld zu sparen, wird eine Doppelhochzeit ausgerichtet, die von einem Teil der Beteiligten bereits ziemlich freudlos absolviert wird.

Nachwirkungen eines Wespenstichs
Zwei Jahre später. Josefa und Albert haben ein Kind bekommen, aber sie streiten dauernd, und Albert geht fremd. Die Ehe von Toni und Marie ist ebenfalls nicht glücklich. Er kann Josefa nicht vergessen, und Marie spürt das. Sebastian ist inzwischen todkrank, und weil er Albert nicht mag und ihm nicht traut, macht er Toni zum Paten seines Enkels und nimmt ihm das Versprechen ab, auf Josefa aufzupassen, was Albert und Marie gleichermaßen aufbringt. Als Sebastian stirbt, will Marie Toni nicht zur Beerdigung gehen lassen, aus Angst, dass er wieder mit Josefa anbandelt. Weil er dennoch geht und es deshalb zu einem heftigen Streit kommt, droht Marie, sich umzubringen, was Toni ignoriert. Daraufhin rudert Marie auf den Étang de Berre hinaus, um sich zu ertränken. Als Toni gemeinsam mit Fernand dann doch nach ihr sucht, wird sie gerade von Fischern, die sie lebend aus dem Wasser zogen, ans Ufer gebracht, doch sie trennt sich jetzt an Ort und Stelle von Toni. Fernand, der schon lange in Marie verliebt ist, ohne etwas zu unternehmen, solange sie mit Toni zusammen war, kümmert sich jetzt um sie. Toni dagegen zieht in eine Hütte zu korsischen Köhlern auf einen Hügel, von dem aus er Sebastians Anwesen beobachten kann. Er hofft, Josefa von Albert loseisen und mit ihr irgendwohin verschwinden zu können.

Im Steinbruch
Albert hat unterdessen nach Sebastians Tod dessen kleines Weingut heruntergewirtschaftet, er ist so gut wie pleite und hat überall Schulden. Mit Josefas Cousin Gabi streitet er sich um dessen Anteil an Sebastians Erbe. Josefa hält es mit Albert nicht mehr aus, und sie plant mit Gabi, das restliche vorhandene Bargeld Albert im Schlaf abzunehmen und dann zusammen mit dem Kind zu verschwinden. Doch sie wird von Albert beim versuchten Diebstahl ertappt, und er verprügelt sie mit seinem Gürtel. Da erschießt sie Albert mit seinem Revolver, den er achtlos herumliegen ließ. Gabi hat inzwischen Toni in den Plan eingeweiht und ihm nebenbei eröffnet, dass er und Josefa nicht nur Cousin und Cousine, sondern seit zwei Jahren ein Liebespaar sind. Doch als Toni und Gabi bei Josefa und Alberts Leiche eintreffen, ist es mit Gabis Liebe schnell vorbei. Er nimmt nur das Geld an sich, von dem er glaubt, dass es ihm zusteht, und macht sich aus dem Staub. Er überlässt es Toni, Josefa mit der neuen Situation vertraut zu machen. Diese ist verzweifelt, weil sie Angst hat, ins Gefängnis zu kommen und von ihrem Kind getrennt zu werden, aber Toni macht den Vorschlag, die Leiche mitsamt dem Revolver im Wald zu deponieren, so dass es aussieht, als hätte sich Albert wegen seiner Schulden erschossen. Doch just, als Toni Alberts Körper ablädt, wird er von einem Gendarmen ertappt. Um Josefa zu schützen, nimmt Toni den Mord auf sich, dann überrumpelt er den Gendarmen und ergreift die Flucht. Als er den Viadukt überqueren will, wird er von einem dort aufgestellten Wachposten erschossen. Es ist ein sinnloser Tod - Josefa hat sich inzwischen gestellt und ein Geständnis abgelegt, damit Toni nicht wegen ihr ins Gefängnis muss. In dem Moment, als Toni stirbt, fährt direkt daneben wieder ein Zug nach Martigues ein, drei Jahre nach Tonis Ankunft. Wieder steigen Arbeitssuchende aus dem Süden aus, wieder folgt ihnen die Kamera, hält dann inne und schwenkt auf den Viadukt.

Albert macht sich an Josefa heran
Natürlich macht Renoir damit den zyklischen Charakter der Geschichte deutlich - Toni ist nur einer unter vielen, die Bedeutung seiner Geschichte relativiert sich durch den Lauf der Zeit (in THE RIVER wird Renoir 1951 diesen Gedanken aufgreifen und noch expliziter ausformulieren). Das ist nicht der einzige, sondern nur der letzte Kunstgriff, um der Geschichte eine gewisse Beiläufigkeit zu verleihen, um jede Melodramatik und Sentimentalität herauszunehmen. Es beginnt schon mit dem Innehalten der Kamera in der Anfangssequenz, als sich Renoir plötzlich mehr für die Landschaft als für die Protagonisten zu interessieren scheint. Immer wieder gibt es solche Schwenks weg von den Personen, oder sie werden so von der Kamera umkreist, dass sie zeitweise von Bäumen oder Büschen verdeckt werden, oder sie werden gleich in der Halbtotalen gezeigt, eingebettet in die provenzalische Landschaft. Deren Schönheiten - Felder im gleißenden Sonnenlicht, knorrige Wälder auf den Hügeln um Martigues - kommen dabei auch gelegentlich ins Bild, aber nicht, weil sie so schön, sondern weil sie eben da sind. Für die Protagonisten sind sie nicht wichtiger als etwa der Steinbruch, in dem sie einen Großteil ihrer Zeit verbringen. Und es scheint auch nicht immer die Sonne, sondern es darf auch mal regnen. Aber nicht nur in die Landschaft sind die Charaktere eingebunden, sondern auch in ihren sozialen Kontext. Dazu dienen viele kleine Dialoge, die nichts zur Handlung beitragen, die auch kein Smalltalk sind, sondern das, was man eben zueinander sagt, wenn man tagtäglich miteinander zu tun hat.

Katzenjammer bei Toni und ein Beinahe-Mord
Neben flüssigen, aber unaufdringlichen Kamerabewegungen ist es auch hier wieder das Drehen mit großer Tiefenschärfe, mit dem Renoir seine Absichten umsetzt. Aber anders als etwa in BOUDU oder LA RÈGLE DU JEU werden in TONI keine komplexen Innenräume ins Bild gesetzt. Innenaufnahmen gibt es nur in den kleinen und architektonisch schlichten Häusern von Marie und Sebastian. Vielmehr entfaltet die deep focus cinematography hier ihre Wirkung im Freien. Besonders spektakulär etwa, wenn Toni und Fernand am oberen Rand eines Abhangs im Steinbruch sitzen und tief unter ihnen andere Arbeiter herumwuseln. Ein weiteres typisches Stilmittel, das Renoir auch hier verwandte, sind lange Einstellungen. In seiner Autobiographie "Mein Leben und meine Filme" (1974, dt. 1975) schrieb er dazu: "Außerdem war ich immer bemüht und bin es heute noch, die Zerstückelung der Aufnahmen zu verhindern und durch lange Einstellungen dem Schauspieler die Möglichkeit zu geben, seine Interpretation des Dialogs langsam selbst aufzubauen."

Eine Beziehung in der Krise
Renoir drehte TONI in einer Phase der Neuorientierung, die er später in einem Rückblick einmal eine "Krise von zugespitztem Realismus" nannte (und der er auch "anti-realistische Krisen" gegenüberstellte). Sein vorheriger Film MADAME BOVARY war eine artifizielle und werkgetreue Verfilmung von Flauberts Roman, produziert von einem der etablierten Pariser Studios. Er dauerte eigentlich dreieinhalb Stunden, aber in dieser Form mochte ihn das Publikum nicht sehen, und auf Druck der Verleiher kürzte ihn das Studio auf zwei Stunden. Wie nicht anders zu erwarten, floppte die verhunzte Fassung erst recht, und Renoir war in jeder Hinsicht frustriert. Bei seinem nächsten Film wollte er sich nicht nur von den traditionellen Studios befreien, sondern auch stilistisch neu orientieren. Den passenden Stoff dazu hatte er schon seit Jahren in der Schublade.

Beinahe-Selbstmord
TONI beruht lose auf einem echten Mordfall, der sich in den frühen 20er Jahren in Martigues im Milieu südeuropäischer Immigranten zutrug. Jacques Mortier, ein alter Schulfreund von Renoir, war damals Polizeichef von Martigues. Er schrieb ein Dossier über den Fall und überließ es Ende der 20er Jahre Renoir (unter dem Pseudonym Jacques Levert machte Mortier auch einen Roman aus dem Stoff). Renoir war kein Mann für Schnellschüsse. "Ich muss eine Idee erst einmal verdauen, bevor ich etwas damit anfangen kann", schrieb er einmal. So ließ er das Dossier erst einmal ruhen, aber nach dem Debakel mit MADAME BOVARY war die Zeit dafür reif. Das Drehbuch schrieben Renoir und der mit ihm befreundete Carl Einstein, ein deutsch-jüdischer Kunsthistoriker. Einstein hatte bis dahin (und auch danach) nichts mit Filmen zu tun, aber das war für Renoir kein Nachteil. In einem Interview, das Truffaut und Rivette mit ihm führten, sagte er, solche fachfremden Experten auf anderen Gebieten könnten manchmal einen Film bereichern, und er nannte Carl Koch und Carl Einstein als Beispiele aus seinem eigenen Schaffen. Produzent war Pierre Gaut, ebenfalls ein Kunstexperte, der mit Film ansonsten nichts zu tun hatte, und mit Renoir und Einstein befreundet. Weil er das Geld nicht allein aufbringen konnte, wurde Marcel Pagnol, der sein eigenes Studio in Marseilles gegründet hatte, als Co-Produzent an Bord geholt.

Arbeitspause
"TONI ist deshalb eine Geschichte, die in einem gewissen Ausmaß das repräsentiert, was wir heute Neorealismus nennen. Ich fuhr nach Martigues, ich lebte mit den neuen Einwohnern von Martigues, und ich habe eine Kamera mitgebracht. Die Kamera habe ich übrigens meinem Neffen Claude anvertraut. Es war einer seiner ersten größeren Filme. Und das war es. Wir haben es so gedreht, mit Einheimischen, während wir dieselbe Luft atmeten, dasselbe Essen aßen, dasselbe Leben lebten wie diese Arbeiter." So Renoir 1961 in einer Fernsehsendung. Tatsächlich wurde der ganze Film komplett in Martigues gedreht. Die Hauptdarsteller stammten vorwiegend aus kleineren Theatern in Marseilles und Umgebung, einige davon hatten auch schon in den frühen Filmen von Pagnol mitgespielt, so auch Charles Blavette, aber keiner von ihnen war ein Star. Der einzige, der aus Renoirs eingespielter Truppe stammte, war Max Dalban, der beispielsweise in LA NUIT DU CARREFOUR und in BOUDU SAUVÉ DES EAUX kleinere Rollen gespielt hatte. Nebenrollen in TONI wurden mit lokalen Laiendarstellern besetzt. Besonderes Augenmerk richtete Renoir auf die Authentizität der Sprache. Abgesehen von Albert bekommt man südfranzösischen Dialekt und Französisch mit italienischem oder spanischem Akzent zu hören, mit gelegentlichen kurzen Einschüben der jeweiligen Muttersprache. Renoir frönte auch wieder seiner Leidenschaft für Direktton, es wurde nichts nachsynchronisiert. Das gilt auch für die Musik, die vollständig diegetisch, also in die Handlung integriert ist. Es handelt sich um mal hoffnungsvolle, mal wehmütige Volkslieder der Immigranten, mit italienischem oder korsischem Einschlag.

Josefa mit Revolver
Ist TONI nun ein neorealistischer Film? Renoirs Aussagen dazu waren widersprüchlich, neben Zustimmung wie im obigen Zitat betonte er gelegentlich auch die durchaus vorhandenen Gegensätze. Unbestritten ist aber die realistische Grundhaltung des Films. In seiner Autobiographie schrieb Renoir: "In TONI habe ich mir alle Mühe gegeben, nicht dramatisch zu sein. [...] Die Verwendung natürlicher Elemente gestattete mir, einen möglichst wenig transponierten Realismus zu erreichen. [...] Mein Ehrgeiz ging dahin, den Eindruck zu erwecken, ich hätte eine Kamera und ein Mikrophon in meiner Tasche versteckt und nähme auf, was mir gerade unterkäme, ohne jede Rangfolge." Freilich wusste Renoir natürlich, dass es so nicht ging, und er war auch so ehrlich, das zuzugeben. So sagte er denn an anderer Stelle: "Für das Publikum sollte es so aussehen, als hätten wir den Film wie nebenbei gedreht, ohne uns besonders darum zu bemühen, als stände die Kamera wie zufällig herum, ganz leger. Doch in Wirklichkeit muss ein solcher Film minutiös vorbereitet und komponiert werden." Tatsächlich weist TONI neben der zyklischen Klammerung auch eine gewisse innere Symmetrie auf, die noch stärker zur Geltung kommen würde, wenn nicht eine Szene fehlen würde. Beim ersten Zusammentreffen zwischen Toni und Josefa (die Szene mit der Wespe) transportierte Josefa mit einem Handkarren Wäsche zum Waschplatz, und das Gegenstück dazu war eine Szene, in der Toni und Josefa Alberts Leiche auf demselben Karren, von Wäsche verdeckt, in den Wald bringen. Dabei werden sie ein Stück von den korsischen Köhlern begleitet, die, nichts ahnend, ein fröhliches Lied anstimmen. Aber die Szene erschien den Produzenten für das damalige Publikum zu morbid oder zynisch, und Renoir musste sie herausschneiden, woraufhin sie verlorenging, was er später sehr bedauerte. So wurde Renoir also auch in der südfranzösischen Provinz wieder von Schnittauflagen heimgesucht. Trotzdem blieb TONI zeitlebens einer seiner Favoriten in seinem Œuvre.

Flucht und Tod auf dem Gleis
TONI ist mit sehr gutem Bonusmaterial in England bei Masters of Cinema auf DVD erschienen. Leider ist die DVD out of print und nur noch zu Spekulantenpreisen erhältlich. In Frankreich gibt es den Film auch auf DVD, wie üblich ohne fremdsprachige Untertitel. Mit engl. Untertiteln bekommt man TONI noch auf einer DVD aus Hongkong, die z.B. auf eBay vertrieben wird.

Ode an eine lächerliche Existenz: Von der Radikalisierung des „Melville-Touch“

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LE DEUXIÈME SOUFFLE (DER ZWEITE ATEM)
Frankreich 1966
Regie: Jean-Pierre Melville
Darsteller: Lino Ventura (Gustave Minda, dit „Gu“), Paul Meurisse (Commissaire Blot), Christine Fabréga (Simone, dite „Manouche“), Michel Constantin (Alban), Marcel Bozuffi (Jo Ricci), Pierre Zimmer (Orloff), Raymond Pellegrin (Paul Ricci), Paul Frankeur (Inspecteur Fardiano)

„Bei seiner Geburt erhält der Mensch nur ein einziges Recht: die Wahl seines Todes. Wenn aber diese Wahl durch Ekel vor seinem Leben diktiert wird, so wird seine Existenz eine reine Lächerlichkeit gewesen sein...“

Drei Männer versuchen, aus einem Gefängnis auszubrechen. Einer von ihnen springt etwas zu weit, verfehlt das Seil und stürzt in die Tiefe. Die beiden anderen stellen emotionslos seinen Tod fest und fliehen durch den Wald. Sie springen in einen Güterzug und nach kurzer Zeit verabschiedet sich einer der Männer und geht seinen eigenen Weg. So beginnt LE DEUXIÈME SOUFFLE, der zu recht als transitorisches Werk der Stiländerung in Jean-Pierre Melvilles Schaffen gedeutet wird. Diese ersten fünf Minuten des Films konzentrieren (dialog- und musiklos) alle Themen, die das Spätwerk des französischen Regie-Exzentrikers prägen: Flucht, Ausbruch, Tod, die Unterdrückung von bzw. der Unwillen zu Emotionen, Einsamkeit, die Vergänglichkeit von Kameraderie und Loyalität, Verrat, und die Ambivalenz zwischen hyperrealistisch-naturalistischer und künstlich-stilisierter Welt (das Einsteigen in den fahrenden Güterwagon wird in „Echtzeit“ inklusive Anlaufnehmen, Stolpern, erneutes Anlaufnehmen, Raufklettern, Fast-Fallen, erneutes Raufklettern gefilmt, während der vorangegangene Ausbruch als Kletteraktion über eine eindeutig als artifiziell erkennbare Kulisse inszeniert wird).

Der Flüchtling, dem wir für den Rest des Films folgen, ist Gustave Minda, genannt „Gu“: ein Gangster, der gerade eine lebenslängliche Strafe wegen eines Raubüberfalls mit Mord absaß. Zuflucht findet er bei seiner Geliebten Manouche und bei seinem besten Kumpel, dem Scharfschützen Alban. Beide befinden sich gerade in einer Art Bandenkrieg mit dem Mobster und Nachtclub-Besitzer Jo Ricci. Dessen beiden Handlanger, die Manouche und Alban aus dem Weg räumen sollen, werden von Gu überwältigt und wenig später hingerichtet. Der flüchtige Gangster macht sich nach Wochen des Verstecks in den Süden auf, um seine Überfahrt nach Italien vorzubereiten, doch der Kommissar Blot, ein intimer Kenner des „Milieus“, ist ihm schon nahe an den Fersen. Um im Ausland untertauchen zu können, braucht Gu aber vorher Geld. Der Profi-Räuber Orloff bietet ihm die Teilnahme an einem Projekt Paul Riccis an (Jos Bruder): ein Raubüberfall auf einen Platin-Konvoi, bei dem die Tötung zweier Wächter schon fest eingeplant ist...

LE DEUXIÈME SOUFFLE basiert auf einem Roman des Schriftstellers und späteren Regisseurs José Giovanni, erschienen in der série-noire-Reihe des Verlags Gallimard. Hier wurden nicht nur Übersetzungen US-amerikanischer hard-boiled-Romane, sondern auch von ihnen inspirierte französische Werke publiziert. Überaus amerikanisch geprägt ist also der Stoff von LE DEUXIÈME SOUFFLE, was bei einem Film Jean-Pierre Melvilles ohnehin nicht wunderlich ist. Wie vier Jahre zuvor in LE DOULOS frönte der „American in Paris“ (Ginette Vincendeau) erneut hemmungslos seinem Trenchcoat-Fedora-Gangster-Cool-Fetischismus. Auch sonst enthält LE DEUXIÈME SOUFFLE viele Elemente des film noir, nicht zuletzt eine expressive Schwarzweiß-Fotografie – effizient lotete Melville deren Möglichkeiten aus, bevor er für seine letzten vier Filme definitiv auf Farbe umstieg (oder zumindest auf farbähnliche Monochromie).

Das noir-Feeling entsteht auch aus der fast unübersichtlichen Zahl an Figuren, die teilweise nur als namentliche Erwähnungen die Bühne betreten, oder die Allianzen wechseln, oder schnell eines gewaltsamen Todes sterben. Auch eine noir-typische moralisch-existentielle Unsicherheit zieht sich durch den ganzen Film. Als völlig bedeutungslos erscheinen die Grenzen zwischen Gangster und Polizisten: nur die Dienstmarke unterscheidet sie. Kommissar Blot kennt alle Leute des milieu ganz genau, wie intime Freunde. Er duzt die Gangster hinter den Kulissen, trinkt mit ihnen bedenkenlos Cognac, fragt nach Befinden von Frau und Kind, warnt vor rachesüchtigen Rivalen... Hinter dieser höflichen Freundlichkeit steckt auch eine Kaltblütigkeit, die jener der mordenden Gangster in nichts nachsteht. Als es Blot zusammen mit dem Marseiller Inspektor Fardiano gelingt, Gu und Paul Ricci zu verhaften, versuchen die Polizisten aus den Inhaftierten mittels Folter Geständnisse und die Nennung von Namen zu erpressen. Nebst dumpfen Prügeln wird auch eine primitive Form des waterboarding zumindest angedeutet (die explizitere, komplette Szene entfernte Melville auf Druck der Zensur). Einen monolithischen Block bildet die Polizei dennoch nicht: Die Missgunst und Verachtung, die zwischen dem Pariser Kommissar Blot und dem Inspektor Fardiano aus Marseilles in der Luft hängt, ist geradezu mit dem Messer zu schneiden. Ihre erbitterte Rivalität um Kompetenzen inklusive aller Schläge unter die Gürtellinie ist letztlich ein Spiegelbild der Streitigkeiten zwischen den Verbrechern. Den ungehemmten Polizei-Brutalitäten stehen Gus eiskalte Morde an meist unbewaffneten Personen gegenüber. Von beiden distanziert sich Melville explizit in einer einleitenden Texttafel.

"Der Autor [Majuskel!] dieses Films hat nicht die Absicht, die „Moral“ GUSTAVE MINDAs mit der Moral [Majuskel!] gleichsetzen. Er möchte betonen, dass die Umstände, die Situationen und die Figuren dieser Geschichte keinerlei reale Grundlage haben und dass, folglich, ein Urteil über die Ermittlungsmethoden anhand dieses Werks der Fantasie auf Grundlage eines Romans außer Frage steht."


Und trotzdem LE DEUXIÈME SOUFFLE genau wie LE DOULOS in der traditionellen Welt des film noir verwurzelt ist, hat er doch auch eine ganz andere Qualität. Wie erwähnt wird er als Übergangs-Werk Melvilles gekennzeichnet: als Verknüpfung zwischen den noch durchaus Genre-verhafteten frühen Filmen Melvilles und dessen puristisch-abstrakten Film-Meditationen über den Tod, die das Spätwerk prägen. Er enthält vielleicht als erstes Werk des Regisseurs ganz explizit das, was man mangels anderer Begriffe wohl als den „Melville-Touch“ bezeichnen könnte. Es handelt sich zunächst darum, dass Zeit und das Verstreichen von Zeit spürbar gemacht werden. Im klassischen cinematographischen Sinne uninteressante Handlungen werden in scheinbar langatmigen Bilderfolgen geradezu zelebriert, und zwar in „Echtzeit“. Das Fahren zum Ort des Überfalls, das Parken, und dann das Warten auf den Platin-Transporter nimmt fünf ganze Filmminuten in Anspruch: qualvolles Warten... auf die Schuhe starren... die Ameisen in der Nähe beobachten... die vor Nervosität schweißnassen Hände mit einem Taschentuch abwischen... das Rumsitzen... das Warten auf den Platin-Konvoi am Horizont... unterbrochen lediglich von einer fast halluzinierenden Kamerafahrt von Paul zu Gustave, die einem Treppengeländer folgt... Die Nachbereitung des relativ raschen Überfalls wird ebenso minutiös eingefangen.

Genauso penibel wird auch die Vorbereitung auf ein Gangster-Treffen in einer leeren Dachgeschoss-Wohnung inszeniert. Der erste Gangster sucht sie auf, betritt sie, untersucht diese, sucht nach dem besten Ort, um eine Pistole zu verstecken, die in einem kritischen Moment schnell und überraschend gezogen werden kann, probiert verschiedene Stellen aus, hinterlegt die Waffe und geht. Es folgt der Gangster der gegnerischen Seite, der ebenfalls die Wohnung gründlich untersucht, sogar die vier für die Sitzung vorgesehenen Sessel ausprobiert und schließlich die versteckte Pistole (offenbar wenig überrascht) findet, einsteckt und geht... Eine erstaunliche fünf-minütige Sequenz komplett ohne Dialog oder Musik, in der eigentlich „nichts“ passiert, und dennoch so viel „gesagt“ wird. In diesen Momenten verletzt Melville sämtliche Regeln des klassischen dramatischen Spannungsaufbaus, um durch den langsamen bzw. punktuell verlangsamten Filmrhythmus seine ganz eigene, persönliche Form der Spannung aufzubauen. Die Filmdauer von 144 Minuten entsteht keineswegs durch episches Erzählen, sondern durch solche voll ausgekosteten Zeit-Verlangsamungen.


Auch als „Gu“ von Paris nach Marseille mit Regionalbussen flieht, wird dies in einer rhythmischen Montage von Bildern dargestellt, die ihn beim Warten auf den Bus, beim Hetzen zu einem startenden Bus, beim Einsteigen und beim sitzenden Nachdenken, Lesen und Schlafen zeigen. Aufgrund der Zeitraffung, die hier faktisch stattfindet, ist das zwar ein Grenzfall im Bezug auf die eben gemachten Ausführungen. Nichtsdestotrotz hebt Melville hier eine banale Handlung (Reisen) auf sehr ungewöhnliche Art sehr bewusst hervor. In LE CERCLE ROUGE wird dies noch radikalisiert, wenn man Alain Delon dabei zusieht, wie er minutenlang „nur“ in seinem schicken amerikanischen Auto durch die Gegend fährt.

Dieses Spürbarmachen von Zeit ergänzt Melville mit einer zutiefst „asozialen“ Atmosphäre, im Sinne einer fast vollkommenen Abwesenheit von „Gesellschaft“. Ansätze davon waren bereits in früheren Filmen vorhanden, doch radikalisiert der Regisseur in LE DEUXIÈME SOUFFLE diese Tendenz zu einem integralen Bestandteil des „Melville-Touch“. Die Figuren handeln nicht aufgrund gesellschaftlicher Zwänge, die sie geformt haben, sondern in einem fast abstrakten Raum. Andere Menschen, etwa Passanten auf der Straße, wirken eher als Teil der Kulisse denn als soziale Einbettung der Handlung. Die „Parallel-Gesellschaft“ der abgebrühten Polizisten und Gangster, die Melville intensiv und dicht inszeniert, lebt im Grunde in einem „Parallel-Universum“. Es ist ein Leben in einem permanenten Ausnahmezustand, dem die Figuren nicht entkommen können (außer durch Tod). Sie können nicht in die „normale Welt“ entfliehen, weil es diese in den späten Melville-Filmen nicht gibt, und bewusst oder unterbewusst wissen sie das auch. Gu weiss dieses Faktum, als er dies seiner Geliebten Manouche bei einem Abendessen in der konspirativen Versteckwohnung beichtet: ein gemeinsames Leben kommt nicht in Frage, da es für ihn nur noch das Leben auf der Flucht gäbe. Melvilles Filmwelten sind also geschlossene Fantasiewelten, in denen normale gesellschaftliche und zivilisatorische Regeln, Wahrscheinlichkeit, Vernunft und Realismus wenig Geltung haben, dafür Pessimismus, Fatalismus und Desillusion umso schwerer wiegen. Diese hermetische Geschlossenheit der Atmosphäre führt zu einer erstickenden Klaustrophobie, die sich unabhängig vom Setting entwickelt. LE DEUXIÈME SOUFFLE spielt zwar folgerichtig größtenteils in beengten Wohnungen, Geheimunterkünften oder in den geschlossenen Räumen von Autos. Gerade deswegen ist es bezeichnend, dass die Raubüberall-Szene, die in einer luftigen und fast Western-artigen Gebirgspass-Landschaft spielt, keine Erleichterung bringt... weder für die Figuren, noch für den Zuschauer!


DVD
Jean-Pierre Melville wird in Deutschland ziemlich stiefmütterlich behandelt: Von den 13 seiner abendfüllenden Filme sind nur fünf auf DVD erhältlich (einer von ihnen in einer fürchterlichen Bildqualität und mit falschem Bildseitenformat). LE SAMOURAÏ, der immer wieder Melville-Top-Listen anführt und hierzulande nur stark geschnitten ausgestrahlt wird, gehört ebenso wenig dazu wie dazu wie LE DEUXIÈME SOUFFLE – der 1966 in einer um 33 Minuten (über ein Fünftel der Gesamtlänge!) gekürzten Fassung in die bundesdeutschen Kinos kam!
Daher sei hier für sehr gute Kenner der französischen Sprache die René-Chateau-Edition empfohlen: gute Bildqualität, Bonus-Material in Melville-typischer Art karg, keine Untertitel. Trotzdem Melville ein Regisseur ist, der den imdb-Tag „very little dialogue“ abonniert hat, ist LE DEUXIÈME SOUFFLE zwischendurch trotzdem recht gesprächig, so dass für Nichtkenner der französischen Sprache mit Untertitelbedarf die US-amerikanische Criterion-Edition wohl am geeignetsten ist.
Wer nach einer DVD von Melvilles LE DEUXIÈME SOUFFLE sucht, wird wahrscheinlich auch auf das Remake Alain Corneaus aus dem Jahre 2007 stoßen. Meine Grundskepsis nicht verbergend, kann ich mich über diese Version nicht qualifiziert äußern: trotzdem ist es traurig, dass wieder einmal die DVD-Ausgabe des Remakes einfacher und günstiger aufzutreiben ist, als jene des Originals.


Interview-Bonus
Hier an dieser Stelle sei auf einen zeitgenössischen Beitrag über LE DEUXIÈME SOUFFLE verwiesen, auf das ich gestoßen bin – hauptsächlich bestehend aus Interviews mit Jean-Pierre Melville und Lino Ventura. Der exzentrische Regisseur spricht hier in der Wohnung über seinem privaten Filmstudio (Studios Jenner), das ein Jahr später durch ein Feuer zerstört wurde. Man beachte, unabhängig von Französisch-Kenntnissen, seine theatralische Selbstdarstellung (mit Sonnenbrille, hier aber ohne Hut), seine klangvolle, tiefe Stimme und seine sehr ausgesuchte Wortwahl und Diktion!
Für Leser/Zuschauer mit Französisch-Defiziten fasse ich mal einige Leckerbissen kurz zusammen: Melville wurde des öfteren als „Vater der nouvelle vague“ bezeichnet. Das störte ihn nicht, bis er eines Tages in einem Magazin eine umfangreiche Liste mit Regisseuren und wichtigen Figuren der nouvelle vague entdeckte und erfuhr, dass er „182 uneheliche Kinder“ habe. Er wollte sie nicht alle adoptieren, und um keine Eifersüchteleien zu erzeugen, hat er entschieden, ihnen en bloc die Anerkennung zu verweigern. Von da an habe er sich sehr schnell alleine wiedergefunden – was er richtig gut mochte.
Melville erzählt auch, dass man ihm angeboten habe, WEEK-END À ZUYDCOOTE (Henry Verneuil, 1964) und LE JOURNAL D‘UNE FEMME DE CHAMBRE (Luis Buñuel, 1964) zu inszenieren, was er abgelehnt habe. Er begründet dies damit, dass er nur Filme dreht, für die er auch bereit ist, 70 Tage seines Lebens voll und ganz zu widmen.
Als die Kamera Bilder seiner seiner zwei, drei, vier (?) Katzen einfängt (die später wahrscheinlich einen Gastauftritt in LE CERCLE ROUGE hatten), sagt Melville vergnügt und stolz, dass er natürlich ein Misanthrop sei.
Das Interview mit Lino Ventura dreht sich vor allem um dessen Weigerung, sich selbst als Schauspieler zu bezeichnen. Der Italiener begründet dies mit seiner mangelnden Schauspieler-Ausbildung und damit, dass er gegebenenfalls unfähig wäre, eine Rolle zu spielen, auf die er keine Lust habe.
Gegen Ende des Beitrags erzählt Melville, dass er 1950 nach den vernichtenden Kritiken zu LES ENFANTS TERRIBLES entschieden habe, mit dem Kino aufzuhören. Fast bankrott ging er zusammen mit seiner Ehefrau zu einem Café an der Place des Ternes, um eine Cola (aufgrund pekuniärer Nöte wirklich nur ein Getränk für beide zusammen) zu trinken. Dort saßen Jacques Becker und Daniel Gélin, die gerade Melvilles Film im Kino zusammen geschaut hatten. Sie sprachen den Regisseur an und teilten ihm ihre schiere Begeisterung mit, woraufhin dieser seinen Entschluss revidierte... se non è vero, è ben trovato!


Wir fahr'n, fahr'n, fahr'n mit der Eisenbahn

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Drei Kurzfilme von Geoffrey Jones

SNOW
Großbritannien 1963

RAIL
Großbritannien 1966

LOCOMOTION
Großbritannien 1975

Regie jeweils Geoffrey Jones

"The mainstream is crap. I would never have made a film in my life if I had not been mesmerised by film as a child. It was absolute, total magic." (Geoffrey Jones)

Geoffrey Jones (2004)
Geoffrey Jones (1931-2005), Londoner mit walisischen Eltern, und später Wahl-Waliser, war einer der selten besungenen Helden des Werbe- und Industriefilms, die nie den Schritt zum Spielfilm taten. Seine Filme zeichnen sich durch dynamischen, musikalischen Prinzipien folgenden Schnitt und lyrische Qualitäten aus. Nach einer kurzen Anstellung bei Shell um 1960 (es gab damals eine Shell Film Unit) machte er sich selbständig und drehte mit seiner eigenen kleinen Produktionsfirma für Kunden aus dem industriellen Umfeld. Dabei kamen nicht nur Industriefilme heraus - der von BP bezahlte TRINIDAD & TOBAGO (1964) etwa wirkt eher, als wäre er für das dortige Fremdenverkehrsamt entstanden statt für einen Ölkonzern. Gleich drei Filme - die hier behandelten - drehte Jones für British Transport Films (BTF), die 1949 gegründete Einheit, die Filme für und über die britische Eisenbahn und andere Einrichtungen des öffentlichen Verkehrs produzierte. Jones genoss innerhalb der Zunft hohes Ansehen - er gewann etliche Preise auf Festivals, und SNOW war sogar für den Oscar nominiert (merkwürdigerweise als Best Live Action Short, obwohl die Kategorie Best Documentary Short eigentlich besser gepasst hätte). Aber er realisierte insgesamt recht wenige Filme, die zusammengenommen vielleicht nur zwei Stunden dauern. Als sich im Verlauf der 70er Jahre die Bedingungen für Dokumentarfilmer in Großbritannien verschlechterten, versandete seine Karriere, und er konnte ungefähr 25 Jahre lang keinen Film mehr drehen. So drohte er in der Obskurität zu verschwinden, doch zumindest in Großbritannien hat sich das posthum geändert. Das British Film Institute (BFI) erkannte seine Verdienste und beschloss, ihn mit einer DVD zu würdigen. Die 2005 erschienene Scheibe mit dem Titel "Geoffrey Jones: The Rhythm of Film" enthält neben neun Filmen auch ein halbstündiges Video-Interview von 2004 und ein informatives Booklet. Der an Krebs erkrankte Jones war an der Erstellung der DVD noch aktiv beteiligt, doch er starb eine Woche vor der Veröffentlichung - wenigstens in der begründeten Hoffnung, dass er und seine Filme nicht so schnell in Vergessenheit geraten würden.

SNOW



Im Januar 1963, als es in England gerade besonders schneereich war, hatte Jones die Idee zu SNOW. Am 31. Januar traf er sich wegen eines anderen Films mit Edgar Anstey, von der Gründung 1949 bis zu seinem Ruhestand 1974 der Chef von British Transport Films. Anstey kam aus der britischen Dokumentarfilmbewegung der 30er Jahre, die John Grierson zunächst beim Empire Marketing Board, und dann, nach der Auflösung der EMB Film Unit, bei der britischen Post (GPO Film Unit) aufgebaut hatte (Sir Arthur Elton, der Jones 1959 zur Shell Film Unit holte, entstammte ebenfalls dem Kreis um Grierson). Anstey war von der Idee zu SNOW begeistert und versprach, am nächsten Vormittag anzurufen. Tatsächlich rief er um 10:00 Uhr an und erteilte seine mündliche Zusage, und Jones machte sich ohne formellen Vertrag in der Tasche mit seinem Kameramann Wolfgang Suschitzky (1934 von Österreich nach England emigriert, und inzwischen 100 Jahre alt) noch mittags auf die Socken und begann zu drehen. In weniger als zwei Wochen waren die Aufnahmen im Kasten, dann kam das Tauwetter, und danach wurde auch ein Vertrag ausgehandelt. Viel Arbeit wurde nicht nur in den Schnitt, sondern auch in den Soundtrack gesteckt. Es handelt sich um eine Bearbeitung des Instrumentals "Teen Beat", das der amerikanische Drummer Sandy Nelson 1959 veröffentlicht hatte. Jones bekam zwar die Rechte zur Verwendung der Melodie, aber nicht von Nelsons Aufnahme, deshalb wurde das Stück von einer Band um den englischen Jazz-Bassisten Johnny Hawksworth neu aufgenommen. Das war aber erst die halbe Miete. Es folgte eine aufwändige elektronische Bearbeitung von Sound und Tempo, die Daphne Oram besorgte, eine Pionierin der elektronischen Geräusch- und Musikerzeugung. Sie hatte seit den 40er Jahren bei der BBC damit experimentiert, und 1958 initiierte sie mit ein paar Gleichgesinnten den BBC Radiophonic Workshop, der beispielsweise Soundeffekte und Musik für Serien wie QUATERMASS AND THE PIT und DOCTOR WHO beisteuerte. Nachdem sie den Radiophonic Workshop ein knappes Jahr leitete, machte sich Oram selbständig und verfolgte ihre Ideen in ihrem eigenen Studio weiter. 1963 gab es in Großbritannien kaum jemand, der besser als sie zur Umsetzung von Jones' Vorstellungen vom Soundtrack geeignet gewesen wäre. Die Mühe aller Beteiligten hat sich gelohnt, denn SNOW gewann ungefähr 15 Preise auf Festivals und war, wie schon erwähnt, für den Oscar nominiert.

RAIL



Die Vorarbeiten zu RAIL begannen schon 1962. Tatsächlich waren es diese Arbeiten, die Jones Anfang 1963 mit Anstey besprach, und die ihm die Idee zu SNOW eingaben. Aus verschiedenen Gründen zog sich die Fertigstellung des Films aber hin. So führte die Eisenbahn gerade, als Jones in der Karibik war, um TRINIDAD & TOBAGO zu drehen, ein neues Design für ihre Züge ein, wodurch ein Teil des bereits gedrehten Materials nicht mehr aktuell war. Ursprünglich war vorgesehen, dass der ganze Film das aktuelle Design der British Railways vorstellen sollte. Es zeigte sich aber, dass allerorten noch alte Technik und altes Design anzutreffen war. So wurde das Konzept dahingehend geändert, dass der größte Teil des Films das althergebrachte Erscheinungsbild der Bahn zeigen sollte, um in den letzten Minuten abrupt in die Moderne zu springen und neueste Technik und das neu eingeführte Design ins Bild zu setzen. Dieser Konzeptänderung verdanken wir es, dass Jones am Anfang des Films viktorianische Bahnhöfe als Kathedralen der Technik zelebrieren konnte. Die Musik ist eine Originalarbeit, die der Komponist Wilfred Josephs für den Film schrieb, und die von Musikern des London Symphony Orchestra aufgenommen wurde. Daphne Oram war auch wieder mit von der Partie, allerdings nur mit chirurgischen Eingriffen bei den Trompeten-Einsätzen, die einer der Bläser verhunzt hatte - eine diffizile, aber im Ergebnis kaum bemerkbare Arbeit. RAIL gewann mindestens sieben Preise, und er lief sogar ungefähr vier Monate als Beiprogramm in den Kinos der Rank Corporation, allerdings auf Anweisung von J. Arthur Rank in einer gekürzten und in JOURNEY TO TOMORROW umbenannten Version, was Jones in einem Telegramm an Anstey als "Rank stupidity" bezeichnete.

LOCOMOTION



1825 wurde die Stockton and Darlington Railway eröffnet und damit weltweit die erste regelmäßige Personenbeförderung per Eisenbahn (Massengüter wie Kohle wurden schon vorher damit transportiert). 1975 stand also der 150. Jahrestag an, und dafür wurde 1974 ein Jubiläumsfilm ausgeschrieben. Jones reichte drei Vorschläge ein, und Anstey, damals in seinem letzten Jahr im Amt, wählte die 15-minütige Variante aus. Der Titel LOCOMOTION leitet sich vom Namen der ersten Lokomotive der Stockton and Darlington Railway ab (die 1828 in die Luft flog und dabei einen Maschinisten tötete). Die Graphiken und Fotos, die die erste Hälfte des Films dominieren, umfassen mehr als 400 Einzelbilder. Die Musik wurde vom Komponisten Donald Fraser für den Film geschrieben und von Mitgliedern der Folkrock-Band Steeleye Span eingespielt. Einmal mehr besorgte Daphne Oram die elektronische Bearbeitung - hier wieder mit einer ganzen Breitseite an Effekten, wie man schon in den ersten Sekunden hört. Nach LOCOMOTION war Jones' Karriere weitgehend beendet. Um 1980 herum drehte er als Angestellter von Thorn EMI Video Material für den unvollendeten und bis zum Erscheinen der DVD unveröffentlichten Film SEASONS PROJECT, der, wie der Titel schon andeutet, den Jahreszeiten in der Natur nachspürt. 2004 konnte Jones noch mit Hilfe eines Zuschusses des Arts Council of Wales 16mm-Aufnahmen eines Kettenkarussells, die er fast 50 Jahre zuvor gemacht hatte, zu zwei kurzen Filmen schneiden, optisch bearbeiten und vertonen.

Ein Blick in den Balkan: verbotene Kurzfilme der „schwarzen Welle“

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In knapp zwei Monaten beginnt in Wiesbaden das 13. go East Festival des mittel- und osteuropäischen Films. Es wird interessierten Cinephilen erneut die große Vielfalt des Kino-Schaffens von Warschau bis Belgrad, von Prag bis Moskau, von Priština bis Taškent aus vielen Jahrzehnten präsentieren. Letztes Jahr zeigte das Festival einige Leihgaben der slowenischen Kinemathek. In einer Nachmittags-Vorstellung wurden vier Kurzfilme des jugoslawischen Regisseurs Karpo Godina unter dem Motto „Poetisch-subversive Ironie“ in der Caligari FilmBühne projiziert.
Karpo Godina, 1943 im mazedonischen Skopje geboren, beteiligte sich Ende der 1960er Jahre als Kameramann und Cutter an Filmen der sogenannten „Jugoslawischen Schwarzen Welle“ – gewissermaßen ein lokaler Ableger der nouvelle vague. Regisseure wie Želmir Žilnik und Dušan Makavejev bemühten sich darum, die ästhetischen und thematischen Grenzen des jugoslawischen Kinos auszuloten und zu erweitern, mussten aber oft mit Zensur kämpfen. Als Regisseur, Drehbuchautor, Kameramann und Cutter in Personalunion drehte Godina seit 1968 eigene Kurzfilme.




GRATINIRANI MOZAK PUPILIJE FERKEVERK (Gratiniertes Hirn von Pupilija Ferkeverk), 1970



Die sehr extreme formale Strenge Karpo Godinas wird bei GRATINIRANI MOZAK PUPILIJE FERKEVERK schnell deutlich: eine statische Kamera hält unentwegt das selbe Dekor fest, filmische Bewegung entsteht ausschließlich durch das Spiel der Darsteller sowie durch Bildmontage und musikalische Untermalung. Welch kreatives und auch humoristisches Resultat diese Selbstbeschränkung erzeugen kann, ist im Endresultat sehr deutlich!
Die Figuranten (von „Schauspiel“ oder „Darstellung“ im engeren Sinne kann hier eigentlich kaum die Rede sein) waren Mitglieder einer experimentellen Theatergruppe aus Ljubljana. Zusammen mit dem ein Jahr später gedrehten ZDRAVI LJUDI ZA RAZONODU wurde der Film bei den 17. Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen 1971 gezeigt. In Jugoslawien selbst wurde er jedoch sogleich verboten, nicht zuletzt, weil der letzte Zwischentitel zum Konsum von LSD auffordert.



ZDRAVI LJUDI ZA RAZONODU (Die Litanei der heiteren Leute), 1971



Die autonome Region Vojvodina im Norden Serbiens beherbergt bis heute eine der ethnisch-sprachlich vielfältigsten Bevölkerung in Europa. Nebst einer relativen Mehrheit an Serben beherbergt dieses landwirtschaftlich fruchtbare Gebiet auch Magyaren, Slowaken, Kroaten, Roma, Rumänen, Montenegriner, Bunjewatzen, Russinen, Mazedonier, Ukrainer, Muslime, Deutsche, Albaner, Slowenen, Bulgaren und andere Nationalitäten. Wenngleich eine Unabhängigkeitserklärung gegenüber Serbien unwahrscheinlich ist, so pflegt die Vojvodina durchaus eine gewisse Distanz und Autonomie zum Kerngebiet Serbiens: Novi Sad ist nicht Belgrad!
In ZDRAVI LJUDI ZA RAZONODU präsentiert Godina ein multiethnisches Dorf in dieser Region. Er lässt einige Bewohner frei über alles mögliche sprechen und sinnieren, und kommentiert die Bilder mit einem Lied, der das Brüderlichkeit-und-Einigkeit-Dogma von Titos Jugoslawien mittels Übertreibung auf den Korn nimmt – erneut beansprucht die Musikbegleitung eine so zentrale Rolle, dass man praktisch von einem Musik-Clip sprechen kann. Auch dieser Film wurde verboten, unter dem Vorwurf, das multinationale Zusammenleben in Jugoslawien zu verhöhnen.
Ein gewisses Maß an Frechheit und Respektlosigkeit verströmt der Film sicher, wenngleich nicht unbedingt gegenüber den dargestellten Menschen, sondern durch parodierende Übertreibung eher gegenüber politischen Dogmen, die gerade in Jugoslawien über populäre Musik transportiert wurden. Godina zeigt eben keine funktionale, multikulturelle, sozialistisch-entwickelte Gesellschaft, sondern eher eine in ethnische Clans zersplitterte dörfliche Gemeinschaft. Feindseligkeit zwischen den dargestellten Menschen ist nicht zu spüren – sie leben einfach nur separiert in unterschiedlichen Trachten gekleidet und in verschiedenartig bemalten (und stellenweise durchaus renovierungsbedürftigen) Häusern wohnend nebeneinander und in einer Welt, in der die Begriffe Sozialismus und Jugoslawien anscheinend keine überragende Rolle spielen.
Folgende Nationalitäten werden nacheinander präsentiert:
1 Russinen (bzw. Rusniaken, Ruthenen, Karpato-Ukrainer), deren Sprache von manchen Philologen als unabhängige ostslawische Sprache, von anderen wiederum als westlicher Dialekt des Ukrainischen bezeichnet wird. Der Geistliche bezeichnet sich selbst als „Ukrainer“. Die weltbekannteste Person russinischer Herkunft dürfte übrigens Andy Warhol sein.
2 Magyaren (Ungarn): nach den Serben die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe in der Vojvodina.
3 Kroaten bzw. eigentlich Bunjewatzen: kleine ethnische Minderheit katholischen Glaubens und mit einem eigenen Dialekt, die trotz beharrlicher ikavischer Aussprache im sozialistischen Jugoslawien den Kroaten zugerechnet wurde.
4 Slowaken
5 Rumänen
6 Roma: mehrere Kommilitonen und Spezialisten des Balkans meinten in Gesprächen mit mir, dass „cigany“ nicht nur eine Fremd-, sondern auch die Eigenbezeichnung südslawischer Roma ist, und per se keinen pejorativen Charakter hat wie „Zigeuner“ oder „tsigane“ in Westeuropa.



O LJUBAVNIM VEŠTINAMA ILI FILM SA 14441 KVADRATOM (Von der Kunst der Liebe oder Ein Film in 14441 Bildern), 1972



Nach mehreren Verboten dürfte Godina 1972 eigentlich als „heißes Eisen“ gegolten haben. Deshalb erscheint es so skurril, dass er tatsächlich den Zuschlag zur Inszenierung eines Rekrutierungs-Werbefilms für die Jugoslawische Volksarmee erhielt! Das bedeutete, dass dem Regisseur Armee-Gelder und -Materialien sowie Hunderte von Soldaten zur Verfügung gestellt wurden. Was sich die größte Armee Jugoslawiens dabei dachte, erscheint angesichts dessen, wie O LJUBAVNIM VEŠTINAMA ILI FILM SA 14441 KVADRATOM im Endeffekt aussah, als Rätsel. Soldaten werden scheinbar vollkommen sinnlos durch eine Gebirgslandschaft gehetzt, während dazu ein Sänger fröhlich von den Freuden des Sommers trällert und sich wundert, warum es so viele Männer, so viele Frauen, aber keine Kinder gäbe.
Das Resultat war als Werbefilm für die Volksarmee natürlich vollkommen ungeeignet, und der Regisseur wanderte aufgrund des Vorwurfs, Armee-Gelder, -Personal und -Eigentum missbraucht und zweckentfremdet zu haben, für einige Monate ins Gefängnis (Armee-Verantwortliche sollen sogar eine siebenjährige Haftstrafe gefordert haben).



NEDOSTAJE MI SONJA HENI (Ich vermisse Sonja Henie), 1972

(Der zweite Teil des Films neigt zu leichter Bild-Ton-Asynchronität. Diese Fassung hier hat dieses Problem nicht, verfügt allerdings auch nicht über Untertitel)

Dieser Film wurde 1972 während des Belgrader Filmfestivals gedreht. Godina wirkte hier nicht so sehr als Regisseur im engeren Sinne, sondern eher als Konzeptgestalter. Er hatte mehrere Filmemacher, die das Festival besuchten, gefragt, ob sie mit jeweils einem Fragment an einem Kurzfilm teilnehmen würden: Tinto Brass, Puriša Đorđević, Miloš Forman, Buck Henry, Dušan Makavejev, Paul Morrissey, Frederick Wiseman. Mit von der Partie war auch der Filmkritiker Bogdan Tirnanić. Folgende Instruktionen erhielten sie von Godina: das Fragment sollte nicht länger als drei Minuten dauern, mit fixer Kamera in einem einzigen Raum gedreht werden und mindestens einer der Darsteller sollte an einer Stelle das Snoopy-Zitat „I miss Sonja Henie“ äußern.
Das Resultat ist ein Film, der größtenteils ziemlich dumm, ziemlich geschmacklos und ziemlich anstrengend ist – und wahlweise frivol oder obszön. Godinas gestalterische Kohärenz mit ihren musikalisch-poetischen rhythmischen Montagen fehlt, ohne, dass irgendetwas wirklich gewinnbringendes an die Stelle tritt. In seiner vollkommenen Absurdität ist NEDOSTAJE MI SONJA HENI trotzdem ganz witzig, zumal Miloš Forman in seinem eigenen Filmabschnitt als ganzkörper-bandagierter Patient mitwirkt. Letzteres hat die jugoslawischen Behörden natürlich nicht davon abgehalten, auch diesen Film zu verbieten.


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